Geheimnisvolle Beatrice - Hanna Berghoff - E-Book

Geheimnisvolle Beatrice E-Book

Hanna Berghoff

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Beschreibung

Kurz vor Weihnachten sammelt Lilly Huber in den bayrischen Voralpen eine Fremde auf, die mit ihrem Auto in einer Schneewehe steckengeblieben ist. Lilly ist unterwegs zum Bauernhof ihrer Eltern, um dort die Feiertage zu verbringen, und nimmt kurzerhand nimmt die völlig durchgefrorene Fremde mit. Denn die weiß weder, wer sie ist, noch woher sie kommt oder wohin sie eigentlich wollte. Nur an ihren Namen Beatrice kann sie sich erinnern. Und so kümmert sich Lilly um die geheimnisvolle Beatrice und hilft ihr dabei, ihr Gedächtnis wiederzuerlangen. Doch was wird geschehen, wenn Beatrice sich wieder an alles erinnert? Wird sie Lilly verlassen und in ihr Leben zurückkehren? Könnte Lilly das überhaupt verkraften? Oder hat Beatrice am Ende sogar Geheimnisse, die besser verborgen blieben?

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Seitenzahl: 296

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Hanna Berghoff

GEHEIMNISVOLLE BEATRICE

Roman

© 2025édition el!es

www.elles.de [email protected]

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-95609-401-9

Coverfoto:

1

Mit einem Lächeln auf den Lippen setzte Lilly den Blinker, um endlich von der Autobahn abzufahren. Die Fahrt von München nach Hause – sie nannte den Bauernhof ihrer Eltern immer noch zu Hause, obwohl sie nun schon so lange in München lebte und arbeitete – war lang, und in den letzten Tagen war auch noch Schnee gefallen, der die Straßen unsicher machte.

Sie wusste, dass die Autobahn der beste Teil der Fahrt war, denn sie war geräumt und zügig befahrbar, aber trotzdem freute sie sich auf den sicher anstrengenderen Teil zuerst auf Landstraßen und zum Schluss auf Wirtschaftswegen, die wahrscheinlich nicht einmal ansatzweise von Schnee und Eis befreit worden waren. Wenn sie ganz großes Pech hatte, würden noch nicht einmal die Winterreifen reichen, sondern sie musste auch noch die Ketten aufziehen.

Aber nach all diesen Bemühungen würde sie zu Hause ankommen und in der warmen Küche am Kachelofen sitzen, vielleicht eine Kuh im Stall muhen hören, ihre Mutter würde ihr Kaffee und Kuchen anbieten und ihr Vater seine Pfeife rauchen, während seine Augen mehr sprachen als sein Mund.

Der Winter war eine eher ruhige Zeit auf dem Hof. Da wurden Dinge geflickt und repariert, die in der hektischen Sommerzeit während der Ernte liegengeblieben waren. Und auch im Herbst noch war meistens viel auf den Feldern zu tun. Aber wenn das vorbei war, kehrte die besinnliche Zeit ein, die Lilly von allen Zeiten im Jahr am meisten liebte. Die Advents- und Weihnachtszeit.

Ja, Urlaub gab es nicht. Die Tiere im Stall mussten weiter jeden Tag gefüttert werden, die Kühe gemolken, die Ställe gereinigt. Das ging das ganze Jahr über so. Aber selbst darauf freute Lilly sich, denn es war immer, wenn sie hier war, ein schöner Ausgleich zu dem, was in München ihr Leben bestimmte.

Und diesmal gab es sogar noch etwas anderes. Denn hoffentlich würde es sie vor allen Dingen davon ablenken, darüber nachzudenken, wie sehr ihr Weihnachtsfest sich dieses Jahr von denen in den letzten Jahren unterschied. Was der Grund dafür war. Das Lächeln auf ihren Lippen verflüchtigte sich.

Eine Weile fuhr sie so vor sich hin, die Straßen wurden immer schmaler und unwegsamer. Der Schnee lag aufgehäuft an den Seiten. Da war wohl ein Schneepflug durchgefahren. Auf einmal gab es jedoch nicht einmal diese Schneise mehr, als sie an der letzten Abzweigung abbog. Sie führte auf die Straße, die zuerst das Dorf passierte und dann als Weg am Hof ihrer Eltern endete.

Es hatte erst in den letzten Tagen angefangen zu schneien, und die Straßen wurden ihrer Bedeutung gemäß von groß zu klein geräumt. Diese Straße war sehr klein. Deshalb stand sie ganz unten auf der Liste.

Der Schneefall, der zwischenzeitlich aufgehört hatte, setzte wieder ein, und Lilly probierte mit einigen kurzen Bremsungen aus, ob die Winterreifen reichen würden. Wohl eher nicht. Vor allem, wenn noch mehr Schnee fiel. Und jetzt kamen auch noch ein paar Steigungen.

Seufzend hielt sie an, packte sich gut ein und stieg Schnee und Kälte trotzend aus.

»Dann also die Ketten«, munterte sie sich selbst auf, holte die metallischen Helferlein aus dem Kofferraum und begann, sie anzulegen.

Da sie seit ihrer Kindheit sehr geübt darin war, dauerte es nicht lange, bis sie weiterfahren konnte. Die zusätzliche Traktion war sofort zu spüren, und so würde sie ohne Probleme bis zum Hof ihrer Eltern kommen.

Sie war wie immer auf alles vorbereitet gewesen, aber kurz darauf sah sie jemanden, der offenbar nicht so gut vorbereitet gewesen war.

Münchner Kennzeichen – na ja. Das hatte sie selbst auch, aber die meisten, die einen Wagen mit einem solchen Kennzeichen fuhren, waren im Gegensatz zu ihr in der Stadt aufgewachsen und hatten sich nie in ungeräumten Schneemassen auf dem Land bewegt.

