Gegen den Wind - Sanni Beucke - E-Book

Gegen den Wind E-Book

Sanni Beucke

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Beschreibung

Faszination Hochsee-Segeln: Sanni Beucke nimmt uns in ihrer Biografie mit auf die Weltmeere In ihrer abenteuerlichen Autobiografie erzählt Susann »Sanni« Beucke, wie sie seit ihrer Kindheit ihren großen Traum verfolgt: als Seglerin an den Olympischen Spielen teilzunehmen. Dabei helfen ihr vor allem ihr Durchhaltevermögen, die Beharrlichkeit und ihr Glaube an sich selbst.  Als Profisportlerin war die Teilnahme an den Olympischen Spielen ihr Lebensinhalt, aber der Weg dorthin war alles andere als einfach. 15 Jahre lang setzt die gebürtige Kielerin alles daran, das Ziel »Olympia« zu erreichen. Zweimal scheitert sie unter tragischen Umständen in der Qualifikation. Doch sie lässt sich nicht von ihrem Ziel abbringen, und im dritten und letzten Anlauf klappt es schließlich – sie gewinnt eine Silbermedaille in Tokio. Allein auf dem weiten Ozean Sanni Beucke teilt ihre Liebe für das Meer und das unglaubliche Gefühl grenzenloser Freiheit beim Segeln. Nach ihrem Olympia-Triumph sucht sie eine neue Herausforderung: Als Hochseeseglerin will sie den Kampf mit den Elementen auf hoher See aufnehmen und setzt sich das Ziel, beim härtesten Segelrennen der Welt, der Vendeé Globe zu mitzusegeln. Beim Ocean Race 2023 startet sie als Mitglied im Team Holcim PRB in dieses Abenteuer und kann in Kapstadt sogar einen spektakulären Etappensieg feiern. Ihre Zukunft wird von der Faszination für die unendliche Weite des Ozeans bestimmt. Hier fühlt sie sich frei. This Race is Female Sanni Beuckes Autobiografie zeigt, dass es sich lohnt, seinen Träumen nachzugehen – auch wenn man auf dem Weg dorthin viele Rückschläge wegstecken und strukturelle Missstände überwinden muss. Segeln ist immer noch ein Sport, der vor allem von Männern dominiert wird. Sanni Beucke will das ändern und zeigt, dass Frauen auch aufs Meer gehören. Mit ihrem Buch macht sie Frauen Mut, sich durchzusetzen und empowert sie. Ihr Buch erzählt von Angst und Einsamkeit, aber vor allem von Euphorie und der unendlichen Leidenschaft für das Meer. Eine Hommage an das Abenteuer und die Freiheit und eine Ermutigung, groß zu träumen. Wer gerne Sport-Biografien wie etwa die Bücher von Boris Herrmann liest, wird die Autobiografie von Sanni Beucke lieben. »Sanni Beucke ist wie das Meer: eine Naturgewalt, die sich durch nichts und niemanden von ihrem Ziel abhalten lässt. In diesem Buch durchlebt man mit ihr die Höhen und Tiefen, die einem nur allein auf den Ozeanen widerfahren.« Boris Herrmann

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Sanni Beucke

mit Nele Justus und Christian Krug

Gegen den Wind

Mein Traum von den Weltmeeren

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Seglerin Sanni Beucke träumt schon als Kind von Olympia und setzt alles daran, dieses Ziel zu erreichen. Nach mehreren Anläufen holt sie 2021 gemeinsam mit ihrer Segelpartnerin olympisches Silber. Auf dem Höhepunkt ihrer Karriere beschließt sie, das geschützte Sportsegeln aufzugeben und sich einer neuen Herausforderung zu stellen: dem Offshore-Segeln. Die Hohe See erlaubt keine Fehler, das Boot ist der Kraft von Wetter, Wind und Wellen schutzlos ausgeliefert – doch Beucke träumt groß: Sie will sich in dieser Männerdomäne durchsetzen und als erste deutsche Frau um den Sieg bei der härtesten Offshore-Regatta der Welt segeln. In ihrem Buch nimmt sie uns mit an Bord, schildert den Kampf gegen die Urgewalten der Ozeane, erzählt von Angst und Einsamkeit, aber vor allem von Euphorie und der unendlichen Leidenschaft für das Meer.

