Geflohen. Verboten. Ausgeschlossen - Alexander Glasner-Hummel - E-Book

Geflohen. Verboten. Ausgeschlossen E-Book

Alexander Glasner-Hummel

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Beschreibung

Jahrzehntelang wurden sie als "Terroristen" verunglimpft und ihre Organisationen als "Hauptfeind der inneren Sicherheit" diffamiert: Kurdinnen und Kurden in Deutschland. Obwohl diese Menschen einst aus ihrer Heimat geflohen sind, um Schutz vor Krieg und Verfolgung zu finden, kriminalisiert der Westen und insbesondere Deutschland fast alle Organisationen der kurdischen Diaspora. Diese Politik wird bis heute mit dem PKK-Verbot von 1993 gerechtfertigt. Jede Bundesregierung, gleich welcher Farbkonstellation, hat diese antikurdische Politik bisher fortgeführt. Erstmals zeigen Alexander Glasner-Hummel, Monika Morres und Kerem Schamberger, mit welch autoritären Methoden Kurdinnen und Kurden hierzulande mundtot gemacht werden. Sie stellen fest: Die Repression gegen die kurdische Bewegung ist ein deutsches Demokratiedefizit.

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Ebook Edition

Alexander Glasner-HummelMonika MorresKerem Schamberger

Geflohen.Verboten.Ausgeschlossen.

Wie die kurdische Diaspora in Deutschland mundtot gemacht wird

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www.westendverlag.de

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN: 978-3-98791-018-0

1. Auflage 2023

© Westend Verlag GmbH, Neu-Isenburg 2023

Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin

Satz: Publikations Atelier, Weiterstadt

Inhalt

Titel

Öcalan ist überall!

1 Einleitung

Die PKK hat es nicht bis nach Hersbruck geschafft, das PKK-Verbot hingegen schon

Alltag und Absurdität der Repression

2 Kurd:innen in Deutschland: Geflohen vor Krieg und Verfolgung

Nach der Jahrtausendwende: Neue Fluchtgründe entstehen

3 Die kurdische Freiheitsbewegung und die PKK: Ein Produkt der Selbstverteidigung

Die Ursprünge der PKK

Vom bewaffneten Kampf zur vielgestaltigen Volksbewegung

PKK – eine Terrororganisation?

4 Schützenhilfe für die Türkei: Die Verfolgung der kurdischen Bewegung beginnt

Die Anfänge der kurdischen Freiheitsbewegung in Deutschland

Ein mysteriöser Mord in Schweden

Die PKK wird zum »Hauptfeind der inneren Sicherheit«

Ein Hamburger Kurde im größten Strafprozess der deutschen Geschichte

5 Ein Bewegungsverbot, das ein Vereinsverbot sein will: Die PKK wird in die Illegalität gedrängt

Juristische Hintergründe des PKK-Betätigungsverbots

Geopolitische Gründe des »PKK-Verbots«

Das »PKK-Verbot« als Startpunkt einer Eskalationsspirale

6 Politisches Strafrecht gegen Kader der PKK

Kriminalisierung nach allen Regeln des politischen Strafrechts

Sonderbedingungen auch in Haft

Ein Paragraf aus Zeiten des Kaiserreichs

Ein Wille zu verfolgen, ein Wille zu verurteilen

7 Gewandelte Bewegung. Fortgesetzte Repression

Der »Paradigmenwechsel« der kurdischen Freiheitsbewegung

Warum die Repression nicht endet

8 »Die Bücher, die sie beschlagnahmten, haben sie auf den Müll geworfen«

Jeglicher kultureller Ausdruck ist verdächtig

Kurdische Medien im Fadenkreuz

9 Asyl- und Ausländerrecht als Mittel der politischen Repression

Ausweisung und Abschiebung

Einbürgerungsverweigerung und Entzug der Einbürgerung

Kein Flüchtlingsschutz für Kurd:innen

10 Die Repression fordert ihre Toten – auch in Deutschland

Die Toten der kurdischen Freiheitsbewegung in Deutschland

Bedroht durch Geheimdienste und Faschist:innen

Geflohen aus Kurdistan, erschossen von der deutschen Polizei

11 Kurze Chance auf Aufhebung des PKK-Betätigungsverbots

Auf dem Weg zum Frieden in Kurdistan?

Das PKK-Verbot wackelt

Gewalt statt Dialog

12 Das Repressionskarussell dreht sich weiter

Endlose Ausweitung unter dem Deckmantel des PKK-Verbots

Ausreisesperren und Sorgerechtsentzug als »Terrorbekämpfung«

13 Verfolgt über Grenzen hinweg

Wenn der Geheimdienst über die Zukunft entscheidet

Eine Frage der Geopolitik

14 »Kurdisch sein bedeutet widerständig sein«

Das Recht als Waffe zur Selbstverteidigung

Vielfältiger Protest, vielfältiger Widerstand

Praktizierte Solidarität: Der Verein AZADÎ entsteht

Mit dem Recht in die Offensive

15 Ein deutsches Demokratiedefizit

Die PKK ist keine Terrororganisation

Die ökonomischen und demokratischen Schäden des PKK-Verbots

Die Chancen der Entkriminalisierung

Der Kampf der Kurd:innen um die Existenz und ein freies Leben

Abkürzungsverzeichnis

Quellen

Orientierungspunkte

Titel

Inhaltsverzeichnis

Im Gedenken an Azad Şerger (Thomas Johann Spies),Melike Akbaş und all jene,die auf der Suche nach einer gerechteren Weltund einem besseren Leben gestorben sind.

Öcalan ist überall!