Deshalb war dieses schicke Auto wohl auch im Straßengraben gelandet. Lilly wunderte es nicht. Wie konnte man mit so einem Sommerauto im Winter in die Berge fahren? Auch wenn das hier kein Hochgebirge war.

Obwohl das Cabrio tief im Graben lag, lief immer noch der Motor. Aus dem Auspuff stiegen weiße Wolken auf. Mit gerunzelter Stirn fuhr Lilly an die Stelle heran und hielt.

Hatte der Fahrer den Wagen mit laufendem Motor liegengelassen und war losgelaufen? Es war nichts von ihm zu sehen.

Sie fragte sich, ob sie aussteigen und nachschauen sollte, ob der Fahrer noch im Wagen war. Anscheinend war das Auto nicht in einen Unfall verwickelt gewesen, sondern einfach so in den Graben gerutscht. Zu schnell um die Kurve gefahren wahrscheinlich.

Lilly seufzte. Diese Stadtmenschen immer. Fühlten sich allem weit überlegen und hatten von nichts eine Ahnung. Das hatte sie in München oft genug erlebt.

Aber aussteigen musste sie, denn der Fahrer konnte ja auch verletzt sein, und deshalb lief der Motor noch. Vielleicht hatte er sich den Kopf angeschlagen und hing hilflos über dem Lenkrad.

Sie stellte ihren eigenen Motor ab, zog die Handbremse an und stieg aus. Ihre Schuhe waren nicht speziell für solche Verhältnisse geeignet. Zwar waren es feste Winterschuhe mit einer guten Sohle, aber doch auch eher etwas für die Stadt.

Als sie in München losgefahren war, hatte sie nicht damit gerechnet, damit durch tiefe Schneewehen stiefeln zu müssen. Aber für den Moment musste das reichen.

Sie rutschte ein wenig, als sie in den Graben hinabstieg, doch glücklicherweise war es nicht besonders steil. Dann ging sie auf die Fahrerseite zu und beugte sich tief hinunter, denn der Wagen war äußerst flach gebaut. Sie konnte kaum hineinsehen. Das Dach des Cabrios war geschlossen. Zumindest etwas, das den winterlichen Verhältnissen angepasst war.

Tatsächlich. Da war jemand im Wagen. Und es war kein Mann, es war eine Frau. Eine typische Städterin. Sie hielt ein Handy in der Hand, aber sie sprach mit niemandem. Stattdessen starrte sie nur auf den Bildschirm, als wartete sie darauf, dass gleich ein Geist daraus aufsteigen würde.

Lilly klopfte an die Scheibe, aber da sie Handschuhe trug, war das kaum zu hören. Deshalb musste sie mehrmals klopfen, denn die Fahrerin war völlig auf ihr Handy konzentriert und schaute nicht nach draußen.

Endlich sah sie Lilly, runzelte die Stirn und blickte sie ausgesprochen abweisend an.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte Lilly.

Doch auch dadurch verschwand der abweisende Gesichtsausdruck nicht. Wieder wanderte der Blick der Fahrerin auf ihr Handy, als würde sie eher daraus Hilfe erwarten als von Lilly.

»Sie können nicht hier sitzenbleiben«, erklärte Lilly freundlich. »Selbst wenn Sie den Motor laufenlassen, werden Sie sich nicht lange warmhalten können.«

Endlich schien die Fahrerin sie überhaupt richtig wahrzunehmen. Ihr glattes, dunkles Haar, das sie kinnlang trug, wo es gerade abgeschnitten war, bewegte sich ein wenig, als sie den Kopf nun wieder vom Handy zu Lilly wandte. »Können Sie mich hier herausziehen?«

Lilly schüttelte den Kopf. »Das könnte ich nur mit einem Traktor. Mein Wagen ist dafür nicht stark genug.« Sie wies auf ihren Tiguan, der oben an der Böschung stand. »Aber ich kann Sie mitnehmen.«

Wieder schien die Frau zu überlegen, ob ihr Handy nicht die bessere Wahl wäre, dann jedoch öffnete sie die Tür, wobei sie Lilly fast beiseitestieß, weil diese Sportwagentüren einfach immer viel zu lang waren, und versuchte auszusteigen.

Da der BMW Z4 schräg an der Böschung stand, gelang ihr das jedoch nicht sofort, denn der Sportsitz war so tief unten in ihrem Luxus-Cabrio eingebaut, dass die Schwerkraft sie wieder zurückfallen ließ.

Lilly streckte eine Hand aus, um ihr zu helfen, doch es schien, als wollte die Frau die Hand nicht nehmen.

»Sie können auch hierbleiben, und ich schicke Ihnen einen Traktor vorbei«, bot Lilly an, der langsam selbst ein bisschen kalt wurde, weil auch sie noch eher für Stadtverhältnisse angezogen war als für tiefen Schnee und Frosttemperaturen hier auf dem Land.

»Sie haben einen Traktor?«, fragte die Frau ziemlich erstaunt. Ihre Stimme klang tief und melodisch, aber irgendetwas daran wirkte verkrampft.

»Ich nicht, aber meine Eltern«, antwortete Lilly lächelnd.

Nun nahm die Frau ihre Hand und ließ sich hochziehen. »Sind Sie hier aus der Gegend?«

Innerlich schüttelte Lilly den Kopf. Die meisten Leute hier waren aus der Gegend. Woher sollten sie sonst sein?

»Ja«, antwortete sie jedoch. »Der Hof meiner Eltern liegt nur ein paar Kilometer diese Straße hinunter.« Mit einem Arm wies sie nach oben aus dem Graben hinaus.

»Straße?« Die Stimme der Frau klang jetzt etwas abschätzig. »Das ist wohl kaum eine Straße. Hätte ich das gewusst, wäre ich nicht hier abgebogen. Aber mein Navi sagte, das wäre der kürzeste Weg.«

Lilly lachte leicht. »Ja, diese Navis immer. Was die einem alles erzählen. Möglicherweise ist es ja der kürzeste Weg, aber bei diesem Wetter wahrscheinlich nicht unbedingt der beste.«

Etwas verständnislos schaute die Frau sie an, als Lilly nun ein paar Schritte auf die Böschung zutrat.

