Öffne dein Herz - Hanna Berghoff - E-Book

Öffne dein Herz E-Book

Hanna Berghoff

0,0

Beschreibung

Melanie wird als Versicherungsdetektivin von ihrer Berliner Detektei in ein bayrisches Dorf geschickt, um festzustellen, ob die Versicherungssumme für einen abgebrannten Bauernhof rechtmäßig an die Schwestern Babett und Elies ausgezahlt werden kann. Dort lernt sie die attraktive Jana kennen, und es entsteht gleich eine gewisse Spannung zwischen ihnen. Nachdem Jana ihr im Dorf bei den Ermittlungen geholfen hat, kommt es zum One-Night-Stand, der in beiden ungewollte Gefühle entfacht: Jana hat sich verliebt, doch Melanie flieht unversehens nach Berlin. Aber der Versicherungsfall und Jana lassen sie nicht los, denn Babett kommt der Geldsegen doch etwas zu gelegen. Melanie reist nach München, um auch Elies zu befragen, wo sich noch ganz andere Dramen entwickeln – und Jana beginnt, um Melanies verschlossenes Herz zu kämpfen . . .

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 337

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Hanna Berghoff

ÖFFNE DEIN HERZ

Roman

© 2021édition el!es

www.elles.de [email protected]

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-95609-331-9

Coverfoto:

1

»Schönes Wochenende gehabt, Melanie?«

Melanie zuckte die Schultern. »Wie immer.«

»Warst du wieder bei deiner Schaluppe in Waren-Müritz? War ja auch tolles Wetter dafür.« Christoph, ihr Partner in der Versicherungsdetektei, die sie gemeinsam betrieben, nickte und wies auf ihren Laptop. »Schon gesehen, was ich dir geschickt habe?«

Genervt hob Melanie die Augenbrauen. »Es ist Montagmorgen, Christoph. Ich bin gerade erst gekommen.«

»Ich weiß«. Er lächelte. Das war eine seiner großen Stärken. Er war ein absolut gelassener Typ. Nichts konnte ihn aus der Ruhe bringen. Was manchmal Melanie aus der Ruhe brachte. Vor allem, wenn es sich um die Steuererklärung der Detektei handelte. »Liegt jedenfalls ganz auf deiner Linie. Du liebst doch die Natur.«

»Ich hole mir jetzt erstmal einen Kaffee.« Statt ihren Laptop zu öffnen, setzte Melanie sich gar nicht erst an ihren Schreibtisch, sondern ging in die kleine Kaffeeküche hinüber, in der sich ein Kühlschrank, eine Kaffeemaschine und eine Mikrowelle befanden. Auch wenn sie oft außer Haus waren, war diese kleine Küche mit allem ausgestattet, um sie für unaufwendige Mahlzeiten, Snacks oder Kaffeepausen zu nutzen, sofern sie nur im Büro arbeiteten.

»Da schließe ich mich an.« Christoph wartete, bis Melanie sich einen Cappuccino aus dem Kaffeevollautomaten herausgelassen hatte, und drückte dann selbst die Taste für einen Kaffee ohne Milch. »Die Meldung kam ganz früh heute Morgen rein. Da ist ein Bauernhof abgebrannt. Oder fast.«

»Ein ganzer Bauernhof?« Das ließ Melanies Augenbrauen noch einmal nach oben wandern. »Na, das ist ja mal was anderes.«

»Dachte ich mir, dass dich das interessiert.« Er schmunzelte.

»Weil meine Großeltern einen Bauernhof hatten, dem ich immer noch nachtrauere?« Melanie schmunzelte auch. »Das heißt, du überlässt mir jetzt in Zukunft alle Fälle, die etwas mit Bauernhöfen zu tun haben?«

»Davon haben wir ja nicht so viele«, sagte Christoph. »Ist seit Jahren das erste Mal. Es brennt schon mal eine Scheune ab oder so etwas. Ein Wasserschaden im Stall. Gewitter. Aber gleich ein ganzer Bauernhof, fast bis auf die Grundmauern? Das kann einem schon komisch vorkommen, oder nicht?«

»Das heißt, die Versicherung vermutet da irgendeine faule Sache?« Nun doch neugierig geworden nahm Melanie ihre übergroße Kaffeetasse und ging zu ihrem Schreibtisch zurück.

Er schüttelte den Kopf, während er ihr mit seiner eigenen, normal großen Tasse folgte. »Bei so einer großen Summe vermuten die gern sofort was, ist doch klar. Wenn sie sich um die Zahlung drücken können, ist ihnen das immer lieber. Deshalb haben wir den Auftrag bekommen, das zu überprüfen. Der Versicherung reicht die reine Aktenlage nicht. Jemand muss da hin, vor Ort. Und da haben sie wie üblich an uns gedacht.«

»Wie nett von ihnen.« Melanie rollte die Augen.

»Nicht dass wir den Auftrag nicht gebrauchen könnten«, erinnerte Christoph sie. »Die Auftragslage war ein bisschen mau in letzter Zeit.«

»Ja, schon gut.« Sie winkte ab. »Ist es weit?«, fragte sie seufzend, während sie sich setzte.

Er zuckte die Schultern. »Schau dir die Mail an. Da steht alles drin. Ist schon ziemlich auf dem Land, glaube ich. Logisch. Ist ja ein Bauernhof.« Er lachte leicht.

Fast gleichzeitig setzte Melanie ihre Kaffeetasse ab und klappte ihren Laptop auf. »Muss ich da etwa übernachten?«

»Wird dir wohl nichts anderes übrigbleiben«, erwiderte er, während er sich umdrehte, um Melanies Büro zu verlassen und in sein eigenes zu gehen, das auf der anderen Seite des Ganges lag. »Es ist in Bayern.«

»Bayern?« Melanie riss die Augen auf. »Sagtest du Bayern?«

»Sagte ich«, rief er aus seinem Zimmer zurück. Da die beiden Türen ihrer Büros offenstanden, konnten sie sich fast über den Gang hinweg unterhalten. »Du liebst doch die Natur.«

Sie konnte sein Lachen zwar nicht hören, aber spüren.

»Bayern«, grummelte sie. »Das hat mir gerade noch gefehlt.«

2

»Jana? Ist die Anzahlung von Herrn Brettschneider schon da?« Janas Kollegin Susanne stand in der Glastür von Janas Büro und sah sie fragend an.

»Heute Morgen war sie noch nicht da. Aber ich kann noch mal nachschauen.« Nickend wandte Jana sich ihrem PC-Bildschirm zu und überprüfte die Eingänge auf dem Konto des Autohauses Lehner, für das sie arbeitete. »Immer noch nicht«, sagte sie.