Ein Vorwort von Stephan Lessenich

Liebe Leser:innen,

seit einigen Wochen prangt, grün auf grau, das Konterfei Abdullah Öcalans auf der Fassade des Instituts für Sozialforschung in Frankfurt am Main. Über Nacht war es mittels einer Schablone direkt unter eines der Fenster des Direktorenbüros – Zufall oder nicht – gesprüht worden. Kaum entdeckt, herrschte in der Verwaltungsleitung des Hauses Verunsicherung: Machen wir uns damit eigentlich strafbar? Kann man der Institution die unfreiwillige Zurschaustellung der Gesichtszüge des lebenslang inhaftierten ehemaligen PKK-Vorsitzenden als strafbare politische Meinungsäußerung zuschreiben? Sollen wir das Graffiti verdecken, bis – jede:r weiß, wie schwer derzeit Handwerker:innen zu organisieren sind – es professionell entfernt worden ist? Müssen wir den Vorfall zur Anzeige bringen, damit man nicht am Ende noch uns selbst wegen Mithilfe zur öffentlichen Zurschaustellung verbotener politischer Symbole rechtlich belangt?

Wer solche Überlegungen für übertrieben hält, irrt leider; wer hingegen die Tatsache, dass man derartige Überlegungen überhaupt anstellen muss, für absurd hält, liegt durchaus richtig. Denn es wäre zwar hanebüchen, aber deshalb nicht unbedingt überraschend, wenn wegen der Wandschmiererei am Institut ermittelt würde. Für viele Kurd:innen – und Nicht-Kurd:innen – in Deutschland, ob politisch aktiv oder nicht, ist eine Konfrontation mit entsprechenden polizeilichen und im Zweifel auch gerichtlichen Konsequenzen schlicht Teil ihres Alltags. Der vorliegende Band legt davon Zeugnis ab. Denn er dokumentiert die Kriminalisierung kurdischen Lebens – so allgemein und weitreichend muss man dies ausdrücken – in dem Land, in dem die größte kurdische Communityaußerhalb Kurdistans ihren Lebensmittelpunkt hat.

Warum kennt man als durchschnittliche:r Deutsche:r überhaupt die Gesichtszüge Öcalans? Warum dürfte das Kürzel »PKK« den allermeisten Bürger:innen dieses Landes ein Begriff sein? Und warum dürften sie alle mit diesem Ausdruck unmittelbar einen zweiten assoziieren – nämlich jenen der »Terrororganisation«? Wohl kaum, weil der Mann und die Partei objektiv die äußere oder innere Sicherheit Deutschlands gefährden würden; und genauso wenig, weil interessierte Zeitgenoss:innen hierzulande sich besonders für die Person des ursprünglich zum Tode verurteilten und nunmehr seit einem Vierteljahrhundert in Haft sitzenden Öcalan oder für die PKK sowie ihre Nachfolge- und Schwesterorganisationen interessieren würden – sondern weil das »Terrorismus«-Framing sich, wie in anderen Fällen auch, tief in den politischen Wissenshaushalt und die öffentlichen Diskurse der Bundesrepublik eingeschrieben hat. Kurd:innen in Deutschland – Schätzungen zufolge bis zu 1,5 Millionen Menschen – müssen damit leben, als »extrem« oder »radikal« kategorisiert, als »gewaltbereit« und »kriminell« etikettiert zu werden. Wer bei Google »Kurden in Deutschland« eingibt, erhält als erste erweiterte Suchoption – der Algorithmus irrt nie – »Kurden in Deutschland Kriminalität«.

Warum aber ist all dies nicht nur politisch, sondern auch soziologisch bemerkenswert? Weil die Kriminalisierung kurdischen Aktivismus – beziehungsweise was die Behörden und der Staatsschutz dafür halten – stellvertretend steht für die Grenzen der Demokratie. Was Kurd:innen in Deutschland erleben, das erfahren auch Antifaschist:innen oder, ganz aktuell, »radikale Klimaschützer:innen«. Die als »Graue Wölfe« bekannten türkischen Rechtsextremist:innen sind hierzulande weitaus zahlreicher als PKK-Aktivist:innen, aber nicht verboten, sondern genießen sogar teils hochrangige Unterstützung; in Sachsen wird, ungeachtet der Veralltäglichung faschistischen Gedankenguts und neonazistischer Organisationstätigkeit in diesem Bundesland, aus der rechten Mitte immer wieder die »extreme Linke« als größte Gefährdung der Demokratie imaginiert; und nicht nur der bayerische Verfassungsschutz versucht die »Letzte Generation«, ob ihrer vereinzelten Störung (beziehungsweise »Gefährdung«) des Autoverkehrs, in die Nähe einer nicht nur kriminellen, sondern terroristischen Vereinigung zu rücken.

Die Liste der »irgendwie als links« definierten politischen Umtriebe, denen man in Deutschland mit einer sich zwischen Kriminalisierung und Repression bewegenden Intervention begegnet, ließe sich fortsetzen. Was den Fall des staatlichen Umgangs mit dem kurdischen Aktivismus besonders – und besonders zweifelhaft – macht, ist die Tatsache, dass hier das Handeln des deutschen Staats in Übereinkunft und im (nicht immer nur stillen) Einvernehmen mit dem türkischen Staat erfolgt; einem Staat, der unverkennbar autokratische Züge trägt, in dem gerade gegenüber der kurdischen Bevölkerung seit Jahrzehnten Menschenrechtsverletzungen an der Tagesordnung stehen – den die Bundesrepublik (und die gesamte Europäische Union) aber nicht zuletzt im Interesse ihrer brutalen Abschottungspolitik gegen Migrant:innen braucht. Hier treffen gewissermaßen verschiedene Grenzen der Demokratie aufeinander; und greifen das Verbot politischer Betätigung im Inneren und die (delegierte) Militarisierung des Grenzregimes ineinander. Auch darauf weist der vorliegende Band hin.

Wir erleben derzeit – einige Beispiele dafür wurden schon genannt – eine Zunahme gezielter Repression gegenüber politischen und sozialen Bewegungen, die den öffentlichen Konsens einer sich selbst als liberal-demokratisch verstehenden Gesellschaft »von links« stören. Die »repressive Toleranz«, die der Philosoph und Soziologe Herbert Marcuse in der studierendenbewegten Zeit der 1960er-Jahre konstatierte und kritisierte, hat sich in eine repressive Intoleranz verwandelt. Dieser gegenüber »den Anfängen zu wehren«, ist es schon lange zu spät. Was aber nicht heißt, von der Gegenbewegung abzulassen – ganz im Gegenteil: Wer der Demokratie einen Dienst erweisen will, sollte deren real existierende Grenzen thematisieren, ehe es tatsächlich zu spät ist.