»Kommen Sie?«, wandte Lilly sich zurück, als sie merkte, dass die Frau keine Anstalten machte, ihr zu folgen.

»Ich muss erst noch meine Tasche aus dem Wagen –« Die Dunkelhaarige versuchte, um ihre Flunder von Auto herumzustapfen, aber ihre Schuhe waren ganz entschieden nicht für dieses Wetter und für diesen tiefen Schnee geeignet. Zudem war das flache Cabrio so mit dem Hinterteil in den Graben hineingerutscht, dass sie den Kofferraum nicht öffnen konnte.

»Lassen Sie nur«, sagte Lilly. »Die können Sie auch später noch holen. Jetzt geht es erst einmal darum, dass wir Sie an einen warmen Ofen kriegen.«

»Ofen?«, fragte die Frau wieder, genauso merkwürdig verständnislos, wie sie zuvor Straße gesagt hatte.

»Wie in Kachelofen«, erklärte Lilly leicht amüsiert. »Zum Aufwärmen, wenn es draußen kalt ist.«

Das überforderte die Vorstellungskraft der Frau nun anscheinend endgültig, und sie gab ihren Widerstand auf. Vorsichtig versuchte sie, Lilly zu folgen, wobei sie immer wieder abrutschte, aber erstaunlich tapfer und ohne zu klagen bis oben durchhielt. Wie sie es dabei schaffte, ihr Handy weiterhin in der Hand zu halten, und warum sie es nicht in ihre Manteltasche gesteckt hatte, blieb Lilly allerdings ein Rätsel.

»Ihre Schuhe sind jetzt schon durch«, stellte Lilly mit einem Blick auf die edlen Designtreter fest. »Und das wird noch schlimmer, wenn Sie jetzt in den Wagen steigen und das taut. Deshalb sollten wir uns beeilen.«

Diesen Hinweis hielt sie für nötig, weil die Frau zwar neben ihrem Tiguan stand, aber keine Anstalten machte einzusteigen.

Einladend öffnete Lilly ihr die Tür. Möglicherweise war sie ja nicht daran gewöhnt, das selbst zu tun, zumindest nicht auf der Beifahrerseite. So, wie sie aussah, schlugen sich die Männer wahrscheinlich darum, ihr diese Mühe abzunehmen.

»Bitte«, sagte Lilly. »Ich fahre dann jetzt los.« Entschlossen ging sie um den Wagen herum und setzte sich hinters Steuer.

Möglicherweise weil die Tür sowieso schon offenstand, ließ die Frau sich endlich neben sie gleiten.

»Ich heiße Lilly«, stellte Lilly sich mit einem Lächeln zur Seite auf ihre Beifahrerin hin vor, als sie nun ihren Tiguan wieder anließ und den Gang einlegte. »Lilly Huber.«

Einen Moment sah die Frau sie an, als hätte sie wieder nicht verstanden, wovon Lilly sprach, was bei ihrem eigenen Namen aber wohl kaum der Fall sein konnte. Wollte sie ihn Lilly nicht sagen, ein Geheimnis daraus machen? Weil sie Lilly für eine Art Bedienstete hielt, die es nicht wert war, informiert zu werden?

Ihre Stirn runzelte sich jedenfalls angestrengt, bevor sie eine Entscheidung traf. »Beatrice«, sagte sie, als hätte Lillys Vorstellung bei ihr einen Schalter umgelegt, aber sie wüsste gar nicht so richtig, was sie tat. Einen Nachnamen nannte sie nicht.

»Na gut, Beatrice . . .« Sind wir jetzt Freundinnen, weil ich deinen Nachnamen nicht kenne? fragte Lilly sich stumm, während die Ketten ihren Rädern die Spursicherheit verliehen, die der Z4 von Beatrice vor einiger Zeit sicherlich gut hätte gebrauchen können. »Dann bin ich nur Lilly.«

Zum ersten Mal, seit sie neben ihr saß, warf Beatrice einen Blick auf sie. »Ist das eine Abkürzung, oder sind Sie so getauft?«

»Getauft nicht. In der Kirche wurde mir der hochtrabende Name Elisabeth zugewiesen. Aber alle nennen mich nur Lilly«, beantwortete Lilly die Frage schmunzelnd. »Ich glaube, ich würde mich nicht einmal umdrehen, wenn jemand mit meinem Taufnamen nach mir rufen würde. Obwohl«, sie lachte, »wenn meine Mutter fand, dass ich etwas falschgemacht hatte, hat sie das manchmal getan. Dann wusste ich, ich muss mich in Acht nehmen. Aber das war in meiner Kindheit. Seit ich in München lebe –« Sie brach ab.

Ihr Leben in München war momentan nicht gerade das, worüber sie reden wollte.

Eine ganze Weile betrachtete Beatrice sie wie eine Art Wundertier, dann sagte sie: »Sie leben in München? Ich dachte, Sie wären von hier.«

Lilly nickte. »Bin ich auch. Aber ich wohne schon lange nicht mehr auf dem Land. Seit der Ausbildung nicht.« Sie lachte. »Und das ist schon eine Weile her.«

Neugierig warf sie einen Blick auf Beatrice neben sich. Sie war edel angezogen, fuhr ein Luxus-Cabrio und hatte das neueste, teuerste Handy. Vermutlich war alles, was sie besaß, das Neueste und Teuerste.

Auch wenn Lilly sich nicht direkt als arm betrachtete, weil sie ganz gut verdiente, waren sie beide sicher nicht miteinander zu vergleichen.

Aber das mussten sie ja auch nicht sein. Lilly wollte ihr nur helfen, dass sie da draußen nicht erfror, während sie auf ihr Handy starrte.