 

»Sanni Beucke ist wie das Meer: eine Naturgewalt, die sich durch nichts und niemanden von ihrem Ziel abhalten lässt. In diesem Buch durchlebt man mit ihr die Höhen und Tiefen, die einem nur allein auf den Ozeanen widerfahren.« Boris Herrmann

 

Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de

Inhaltsübersicht

Widmung

1 Bis ans Limit: Grenzerfahrung auf den Ozeanen

2 Gene und Gummibärchen: Wie ich zur Seglerin wurde

3 Der Wunsch nach mehr: Mein Traum von Olympia und der Vendée Globe

4 Unterschiede machen stark: Wie wir zum bestenTeam der Welt wurden

5 Falsches Spiel: Von der Konkurrenz ausgebremst

6 Der Pakt: Alles geben für den großen Traum

7 Das Corona-Experiment: Leistungssport im Lockdown

8 Unter Druck: Letzte Chance für Olympia

9 Fünf Ringe: Unser Triumph in Tokio

10 Alles auf Anfang: Wie ich mich neu gefunden habe

11 Der Höllenritt: Härteprobe bei der Solitaire du Figaro

12 Das Ocean Race: Fünf Menschen, ein Boot und die unbändige See

13 Die Reifeprüfung: Große Träume wollen gut geplant werden

14 Rolle rückwärts: Wenn der Wind einen umhaut

15 This Race is Female: Frauen können auch Abenteuer

Segelglossar

Danksagung

Für Smilla, Mathilda, Charlotte und Juli.

Die Welt gehört euch. Träumt groß und traut euch alles zu.

Ihr könnt schaffen, was immer ihr euch wünscht.

1 Bis ans Limit: Grenzerfahrung auf den Ozeanen

Durchziehen: Wenn man allein auf dem Boot ist, bleibt einem gar nichts anderes übrig

© Felix Diemer

Es ist ein Irrsinn, allein um die Welt segeln zu wollen. Es ist irrsinnig gefährlich. Irrsinnig anstrengend. Und irrsinnig schön. Alles drei hängt wohl irgendwie miteinander zusammen.

Wenn der Wind dich jederzeit umschmeißen kann, die Wellen dein Boot zerbrechen können, wenn du kaum schläfst und nur auf dich gestellt bist, dann werden deine Tage länger, dann erlebst du jede Stunde intensiver, dann wird der Himmel blauer, wenn die Sonne scheint, und düsterer, wenn der Sturm aufzieht.

Selten erlebst du solche Höhen und Tiefen wie in den Tagen und Nächten, in denen du allein mit deinem Boot über den Ozean drischst oder in denen du dich auf ihm mit Leichtwind abmühst. Du segelst durch eine Welt der Wunder. Und manchmal passierst du dabei ganz ohne Vorwarnung das Tor zur Hölle. Dann spielt die Natur verrückt oder deine Seele. Manchmal auch beides zusammen.

In den vergangenen zwei Jahren, seit ich nach den Olympischen Spielen in Tokio ins Hochseesegeln, oder Offshore-Segeln, wie man es auch nennt, eingestiegen bin, habe ich viele dieser Höhen und Tiefen erlebt. Hochseesegeln und olympisches Segeln haben nur eine sehr kleine Schnittmenge. Auch wenn ich mein ganzes Leben lang auf dem Wasser verbracht habe und in meiner bisherigen Sportlerinnenkarriere viele Medaillen und Pokale gewinnen konnte, musste ich fast alles neu lernen. Oft auf die harte Tour. Ich habe vom Meer aus Videonachrichten an meine Freunde und Familie geschickt, wenn ich dachte, mein Herz zerbricht fast an der Schönheit um mich herum. Aber auch, wenn ich am Ende war. Dann sitzt du da, mit dir allein und deinem Boot, und wünschst, jemand würde dir eine Hand reichen, dich in den Arm nehmen, ein nettes Wort an dich richten. Aber da ist keiner. Außer dir. Also ziehst du dich selbst aus den seelischen Untiefen und machst weiter. Weil du weißt, wofür du das tust. Für dich. Und für deinen Traum.

Ich will als erste deutsche Frau bei der Vendée Globe mitsegeln. Das ist noch eine Nummer größer als alles, was ich bisher gemacht habe: noch nasser, noch krasser, noch weiter, noch wilder. Es ist die ultimative Grenzerfahrung für Seglerinnen und Segler: ein Rennen rund um die Welt, 50000 Kilometer über die Ozeane, durch die verschiedenen Winde und Klimazonen, allein und ohne Hilfe, nonstop.

Mehr als 11000 Menschen standen bisher auf dem Gipfel des Mount Everest, 640 flogen ins Weltall, aber nur um die 200 Personen sind bisher bei der Vendée Globe gestartet. Ich möchte eine weitere werden.