Ihr Stephan Lessenich

Stephan Lessenich ist Direktor des Instituts für Sozialforschung in Frankfurt am Main und arbeitet als Soziologe zu Kritischer Theorie der Gesellschaft und Fragen sozialer Ungleichheit und gesellschaftlicher Transformation.

1 Einleitung

Die PKK hat es nicht bis nach Hersbruck geschafft, das PKK-Verbot hingegen schon

An einem trüben Mittwoch Ende März 2023 steigen wir in den Zug nach Hersbruck, um Agid Aklan zu treffen. Agid ist Kurde. Seine Eltern sind Mitte der 1980er-Jahre aus Mêrdîn (dt.: Mardin) im äußeren Südosten der Türkei nach Deutschland geflohen. Das Land war damals eine Militärdiktatur, welche die eigene kurdische Bevölkerung brutal unterdrückte. Außergerichtliche Hinrichtungen, Folter und Parteienverbote waren an der Tagesordnung und die damals noch junge PKK hatte gerade den bewaffneten Kampf gegen die türkische Militärjunta aufgenommen.

Agids Eltern kamen nach Deutschland, um sich und ihre Kinder vor dem Bürgerkrieg in Sicherheit zu bringen. Ihre Heimat Kurdistan ließen sie dafür hinter sich. Viel mehr als dort oder in der Türkei ist Agid aber im bayerischen Hersbruck verwurzelt. Besonders ältere Menschen verbringen in der malerischen, wenngleich auch etwas verschlafenen Kleinstadt nahe Nürnberg gerne ihren Erholungsurlaub. Hersbruck ist weit weg vom türkischen Bürgerkrieg und ganz nah an dem Flüchtlingsheim, das die Aklans in Deutschland zugewiesen bekamen; es ist der Ort, an dem Agids engere Familie lebt – die meisten mittlerweile mit einem deutschen Pass.

Obwohl wir uns zuvor nicht kannten und wir nicht darum gebeten hatten, holt uns Agid in Nürnberg mit seinem Auto ab. In dem gründlich gepflegten Mercedes erzählt er uns von seiner Jugend in Hersbruck: Schule, Fußballverein, Ausbildung – ein Kleinstadtleben, wie es millionenfach in Deutschland gelebt wird. Agid wollte nie davon weg. Er sei ein »echter Herschbrugger Bu«, erklärt er uns im fränkischen Dialekt. Sein Kindheitstraum war bodenständig und dennoch für ihn unerreichbar: Er wollte Polizist werden.

Zu Hause bei Agid fällt uns zuerst der Kinderhochstuhl auf, der am Esstisch steht. Wir fragen, ob dieser für seine Neffen sei, wenn die Geschwister mit ihren Kindern zu Besuch kommen. Dass der 28-Jährige schon dreifacher Vater und seit mehreren Jahren verheiratet ist, konnten wir uns da noch nicht vorstellen. Er erklärt uns, dass seine Kinder gerade bei den Großeltern sind.

Unser Gespräch findet während des Ramadans statt. Obwohl Agid selbst tagsüber fastet, hat er für das Treffen deutsche Nussecken, Baklava und ausgezeichnete türkische Pistazien bereitgestellt.

»Die anderen Kinder wollten immer später zur Feuerwehr, ich wollte aber zur Polizei«, erzählt er uns. Trotz all der Skandale um Polizeigewalt, die in den letzten Jahren an die Öffentlichkeit gekommen sind, bedeutet die Polizei für Agid in erster Linie, anderen Menschen zu helfen. »So bin ich erzogen worden. Ich muss immer anderen helfen. Vielleicht nutzen das manche Menschen auch aus, aber dann habe ich trotzdem in dem Moment eine gute Tat getan.« Seine Begeisterung für die Polizei geht so weit, dass er sich 2019 dort für über ein Jahr ehrenamtlich engagiert. Als »Sicherheitswacht« ist er »Augen und Ohren der Polizei auf der Straße«, ermahnt Feiernde, nicht zu laut zu werden, und nimmt, falls dies doch einmal geschieht, deren Personalien auf. Auf der Hersbrucker Polizeiwache kennen sie ihn gut. Er und seine Familie sind dort beliebt.

Im selben Jahr bewirbt sich Agid für eine Ausbildung bei der Polizei im mittleren Dienst. Eigentlich hat er zu diesem Zeitpunkt bereits eine feste Stelle in seinem Ausbildungsberuf als Medientechnologe. Auch hegt er erhebliche Zweifel, dass er die Aufnahmeprüfung bestehen kann. Für seinen großen Traum will der junge Familienvater den Stress und die körperlichen Strapazen jedoch auf sich nehmen. Er nimmt in wenigen Monaten über 35 Kilo ab und hört sich um, worauf er in der Aufnahmeprüfung zu achten hat. Während des gefürchteten sportlichen Ausdauertests muss er an seine körperlichen Grenzen gehen und denkt dabei an seine Kinder – auch für sie tut er sich das an. Schließlich ist alles vorbei. Agid kann es nicht fassen: Er hat die Aufnahmeprüfung bestanden. Dazu noch mit einer 2,3 – eine gute Abschlussnote, wie ihm die Prüfer:innen versichern. Kurz darauf ist klar: Agid wird im März 2020 seine Ausbildung bei der Polizei beginnen dürfen. Als er den Vertrag unterschreibt, holt er seine Frau dazu, um den glücklichen Moment mit ihr zu teilen. Agid hat Tränen in den Augen, als er davon erzählt.