Sie fragte sich, warum Beatrice keine Hilfe gerufen hatte. ADAC oder sonstige Organisationen. Oder selbst die Polizei oder Feuerwehr. Das alles schien ihr gar nicht in den Sinn gekommen zu sein.

Vielleicht hatte sie aber auch noch gar nicht lange da im Graben gelegen, denn der Motor war ja noch gelaufen. Möglicherweise war Lilly gerade um die Ecke gekommen, kurz nachdem Beatrice von der Straße gerutscht war.

»Sie haben Ketten«, sagte Beatrice in diesem Moment. »Ich dachte, so was brauchen nur Lkws.«

»Es kommt auf die Wetterverhältnisse an«, erklärte Lilly. »In München brauche ich auch keine Ketten. Aber ich habe immer welche dabei, weil ich die Verhältnisse hier kenne und sie vielleicht brauchen könnte, wenn ich im Winter nach Hause fahre. Vor allem zu Weihnachten.« Sie lachte leicht. »Oder in den Osterferien. Da liegt hier noch mehr Schnee als jetzt.«

Wieder starrte Beatrice sie nur an, als würde sie zwar die Wörter verstehen, aber nicht den Sinn der Sätze.

In welchen Kreisen verkehrt die denn normalerweise? fragte sich Lilly etwas genervt. Es war ziemlich schwierig, ein normales Gespräch mit dieser Frau zu führen. So schien es jedenfalls. Wahrscheinlich hatte Lilly nicht die richtigen, ›schicken‹ Themen, in denen Beatrice sich auskannte.

»Kann man an Ostern hier Skifahren?«, fragte Beatrice da auf einmal.

Lilly nickte. »Natürlich. Meistens jedenfalls. Es gab auch schon mal sehr schneearme Jahre, aber die meisten Jahre fällt Schnee. Für Langläufer reicht das allemal. Alpin sind wir hier ja sowieso nicht.« Sie lachte leicht.

»Langlauf«, erwiderte Beatrice scheint’s verwundert, als wäre das wieder ein Wort, das sie nicht kannte. Eine Weile dachte sie nach. »Habe ich noch nie . . . gemacht.« Außerordentlich zögernd, mit einer deutlich hörbaren Pause hinter fast jedem Wort fuhr sie fort. »Ich fahre . . . nur . . . alpin.«

Es war, als würden die Wörter eins nach dem anderen aus einer Lostrommel, in der sie zufällig ausgewählt wurden, in eine Schale fallen, bevor Beatrice sie aussprechen konnte.

Unwillkürlich lachte Lilly auf. »Da bricht man sich so leicht was. Darum finde ich Langlauf besser.« Sie zuckte die Schultern. »Oder wohl einfach deshalb, weil ich es schon als Kind gelernt habe. Ich war auch mal in den Alpen, aber da ist es immer so voller Menschen. Das ist nicht so das, was ich mag.«

»Sie mögen keine Menschen?«, fragte Beatrice.

Diese Schlussfolgerung fand Lilly so überraschend, dass sie für einen Moment gar nicht wusste, was sie dazu sagen sollte. »Das meinte ich eigentlich nicht«, antwortete sie dann mit einem verdutzten Lachen. »Aber überfüllte Skilifte und Schlangen beim Einsteigen sind jetzt nicht so mein Ding. Wenn ich mir hier meine Langlaufskier anschnalle und losfahre, treffe ich kaum jemanden.«

»Kaum jemanden . . .«, wiederholte Beatrice, als versuchte sie gerade, sich etwas völlig Unvorstellbares vorzustellen. Etwas, das sie noch nie erlebt hatte.

»Man kann natürlich auch zusammen laufen«, ergänzte Lilly das noch, weil sie das Verhalten von Beatrice zunehmend irritierte. »Aber trotzdem ist das nicht dasselbe wie massenhaft Leute an einem Skilift oder auf einer Piste. Wo einer fast über den anderen stolpert.«

Tief nachdenklich saß Beatrice neben ihr, während die schneebedeckte Landschaft langsam an ihnen vorbeiglitt, und starrte wieder auf ihr Handy, als wäre darauf etwas zu erkennen. Da kein Anruf gekommen war, war der Bildschirm jedoch dunkel.

Sie muss ein Liebesverhältnis mit dem Gerät haben, dachte Lilly, wollte es aber nicht laut sagen.

Sie fand es höchst affig, dass alle Leute ständig ihre Handys mit sich herumschleppten, als wäre ein Leben ohne ein Mobiltelefon gar nicht mehr möglich oder denkbar. Selbstverständlich hatte sie auch ein Handy, aber sie betrachtete es nicht als ihre Lebensgefährtin, auf die sie nicht verzichten konnte.

Allerdings, kam ihr in diesem Moment schmerzhaft in den Sinn und sie zuckte zusammen, hatte sie ja auch gar keine Lebensgefährtin. Nicht mehr. Beinah hätte sie auf die Bremse getreten, weil sie auf einmal nichts mehr sehen konnte. Als wäre plötzlich Nebel aufgezogen, der das Schneegeriesel noch dabei unterstützte, die Fahrt anstrengender zu machen.

Doch sie wusste ganz genau, dass es kein Nebel war. Es war etwas anderes. Heftig blinzelte sie, um wieder klare Sicht zu bekommen. Leider hatte sie an ihren Augen keine Scheibenwischer. Da mussten die Lider reichen.

Möglicherweise hatte Beatrice dasselbe Problem – wenn man es als ein Problem bezeichnen wollte –, das Lilly jetzt hatte, und hielt mit Menschen hauptsächlich Kontakt über das Telefon, sodass es für sie so unersetzlich war.

»Das ist das neueste iPhone, nicht wahr?«, fragte Lilly, weil sie in gewisser Weise verzweifelt nach einem Thema suchte, das Beatrice interessieren könnte. Wie wenig sie auch gemeinsam hatten. Damit das Gespräch Lilly von dem ablenkte, woran sie absolut nicht denken wollte.