Susanne verzog das Gesicht. »Er sagt, er hat es überwiesen. Und er will den Wagen am liebsten sofort abholen.«

»Das muss Herr Lehner entscheiden«, sagte Jana.

Susanne holte tief Luft und seufzte. »Junior oder Senior?«

Jana schmunzelte. »Ist doch ein Freund vom Junior, der Brettschneider, oder?«

»Klar, wenn ich ihn fragen würde . . . Aber dann macht der Senior mir die Hölle heiß.« Offenbar fühlte Susanne sich zwischen allen Stühlen.

»Und der Junior macht dir die Hölle heiß, wenn du dem Brettschneider nicht den Wagen gibst . . .«, führte Jana das mitfühlend weiter aus. »Aber ich kann nur das auf dem Konto sehen, was wirklich da ist. Ich kann es nicht erfinden.« Bedauernd zuckte sie die Schultern.

»Frau Lell?« Das war die Stimme des Juniors aus dem Hintergrund. »Können Sie mal kommen?«

Susanne rollte die Augen zur Decke. »Jetzt hat der Brettschneider ihn bestimmt angerufen.«

»Sag ihm, wie es ist«, empfahl Jana. »Er muss das entscheiden. Und er muss hinterher seinem Vater gegenüber dafür geradestehen, nicht du.«

»Das sagst du so leicht.« Susanne seufzte erneut. »Du weißt doch, wie es immer ist.«

»Dann schieb es auf mich ab. Das Geld ist noch nicht auf dem Konto, also ist es meine Schuld.« Mit einem Lächeln wandte Jana sich wieder ihrer Arbeit zu.

»Manchmal denke ich, dein Nachname ist Samariter oder so.« Kopfschüttelnd drehte Susanne sich halb aus Janas Tür hinaus, um zum Junior zu gehen. »Aber so schlimm ist es auch wieder nicht. Warum können die zwei sich bloß nicht einigen?« Sie seufzte noch einmal tief auf und ging zu dem Büro drei Türen weiter, das der Juniorchef der Firma Lehner innehatte.

Fast im selben Moment vibrierte Janas Handy in der Tasche. Sie betrachtete kurz die Rechnungen, die sie gerade überprüfte, dann griff sie auf den kleinen Seitenschrank, auf dem ihre Tasche stand, und zog es heraus. »Susanne hat mich ja sowieso gestört«, murmelte sie zu sich selbst.

»Oh Jana, ich habe einen Engel kennengelernt!«

»Schon wieder, Nicky?« Jetzt seufzte Jana fast genauso wie Susanne eben noch.

»Nie nimmst du mich ernst.« Nicky schmollte hörbar.

»Vielleicht kenne ich dich einfach schon zu lange. Und zu gut«, antwortete Jana, aber sie lachte. »Du bist doch wie meine kleine Schwester, das weißt du doch. Also erzähl. Was ist mit deinem Engel?«

»Jetzt kann ich nicht.« Nickys Stimme klang flüsternd. »Die Chefin schleicht hier rum, und ich darf eigentlich gar nicht telefonieren. Bin nur schnell auf die Toilette gegangen. Seh ich dich in der Mittagspause?«

Janas Augenbrauen wanderten überlegend nach oben. Sollte sie oder sollte sie nicht?

Nicky und sie sahen sich oft in der Mittagspause, das war nichts Besonderes, aber wollte sie, Jana, sich schon wieder eine dieser immer gleichen Geschichten anhören, die Nicky erzählte, wenn sie sich wieder einmal Hals über Kopf verliebt hatte? Und die immer zu demselben Ergebnis führten nach ein paar Tagen oder Wochen? Nämlich dass sie sich dann Nickys Verzweiflung anhören musste, weil sie wieder einmal verlassen worden war? Weil sie sich wieder einmal eine Frau ausgesucht hatte, die gar nicht die Absicht hatte, sich länger auf eine Beziehung einzulassen?

Aber wie hatte Susanne gesagt? Ihr Nachname war Samariter? Sie atmete tief durch. Ja, das war wohl so. Sie konnte einfach nicht anders.

»Ist gut«, sagte sie. »Wie üblich. Um eins.«

3

Schön ist es hier schon.

Als Melanie in den Ort hineinfuhr, fühlte sie sich in der Zeit zurückversetzt. Auch wenn das hier Bayern war, aber es erinnerte sie an ihre Kindheit, wenn sie die Ferien auf dem Bauernhof ihrer Großeltern in Niedersachsen verbracht hatte. Jetzt lebte sie schon so lange in Berlin und verbrachte höchstens die Wochenenden in der Natur, dass es ihr ganz merkwürdig vorkam, an einem Wochentag solche Bilder genießen zu können.

Bunt angestrichene alte Fachwerkhäuser mit spitzen roten Dächern begrüßten sie, manche mit geschwungenen Giebeln, hochaufgerichtete Kirchtürme, Kopfsteinpflaster, ein mittelalterlicher, malerischer Marktplatz. Eine richtige Oase für die Augen.

Die Fahrt hierher war anstrengend gewesen, wie üblich Baustelle an Baustelle, und nach den sechs Stunden, die sie dafür gebraucht hatte, fühlte sie sich erschöpft. Glücklicherweise war es nicht sehr schwierig gewesen, noch von Berlin aus ein Zimmer auf einem Hof in diesem Dorf hier zu buchen. Es war Mitte Juni, und die Sommerferien würden erst in ein paar Wochen beginnen.

Auf der Fahrt hatte es zum Teil geregnet, sogar ein Gewitter war in der Ferne aufgezogen, aber zum Glück hinter Melanie, nicht vor ihr. Hier jedoch herrschte nun schönstes Sommerwetter. Das Thermometer im Auto zeigte fünfundzwanzig Grad Außentemperatur an, am früheren Nachmittag war die Temperatur sogar bis auf achtundzwanzig Grad gestiegen.

Auch wenn die Fahrt anstrengend gewesen war, machte sich deshalb fast so etwas wie Urlaubsstimmung in Melanie breit. Aber sie durfte nicht vergessen, dass sie zum Arbeiten hier war.

Selbst jeder Bauernhof, der Zimmer vermietete, hatte heutzutage eine Webseite, und so hatte Melanie schon die Adresse des Hofs in ihr Navi eingegeben, bevor sie losgefahren war. Für die Autobahn hätte sie das zwar nicht gebraucht, aber jetzt erwies es sich als äußerst praktisch.

Die Navi-Stimme leitete sie durch schmale Gassen auf eine Anhöhe hinauf. Nachdem sie oben angekommen war, eröffnete sich vor ihr der schon auf der Webseite versprochene Panoramablick über das ganze Naabtal mit dem Fluss in der Mitte. Als Wasserliebhaberin hatte Melanie sich vor allem von der Aussicht angezogen gefühlt, dass nicht nur der Fluss, sondern auch die Oberpfälzer Seenplatte hier direkt vor der Haustür lag.