Rund 80 Tage braucht man für dieses abenteuerliche Rennen, wenn es gut läuft und man überhaupt den Zielhafen in Les Sables d’Olonne erreicht. Denn bisher haben das nur etwas mehr als die Hälfte der Boote geschafft. Auf dem Meer gelten eigene Gesetze. Der Ozean ist wild und unberechenbar – es läuft nie alles glatt. Jeder Segler weiß das. Probleme und Strapazen gehören zum Segeln dazu. Genauso wie Wind, Sonne und Wasser. Und das ist irgendwie auch gut so.

Wie die Olympischen Spiele findet auch das Rennen um den Globus alle vier Jahre statt. Beim letzten Mal haben 33 Skipper ihr Glück versucht. 27 Männer, sechs Frauen. Nur die ersten Seemeilen sind die konkurrierenden Boote noch in Sichtweite, dann zieht sich das Feld auseinander – von da an bist du für Monate auf dich gestellt und musst mit dem auskommen, was du hast: deinem Erste-Hilfe-Set, deinem Proviant, dem Trinkwasser aus der Entsalzungsanlage, deinem Werkzeugkasten, den Ersatzteilen und dem Satellitentelefon, mit dem du ab und an mit deinen Liebsten reden kannst. Oder im Notfall auch mal mit dem Ärzte-Team.

Morgens und abends wirst du via Satellit mit zwei Wettermodellen versorgt. Was du daraus machst, ist deine Sache. Rat von außen darfst du nicht annehmen. Aber sie helfen, um dich für das zu wappnen, was kommen wird.

Im Kopf kreuze ich bereits über den Atlantik, passiere den Äquator, fantasiere mich durchs Südpolarmeer, lasse das Kap der Guten Hoffnung backbord an mir vorüberziehen und die Antarktis steuerbord. Ich male mir aus, wie ich den Pazifik überquere, an Australien vorbeisegele, den Indischen Ozean hinter mir lasse, um dann über den Atlantik nach Frankreich zurückzukehren.

 

In den vergangenen 24 Monaten habe ich einen Vorgeschmack bekommen, was mich bei diesem Abenteuer erwarten wird. Ich habe beim Ocean Race meine Äquator-Taufe bekommen und gehofft, dass ich beim Rennen durch die Biskaya von den Orcas verschont bleibe. Ich habe die heftigste Nacht meines Lebens durchgestanden und danach Rotz und Wasser geheult. Ich bin auf Masten geklettert, habe Segel geflickt, mein Boot auf offener See repariert. Ich musste einen Orkan meistern und steckte manövrierunfähig im Nebel in einer Flaute fest. Ich bin tagelang durchgesegelt, mit höchstens 20 Minuten Schlaf am Stück, dann klingelte schon wieder mein Wecker, wenn nicht ein Alarm, eine Welle oder eine Böe vorher an mir gerüttelt hatten. In all der Zeit auf See habe ich dabei mein Herz genauso oft toben gehört wie den Wind und das Meer.

Ich bin bis an mein Limit gegangen. Und darüber hinaus. Und trotzdem weiß ich: Ich kann mir nicht einmal ansatzweise vorstellen, was mich bei meiner Vendée Globe erwarten wird. Das kann niemand. Denn das Meer hat seine Launen. Die Natur ist immer für eine Überraschung gut. Und bei so einem Rennen geht es auf und ab, wie die Wellen, die einen tragen.

Als Offshore-Seglerin setzt du dich den schwierigsten Bedingungen aus. Du wählst ein Leben, das ungemütlich ist und voller Entbehrungen. Freiwillig. Dein Dasein reduziert sich auf ein paar Quadratmeter Boot, auf Trockenmahlzeiten, Wetterdaten und dein Radar. All den Überfluss des normalen Alltags lässt du an Land zurück. Manchmal fühlst du dich dann unbeschwert und leicht. Weil nichts dich ablenkt, weil du im Hier und Jetzt bist. Weil du dich auf das Wesentliche konzentrieren kannst: den Kurs, der vor dir liegt.

Und trotzdem ist es ein ständiger Balanceakt.

Wenn du bei den tagelangen Rennen vorne mitsegeln willst, musst du immer abwägen, wann du dich und dein Boot noch ein bisschen pushst. Du musst dich fragen, was können du und dein Boot aushalten, und wann nimmst du das Tempo raus und setzt lieber auf Sicherheit.