Beatrice erwachte wie aus einem Traum und sah sie an, als hätte sie gar nicht damit gerechnet, dass sie neben ihr saß. Dass überhaupt irgendjemand da war.

»Ich glaube. Ja. Ich kenne mich nicht so damit aus«, antwortete sie so gleichgültig, dass Lilly sich fragte, ob es überhaupt irgendetwas gab, wofür diese Frau sich interessierte.

Innerlich schüttelte sie den Kopf. »Als Sie es gekauft haben, hat es Ihnen der Verkäufer doch bestimmt angepriesen.« Sie warf einen Blick auf Beatrice und versuchte herauszufinden, was sie dachte. Dachte sie überhaupt? »Oder kaufen Sie immer das neueste Modell? Ganz ohne zu fragen?«

Sie lachte etwas ungläubig. Aber nicht ganz so ungläubig, wie sie es vielleicht vor einiger Zeit noch getan hätte. Vor ihrer Begegnung mit Beatrice.

»Ich habe das nicht gekauft«, sagte Beatrice, als wäre sie schon wieder dabei, in einem Traum zu versinken, der nichts mit Lilly zu tun hatte.

Du hast es gefunden? hätte Lilly am liebsten gefragt, nur um sie aus ihrer Lethargie zu reißen.

Aber das war wohl etwas albern. Außerdem lag die Wahrscheinlichkeit nahe, dass eine Frau wie Beatrice jemanden hatte, der ihr jeweils das neueste iPhone schenkte, ohne dass sie sich Gedanken darüber machen musste.

Langsam fragte Lilly sich, ob es eine gute Idee gewesen war, Beatrice mitzunehmen. Vielleicht hätte sie besser nach Hause fahren und ihren Vater mit dem Traktor losschicken sollen, um den Z4 aus dem Graben zu ziehen. Möglicherweise war der Wagen gar nicht so sehr beschädigt, und Beatrice hätte gleich weiterfahren können. Dann hätten sie sich gar nicht groß kennengelernt.

Aber das taten sie jetzt ja auch nicht. Beatrice saß wie eine Puppe neben ihr, die von selbst keine Bewegung machen konnte.

»Kaufen.« Anscheinend hatte Beatrice die ganze Zeit über die Bedeutung dieses Wortes nachgedacht. Sie hatte offenbar Probleme mit vielen Wörtern, deren Bedeutung sie nicht zu kennen schien. »Dafür braucht man Geld.«

Lilly lachte auf. »Überraschenderweise ja.« Aber damit hast du ja offensichtlich keine Probleme, dachte sie und wunderte sich, was Beatrice an dem Thema jetzt so erschütternd fand. Denn genauso sah sie aus. Erschüttert.

»Was kostet so ein Auto wie das hier?«, fragte sie plötzlich.

Das war vielleicht eine Frage . . . Lilly fragte sich immer mehr, wen sie da aus dem Graben gefischt hatte. »Den aktuellen Neupreis kenne ich nicht«, gab sie zur Antwort. »Ich habe es gebraucht gekauft, weil ich finde, dass es Geldverschwendung ist, ein neues Auto zu kaufen. Kaum fährt es vom Hof, ist es nur noch die Hälfte wert.«

»Die Hälfte«, wiederholte Beatrice. Erneut runzelte ihre Stirn sich angestrengt. »Ist das viel oder wenig?«

Bist du ein Alien? hätte Lilly am liebsten zurückgefragt. Dass du so etwas fragst?

Langsam begann sie selbst sich allerdings zu fragen, ob sie nicht vielleicht doch die Polizei anrufen sollte, um zu erfahren, ob Beatrice irgendwo in irgendeiner Institution vermisst wurde. Möglicherweise hatte sie das Auto gestohlen und war damit geflohen.

Und die Kleider auch? Und das Handy? Und ihre teuren Schuhe? Innerlich runzelte Lilly die Stirn. Das war dann doch etwas unwahrscheinlich.

»Kommt drauf an«, sagte sie. »Je nachdem, wie viel man hat.«

»Haben Sie viel?« Die nächste Frage aus Beatrices Mund bestätigte immer mehr Lillys Eindruck.

Warum wollte Beatrice so etwas wissen? Hatte sie vor, Lilly auszurauben? War der ganze Unfall getürkt, um jemanden zum Anhalten zu bewegen?

Nachdem ihr Herz etwas schneller schlug, weil diese Gedanken sie doch ein wenig beunruhigten, nahm sie sich genau deshalb vor, so zu tun, als wäre alles in Ordnung. Gerade, wenn Leute so offensichtlich aus dem geistigen Gleichgewicht waren wie Beatrice hier anscheinend, sollte man sie nicht reizen.

»Mir reicht es«, erwiderte sie vorsichtig. »Ich habe keine großen Ansprüche.«

Dir würde mein ganzes Monatseinkommen vielleicht gerade einmal einen Nachmittag lang in irgendeiner Münchner Schickimicki-Boutique reichen, dachte sie. Der Unterschied in unseren Ansprüchen ist offensichtlich. Die Frage ist nur, wie verdienst du dein Geld? Indem du es anderen wegnimmst?

Sie wandte leicht den Kopf zu Beatrice und lächelte sie an. Nicht aufregen und keine Angst zeigen. Das wurde in solchen Situationen immer wieder empfohlen.

Dieses Lächeln schien Beatrice zu verwirren, denn sie schaute sofort von Lilly weg, dann jedoch drehte sie ihren Kopf zu ihr zurück, als würde sie durch etwas dazu gezwungen. In ihren Augen lag eindeutig Verwirrung.

Obwohl es wunderschöne Augen waren, wie Lilly nicht erst jetzt bemerkte. Zwar hatte Beatrice dunkle Haare, aber ihre Augen waren heller. Nicht hellbraun oder blau oder grau allerdings, sondern sie tendierten ins Grünliche.