Dem Ausbildungsvertrag ist ein merkwürdiges Formular beigefügt, ein »Fragebogen zur Prüfung der Verfassungstreue«. Das Formblatt umfasst auch eine mehr als fünfseitige Liste »extremistischer oder extremistisch beeinflusster Organisationen« – eine Art Überbleibsel der Berufsverbotspolitik im öffentlichen Dienst der 1970er- und 1980er-Jahre –, die Bewerber:innen speziell in Bayern unterzeichnen müssen. Auf ihr stehen neben zahlreichen weitestgehend unbekannten Kleinstgruppen und -organisationen auch große Verbände, die fest in der politischen Kultur Deutschlands verwurzelt sind; so etwa die einst von KZ-Überlebenden gegründete älteste antifaschistische Organisation Deutschlands, die »Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten«, der »Sozialistisch-Demokratische Studierendenverband« der Partei Die Linke (Die Linke.SDS) sowie die größte deutsche Antirepressionsorganisation »Die Rote Hilfe«. Auch viele kurdische Organisationen, etwa die Dachverbände kurdischer Vereine in Deutschland und Europa (KON-MED und KCDK-E), die »Union zur Pflege der kurdischen Kunst und Kultur« und die Hilfsorganisation »Kurdischer Roter Halbmond«, die zuletzt bei der Erdbebenkatastrophe im Südwesten der Türkei und in Syrien wichtige Hilfe geleistet hat, sind auf der Liste zu finden.

Agid muss wie alle Bewerber:innen für den öffentlichen Dienst in Bayern seine Mitgliedschaften auf der Liste ankreuzen. Für ihn eine reine Formalität, da er weder in einer der genannten Organisationen aktiv ist noch mit diesen sympathisiert oder sonst mit ihnen zu tun hat. Als er den Brief zur Annahme der Ausbildung mit dem ausgefüllten Formular abschickt, kann er sich nicht vorstellen, dass noch irgendetwas seiner Polizeiausbildung in die Quere kommen könnte. Bei der Weihnachtsfeier auf der Polizeidienststelle in Hersbruck erzählt er bereits stolz, dass es bald losgehe. Die Freude bei den Kolleg:innen ist groß. Manche jubeln über die Nachricht und der neue Dienststellenleiter beglückwünscht ihn vor versammelter Truppe, dass er nun bald die Uniform der Sicherheitswacht ablegen und die der Polizei anlegen werde. Was zu diesem Zeitpunkt noch niemand weiß: Der Kurde Agid Aklan darf nicht Polizist werden.

Anfang 2020 sind es nur noch Wochen, bis er seine Ausbildung bei der Polizei beginnen soll. Er ruft beim Präsidium der Bayerischen Bereitschaftspolizei an, um nachzufragen, ob ihnen inzwischen alle benötigten Ausbildungsunterlagen vorliegen oder ob vielleicht etwas fehlt. Die Frau am Telefon erwidert, dass es ein Problem gebe. Seine Ausbildungszusage sei widerrufen worden. Agid erklärt uns bei unserem Treffen, dass er die Nachricht in diesem Moment nicht verarbeiten konnte. Er legt einfach auf.

Wenig später am selben Tag ruft Agid noch einmal an, entschuldigt sich unter dem Vorwand eines Funkloches für das abgebrochene Gespräch und hakt nach. Wortkarg bekommt er mitgeteilt, dass er definitiv nicht bei der Polizei anfangen könne. Die Gründe werden ihm in einer Woche schriftlich mitgeteilt. Agid fleht die Frau an, ihm schon jetzt einen Hinweis zu geben, woran seine Ausbildung scheitert. Zuerst erhält er keine Antwort. Schließlich lässt sich die Frau am Hörer erweichen und erklärt, man habe Bilder von ihm gefunden. Dann beendet sie das Gespräch.

Agid versteht nicht, um was für Bilder es sich handeln könnte, doch ihm wird klar: Sein Traum, Polizist zu werden, ist gerade gestorben: »Mit dem Telefonat ist eine Welt für mich zusammengebrochen.« In seiner Verzweiflung zieht sich Agid zurück und bricht alle Kontakte ab. Er blockiert nahezu all seine Freunde auf WhatsApp und ist auch für den Großteil seiner Familie nicht mehr zu erreichen. Bis zum Erhalt des Briefes anderthalb Wochen später geht er selbst zu seiner engsten Familie und seiner Frau auf Distanz. Unter Vorwänden ist er oft unterwegs, um einfach nur allein sein zu können. Als uns der sonst sehr ruhige und gefasste Agid davon erzählt, schluchzt er.

In dieser Zeit denkt er viel darüber nach, was das für Bilder sein könnten, die ihm zum Verhängnis geworden sind. Schon vor der Aufnahmeprüfung haben seine Eltern ihn gewarnt: Sowieso werden alle, die bei der Polizei anfangen, überprüft; für ihn als Kurde gelte das aber umso mehr. Agid hat sich den Rat seiner Eltern zu Herzen genommen und deshalb seine Facebook- und Instagram-Profile kontrolliert.

Obwohl er nie irgendwo politisch organisiert gewesen ist, interessiert Agid sich dennoch für Politik. Besonders der Kampf der Kurd:innen in Syrien gegen den sogenannten Islamischen Staat (IS) bewegt ihn. Immer wieder hat er deshalb auf Facebook und Instagram Artikel etwa des Sterns oder anderer Nachrichtenmedien gepostet, um seine Kontakte auf die Entwicklungen im Kriegsgebiet aufmerksam zu machen. Agid wäre nie auf den Gedanken gekommen, dass diese Posts Probleme verursachen könnten. Deutschland ist schließlich Teil der internationalen Koalition gegen die IS-Terrormiliz, in welcher die syrisch-kurdischen Volks- (YPG) und Frauenverteidigungseinheiten (YPJ) den wichtigsten Teil der Truppen vor Ort stellen. Als der IS im Jahr 2014 einen Völkermord an den Ezid:innen in der Region Sindschar im Nordwestirak verübte, waren es unter anderem die Kämpfer:innen der YPG und YPJ, die aus der Nachbarregion zu Hilfe eilten und weitere Tote verhinderten. Zur Sicherheit hat Agid dennoch fast alle Posts von seinen Profilen gelöscht. Wie sollten also noch Bilder existieren, die seine Polizeiausbildung gefährden?