Den richtigen Weg für sich zu finden und dann den Kurs zu halten, das ist nicht einfach. Ich persönlich tüftele immer noch an dem Erfolgsrezept und bin dabei, die magischen Zutaten für mich zusammenzusammeln.

 

Dass man nie weiß, was das Meer für einen bereit hält, ist das, was ich am meisten am Segeln liebe

© Felix Diemer

Und selbst wenn du denkst, du hast sie alle im Sack, kommt es doch oft ganz anders. Bei der letzten Ausgabe der Vendée Globe musste der Führende Jérémie Beyou schon nach vier Tagen wieder umdrehen. An seinem Boot riss ein Beschlag ab, und er demolierte sein Ruder, als er bei voller Fahrt gegen einen Wal knallte. An Tag acht stoppte ein Mastbruch den Franzosen Nicolas Troussel. An Tag 21 brach das Steuerbordruder des Titel-Favoriten Alex Thomson. Sein Aus.

Nur vier Tage später kollidierte sein Mitstreiter Sébastien Simon mit einem UFO – einem »unidentified floating object«, einem unbekannten Treibobjekt. Eines seiner Foils, also seiner Tragflächen, die das Boot bei genug Geschwindigkeit aus dem Wasser heben, um es über das Meer fliegen zu lassen, wurde stark beschädigt, und im Rumpf war ein Leck. Er musste abdrehen.

Auch Samantha Davies ereilte ein ähnliches Schicksal, nur knapp 24 Stunden später. Sie stieß unter Wasser gegen etwas Unbekanntes, vielleicht ein Wal, vielleicht ein Container. Was es war, sah sie nicht. Aber sie hatte das Gefühl, sie würde auf offener See einen Felsen rammen, sie flog durchs gesamte Boot, schlug auf, dachte, das war es jetzt. Der Kiel ihres Bootes war von Rissen durchzogen, Wasser drang ins Innere ein. Drei Tage versuchte sie, den Schaden zu reparieren. Es gelang ihr nicht.

Und auch Isabell Joschke musste nach fast 40000 Kilometern das Handtuch werfen. Da hatte sie das Schlimmste eigentlich schon hinter sich. Aber die Hydraulik ihres Bootes wollte nicht mehr. Auch ihre Ersatzkonstruktion machte schlapp. Dabei war das Ziel gefühlt schon so nah.

Acht Skipperinnen und Skipper konnten dieses Rennen nicht zu Ende bringen. So wenige wie noch nie. Aber jedem und jeder Einzelnen brach das Herz, als ihr Traum in sich zusammenfiel. Es sind Jahre, die du in die Vorbereitung eines solchen Abenteuers stecken musst. Jahre, die dir und deinem Leben eine Richtung geben. Jahre, die an dir und deinen Lieben zehren. Das Rennen ist nur der Schlusspunkt einer langen Reise, die du auf dich nimmst, weil sie für dich das Größte ist. So stark ist sie, die Kraft unserer Träume. Und so faszinierend ist die unendliche Weite des Ozeans.

Wenn alles wie geplant läuft, könnte es 2028 für mich so weit sein. Der Start ist immer im November, weil dann die meteorologischen Verhältnisse im Südpazifik am günstigsten sind. Klingt noch ewig weit weg. Aber der Zeitplan ist straff. Kaum eine sportliche Herausforderung verlangt einem Menschen so viel ab. Ich will vorbereitet sein. Und dafür muss ich noch viel lernen. Jedes Mal, wenn ich auf dem Wasser bin, erfahre ich etwas Neues – über diesen Sport, über das Meer und über mich selbst. Ich mache Fehler und ziehe meine Lehren daraus. Ich werde in die unmöglichsten Situationen geschmissen und muss da irgendwie aus eigener Kraft wieder rauskommen. Dabei wächst nicht nur mein Wissen, auch meine innere Rüstung wird immer solider. Aber um das Solo-Rennen um unseren Planeten unbeschadet zu bestehen, muss sie noch dicker und härter werden. Und bestenfalls so widerstandsfähig wie das Carbon, das den Rumpf unserer Rennyachten umgibt. Aber selbst dann kann ich nicht versichern, dass sie hält. Denn es wird irrsinnig gefährlich werden. Irrsinnig anstrengend. Aber bestimmt auch irrsinnig schön.