Ein gedämpftes Grün, kein strahlendes Grün. Es war wie eine Mischung aus Himmel und Erde und grüner, aufgeschäumter See auf einer Wiese, die den Sommer schon hinter sich hatte.

Nein, das waren nicht die Augen einer Verbrecherin, einer Räuberin, einer Diebin.

Niemals, beschloss Lilly. Diese Art von Verwirrung hätte nicht dazu gepasst.

»Wir sind gleich da«, kündigte sie lächelnd an und wies mit einer Hand nach vorn. »Das ist der Hof meiner Eltern.«

2

»Na, mein Schatz?«, begrüßte ihre Mutter sie in der gemütlichen Wohnküche, die man direkt betrat, wenn man von hinten ins Haus kam.

Was Lilly getan hatte. Diese Gewohnheit aus ihrer Kindheit hatte sie nie abgelegt. Den Haupteingang benutzte die Familie nur selten. Der war eher für Fremde.

»Bist du endlich bei uns angekommen? Als es anfing zu schneien, dachte ich, wir müssten dich vielleicht mit dem Traktor aus dem Graben ziehen.« Annemarie Huber lachte.

Wunderbare Düfte durchzogen das Haus. Weihnachtliche Düfte nach Zimt, Vanille und Kardamom. Zur Feier von Lillys Ankunft hatte ihre Mutter selbstverständlich gebacken.

Anders hatte Lilly es gar nicht erwartet. Ihre Mutter war eine großartige Bäckerin. In Lillys Augen die beste der Welt. Und Amrei, wie sie von allen genannt wurde, zauberte auch wahnsinnig gern die leckersten Dinge aus ihrem Ofen.

»Mit dem Traktor hast du gar nicht so unrecht«, erwiderte Lilly das Lachen ihrer Mutter. »Da liegt wirklich jemand im Graben, der herausgezogen werden muss.«

Sie schaute sich um. War Beatrice ihr überhaupt ins Haus hinein gefolgt, nachdem Lilly sie dazu eingeladen hatte?

»Niemand von hier, oder?«, fragte ihre Mutter. »Bestimmt jemand Fremdes.«

»Ja.« Lilly nickte. »Münchner Nummer.«

Wie fremd Beatrice wirklich auf sie wirkte, wollte sie ihrer Mutter lieber nicht erklären. Sie konnte es sich selbst nicht erklären.

»Die Münchner immer.« Verständnislos schüttelte Amrei den Kopf. »Haben die denn noch nie Schnee und Eis gesehen? Da schneit es doch auch. Rasen hier herum, als gäbe es kein Morgen.«

»Ich glaube, ich bin nicht gerast«, meldete sich da eine Stimme aus dem Hintergrund. »Ich weiß nicht genau, was passiert ist. Auf einmal lag ich im Graben.«

Ruckartig drehte Amrei sich zur Hintertür und sah die Fremde, die da plötzlich in ihrer Küche stand, überrascht an.

»Das ist . . . hm . . . Beatrice, Mama«, stellte Lilly hastig vor. »Ich habe sie mitgebracht, weil es in ihrem Wagen doch jetzt ziemlich kalt wurde.«

»Kann ich mir vorstellen«, nickte ihre Mutter, die sich schnell von ihrem Schock erholt hatte. Sie musterte die junge Frau nur wenig interessiert. »Dann sagst du wohl besser deinem Vater Bescheid, dass er den Traktor auf die Straße bringt.«

»Mach ich.« Lilly wollte sich schon umdrehen, um wieder zu derselben Tür hinauszugehen, durch die sie hereingekommen war und an der Beatrice immer noch stand. Deshalb unterbrach sie ihren Vorwärtsdrang kurz. »Möchten Sie einen Kaffee zum Aufwärmen? Meine Mutter hat bestimmt welchen.« Sie drehte den Kopf zu Amrei zurück.

»Sicher«, bestätigte die sofort. »Und auch ein Stück Kuchen, falls Sie möchten.« Sie lächelte Lilly kurz an. »Lillys Lieblingskuchen. Weißenregen.«

»Mhm . . .«, machte Lilly mit leicht verdrehten Augen. »Bin gleich zurück!«

Und schon lief sie an Beatrice vorbei zur Tür hinaus.

•••

Wie verloren stand Beatrice am Rand dieser Küche und wusste eigentlich überhaupt nicht, wie sie hierhergekommen war.

Und schon gar nicht fand sie sich in diesem Ambiente zurecht, das ihr äußerst fremd erschien.

Doch was erschien ihr nicht fremd? Seit – ja, seit wann? Sie wusste es noch nicht einmal – war ihr die ganze Welt fremd.

Sie war in einem Auto erwacht, das ihr fremd erschien. In einer Umgebung, die ihr fremd erschien. Mit Dingen um sich, die ihr fremd erschienen. Nichts davon löste irgendein Gefühl des Erkennens in ihr aus.

Dabei hätte sie es erkennen müssen. Auch dieses Gefühl hatte sie tief in ihrem Inneren.

Während sie noch in diesem ihr fremden Wagen saß, war dann auch noch eine Frau erschienen, die ihr genauso fremd war.

Zuerst hatte sie nicht gewusst, wie sie darauf reagieren sollte. Obwohl sie den Wagen nicht kannte, in dem sie saß, das Handy in ihrer Hand ihr wie ein Gegenstand aus einer anderen Welt vorkam – dennoch schien sie die Begriffe dafür zu kennen, was sie umgab –, hatte diese Frau sie dann mit einer Art Zwang konfrontiert, der ein Handeln erforderte.

Lieber wäre Beatrice – auch dieser Name fühlte sich fremd an. War es wirklich ihrer? – sitzen geblieben und hätte gar nichts getan.

Aber Lilly – der Name schien tatsächlich perfekt zu ihr zu passen – hatte ihr keine Wahl gelassen. Sie war offensichtlich eine Macherin, kein Mensch, der in einem Auto erfror, indem er nur Gedanken wälzte.