Als ihn der Brief schließlich erreicht, geht daraus hervor, dass ihm tatsächlich seine Aktivitäten in den Sozialen Medien zur Last gelegt werden. Eines der beanstandeten Bilder aus dem Jahr 2018 ist eine Art Stillleben aus den kurdischen Autonomiegebieten in Syrien. Darauf sieht man eine für die Region gängige Langhalslaute und eine Trommel, neben denen eine AK-47 (auch »Kalaschnikow« genannt), eine typische Waffe der kurdischen Kämpfer:innen, an der Wand lehnt. Ein anderes Foto zeigt einen Scharfschützen der YPG, auf dessen Ärmel das Portrait Abdullah Öcalans, des wahrscheinlich wichtigsten kurdischen Politikers der letzten Jahrzehnte, aufgenäht ist. Das erste Bild symbolisiert für Agid schlicht die Realität des kurdischen Volkes, das sich gegen äußere Feinde verteidigen muss, aber dabei seine Fröhlichkeit nicht verloren hat. Mit dem zweiten Bild hat er seinen Respekt gegenüber einem jüngst gefallenen, erfolgreichen Scharfschützen bekunden wollen. Öcalans Antlitz auf dem Ärmel ist Agid nie aufgefallen.

Neben den beiden Bildern wird ihm auch noch die Facebook-Freundschaft mit dem Fernsehmoderator Jeremy Clarkson und dem Münchener Kommunikationswissenschaftler Kerem Schamberger, der an diesem Buch mitgewirkt hat, zur Last gelegt. Clarkson ist das Gesicht des britischen Auto-TV-Magazins »Top Gear« – Grund genug für den autobegeisterten Agid, ihm zu folgen –, dem im Widerrufsschreiben fälschlicherweise vorgeworfen wird, einen Aufruf zur Rekrutierung von Kämpfer:innen für die YPG veröffentlicht zu haben. Schamberger wiederum ist zur damaligen Zeit eine der wenigen Personen, die mehrfach täglich und aktuell von den Entwicklungen aus den kurdischen Autonomiegebieten in Syrien berichten. Agid hat nie irgendeinen direkten Kontakt gehabt, aber folgte ihm auf der Plattform, um stets informiert zu bleiben.

Zwei Fotos auf Facebook und zwei verdächtig erscheinende lose Kontakte genügen für den deutschen Staat schließlich, um sogenannte »berechtigte Zweifel« an Agid Aklans Verfassungstreue zu entwickeln. Aus Sicht des bayerischen Landeskriminalamtes (LKA) liegen zumindest Hinweise darauf vor, dass es sich bei ihm um einen kurdischen Extremisten handeln könnte. Rechtlich gesehen reicht das bereits aus, um alles, was Agid zuvor zum Beweis seiner Tauglichkeit getan hat, nichtig werden zu lassen. Eine Unschuldsvermutung, wie sie das deutsche Recht etwa in Strafprozessen vorsieht, gibt es in diesem Fall nicht. Möglichkeiten, sich zu den Vorwürfen zu äußern, sind ebenso nicht vorgesehen.

Erst eine Klage vor dem Verwaltungsgericht hätte Agid die Chance dazu gegeben. Sein Anwalt rät ihm allerdings davon ab. Gegen die Polizei und den Staat zu klagen, sei sehr schwer. Obwohl kaum Aussicht auf Erfolg besteht und er davon ausgeht, die Prozesskosten allein tragen zu müssen, entscheidet sich Agid für die Klage. Er möchte die Vorwürfe, ein Extremist zu sein, nicht auf sich sitzen lassen. Besonders stört er sich aber an der aus seiner Sicht »schlampigen« Arbeitsweise des LKA. Der Mitarbeiter, der sein Facebook-Profil ausgewertet und damit seinen großen Traum zerstört hat, soll sich im Gerichtssaal erklären müssen, wie er Agid derart leichtfertig als kurdischen Extremisten abstempeln kann.

Was soll das überhaupt sein, ein »kurdischer Extremist«? Für den deutschen Staat sind damit vor allem Aktivitäten gemeint, die irgendwie im Zusammenhang mit der Arbeiterpartei Kurdistans, der PKK, stehen. Diese unterliegt in Deutschland seit 30 Jahren einem sogenannten Betätigungsverbot. Dessen Hintergründe zu kennen, ist notwendig, um den besonderen Umgang des deutschen Staates mit den Kurd:innen zu verstehen. Woher die PKK kommt, was ihre Ziele sind und warum sie in Deutschland verboten wurde, obwohl sie hier nicht unmittelbar aktiv ist, erklären wir in einem späteren Kapitel. Zunächst genügt es zu verstehen, dass kurdische Aktivitäten für den deutschen Staat stets unter Verdacht stehen, mit der PKK zusammenzuhängen. Doch hier endet dessen verkürzte Logik nicht: denn PKK, das bedeutet für die Behörden immer auch Terrorismus. Ist der Familienvater und Polizeienthusiast Agid Aklan also für den deutschen Staat ein potenzieller Terrorist?

Während Agid das Scheitern seines Traums verarbeitet und sich auf den Prozess vorbereitet, lebt er weiterhin zurückgezogen. Mit seiner engeren Familie hat er seit Erhalt der Rücknahme seiner Ausbildungszusage zwar wieder Kontakt, doch für die weitere Familie und Freund:innen, die Agid häufig seit Kindheitstagen kennen, bleibt er über ein Jahr unerreichbar. Als letztere schließlich bei ihm zu Hause klingeln, um sich zu erkundigen, was los sei, schickt er sie höflich, aber bestimmt weg. Agid möchte weiterhin vor allem allein sein. Gut geht es ihm dabei nicht: »Ich war nur noch eine leere Hülle, die irgendwie gelebt hat«, beschreibt er rückblickend diese schwere Zeit.