Doch leider war das ja mehr eine theoretische Möglichkeit. Denn sie hatte hier einen Job zu erledigen. Danach musste sie nach Berlin zurück. Freizeitaktivitäten waren höchstens mal für den Abend vorstellbar, wenn sie sonst nichts mehr tun konnte. Dennoch nahm sie sich vor, wenigstens einmal auf einem der vielen Seen in ein Boot zu steigen. Und wenn es nur ein Tretboot war.

»Frau Tieck?« Eine warme Frauenstimme mit bayrischem Akzent sprach sie an, während Melanie noch neben ihrem Wagen stand und sich gar nicht von dem Flusspanorama, das unter ihr lag, lösen konnte.

Sie lächelte und drehte sich zu der Stimme um. »Ja. Frau Brandl?«

Eine stämmige Frau Ende dreißig kam auf sie zu und nickte freundlich. »Grüß Gott und herzlich willkommen.«

Grüß Gott, dachte Melanie. Ja, stimmt, ich bin in Bayern. »Guten Tag«, sagte sie.

»Wir haben schon auf Sie gewartet«, begrüßte Frau Brandl sie freudig und streckte ihr die Hand entgegen. »Haben Sie Gepäck? Dann kann mein Mann es Ihnen hineintragen.«

Melanie schüttelte die Hand und öffnete dann ihren Kofferraum. »Nur diese Reisetasche«, sagte sie und nahm die Tasche heraus. »Die braucht niemand für mich zu tragen.« Sie lachte. »Das schaffe ich noch allein.«

»Dann zeige ich Ihnen gleich Ihr Zimmer.« Frau Brandl streckte einen Arm in Richtung des alten Bauernhauses aus. »Die Pension ist im Herrenhaus.«

Das war also einmal ein ganzer Bauernhof. Nachdenklich stocherte Melanie mit einem halbverkohlten Stock in der Asche herum. Überall lagen kleinere oder größere Haufen davon, unterbrochen von halb oder ganz verkohlten Balken und Brettern, manchmal einzeln, manchmal zu regelrechten Scheiterhaufen aufgeschichtet.

An einer Stelle hatte sich wohl während des Brandes der Balkon vom Haus gelöst, war auf den Boden gefallen, wobei der Großteil des Feuers aufgehört hatte zu lodern, während das Haus dahinter fast vollständig abgebrannt war. So sah der Balkon nun aus, als hätte ihn jemand dort auf dem Hof vergessen, und er müsste noch irgendwo an einem anderen Haus angebracht werden, weil er fast vollständig intakt war.

Scheunen, Haus und Nebengebäude schienen zum größten Teil aus Holz bestanden zu haben. Es war kaum mehr etwas davon übrig. Selbst die Mauerreste schienen kurz vor dem Zusammenbrechen zu sein. Neben Asche und verkohlten Holzresten gab es jedoch auch noch schlackenartige Rückstände, von denen Melanie nicht wusste, was sie zuvor dargestellt haben konnten. Das würde wahrscheinlich die Feuerwehr wissen, die sie erst einmal dazu befragen musste.

Hinter einem der hügelartigen Scheiterhaufen knackte es, als hätte jemand auf einen Ast getreten. Aber eigentlich knackte es hier überall. Obwohl die Feuerwehr offensichtlich sorgfältig gelöscht hatte, rauchte es unter manchen Schutthaufen, als würde darunter immer noch ein Feuer schwelen.

Plötzlich schien sich einer dieser Schutthaufen in Bewegung zu setzen. Wahrscheinlich war es nur ein Schatten, den sie da nur aus dem Augenwinkel gesehen hatte, dachte Melanie kurz darauf, weil sich sonst nichts weiter tat. Vielleicht ein Vogel, der kurz die Strahlen der Sonne unterbrochen hatte, um dann seinen Weg in eine andere Richtung fortzusetzen.

Für die Vögel, die vielleicht täglich hier vorbeigekommen waren, irgendwo einen Platz hatten, an dem sie sich ausruhten, einen Balken an einer Scheune oder so etwas, war das hier jetzt sicherlich auch ein Schock. Zumindest aber mussten sie sich einen neuen Platz suchen. Vielleicht hatte dieser Vogel hier nur die Lage gecheckt.

Dann jedoch sah sie, dass es kein Vogel gewesen war, denn eine Gestalt schälte sich aus dem Schatten einer noch halb stehengebliebenen Mauer heraus. Die Gestalt einer Frau.

Es sah aus, als wäre es eine junge Frau, ein paar Jahre jünger als Melanie, vielleicht Anfang zwanzig, und sie hatte ziemlich lange Haare, die sie an der Seite zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte, sodass sie ihr über die Schulter nach vorn fielen. Das glänzende Mittelbraun hob sich von einer eierschalenfarbenen Bluse ab, die sie zu einem locker glockig fallenden, ins Orange gehenden leichten Sommerrock mit einer Art hellerem Pünktchenmuster trug, der so lang war, dass er ihre Knie bedeckte. Dazu passend trug sie Schuhe, die zwar recht bequem aussahen, aber trotzdem einen kleinen Absatz hatten. Hinten waren sie offen und wurden nur durch eine schmale Schlinge über der Ferse verankert.

Es hatte etwas Trachtenmäßiges, war aber keine Tracht. Wohl eher die abgewandelte Tracht fürs Büro. Die große, braune Tasche, die an ihrer geraden Schulter hing, als wäre sie dafür gemacht, war genau das, was Sekretärinnen immer in ihrer Schreibtischschublade verstauten, wenn sie morgens zur Arbeit kamen.

Melanie war eher der Rucksacktyp. Sie hatte Frauenhandtaschen noch nie etwas abgewinnen können. Auch trug sie ihre Haare lieber kurz. Das fand sie praktischer. Ihrer nördlichen Herkunft entsprechend war sie blond, und sie zog Hosen Röcken vor.

Nachdem die Frau noch auf den Boden geblickt hatte, als sie hinter den Mauerresten hervorgekommen war, als würde sie etwas suchen, blickte sie nun auf und sah Melanie später, als Melanie sie entdeckt hatte. Anscheinend überrascht blieb sie stehen.

Melanie betrachtete sie weniger überrascht als interessiert. Sie mochte sich ja hinter einem langen Rock und einer nicht sehr offenherzigen Bluse verstecken, aber es war auf den ersten Blick zu erkennen, dass diese Frau attraktiv war. Obwohl es fast ein wenig so aussah, als wäre sie sich dessen gar nicht bewusst oder wollte es soweit wie möglich verbergen. Sie war nur sehr zurückhaltend geschminkt, und ganz sicher sollte ihr Outfit zwar luftig für die sommerlichen Temperaturen, aber nicht sexy sein.