»Die Schuhe sollten Sie ausziehen«, sprach sie da plötzlich eine Stimme an, die ihr zumindest bekannt vorkam, weil sie sie schon einmal gehört hatte. Gerade eben.

Unwillkürlich blickte Beatrice an sich hinunter auf ihre Füße. Die Schuhe, die sie trug, waren völlig durchweicht und trugen Schneeränder. Jetzt merkte sie auch wieder, wie kalt ihre Füße sich anfühlten.

»Setzen Sie sich hierher«, forderte Lillys Mutter sie auf und wies zu dem Tisch, der in der Mitte dieses Raumes stand. »Dann geben Sie mir Ihre Schuhe, und als Entschädigung dafür bekommen Sie einen Kaffee.«

Kleine Fältchen kräuselten sich in ihren Augenwinkeln und gaben Beatrice auf einmal – das erste Mal – ein heimeliges Gefühl.

Als hätte ihr jemand einen Befehl gegeben, den sie nicht verweigern durfte, ging sie zum Tisch, setzte sich auf einen Stuhl und schob die durchweichten Schuhe mit den Zehen von ihren Füßen, ohne ihre Hände zu benutzen.

Darunter kamen durchweichte Strümpfe zum Vorschein.

»Die Strumpfhose ziehen Sie am besten auch aus«, schlug die ältere Frau vor. »Ich hole Ihnen ein Handtuch.«

Sie ließ Beatrice allein, und die folgte ihren Anweisungen fast wie ein Roboter und entledigte sich ihrer Strumpfhose, als befände sie sich in Trance und jemand anderer täte es.

Gleich darauf war Frau . . . Huber? – Sie musste Huber heißen, denn Lillys Nachname war ebenfalls Huber, wie Beatrice sich erinnerte. Dann jedoch kam ihr sofort in den Sinn, dass Lilly ja verheiratet sein konnte und vielleicht einen anderen Namen trug als ihre Mutter – mit dem Handtuch zurück.

Sie reichte es Beatrice und hob Strumpfhose und Schuhe vom Boden auf, wo Beatrice sie hatte liegenlassen.

»Ich bringe das mal schnell in die Waschküche«, verkündete sie und entschwand erneut.

Dass Lilly die Tochter dieser Mutter war, ließ sich nicht leugnen. Sie hatten offensichtlich dieselbe zupackende Art.

»So, mein Vater ist jetzt mit dem Traktor unterwegs«, verkündete Lilly da fast im selben Moment, als sie durch die Tür wieder hereingeschossen kam. »Wir können aber noch einen Kaffee trinken, weil er länger braucht als wir.«

»Wir?«, fragte Beatrice.

»Willst du nicht mitkommen?«, kam die erstaunte Frage von Lilly zurück. »Sonst müsstest du mir halt den Schlüssel zu deinem Wagen geben. Oh, Entschuldigung.« Sie grinste fast. »Sie müssten mir dann den Schlüssel geben.«

Kurz zögerte Beatrice, dann sagte sie: »Ich glaube, Du ist in Ordnung.«

»So. Glaubst du das.« Lilly schien höchst amüsiert, aber Beatrice konnte sich nicht erklären, warum.

Praktische Bauerntochter, die sie war, ging Lilly zum Schrank, nahm ein paar Tassen heraus und stellte sie auf den Tisch. »Wo ist meine Mutter?«

»Ich glaube –« Beatrice unterbrach sich. »Sie sagte, sie ginge in die Waschküche. Mit meinen Schuhen.«

»Ah ja.« Lilly nickte. Auf der Anrichte stand eine Thermoskanne, die sie nun auch zum Tisch brachte. »Dann wird sie sicher gleich zurück sein.«

Sie goss in alle drei Tassen, die sie auf den Tisch gestellt hatte, Kaffee aus der Thermoskanne ein und schob Beatrice eine Zuckerdose hin. »Nimmst du Zucker?«

Darüber musste Beatrice erst einmal nachdenken. Sie wusste es nicht.

Während Lilly den Kühlschrank öffnete und die Milch herausholte, nippte Beatrice heimlich an ihrem Kaffee. Ja, sie brauchte Zucker. Auf jeden Fall.

Als Lilly gerade die Milchkanne auf den Tisch stellte, kehrte Amrei zurück.

»Die Schuhe werden Sie nicht mehr hinkriegen«, sagte sie. »Schneeränder bleiben.«

Beatrice wusste nicht, ob von ihr eine Reaktion auf diese Aussage erwartet wurde, und so erwiderte sie nichts.

»Sie kann sich bestimmt neue kaufen.« Gutmütig lachte Lilly ihre Mutter an. »So arm scheint sie nicht zu sein.« Immer noch lachend wandte sie sich an Beatrice. »Oder irre ich mich da?«

Antworten waren im Moment ein schwieriges Thema für Beatrice, auch wenn sie die Fragen verstand.

Merkwürdigerweise sagte ihr ein Gedankenblitz, der wie aus dem Nichts kam, dass die beste Antwort auf eine Frage, die man nicht beantworten wollte oder konnte, eine Gegenfrage war.

»Warum solltest du dich irren?«, fragte sie deshalb.

Erstaunt hob Amrei die Augenbrauen und sah ihre Tochter an.

»Wir haben beschlossen, uns zu duzen«, erklärte Lilly schnell. »Ist einfacher.«

Sie setzte sich an die Stirnseite des Tisches, was bedeutete, sie saß zwischen Beatrice und ihrer Mutter.

»Wenn wir schnell machen, können wir zwar noch einen Kaffee trinken, aber der Kuchen muss noch ein bisschen warten«, bemerkte sie gutgelaunt. »So lange will ich Papa nicht alleinlassen. Er ist bereits unterwegs.«

Und schon hatte sie ihre Kaffeetasse halb geleert, während die von Beatrice noch praktisch unberührt vor ihr stand.