2 Gene und Gummibärchen: Wie ich zur Seglerin wurde

Sonne im Gesicht: Jedes Wochenende waren wir mit unserem Boot in der Dänischen Südsee unterwegs

© Archiv Sanni Beucke

Das Meer übt auf uns Menschen einen Sog aus. Ein bisschen wie der Mond auf die Erde. Es zieht uns magisch an. Wir suchen seine Nähe, wenn wir uns besser fühlen wollen. Wir lauschen den Wellen, wenn unsere Seele zur Ruhe kommen soll, weil ihr Takt unserem Atemrhythmus ähnelt. Und wenn dann noch die Sonne das Wasser zum Glitzern bringt, lassen wir uns vom Serotonin berauschen, das unseren Körper flutet. Das Meer ist das beste Heilmittel der Welt. Das Meer bedeutet mir alles. Genauso wie das Segeln.

Segeln war immer ein Teil von mir. Und ein Teil meines Lebens. Meine Eltern haben mich schon mit aufs Wasser genommen, bevor ich stehen und laufen konnte. Die »Hexe«, unser Boot, war mein zweites Zuhause. Jedes Wochenende sind wir mit ihr los. Von Kiel nach Süddänemark. Das dauerte oft mehr als zehn Stunden. An Bord waren alle und alles immer in Reichweite. Das habe ich geliebt. Zusammen auf dem engsten Raum zu leben und einfach nur zu sein, das ist noch heute meine Vorstellung von Glück.

Auf der Hexe habe ich gelernt, dass es überhaupt nicht viel braucht, um glücklich zu sein. Und dass der wahre Luxus ist, mit wenig auszukommen. Das habe ich mir bis heute bewahrt. Was ich besitze, passt in einen Camper. Oder auf ein Boot. Die Surfbretter mal ausgenommen.

Auf der Hexe lebten wir in den Tag hinein. Wir spielten Skippo, Mensch-ärgere-dich-nicht oder Monopoly. Stundenlang. Es gab ja kein Entkommen. Wir suchten das Meer nach Tümmlern ab, die sich immer mal wieder vom Atlantik oder der Nordsee auf den Weg gemacht hatten, um der Ostsee einen Besuch abzustatten. Und wenn wir sie endlich erspähten, drehten wir auf unserem Gettoblaster Tina Turner auf, so laut es ging – ihre Stimme, die Beats, das mochten die Tiere aus irgendeinem Grund. Dann blieben sie länger und begleiteten uns auf einem Stück unserer Reise.

Manchmal haben wir auch gar nichts gemacht. Dann lagen wir an Deck und langweilten uns. Aber selbst die Langeweile an Bord war besser als die daheim. Denn da waren ja immer noch die Wellen, die vorne am Bug rumgluckerten, und das Himmelskino, das einen Film für uns abspielte. Ganz still ist es nie auf dem Meer. Und selbst, wenn das Wasser noch so ruhig ist, schaukelt das Boot doch ganz leicht vor sich hin. Das mochte ich immer. Mag es noch heute.

 

Abends machten wir dann in einem der malerischen Häfen an der Südküste Dänemarks fest. Etwa in Ærøskøbing, Avernakø oder Fåborg.

Wir holten uns Fisch frisch vom Kutter. Oder angelten selbst an der Hafenmole. Richtig erfolgreich waren wir dabei selten. Aber wenn doch mal ein dicker Fisch anbiss, musste mein Vater ihn wieder ins Meer werfen, weil ich es nicht ertragen konnte, ihn sterben zu sehen, und immer so lange Terz machte, bis Papa endlich nachgab und auf mich hörte.

Oft ankerten wir auch vor einer der vielen verstreuten Inseln oder suchten uns eine von diesen abgelegenen Buchten, bei denen die flachen Sandbänke das Wasser türkisgrün färben und damit den Anschein erwecken, man hätte sich in die Karibik verirrt. Nur mit deutlich kälterem Wasser. Meine Schwestern und ich veranstalteten dann Rennen mit unseren Schlauchbooten. Wir paddelten an Land, um Äste zu sammeln, aus denen wir Boote schnitzen konnten. Oder schichteten dicke Hölzer für ein Lagerfeuer auf, um darüber abends unser Stockbrot zu backen. Goldbraun und knusprig.

Manchmal kamen andere Familien vorbei. Oft spontan. Die Verabredungen traf man damals noch ganz oldschool, per Funk. Dann lagen die Schiffe im Päckchen, eng an eng. Und wir Kinder hingen im Rudel auf einem der Boote ab, sprangen auf einem der Trimarane auf der Verbindung zwischen dem Rumpf und den Schwimmern rum, als wäre es ein Trampolin, oder verknoteten uns bei Twister am Strand.