Da die Frau keine Anstalten dazu machte, ging Melanie auf sie zu. »Guten Tag«, sagte sie, als sie bis auf zwei Meter an sie heran war. »Gehören Sie hier zum Hof?«

Es schien fast, als hätte sie die Frau mit ihrer harmlosen Frage erschreckt. Sie zuckte ein wenig zusammen. »Nein«, sagte sie dann. »Ich wollte nur einmal sehen, wie es jetzt hier aussieht nach dem Brand.«

»Also reine Neugier?«, fragte Melanie.

Kurz beobachteten sie aufmerksame hellbraune Augen. »Könnte man so sagen«, erwiderte die Frau dann. Wieder ließ sie sich Zeit, Melanie genau zu mustern, bevor sie weitersprach. »Sie sind nicht von hier«, stellte sie fast etwas grüblerisch fest.

Melanie lächelte leicht. »Das stimmt. Entschuldigung. Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Melanie Tieck.« Sie streckte die Hand aus, um die ihr noch unbekannte Frau zu begrüßen. »Ich soll für die Versicherung untersuchen, was genau mit diesem Hof hier«, mit der anderen Hand machte sie eine allumfassende Bewegung, »passiert ist.«

»Oh«, sagte die andere, nahm Melanies Hand, drückte sie kurz, nur ganz sanft, und ließ sie wieder los. »Jana Neugebauer.«

»Warum haben Sie Oh gesagt?«, fragte Melanie und hob die Augenbrauen. »Finden Sie es überraschend, dass die Versicherung etwas über den Brand wissen will?«

»Nein, das ist sicher nicht überraschend.« Auf einmal schlich sich auch in Jana Neugebauers Mundwinkel ein leises Lächeln. »Aber Sie sind eindeutig nicht aus Bayern, und ich hätte wohl eher gedacht, dass in so einem Fall jemand hier aus der Gegend kommt.«

»Kennen sich denn alle hier?« Melanie schmunzelte. »Dass ein Fremder gleich so auffällt?«

Jana lachte leise. »Sie kommen bestimmt aus der Großstadt. Sonst würden Sie das nicht fragen.«

»Berlin.« Melanie nickte. »Da wäre es schwierig, jeden zu kennen.«

»Berlin«, wiederholte Jana, wie manche Leute wahrscheinlich das Wort Wunderland ausgesprochen hätten.

»Waren Sie schon einmal in Berlin?«, fragte Melanie.

»In Berlin? Ich?« Jana sah aus, als hätte Melanie ihr die Frage gestellt, ob sie schon einmal zum Mond geflogen wäre. »Nein.« Sie schüttelte den Kopf.

»Fänden Sie das so ungewöhnlich?« Unvermutet bemerkte Melanie, wie Janas Parfüm, ihr ganz eigener Duft, den der Brandstelle überlagerte, weil der Wind genau in Melanies Richtung wehte. Es war ein sehr reizvoller Duft, sehr sanft und unaufdringlich auf der einen Seite, auf der anderen jedoch ungeheuer anziehend, fast berauschend. »Wenn Sie schon einmal in Berlin gewesen wären?« Sie wäre gern einen Schritt zurückgetreten, um diesem Rauschgefühl zu entkommen, aber andererseits war genau das das Letzte, was sie tun wollte. Also blieb sie stehen.

»Oh ja.« Jana lachte wieder auf diese leise und doch so eindringliche Art. »Das wäre sehr ungewöhnlich. Ich habe mein ganzes Leben hier verbracht, bin hier geboren, aufgewachsen und zur Schule gegangen. Nach der vierten Klasse hätte ich aufs Gymnasium gehen sollen. Aber das ging dann nicht, weil es hier keins gab und ich dafür hätte in die nächstgrößere Stadt fahren müssen. Ein sehr weiter Weg jeden Tag. Deshalb wurde dann nichts daraus.«

»Es gibt hier kein Gymnasium?« Als ob eins gleich um die Ecke sein müsste, reckte Melanie etwas den Hals, um über die Brandstelle hinauszusehen.

»Jetzt gibt es eins«, sagte Jana. »Aber damals, als ich in dem Alter war, gab es keins.«

»Ich stamme auch nicht aus Berlin.« Melanie lächelte. »Arbeite jetzt nur schon einige Jahre dort. Ursprünglich bin ich aus Göttingen.« Auf einmal musste sie sehr schmunzeln. »Wo es allerdings mehr als ein Gymnasium gab.«

»Das war bestimmt sehr schön.« Nun lächelte Jana auch.

Melanie musste fast wegschauen, so einnehmend, so freundlich und sanft war dieses Lächeln.

»Schöner jedenfalls als das hier jetzt«, erwiderte sie etwas brüsk, um sich von dem Zauber, den Jana auf sie auszustrahlen schien, zu lösen. Endlich konnte sie sich ein paar Schritte entfernen und tat so, als müsste sie mit dem Stock, mit dem sie zuvor schon in der Asche herumgestochert hatte, noch irgend-etwas untersuchen, starrte auf den Boden, um nicht Jana ansehen zu müssen. »Wenn Sie hier aufgewachsen sind, kennen Sie die Besitzer?«

»Ich bin nicht genau hier aufgewachsen«, korrigierte Jana sie zurückhaltend. »Unsere sogenannte Stadt besteht aus sechzig Ortsteilen. Jeder sozusagen ein eigenes kleines Dorf. Das hier ist so ziemlich am anderen Ende von dem Dorf, in dem ich aufgewachsen bin. Und früher hat sich alles fast nur innerhalb des Dorfes abgespielt. Die Nachbardörfer waren schon so etwas wie . . .«, sie lachte leicht, »Ausland.«

»Da dachte ich jetzt, alle kennen sich hier . . .«, bemerkte Melanie etwas unzufrieden. »Und jeder wüsste, was hier vorgefallen ist.«

»Ich nicht.« Jana schüttelte den Kopf. »Ich sehe diesen Hof heute zum ersten Mal.«

»Dann sind Sie also wirklich nur aus Neugier hier?« Als ob sie Janas Anwesenheit gar nicht interessieren würde, entfernte Melanie sich mit weiterhin zu Boden gesenktem Blick noch ein paar Schritte von ihr.

»Wenn Sie früher gekommen wären, hätten Sie wahrscheinlich mindestens die Hälfte der sechzig Dörfer hier antreffen können«, entgegnete Jana offensichtlich belustigt. »Ich bin spät dran, weil ich so lange arbeiten musste. Hier brennt nicht jeden Tag ein ganzer Bauernhof ab. Das ist schon ein besonderes Ereignis.«

»Was Sie nicht sagen.« Endlich war Melanie weit genug entfernt von Jana, um den Blick wieder heben zu können, ohne von diesen faszinierenden Haselnussaugen in ihren Bann gezogen zu werden.