Lilly schob ihr die Milchkanne hin. »Milch?«

Das hieß, dass man eine Aktion von ihr erwartete, wurde Beatrice schlagartig klar. Wie alles im Moment wie Schläge auf sie einprasselte.

Sie nahm den Kaffeelöffel, der auf ihrer Untertasse lag, und versüßte ihren Kaffee mit zwei Löffeln Zucker, dann griff sie zur Milch und goss ein wenig in ihre Tasse.

»Danke«, sagte sie und schob beides, Zuckerdose und Milchkanne, wieder etwas von sich weg.

Lilly nahm sich Milch, aber keinen Zucker, und Amrei trank ihren Kaffee schwarz, stellte Beatrice gleich darauf fest.

»Was hat Sie denn in unsere Gegend verschlagen?«, fragte Amrei mit einem freundlich-unverbindlichen Lächeln. »Machen Sie Winterurlaub im Bayrischen Wald?«

Oh Gott. Schon wieder eine Frage.

»Sie läuft nur alpin Ski, hat sie mir erzählt«, warf Lilly ein. »Unsere Loipen sind nicht interessant für sie. Nur die Skilifte.« Sie lachte.

»Na, da muss sie ja nur ein Stückchen weiterfahren.« Amrei nahm einen Schluck Kaffee und behielt die Tasse in der Hand. »Da geht es nach einer Weile steil bergauf.« Etwas forschend sah sie Lilly an. »Könntest du auch mal wieder machen. Oder magst du das gar nicht mehr?«

Lilly zuckte die Schultern. »Da ist mir immer zu viel los. So viele Menschen habe ich in München jeden Tag. Hier möchte ich mal meine Ruhe.«

»Dann scheint der Flughafen ja gut zu funktionieren«, meinte ihre Mutter, nahm noch einen Schluck und stellte ihre Tasse wieder auf der Untertasse ab.

»Oh ja. So im Großen und Ganzen funktioniert er.« Lilly seufzte. »Aber ich komme mir manchmal vor wie ein Hausmeister. Alle kommen zu mir, wenn irgendwo mal etwas nicht funktioniert.«

»Du hast doch nur das Lüftungssystem entworfen«, wunderte ihre Mutter sich. »Nicht alles.«

Verwirrt verfolgte Beatrice dieses Gespräch. Viel sagte es ihr nicht, aber sie fühlte, dass es etwas war, das nicht in ihre Welt gehörte.

Ihre Welt. Was war ihre Welt?

»Ich würde sagen, wir ziehen los!« Indem sie sich mit beiden Händen energisch vom Tisch abstieß, sprang Lilly auf. »Sonst versumpfe ich noch hier bei Kaffee und Kuchen.« Leicht augenzwinkernd lachte sie ihre Mutter an. Gleich darauf richtete sich ihr Blick auf Beatrice. »Wie hast du dich entschieden?«

Beatrice kam es so vor, als hätte man ihr gerade einen Kopfstoß versetzt. Einen harten. »Entschieden?«, fragte sie verdattert.

Das Wort klang geradezu bedrohlich in ihren Ohren. Wie sollte sie Entscheidungen treffen, wenn sie gar nicht wusste, worum es ging?

»Kommst du mit oder gibst du mir deinen Schlüssel?«, erklärte Lilly dynamisch, wie sie war.

Ach so. Beatrice erinnerte sich wieder. Dann blickte sie auf ihre nackten Füße, die auf dem Handtuch standen, das Lillys Mutter ihr gegeben hatte. »Ich habe keine Schuhe«, stellte sie fest, als würde sie es in diesem Augenblick das erste Mal bemerken.

»Sie muss doch nicht mitkommen, oder?«, meinte Amrei. »Papa und du schafft das allein.«

»Klar schaffen wir das.« Nun streckte Lilly die Hand in Beatrices Richtung aus. »Aber den Schlüssel brauche ich. Sonst können wir den Wagen nicht abschleppen.«

Automatisch griff Beatrice in die Tasche des Mantels, den sie immer noch trug, fand dort jedoch nichts.

Verwirrt schaute sie Lilly an. »Ich glaube, der steckt noch«, stellte sie zu ihrer eigenen Überraschung fest, die man ihr auch ansah.

»Ach du je . . .« Fassungslos warf Lilly die Hände in die Luft. »Aber wegfahren kann den Wagen aus dem Graben raus ja niemand. Also geklaut hat ihn wahrscheinlich keiner.« Sie runzelte die Stirn. »Sind wertvolle Sachen drin? Die könnten allerdings schon weg sein. Man weiß ja nie, wer hier vorbeikommt. Sind schließlich nicht alles nur Einheimische. Die klauen nicht.«

Ehrlich gesagt hatte Beatrice nicht die geringste Vorstellung davon, was in dem Wagen war. Bis auf die Dinge, die sie beim ersten Blick vor Lillys Auftauchen wahrgenommen hatte.

Sie hatte ihre Handtasche mitnehmen wollen, daran erinnerte sie sich.

Das hatte sie merkwürdigerweise gewusst, dass die da sein musste. Viel mehr wusste sie aber nicht.

Deshalb zuckte sie nur die Schultern. »Ich habe keine Ahnung.«

Obwohl Lilly ihr einen verwunderten Blick zuwarf, hatte sie wohl beschlossen, dass sie jetzt keine Zeit mehr hatte, sich mit dem zu beschäftigen, was Beatrice nicht wusste.

»Na ja, ich muss los«, verkündete sie entschlossen.

Und damit war sie auch schon zur Küche hinaus.

3

»Wen hast du denn da angeschleppt?«, fragte ihr Vater, als Lilly bei ihm eintraf. Er hatte bereits den Wagen inspiziert und blickte aus dem Graben zu ihr hinauf.

»Wie meinst du das?« Zu Hause hatte Lilly sich feste Schuhe angezogen und konnte so nun viel besser in den Graben hinuntersteigen.