Abends packte immer jemand die Gitarre aus und spielte auf Bestellung alle unsere Lieblingssongs. Wenn ich meine Augen nicht mehr offen halten konnte, kuschelte ich mich in meinen Schlafsack und ließ mich vom Schunkeln des Bootes in den Schlaf wiegen. Das Murmeln des Wassers war dabei der beste Soundtrack.

Wenn wir sonntags an Land kamen und über den Steg stolperten, weil wir den Seegang immer noch in jeder Zelle unseres Körpers spürten, hatten wir rote Draußen-Wangen, Sommersprossen und waren tiefenentspannt. Spätestens ab Montag sehnte ich das Wochenende schon wieder herbei.

Das Meer habe ich immer gleichgesetzt mit Freiheit, Schönheit, Ruhe. Für mich war jedes Wochenende wie Urlaub. Die beste Auszeit der Welt. Wo es genau hingehen würde, wussten wir vorher nie. Ich glaube, auch das macht das Segeln aus. Sich treiben lassen, statt sich in Plänen zu verzetteln. Das Ziel ist dabei egal. Schön wird es immer. Das war die Konstante, die sich durch meine Kindheit zog.

 

Das Meer hat uns als Familie zusammengeschweißt. Es hat das Beste aus uns hervorgekehrt. Das macht das Meer mit den Menschen. Es spült den Streit, den Druck, den Stress einfach fort. Und manchmal reißt es auch die Mauern ein, die man im Alltag fein säuberlich um sich gezogen hat. Zu Hause gab es auch bei uns mal schlechte Stimmung. Zwischen meinen Eltern hat es geknirscht und gekriselt. Sie trennten sich, als ich 12 war. Aber bis dahin war unsere Familienwelt auf dem Meer heiler und harmonischer. Auf dem Boot waren meine Eltern immer ein gutes Team. Nahbarer. Menschlicher. Sie wurden von Alltagshamsterraddauerläufern zu entspannten Seeleuten, sobald sie die Leinen gelöst hatten. Und meine zwei Schwestern und ich stellten das ewige Nörgeln und die Zwistigkeiten ein und wuchsen zu einer Seemannschaft zusammen, die füreinander einsteht. Das hat sich nicht geändert. Bis heute.

Natürlich war auch an Bord nicht immer nur Friede, Freude, Sonnenschein. Manchmal waren auch wir dem Meer zu viel. Dann schüttelte es uns kräftig durch, als wollte es uns sagen: »Jetzt reicht’s mir aber. Ab nach Hause, ihr Zwerge!«

Wenn mein Vater dann die neongelbe Kapuze seines Ölzeugs überzog, wussten wir, jetzt wird es wild. Ich fand das aufregend und fühlte mich trotzdem immer sicher. Wellen, Wind und tiefschwarzer Himmel jagten mir keine Angst ein. Wir saßen dann angeleint hinten im Cockpit und knabberten Gummibärchen aus der Tüte. Manchmal gab es dazu noch heiße Schokolade. Wer will sich da noch beschweren? Und wenn wir eines wussten, dann das: Auf schlechtes Wetter folgt immer gutes. Mit diesem Grundvertrauen gehe ich bis heute durchs Leben.

Vielleicht ist genau das eine der wichtigsten Lektionen, die mir das Segeln beigebracht hat: Jeder Sturm zieht vorüber. Nichts ist für die Ewigkeit. Alles ändert sich. Genauso wie die Bedingungen auf dem Meer. Was man tun kann? Sich ihnen anpassen. Auch wenn es manchmal richtig ungemütlich ist. Am Ende kommt immer wieder die Sonne raus, selbst wenn es lange nicht so scheint. In der Zwischenzeit muss man sich nur warm anziehen und darf seine Sicherheitsleine nicht vergessen.

Ich bin mir sicher, das Segeln hat meinen Charakter geprägt und mich zu der Person gemacht, die ich heute bin. Früher war ich ein Schisser, immer die Letzte im Wasser, abwartend, zögerlich. Ich war introvertiert und ein wenig schüchtern. Ich habe lieber anderen zugehört, als selbst die Show zu schmeißen. Ich habe mich über Stunden am Stück in Büchern verloren und die Abenteuer anderer im Kopfkino durchlebt. Das hat sich geändert. Heute lebe ich lieber selbst die Abenteuer und sauge dabei jeden Moment intensiv auf. Denn die hat man dann schon mal auf der Haben-Seite, wenn das Leben doch irgendwann einmal wieder querschießen sollte. Und das tut es bestimmt.