Jana zuckte die Schultern. »So ist das eben auf dem Dorf. Es mag ja Fernsehen und Internet geben, aber die interessantesten Ereignisse finden immer noch in der näheren Umgebung statt. Beim Nachbarn vor der Haustür. Oder hinter zugezogenen Gardinen«, fügte sie mit einem offenbar mühsam unterdrückten Zucken ihrer Mundwinkel hinzu.

»Hab ich schon gehört«, nickte Melanie. »Extreme soziale Kontrolle. Das ist der Grund, warum Leute vom Dorf in die Großstadt ziehen.«

»Nicht der einzige«, sagte Jana. »Aber ja, das kann schon etwas lästig sein.«

»Deshalb wundert es mich umso mehr«, nun ging Melanie wieder auf Jana zu. Mal sehen, wie weit sie herankommen konnte, ohne dass der Zauber dieser Dorfschönheit auf sie wirkte, »dass niemand etwas von dem Brand hier mitbekommen hat. Dass er nicht früher gelöscht wurde. Gibt es hier keine Feuerwehr?«

»Oh doch. Natürlich. Die Freiwillige Feuerwehr ist der Stolz der Gemeinde. Sie putzen jeden Samstag das knallrote Feuerwehrauto.« Jana lächelte auf eine Art, die nur schwer vermuten ließ, was sie dachte.

»Sie putzen, aber benutzen es nicht?«, fragte Melanie erstaunt. Auf dem Dorf war alles möglich. Da kannte sie sich einfach zu wenig aus.

Jana lachte. »So war das nicht gemeint. Soviel ich gehört habe, sind sie bei diesem Brand einfach zu spät gekommen. Er muss sich sehr schnell ausgebreitet haben.«

»Scheint so«, sagte Melanie und blickte sich noch einmal auf dem schwarzen Schlachtfeld um.

Ob die Freiwillige Dorffeuerwehr mir da wirklich weiterhelfen kann? dachte sie. Die haben das hier doch wahrscheinlich noch nicht mal richtig untersucht. Vielleicht haben sie gar nicht die technischen Möglichkeiten dazu.

Leider war sie selbst auch keine Spezialistin auf dem Gebiet der Ursachenerforschung von Bränden. Das hieß, sie musste einen externen Gutachter hinzuziehen, um festzustellen, was tatsächlich hier geschehen war. Das konnte dauern.

Sie seufzte innerlich. Eigentlich hatte sie ihren Aufenthalt in dieser Gegend nicht so ausdehnen wollen. Wäre es näher an Berlin gewesen, hätte sie morgen eventuell schon wieder in ihrem eigenen Bett schlafen können. Aber momentan sah es nicht so aus, als ob sie sich darauf freuen konnte.

Jana hustete. »Ich glaube, ich habe genug gesehen«, sagte sie etwas undeutlich, leicht krächzend. »Ich wollte sowieso nur –« Sie brach erneut hustend ab.

Deine Neugier befriedigen? setzte Melanie in Gedanken fort. Damit du beim nächsten Dorfklatsch etwas zu erzählen hast?

»Ich kann hier auch nichts mehr tun.« Sie nickte. »Und heute«, sie blickte auf ihre Uhr, »werde ich wohl auch niemanden mehr erreichen. Also kann ich nur noch in mein Hotel gehen.« Sie zuckte die Schultern. »Ab wann ist die Dorf- . . . ich meine, die Freiwillige Feuerwehr morgen früh ansprechbar?« Fragend blickte sie Jana an.

»Sie halten mich anscheinend für die Auskunftsstelle vom Dienst.« Jana lachte mit immer noch etwas rauer Stimme. »Aber das kann ich Ihnen wirklich nicht sagen.«

»Warum sollten Sie auch?« Melanie wollte tief durchatmen, aber schon bei dem Versuch merkte sie, warum Jana gehustet hatte, deshalb kürzte sie ihren Atemzug auf einen normalen ab. »Sie sind ja nicht bei der Feuerwehr.«

»Nein, bin ich nicht«, bestätigte Jana. Gleichzeitig legte sie leicht den Kopf schief. »Sie wohnen bei Gerbingers? Weil Sie sagten: Hotel.«

»Bei einer Familie Brandl«, erwiderte Melanie erstaunt.

»Ach so.« Jana wandte sich in die Richtung, aus der sie gekommen war. »Das ist ein Landgasthof, kein Hotel.« Sie schmunzelte. »Hotels gibt es bei uns hier nämlich eigentlich gar nicht. Deshalb hatte ich mich gewundert.«

Melanies Auto stand in der entgegengesetzten Richtung, deshalb wäre es komisch gewesen, wenn sie Jana jetzt gefolgt wäre. Warum hatte sie also das Bedürfnis dazu?

»Ich hätte es wissen müssen«, erwiderte sie leicht entschuldigend. »Ich bin nämlich eigentlich gern auf dem Land in der Natur. Und oft. Jedes Wochenende, wenn ich kann. Ich habe eine Schaluppe in Waren-Müritz liegen.«

Statt in die andere Richtung zu gehen, wie sie es anscheinend vorgehabt hatte, drehte Jana sich um und kam auf Melanie zu. »Tatsächlich? So hätte ich Sie gar nicht eingeschätzt. Ich dachte, Sie wären eine richtige Großstadtpflanze.«

»Wahrscheinlich bin ich das auch«, gab Melanie fast etwas verlegen zu. »Mittlerweile. Wenn man schon so lange in Berlin lebt wie ich, bleibt man davon nicht unberührt. Auch wenn Göttingen eine viel kleinere Stadt ist.«

»Sie haben ein eigenes Schiff?« Das schien Jana zu interessieren. Ziemlich nah vor Melanie blieb sie stehen und blickte sie fragend an.

»Eine Schaluppe. Das ist mehr ein Boot. Ein ziemlich kleines Boot«, berichtigte Melanie Janas Vermutung.

»Aber kein Ruderboot.« Janas Lächeln war so hinreißend, dass Melanie sich ärgerte, dass sie nicht gleich zu ihrem Wagen gegangen war.

»Nein, kein Ruderboot«, bestätigte sie. »Es hat eine Kabine. Und ein Segel. Für Notfälle und Flauten sogar einen Motor.«

»Eine richtige Jacht«, stellte Jana immer noch hinreißend lächelnd fest.

Wie komme ich da jetzt wieder raus? Melanie brach fast der Schweiß aus. »Das nicht«, sagte sie. »Aber für eine Person reicht’s.«

»Nur für eine Person? Sie sind immer allein, wenn Sie da in Waren-Müritz segeln?« Es klang wie eine ganz harmlose Frage, aber es war alles andere als das.