Ein wohltuender Lichtblick ist jedoch die Solidarität und Aufmerksamkeit, die er in der Hersbrucker Öffentlichkeit und darüber hinaus erhält. Insbesondere Pfarrer Gerhard Metzger, der Agids Familie einst in den 1990er-Jahren durch ein Kirchenasyl vor der Abschiebung bewahrt hat, setzt sich für ihn ein. Seine Verbindungen in die Landesregierung sind gut. Ministerpräsident Markus Söder stammt aus dem nahe gelegenen Nürnberg. Auch mit dem Innenministerium steht Metzger in direktem Kontakt. Er schreibt eine Stellungnahme und lässt sich in der Presse über die charakterliche Eignung Agids zitieren: Seine ruhige, zuhörende und vermittelnde Art passe ausgezeichnet zur Polizei. Unter anderem berichten auch der Bayerische Rundfunk und die Zeit kritisch über den Fall. Viele Hersbrucker Bürger:innen erkundigen sich zudem beim Pfarrer, welche Möglichkeiten es gebe, ihr Unverständnis über die Entscheidung im Fall Aklan zum Ausdruck zu bringen. Neben Metzger setzen sich ein örtlicher Sozialarbeiter und ein in der Lokalpolitik aktiver Bundeswehroffizier für Agid ein. Es ist eine ungewöhnliche Diskurskoalition, doch ihre Botschaft könnte klarer kaum sein: Agid Aklan ist kein Extremist.

Zu den ehemaligen Kolleg:innen der Sicherheitswacht und der Polizeidienststelle hält Agid zu dieser Zeit ebenfalls Abstand. Er sorgt sich, dass sie ihn nun als Waffennarr oder Extremisten abstempeln und auf der Straße mit anderen Augen sehen. Ein Schamgefühl, das viele kennen, denen überraschend Unrecht angetan wird. Zufällig trifft er den stellvertretenden Dienststellenleiter der Polizei auf der Straße, der seine Bedenken zerstreut: Auf der Dienststelle denken alle weiterhin nur das Beste von ihm und können es nicht fassen, wie die Behörde und das Innenministerium mit ihm umgehen.

Zu einem Prozess kommt es nicht. 2021 erblindet Agid auf einem Auge, wird zunächst krankgeschrieben, verliert aber schließlich seine Anstellung als Maschinen- und Anlagenführer. Das Hantieren an schwerem Gerät ist für ihn zu gefährlich geworden, da er durch den halbseitigen Verlust seiner Sehfähigkeit Probleme mit dem räumlichen Sehen hat. Agid muss sich arbeitslos melden. Wegen der nun schwierigen finanziellen Situation entscheidet er sich, die Klage zurückzunehmen.

Auch des Pfarrers Kontakte in die Landesregierung nützen am Ende kaum. Angeblich, so sagt man ihm, seien dem Innenministerium und der Landesregierung die Hände gebunden. Der öffentliche Aufschrei wäre zu groß, würden sie im Fall Aklan intervenieren. Agid selbst findet das wenig glaubhaft und vermutet eher, dass es den Politiker:innen der Landesregierung persönlich schaden könnte, sich für ihn einzusetzen, oder dass es ihnen einfach nicht wichtig genug ist.

Im März 2023 sucht der dreifache Familienvater weiterhin Arbeit. Er will nun eine neue Ausbildung beginnen, gerne als Kfz-Mechaniker. Vorerst bereitet ihm aber das Arbeitsamt dabei Probleme, weil dieses ihn als »körperlich nicht belastbar« einstuft – schon wieder eine Fehleinschätzung, die dem Hersbrucker Agid Aklan Steine in den Weg legt. Doch sie verblasst im Vergleich zur ersten, seiner vermeintlichen Nähe zur PKK – einer Organisation, mit der er nicht in Kontakt gestanden und die nie in Hersbruck aktiv gewesen ist. Die PKK hat es nicht bis nach Hersbruck geschafft, das PKK-Verbot hingegen schon.

Alltag und Absurdität der Repression

Das individuelle Schicksal Agid Aklans ist tragisch: Er hat nie eine kurdische Demonstration besucht, ist nie Teil der kurdischen Bewegung und erst recht kein PKK-Kader gewesen; dennoch darf er trotz guter Aufnahmeprüfung, Vorerfahrung als Sicherheitswacht und dem besten nur denkbaren öffentlichen Ruf seine Ausbildung als Polizeibeamter nicht beginnen. Wie lässt sich diese besondere staatliche Härte erklären?

Agid ist bei Weitem nicht der einzige Kurde, dem deutsche Behörden Probleme bereiten. Über die Jahre hinweg geht ihre Zahl in die Zehntausende. Berufliche Einschränkungen wie bei Agid sind dabei allerdings eine eher seltene Ausnahme. Sein Fall steht für die immer neuen Formen, wie Kurd:innen in Deutschland staatlicherseits diskriminiert werden. Viele der Betroffenen sind im Gegensatz zu dem auf sein Familienleben konzentrierten Agid politisch und kulturell aktiv: Sie setzen sich durch Proteste und Demonstrationen für ihre Belange ein, wenden sich in Petitionen, Pressemitteilungen und über eigene Medien an die breite deutsche Öffentlichkeit und engagieren sich in kurdischen Vereinen und Verbänden. In einer Zeit, in der nicht selten Demokratieverdrossenheit und Vereinzelung beklagt wird, tun sie genau das, was ein demokratischer Staat sich von seinen Bürger:innen wünschen sollte.

Schätzungen zufolge leben zwischen einer und anderthalb Millionen Kurd:innen in Deutschland. Das sind 1,2 bis 1,8 Prozent der Bevölkerung. Nach Russlanddeutschen und Türk:innen sind sie damit die hierzulande drittgrößte Bevölkerungsgruppe mit Migrationsgeschichte. Nirgendwo sonst leben derart viele Kurd:innen außerhalb Kurdistans. Nur die Hälfte von ihnen besitzt allerdings einen deutschen Pass. Für die Art, wie der Staat mit ihnen umgeht, macht dies einen gewaltigen Unterschied.

Anstatt das Engagement der hier lebenden Kurd:innen anzuerkennen und zu fördern, sind für Aktivist:innen der kurdischen Bewegung die unterschiedlichsten Formen staatlicher Diskriminierung Alltag. Auf diesen Umstand kommen wir im Buch immer wieder zurück. Das ganze Ausmaß kann dabei aber nur Stück für Stück deutlich werden. Zunächst wollen wir nur von den drei gängigsten Formen der Diskriminierung berichten: von Versuchen zur Einschränkung oder Verhinderung von Versammlungen, von Symbolverboten sowie schließlich von Razzien gegen kurdische Vereine.