 

Alle auf engstem Raum zusammen: Das Segeln ließ uns als Familie näher zusammenrücken

© Archiv Sanni Beucke

Wer weiß, vielleicht liegt der Drang nach Abenteuer auch ein bisschen in meinen Genen. Meine Eltern sind sich sicher, dass mein Opa da ein bisschen was in meine DNA geschmuggelt hat. Meinen Vater treibt das manchmal schier in den Wahnsinn. Er sähe mich lieber in einem netten Häuschen mit Hund, Kerl und Kindern als allein auf dem Meer beim Offshore-Segeln. Das würde besser in seine ordentliche und etwas antiquierte Weltvorstellung passen. Er kann nicht nachvollziehen, warum ich diesen Weg für mich gewählt habe. Er leidet, wenn ich tagelang allein unterwegs bin. Ich darf ihm nicht davon erzählen, was mir auf dem Meer widerfährt. »Du bist noch schuld, wenn ich graue Haare bekomme«, sagt er manchmal, wenn er sich wieder einmal Sorgen macht, dass ich irgendwo absaufe. »Muss das denn alles sein? Du könntest doch auch einfach schwanger werden.« »Lass sie!«, steht mir dann oft meine Schwester Anne bei. Sie hat die Kinder, den Kerl und das Häuschen. »Die Sanni ist nun mal wie der Opa. Und das ist auch gut so.« Damit ist die Diskussion dann auch schnell wieder beendet.

Opa Horst ist einer, den man auch mit seinen über 90 Jahren nicht übersehen kann, wenn er einen Raum betritt. Er ist groß und breit und hat eine so tiefe Stimme, dass es sofort still wird, wenn er anfängt zu reden. Im Krieg wurde seine Familie in Düsseldorf ausgebombt. Sie wurden nach Thüringen umgesiedelt. Sie hatten nichts mehr, mussten sich alles neu aufbauen. Wie viele damals. Aber Opa Horst war schon damals zäh und dickköpfig. Einer, der anpackt. Ein Malocher. Sein erstes Geld hat er sich an einer Tankstelle verdient. Und sich von da an so lange den Arsch aufgerissen, bis er ein eigenes Autohaus hatte. Und trotzdem hat er dabei eines nie vergessen: zu leben.

Mit seiner Frau, meiner Oma Christa, hat er dreimal den Atlantik auf dem Segelboot überquert. Dabei konnte meine Oma noch nicht einmal schwimmen. Manchmal frage ich mich, wer eigentlich furchtloser ist von den beiden. Wenn sie von ihren Reisen zurückkamen, hatten sie immer einen Sack Geschenke für uns dabei. Der Kopfschmuck vom Karneval in Tobago war der Renner unter uns Mädels. Fast so gut wie die aufregenden Geschichten, die sie mit im Gepäck hatten und die mein Opa mit seinem Bass zum Besten gab, während wir uns seine zusammengeschnittenen Super-8-Filme ansahen, die langsam über unsere Wohnzimmerwand flackerten.

Meine Mutter Ellen ist bei uns in der Familie die, die mit Sicherheit den Selbstbewusstseins-Genpool bis zum Rand aufgefüllt hat. Sie steht immer kerzengerade und hat ein starkes Rückgrat. Selbst die heftigste Böe könnte sie nicht ins Wanken bringen, auch wenn es mal gegen den Wind geht. Sie war in der ersten deutschen Frauencrew überhaupt, die bei internationalen Regatten angetreten ist. Das war Mitte der 80er, als das Segeln noch viel mehr als heute eine Männerveranstaltung war, ein Riesending. Damals fuhren die Frauen meistens nur mit ihren Männern mit, sie nahmen so gut wie nie selbst das Ruder in die Hand. Meine Mutter war da anders. Sie und ihre Crew verschafften sich Respekt in der Segelszene, sie konnten sich gegen viele der richtig guten Teams durchsetzen. Trotzdem hörte sie schweren Herzens auf mit dem Wettkampfsegeln, als meine älteste Schwester Kerstin fünf und Anne drei war. Sie konnte es nicht mehr ertragen, die beiden weinend und nach Mama schreiend im Hafen stehen zu sehen, während sie in See stach. Heute trägt niemand das T-Shirt meiner Kampagne »This Race is Female«, über die ich später noch ausführlich schreiben werde, mit mehr Stolz als sie.