Das wurde Melanie jedoch erst bewusst, nachdem sie zuerst einmal gestutzt hatte. Janas leicht fragend geöffnete Augen schauten sie immer noch an, und selbst wenn sie das gewollt hätte, hätte Melanie die Antwort auf die Frage nicht verweigern können. Sie war fast wie in Hypnose. »Meistens«, sagte sie.

Die Antwort schien Jana für den Moment zu genügen, aber ihr Lächeln beendete sie nicht. Es war, als wollte sie ausprobieren, wie lange Melanie es aushielt. Oder wie so ein Wett-Starren, bei dem der verloren hatte, der zuerst wegschaute.

»Ich denke . . .«, Melanie zog sich ein paar Schritte zurück, ohne den Blick von Jana zu lösen, »ich sollte jetzt wirklich in mein Hotel . . . ähm . . . in meinen Landgasthof . . .«

»Zenzi Brandl ist meine Cousine«, sagte Jana. »Grüßen Sie sie von mir.«

»Ihre . . . Cousine . . .«, wiederholte Melanie etwas überfordert.

»Eine von mehreren in der Gemeinde«, erklärte Jana. »Wie Sie sich vielleicht vorstellen können, sind einige von uns hier auf dem Dorf miteinander verwandt.«

»Ja . . . ähm . . . ja. Das kann ich mir vorstellen.« Seit wann stotterst du so herum? Melanie hatte das Gefühl, sie wäre in eine völlig fremde Welt eingetreten, in der sie wie verloren war.

Sie hatte dieses Gefühl nicht gehabt, bis Jana aufgetaucht war. Aber vor allem in den letzten paar Minuten hatte sie es ganz entschieden.

»Sie wissen, wo es ist?«, fragte Jana jetzt zweifelnd. »Oder soll ich es Ihnen zeigen?«

Oh ja, bitte! »Nein, danke«, sagte Melanie. »Ich war schon dort. Ich weiß, wo es ist.«

»Na dann . . .« Jana lächelte wieder, aber diesmal schien sie nichts damit bewirken zu wollen. »Ich muss dann hier zurück.« Sie wies leicht mit dem Arm auf die Richtung, aus der sie gekommen war.

»Und ich in die.« Melanie wies in die andere Richtung. Sie lachte leicht. »Also trennen sich unsere Wege wohl hier.«

»Ja.« Obwohl sie zuvor schon auf dem Weg zu ihrem Wagen gewesen war, schien Jana jetzt zu zögern. »Also dann . . .«, bemerkte sie noch einmal.

»Auf Wiedersehen«, sagte Melanie. »Ich nehme an, in diesem Dorf hier«, sie hüstelte, »Entschuldigung: Stadt werden wir uns wahrscheinlich das eine oder andere Mal ganz ungewollt über den Weg laufen, ohne dass wir uns verabreden müssen.« Sie konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen.

»Damit können Sie rechnen.« Auch Jana lachte. »Ich muss manchmal sogar bei der Feuerwehr vorbei.« Mit einem mutwilligen Zwinkern warf sie noch einmal einen Blick auf Melanie, drehte sich dann um und ging so davon, als ob sie in jeder Lage geradeaus laufen könnte, auch mit nicht allzu festen Absatzschuhen und auf diesem sehr unwegsamen Untergrund hier.

Melanie blickte ihr hinterher. Janas schwingender Rock hatte etwas Aufmunterndes. Oder vielleicht Aufforderndes? Lag das an diesem Orangeton? Der wirkte sehr lebensbejahend und winkte Melanie beinah lockend zu, Jana zu folgen.

Ach, das bildest du dir doch alles nur ein! Verärgert über sich selbst riss Melanie ihren Blick von dem sich immer mehr entfernenden orangenen Fleck los und drehte sich ruckartig um.

Bei weitem nicht so elegant und geschmeidig wie Jana stapfte sie zu ihrem Wagen zurück.

Was war das nur mit dieser Frau? Selbst jetzt hätte sie sich gern noch einmal umgedreht und ihr hinterhergeschaut. Obwohl sie mittlerweile wahrscheinlich längst hinter den heruntergebrannten schwarzen Mauern verschwunden war.

Von so etwas durfte sie sich einfach nicht ablenken lassen, solange sie hier war. Sie hatte in diesem . . . Dorf einen Job zu erledigen, weiter nichts. Dann würde sie wieder nach Berlin zurückfahren und das alles hier vergessen.

Wenn der Papierkram erst einmal erledigt war. In Berlin warteten wahrscheinlich schon wieder die nächsten Fälle auf sie, die sie zu untersuchen hatte.

Statt sie nur zu öffnen, riss sie ihre Wagentür mit einer Gewalt auf, die gar nicht nötig gewesen wäre. Worüber sie sich erneut ärgerte. Demolierte sie jetzt sogar noch ihren Wagen nur wegen dieser . . . Dorfschönheit? Konnte sie ihr dafür eine Rechnung schicken?

Endlich konnte sie sich nicht mehr zurückhalten und blickte noch einmal in die entgegengesetzte Richtung, als sie sich in ihr Auto hineinsetzte. Zu ihrer Entschuldigung konnte sie immer anführen, dass sie sich dazu nun einmal umdrehen musste. Anders ging es gar nicht.

Aber von Jana war – wie sie schon vermutet hatte – nichts mehr zu sehen.

4

»Wo kommst du denn auf einmal her?« Zenzi Brandl blickte etwas erstaunt auf ihre Cousine, die gerade den Gastraum betreten hatte.

»Ach, ich hatte Feierabend, und da dachte ich, ich trinke ein Gläschen Wein bei dir.« Jana lächelte sie ganz unschuldig an.

»Jetzt erst Feierabend?« Schnell warf Zenzi einen Blick auf die alte hölzerne Bauernuhr, die hier in der Gaststube in der Ecke stand. »Das ist aber spät. Hat dich der Junior wieder aufgehalten?« Sie unterdrückte ein Schmunzeln.

Jana rollte die Augen. »Ich habe nichts mit dem Junior. Wie oft soll ich dir das noch sagen?« Sie seufzte. »Und jedem anderen hier.«

»Er hätte aber gern was mit dir«, zog Zenzi sie weiter mit vergnügtem Blick auf, während sie ein paar der Holztische, die nicht bereits von Gästen besetzt waren, mit einer Bürste scheuerte.

»Das stimmt.« Jana setzte sich an den Tisch, der der Theke am nächsten war. Er strahlte frisch gescheuert, also war Zenzi hier schon fertig. Außerdem war es sowieso Janas Lieblingsplatz, denn von hier aus konnte sie den ganzen Gastraum überblicken. Der Tisch lag fast genau gegenüber der Eingangstür.