Vom 7. bis 9. April 2023 sollte die internationale Konferenz »Die kapitalistische Moderne herausfordern IV: Wir wollen unsere Welt zurück!« in den Räumlichkeiten der Universität Hamburg stattfinden. Angesichts der vielfältigen Krisen, mit denen die Menschheit heute konfrontiert ist, war dort eine Diskussion geplant, wie die politischen und gesellschaftlichen Ideen der kurdischen Bewegung helfen könnten, diese zu lösen. Hinter der Konferenz stand der Gedanke, dass die ökologische Krise, die Diskriminierung von Frauen und die Zerstörung sozialer Gemeinschaften ein weltweites Problem sei, für das gemeinsame Lösungen gefunden werden müssen. Die Utopie der kurdischen Bewegung stellte dabei zwar einen prominenten, aber beileibe nicht den einzigen Ansatz dar.

Auf der Konferenz waren etwa 1 300 Personen erwartet worden, um diese Fragen zu diskutieren, darunter auch international renommierte Wissenschaftler:innen und Intellektuelle wie John Holloway oder Aktivist:innen wie María de Jesús Patricio Martínez, die 2018 als erste indigene Kandidatin überhaupt für das mexikanische Präsidentenamt kandidiert hatte. Organisiert wurde die Veranstaltung unter anderem von dem internationalen »Network for an Alternative Quest« und dem AStA der Universität Hamburg.

Auf Drängen des deutschen Inlandsgeheimdienstes, des sogenannten »Verfassungsschutzes«, zog das Präsidium der Universität jedoch eine Woche vor Beginn der Konferenz die Zusage für die Räumlichkeiten wieder zurück. Die internationale Großveranstaltung stand auf der Kippe – ein direkter Angriff auf die Freiheit der Wissenschaft, verübt vom Inlandsgeheimdienst und dem Präsidenten der Universität Hamburg. Nur dem großen Organisationstalent der Ausrichtenden und der Flexibilität der Gäste war es zu verdanken, dass schnell alternative Räumlichkeiten gefunden wurden und die Konferenz dennoch ein Erfolg werden konnte.

Immer wieder versuchen staatliche Behörden öffentliche Versammlungen oder Demonstrationen der kurdischen Bewegung zu verhindern. Sobald diese auf der Straße in Erscheinung tritt, sieht sie sich mit zahlreichen einschränkenden Auflagen konfrontiert. So ist etwa das Zeigen von Flaggen mit dem Abbild Abdullah Öcalans, des in der Türkei inhaftierten Vordenkers der kurdischen Bewegung, bis auf wenige Ausnahmefälle in Deutschland verboten. Gleichgültig, wie man zu dem Menschen steht, den manche auch den »Nelson Mandela des kurdischen Volkes« nennen, ist eine solche Politik absurd: Nur das öffentliche Zeigen des Bildes Adolf Hitlers unterliegt in Deutschland ähnlich drastischen Restriktionen.

Auch das Zeigen von Flaggen der syrisch-kurdischen YPG und YPJ und damit der Kräfte, mit denen Deutschland und die USA im Kampf gegen die IS-Terrormiliz im Rahmen einer internationalen Koalition verbündet sind, hat man hierzulande versucht zu kriminalisieren. Allein in Bayern wurden deshalb bereits mehrere Hundert Strafbefehle in Höhe von bis zu 1 000 Euro verschickt. Das Bundesinnenministerium, welches die YPG- und YPJ-Symbolik per Rundschreiben an die zuständigen Behörden im März 2017 verboten hatte, argumentierte, dass es sich dabei unter Umständen um PKK-Ersatzsymbole handeln könne: Wer diese Flaggen öffentlich zeige, drücke häufig nicht seine Solidarität mit dem Freiheitskampf der syrischen Kurd:innen gegen die IS-Terrormiliz aus, sondern tatsächlich seine Sympathie mit der verbotenen PKK.

Seit der Feststellung des Bayerischen Obersten Landesgerichts im Dezember 2020, dass man die YPG- und YPJ-Flaggen nicht als Ersatzsymbol der PKK werten könne, werden zwar in der Regel keine Strafbefehle mehr verschickt, trotzdem nimmt die Polizei vielerorts das Zeigen der Symbole zum Anlass, Versammlungen zu kriminalisieren. Diskussionen mit den Ordnungshütern, ob diese nun erlaubt seien, sind somit bei Protesten der kurdischen Bewegung noch immer keine Seltenheit. Teils kommt es in der Folge zu erheblichen Demonstrationsbehinderungen durch die Polizei. Selbst nach der höchstrichterlichen Feststellung, dass das Zeigen von YPG- und YPJ-Symbolik rechtens ist, betrachtet das Innenministerium weiterhin Dutzende kurdische Embl-eme als PKK-Ersatzsymbole. Ihr öffentliches Zeigen ist für Protestierende mit der Gefahr von Strafbefehlen und Demonstrationsbehinderungen verbunden.

Immer wieder finden zudem in kurdischen Vereinen Razzien statt, bei denen oftmals große Teile der Vereinsunterlagen beschlagnahmt werden. Die Polizei tritt bei den einschüchternden Durchsuchungen häufig martialisch und in voller Kampfmontur auf. Meist wirft man den legalen kurdischen Vereinen dabei vor, Vorfeldorganisationen der verbotenen PKK zu sein, obwohl sich diese lediglich für die Bewahrung der kurdischen Kultur einsetzen. Zwar kommt es gerade im Vorfeld von Wahlen dort auch zu politischen Diskussionen, doch ist an solchen, in aller Regel öffentlichen Debatten nichts illegal. Sie sind zumal nur ein Teil der vielfältigen Arbeit zur Pflege des kurdischen Lebens in Deutschland.

