6,99 €
»Ingeborg Kaiser ist eine Bildhauerin des Wortes. Die Autorin registriert Phänomene ihrer Umwelt und das, was sich darunter verbirgt, mit bestürzender Wachheit. Sie verschlüsselt ihre Erfahrungen und konzentriert sie konsequent aufs Wesentliche. So entstehen Sprach-Gebilde von hoher Aussagekraft, die dank Wortwahl und Rhythmus zugleich sinnliche Plastizität gewinnen.« (Valentin Herzog)
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 24
Wortbrunnen
versunkene zonen
gebrochenes geläut
mit deiner vorzeitigen geburt
gezeiten
jemand sagt
toter freund
südworte
sagte immer
jahrtag
gebet
nachtgesichte
zwiegespräch
abwesend
kettenkarussell
Der Hund des Enkels der Frau
nebelschwer
brief
den kopf abschlagen
immer
sandfrau
hummelschwer
der ton dazwischen
muttergene
fehlgepfadet
schweigen
dezemberföhn
Das Bild – die Zeit
fliesszeit
eine kiste
der ton
wirf die wortleiter
die liebende
mir das bein gestellt
lautlos
teufelchen
wortmensch
geblendet
performance
strudel in wien
sternenblind
zum jahrestag
weisse sternmagnolie
verlässlich
schranke
im osten
Begegnung mit Steinwesen
kürzlich
nimmerleinsfeld
warten
dein jahr
nackt
deine tändeleien
die zunge brennt
und was
haben
willens
nach der letzten
stumm
deine pentekoste
gedanken
den folterer
sternenblind
tattoo
frei
Schlafende Muse
abgeworfen
Wieder zurück, aber hinter deinen Augen noch das Land der weissen Felder, der gerade gezogenen, scheinbar endlosen Alleen, seinen tief hängenden Himmel im Grauton. Und dann der strenge Ostwind, beissend scharf, der deinen Widerstand weckte und neue Lebenskraft, womöglich ein Spass, seinen Attacken standzuhalten. Die einzelnen Frauen bei der späten Feldarbeit wussten es besser, in Kopftücher gehüllt und mehrschichtig gepolstert schienen sie dir alle Babuschkas, so rundlich wie zäh, ihr Rücken gegen den Wind gebeugt.
Noch vermisst du den Wind von dort, wie damals das vierjährige Kind sein Dorf. Heimwehschwer stand es am Erkerfenster der Stadtwohnung und erwartete lange Zeit seine Freunde, die es in sein Dorfleben zurückbringen würden. Kletterte schliesslich auf die Fensterbank und flatterte rhythmisch mit den Armen, als wolle es das Fliegen üben, machte noch einen Schritt nach draussen und meinte traumartig über die Dächer, Häuserschluchten, Baumkronen zu gleiten, aber wagte das Abheben nicht wirklich. Stand mit geschlossenen Augen, mehr draussen als drinnen, spürte den Sog in die Weite, der schwindlig machte, und träumte sich jahreweit los. Trickste sich aus der Wirklichkeit, bis der Bombenkrieg die Stadtwohnung lodern liess, das Kind dem Gieren des Feuers andächtig zusah, den stiebenden Funken im Eiswind.
Jahrzehnte später, ein anderes Land, ein anderes Fenster und deine verzweifelte Verlorenheit, allnächtlich die Albträume. Ein Nachtmahr zwang dich ans offene Fenster, vermeintlich verfolgt, bedroht, bist du gesprungen und ohne Furcht abzustürzen in den Wortbrunnen gefallen, dein anderes Leben.
gebrochenes
geläut weht
dich an erinnert
an versunkene
zonen
mit deiner vorzeitigen
geburt kam
das leben angstvolles
glück löste
mir die gefrostete
zunge
das meer
dort die
irishsea hier
muschelgehäus
im nassen sand
aus dem ich
erinnerung berge
jemand sagt orvieto
die fahlen ablichtungen
beleben sich der
dom dann wir