»Dein üblicher Silvaner?«, fragte Zenzi, während sie die Bürste auf dem Tisch liegenließ, den sie gerade bearbeitete, und zur Theke hinüberging.

Jana nickte. »Was sonst?«

»Letztens hast du ein Bier getrunken. Also muss ich ja wohl fragen.« Mit einem gutmütigen Lächeln begab Zenzi sich hinter die Theke. »Also wenn es . . . angeblich nicht der Junior war, der dich aufgehalten hat, warum kommst du dann erst jetzt von der Arbeit?« Sie nahm eine Weißweinflasche aus dem Kühlschrank. »Du solltest dich von Lehners nicht so ausnutzen lassen. Darin waren sie schon immer gut, die Großkopferten.«

»Das angeblich habe ich nicht gehört«, gab Jana nicht sehr amüsiert zurück. »Warum wollt ihr nur immer alle, dass ich den Junior heirate? Der hat jeden Tag eine andere. Das wäre doch kein Ehemann.« Sie schüttelte den Kopf. »Nur weil sie die angesehenste Familie im Dorf sind?«

»Und die reichste«, ergänzte Zenzi, während sie mit einem gutgefüllten Glas Silvaner auf Janas Tisch zukam. »Das hat schon seine Vorteile.«

»Welche?«, fragte Jana und folgte Zenzi mit ihrem Blick, bis sie das Glas vor sie hinstellte. »So schlecht ist mein Gehalt auch wieder nicht. Ich komme gut damit aus.«

»Weil du immer noch bei deiner Mutter wohnst«, hielt Zenzi dagegen. »Was wäre, wenn du Miete bezahlen müsstest und auch sonst alle Ausgaben?«

Innerlich musste Jana zugeben, dass Zenzi recht hatte. Lehners waren nicht gerade berühmt dafür, dass sie üppige Gehälter zahlten. Deshalb waren sie ja so reich. Und auch, weil sie immer schon die größten Grundbesitzer im ganzen Umkreis gewesen waren. Sie kassierten überall.

»Ich war nach Feierabend noch auf dem abgebrannten Bauernhof«, wechselte sie schnell das Thema. »Deshalb bin ich so spät.«

»Ach so. Babetts Hof.« Zenzi legte leicht den Kopf schief. »Kommt ihr gerade recht, dass er jetzt abgebrannt ist, nicht wahr?«

Fragend hob Jana die Brauen. »Wie meinst du das?« Sie zuckte die Schultern. »Ich kenne sie nicht so gut. Auf dem Hof war ich heute das erste Mal.«

»Na, du weißt doch. Diese Geschichte mit ihrer Schwester«, erklärte Zenzi. »Sie will nicht verkaufen, und der Hof gehört ihnen zusammen.«

»Ach ja.« Jana erinnerte sich und nickte. »Die Schwester lebt in München, war das nicht so?«

»Genau. Lebt da in Saus und Braus.« Zenzi grinste. »Babetts Worte. Und Babett will schon lange hier weg. Aber ohne die Einwilligung ihrer Schwester kann sie den Hof nicht verkaufen. Und die will sie ihr nicht geben. Verstehen sich nicht so gut, die beiden.«

»War das immer schon so?« Fast als würde sie ein Ritual vollführen, auf das sie sich schon lange gefreut hatte, nahm Jana einen Schluck von ihrem Silvaner und genoss das elegant-süße Bouquet mit dem nur leicht säuerlichen Einschlag. »Ihr seid doch zusammen zur Schule gegangen.« Sie schmunzelte leicht. »Davon weiß ich ja nichts. Du warst in dem Jahr mit der Schule fertig, als ich erst angefangen habe.«

»Ja, ja, du Küken . . .« Fast etwas mütterlich lächelnd schlug Zenzi spielerisch mit dem Tuch nach ihr, das sie immer noch in der Hand hielt, weil sie damit die Kondenstropfen vom Glas gewischt hatte. »Erinner mich nur immer wieder daran, wie alt ich schon bin.«

»Du bist doch nicht alt«, widersprach Jana, grinste aber leicht. »Immerhin bist du noch unter vierzig.«

»Pass bloß auf, du!« Diesmal hätte der Lappen fast getroffen, wenn Jana nicht ausgewichen wäre.

»Nun sag schon«, kam Jana lachend wieder auf das Thema zurück, das sie für dieses kleine Zwischenspiel verlassen hatten. »Was ist da los mit dem Bauernhof?« Sie sah plötzlich wieder Melanie vor sich, wie sie in den verbrannten Resten herumgestochert hatte. Für einen Moment interessierte sie der Hof und Babetts Geschichte nicht mehr so sehr.

Zenzi zuckte die Schultern. »Babett war schon immer . . . etwas Besonderes. In ihren eigenen Augen jedenfalls.« Sie rollte die Augen. »Schon zu Schulzeiten hat sie immer geprahlt. Dass sie kein Bauerntrampel wäre wie wir.« Sie schüttelte den Kopf. »Dass sie in die Stadt gehen würde, sobald sie mit der Schule fertig ist. Niemals würde sie hier auf dem Dorf alt werden und versauern.«

»Aber dann hat sie trotzdem den Hof übernommen?« Das wunderte Jana sehr, und sie hob erstaunt die Augenbrauen, während sie ihre Cousine ansah.

»Sie musste.« Zenzi ging zu dem Tisch mit der Bürste zurück, den sie verlassen hatte, um Jana ihren Wein zu bringen. »Sie war nämlich nicht besonders gut in der Schule. Im Gegensatz zu ihrer Schwester. Deshalb haben ihre Eltern alles Geld zusammengekratzt. Haben damit Elies das Abitur und dann das Studium bezahlt. Da blieb für Babett nur noch der Hof.«

»Da war sie wohl sehr sauer.« Obwohl Jana Babett nur vom Sehen und ein paar Worten beim Einkaufen kannte, konnte sie sich das sehr gut vorstellen. Schon immer hatte diese eigentlich sehr gutaussehende blonde Frau diesen verbitterten Zug um den Mund gehabt. Desto mehr, je älter sie wurde.