Wie passt dieses Vorgehen gegen Kurd:innen zu einem Rechtsstaat wie Deutschland, dessen Grundgesetz in Artikel 3 festschreibt, dass hierzulande niemand aufgrund »seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden« darf – ein Land, in dem seit Jahren über Antidiskriminierung diskutiert wird, das entsprechende Gesetze verabschiedet hat und in dem sogar eine explizit dafür zustände Bundesbehörde existiert?

Vor diesem Hintergrund stellt sich außerdem die Frage: Ist der Begriff der Diskriminierung überhaupt angemessen, um das Verhältnis des deutschen Staates gegenüber der kurdischen Bewegung zu beschreiben? Unser bisheriger Gebrauch dieses Ausdrucks war nur als erste Annäherung an das hier diskutierte Problem gedacht. Gemäß der in der Gesellschaft vorherrschenden liberalen Perspektive handle es sich bei der Diskriminierung um ein Phänomen, das zwar nicht zu leugnen und in jeder Form zu bekämpfen sei, aber leider selbst in den besten Demokratien vorkomme. Diskriminierung gehe demzufolge auf rassistische, sexistische oder in sonstiger Form menschenfeindliche Einstellungen zurück. Manche meinen, dass dies nicht weiter verwerflich sei, denn Vorurteile hätten wir schließlich alle. Es bedürfe lediglich einiger Aufklärungskampagnen und schon ließe sich das Problem der Diskriminierung, die unmittelbar aus dem Lateinischen übersetzt »Unterscheidung« bedeutet, in den Griff kriegen. In jedem Fall könne der Staat seinerseits wirksame Maßnahmen dagegen ergreifen.

Doch wie erklärt diese Perspektive, dass das Innenministerium die Symbole einer politischen Bewegung verbietet? Wie erklärt sie, dass ein internationaler wissenschaftlicher Kongress beinahe nicht stattfindet, weil ein staatlicher Geheimdienst interveniert? Und wie erklärt sie, dass bei Razzien in kurdischen Kulturvereinen immer wieder Inventar beschlagnahmt wird?

Die Wahrheit ist: Sie kann es nicht. Denn die geläufige Auslegung des Diskriminierungsbegriffs sieht weder die systematisch kalkulierte Benachteiligung einer Menschengruppe vor noch, dass diese vom Staat selbst zur Verfolgung abstrakter politischer Interessen vorangetrieben wird. Unter anderem deshalb halten wir jenen Ausdruck für ungeeignet, wenn wir den Umgang des deutschen Staates mit der kurdischen Bevölkerung beschreiben. Statt von Diskriminierung werden wir daher in diesem Buch von Repression sprechen.

»Repression« ist ein Begriff, der auf ein Verhältnis von Über- und Unterordnung verweist. Sie kann explizit gewaltvoll sein, etwa wenn eine Tür eingetreten oder ein Mensch hinter Gitter gesteckt wird, oder aber subtile Formen annehmen: So erscheint ein Versammlungsbescheid, der eine Demonstration verbietet, zunächst einmal lediglich in der Gestalt eines harmlosen Briefes. Hält man sich jedoch nicht daran, so folgen teils robuste, teils auch brutale polizeiliche Praxen zur Auflösung einer ungenehmigten Versammlung. Nicht selten verbirgt sich die Gewalt im Kontext der Repression somit hinter impliziten Drohungen und sachlich erscheinenden Zwängen.

Vor allem passt diese Praxis aber nicht zum Selbstverständnis Deutschlands als einem demokratischen Rechtsstaat. Repression sei demnach etwas, das es hierzulande eigentlich gar nicht geben dürfte – etwas, das, sobald es auftritt, als Einzelfall heruntergespielt oder verdrängt werden müsse. Doch für die in ihrer eigenen Community politisch aktiven Kurd:innen in Deutschland ist staatliche Repression keine Ausnahme, sondern Alltag.

Folglich wirft dieses Phänomen beunruhigende Fragen vor allem über uns, die nicht betroffene Mehrheitsgesellschaft, auf: Warum bekommt die Repression gegen die politisch aktiven Kurd:innen in Deutschland bisher so wenig Aufmerksamkeit? Wie demokratisch ist eine Demokratie, in der die Partizipationsmöglichkeiten einer Bevölkerungsgruppe derart massiv eingeschränkt werden? Und vor allem: Warum verstößt der deutsche Staat gerade im Falle der kurdischen Bewegung gegen seine eigenen Grundprinzipien?

Wir, die Autor:innen dieses Buches, sind selbst keine Kurd:innen, beschäftigen uns aber schon seit Jahren mit der Repression gegen Kurd:innen in Deutschland. Alexander Glasner-Hummel hat die letzten vier Jahre im Rahmen seiner Dissertation dazu geforscht. Die Veröffentlichung der Arbeit, die erstmals die Repression gegen die kurdische Freiheitsbewegung sowie deren Wirkungen auf die Öffentlichkeit wissenschaftlich untersucht, ist zum Jahreswechsel 2023/2024 beim Westend Verlag geplant (Glasner-Hummel im Erscheinen).

Monika Morres befasst sich seit Anfang der 1990er-Jahre mit dem Thema – zunächst noch als Fraktions- und Abgeordneten-Mitarbeiterin im Bundestag, wechselte sie 1999 zu Azadî, dem Rechtshilfefonds für Kurd:innen in Deutschland. Kaum jemand hat sich länger mit insbesondere den schwersten Repressionsfällen gegen diese Bevölkerungsgruppe hierzulande auseinandergesetzt als sie. Ohne die von Azadî herausgegebenen Chronologien der Repression gegen die kurdische Freiheitsbewegung hätte das vorliegende Buch so nicht entstehen können.

Kerem Schamberger schreibt seit etwa zehn Jahren regelmäßig auf seinem Blog und in den Sozialen Medien über die Repression gegen die kurdische Freiheitsbewegung in Deutschland. Er war selbst schon mehrfach wegen dieses Engagements von staatlicher Verfolgung betroffen, konnte aber unter anderem gerichtlich dagegen vorgehen. In seiner 2022 erschienenen Dissertation befasst er sich mit dem transnationalen Mediensystem der kurdischen Freiheitsbewegung (vgl. Schamberger 2022).