»Oh ja!«, bestätigte Zenzi mit einem heftigen Nicken, während sie den Tisch zu Ende schrubbte. »Das kannst du wohl laut sagen. Babett hasst Elies. Noch mehr, seit ihre Eltern bei einem Unfall gestorben sind. Und Babett den Hof nicht allein geerbt hat, sondern zusammen mit ihrer Schwester.«

»Ist das nicht auch ungerecht?«, fragte Jana. »Schließlich hat die Schwester die Ausbildung bekommen.«

»Schon wahr.« Dem stimmte Zenzi mit einem nachdenklichen Gesichtsausdruck zu. »Aber Elies war immer die Vernünftigere. Vielleicht wollten die Eltern, dass die Schwestern sich wieder versöhnen.« Sie zuckte die Schultern. »Wenn sie dann gemeinsam die Verantwortung für den Hof tragen. Dass Elies Babett unterstützen kann.« Kopfschüttelnd hielt sie inne, fuhr dann aber fort: »Oder bremsen, wenn Babett mal wieder . . .«, sie seufzte, »total abdreht.«

»Total abdreht?« Interessiert lehnte Jana sich im Wirtshausstuhl zurück.

Zenzi ging mit Bürste, Eimer und Tuch zum nächsten Tisch. »Sie hatte so ihre Momente«, erklärte sie etwas unbestimmt. »Schon in der Schule. Und ich glaube, das ist nicht besser geworden, seit sie erwachsen ist.« Bedauernd, aber durchaus auch mit etwas schadenfroh zuckenden Mundwinkeln fügte sie hinzu: »Das ist wohl so, wenn man sich für was Besseres hält. Und dann mit der Forke im Stall stehen muss.«

»He! Zenzerl! Hast uns scho’ ganz vergessen?« Einer der Gäste vom Stammtisch, der vor dem großen Kachelofen stand und immer für die Honoratioren des Dorfes reserviert wurde, hob auffordernd seinen Maßkrug an, sodass man sehen konnte, dass er leer war.

»Komm glei’.« Zenzi nickte ihm zu. »Momenterl.«

»Basst scho’«, kam es gutmütig brummend vom Stammtisch zurück, und der Bierkrug wurde wieder auf den Tisch gestellt.

»Möchtest du noch was?«, fragte Zenzi Jana, die in der Zwischenzeit nur vor sich hingeschaut hatte, ohne auf das Drumherum zu achten. »Hast du Hunger?«

Jana schüttelte den Kopf. »Die Mutter hat sicher noch was auf dem Ofen warmgehalten. Ich gehe ja gleich.«

»Scho’ recht.« Freundlich lächelnd wandte Zenzi sich von ihr ab und ging hinter den Tresen, um die Maßkrüge zu zapfen, die am Stammtisch verlangt wurden.

So alleingelassen versank Jana wieder in ihren Gedanken. Diese Babett . . . Jana war nur deshalb auf den Hof gefahren, weil Nicky ihr von Babett erzählt hatte. Über alle Maßen begeistert. Sie war tatsächlich der Meinung, sie hätte einen Engel kennengelernt. Was Zenzi eben hier erzählt hatte, klang aber nicht ganz so.

Nicky war immer begeistert. Immer wieder. Während Jana sich in dieser Beziehung sehr zurückhaltend verhielt, ging Nicky sehr offen mit ihren Gefühlen um. Sie konnte gar nicht anders. Sie war einfach so. Auch wenn alle über sie lachten, hielt sie das nicht davon ab.

Manchmal hätte Jana sich gewünscht, sie wäre so offen gewesen. Aber obwohl sie zu allen Menschen nett und freundlich war – sogar dann, wenn sie es gar nicht verdient hatten –, hielt sie ihr Innerstes doch verschlossen. Dass Nicky sich ständig in eine neue Frau verliebte, fand sie manchmal lustig, manchmal auch anstrengend. In letzter Zeit jedoch eher besorgniserregend. Besonders seit ihrem Gespräch heute Mittag.

So wie Zenzi mit Babett zusammen zur Schule gegangen war, war Jana mit Nicky zusammen zur Schule gegangen. Das bedeutete, Babett war erheblich älter als Nicky. Das war bisher eigentlich nicht Nickys Vorliebe gewesen. Ihre Kurzzeitfreundinnen waren genauso jung wie sie, oft sogar noch jünger, weil Nicky selbst auch nicht gerade wie zweiundzwanzig wirkte. Da hätte man manchmal noch mindestens fünf Jahre abziehen können, wenn man sie so erlebte. Wenn nicht mehr.

Babett hatte Nicky jedoch anscheinend regelrecht vom Hocker gehauen, trotz des Altersunterschieds. Im Gegensatz zu sonst war Babett wohl auch die treibende Kraft gewesen, dass sie sich näher kennengelernt hatten. Genauso wie Jana hatte auch Nicky Babett vorher nur vom Sehen gekannt. Vor allem gerade auch der Altersunterschied hatte dafür gesorgt, dass sie nicht in denselben Kreisen verkehrten. Weil sie nicht dieselben Interessen hatten. Hatte sich das auf einmal geändert?

Die ganze Geschichte, die Nicky Jana beim Mittagessen erzählt hatte, klang sehr seltsam. Babett hatte in der Drogerie eingekauft, in der Nicky arbeitete, und deutliches Interesse an ihr gezeigt. Bei Nicky musste man sich nicht fragen, ob sie auf Frauen stand, jeder wusste es. Das war sonst auf den Dörfern hier nicht so üblich, aber mit der Zeit hatten die Leute es akzeptiert. Sich irgendwie daran gewöhnt, ohne sich noch daran zu stören.

Oder sie hielten es nur für eine ›Phase‹, weil Nicky noch so jung war und in ihrer jugendlichen Begeisterung immer wieder übers Ziel hinausschoss. Begeisterung für alles, nicht nur für Frauen. Sie wurde als verrücktes Huhn betrachtet, und da ließ selbst die altertümliche Dorfmoral einmal fünfe gerade sein.

Es gab sogar Leute, die Jana dafür bedauerten, dass sie mit Nicky befreundet war und so oft ihre Zeit mit ihr verbringen musste, weil Nicky manchmal wie eine Klette an ihr hing. Die meisten waren jedoch wohl froh, dass sie sich nicht mit Nicky abgeben mussten, und überließen diese Aufgabe gern Jana. Nicky war der Hofnarr und Jana so etwas wie ihre Gouvernante.

Dass Jana auch auf Frauen stehen könnte, war bisher noch niemandem in den Sinn gekommen, denn sie ging nicht damit hausieren wie Nicky. Wenn Lehner-Junior hinter ihr her war, empfand sie das manchmal zwar nicht als sehr angenehm, auf der anderen Seite jedoch als eine gute Fassade, hinter der sie sich verstecken konnte.

Denn im Gegensatz zu Nicky hatte sie nicht den Vorteil, dass man sie als Hofnarr betrachtete, dem man alles durchgehen ließ. Viele junge Männer im Dorf wären wahrscheinlich sehr enttäuscht gewesen, wenn sie erfahren hätten, dass Jana nicht für sie zur Verfügung stand, und man wusste nie, was das auf einem Dorf bewirken konnte.