Meinen Vater Jens Uwe nennen alle nur Felix. Weil er das Glück gepachtet hat. Bei seiner ersten Regatta kollidierte er als Einziger nicht mit einem Wrack und konnte so das Rennen gewinnen. Seitdem ist der Name Programm. Er hat die Ausdauer in den Gen-Mix geschmissen. Er ist nämlich wie das Duracell-Häschen und rattert ununterbrochen. Ein Workaholic durch und durch. Stillstand kann er nicht leiden. Das habe ich von ihm. Für mich muss es immer weitergehen. Leerlauf ist für mich nur schwer erträglich.

Manchmal nervt mich das selbst, weil ich mir wünschte, ich könnte einfach mal die Füße hochlegen und das Leben langsamer angehen. Aber dann werden genau diese Füße sofort wieder kribbelig und wollen weiterlaufen. Am liebsten im Sprint.

Ihr dürft das nicht falsch verstehen, ich bin zufrieden mit dem, was ich habe und wer ich bin. Ich muss auch nicht zwanghaft die Beste sein. Ich will aber immer ausloten, was noch geht. Das ist wie ein roter Faden, der sich durch mein Leben zieht.

 

Hätte ich schon bei meiner Einschulung gewusst, dass Seglerin ein Beruf sein kann, ich hätte es in jedes Freundschaftsbuch geschrieben

© Archiv Sanni Beucke

Nach der Grundschule hatte ich eine Realschulempfehlung. Meine Eltern schickten mich auf eine Privatschule. Sie lag am Wasser, die Klassen waren klein, nie mehr als 15 Schülerinnen und Schüler. Ich fühlte mich wohl und hatte Freunde. Eigentlich war das ein richtig guter Ort für mich. Und trotzdem war da dieser Gedanke, der immer mehr an mir nagte: Ich wollte wissen, was die anderen Kinder am Gymnasium lernten. »Könnt ihr nicht einen Termin mit dem Rektor vereinbaren?«, bat ich meine Eltern. »Wirklich? Bist du dir sicher?«, fragten sie. »Am Gymnasium ist viel mehr Druck.« Aber ich ließ nicht locker. Brachte das Thema immer wieder auf den Tisch. Bis ich dem Rektor gegenübersaß.

Er warf einen Blick auf meine Noten und schaute mich mit ernsten Augen an. »Sanni, die Noten qualifizieren dich nicht direkt fürs Gymnasium«, sagte er ehrlich. »Das kann hier sehr schwer werden für dich.« Aber ich hatte mir das gut überlegt. Ich hielt ihm einen Vortrag, erklärte ihm, dass ich lernen wollte, dass ich besser werden wollte. Unbedingt. »Sie können diese Chance einem Kind nicht verwehren!«, schloss ich mein Plädoyer. Der Rektor schaute erst mich, dann meine Eltern etwas verblüfft an. »Tja, wenn Sanni den Willen hat, hart zu arbeiten, und den sehe ich bei ihr, dann haben wir einen Platz für sie.« Mit einem Handschlag besiegelten wir den Schulwechsel.

Ganz ehrlich: Leichter hat mir das mein Leben nicht gemacht. Ich musste richtig ackern. Ich zählte nie zu denjenigen, denen die Einsen in den Schoß gefallen sind. Die Zweien meistens auch nicht. Aber davon ließ ich mich nicht abhalten. Wenn ich mir ein Ziel gesetzt habe, will ich es auch erreichen. Ich will mir nicht die Blöße geben, es nicht zu schaffen. Nicht, weil mir der Blick von außen wichtig wäre, der war mir schon immer ziemlich egal. Sondern weil ich dann selbst von mir enttäuscht bin. Und das kann ich überhaupt nicht ausstehen.

Ich glaube, genau diese Mentalität hat dafür gesorgt, dass ich es schließlich zu den Olympischen Spielen geschafft habe. Denn am Ende gewinnen die, die es am meisten wollen. Und mein Dickkopf und ich, wir wollen viel.

3 Der Wunsch nach mehr: Mein Traum von Olympia und der Vendée Globe

Magische Momente: Nirgends sind die Sonnenaufgänge so schön, wie auf dem Meer

© Felix Diemer

Ein Countdown, lautstark heruntergezählt von 110000 Menschen. Und dann galoppiert ein einsamer Reiter auf seinem Pferd ins Stadion. Er lässt es zweimal steigen, knallt mit der Peitsche – und alle drehen kollektiv durch.

Im September 2000 saß ich mit meiner Freundin Judith vor dem Fernseher in ihrem Wohnzimmer, und wir sahen uns die Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele in Sydney an. Es sollte die größte Show werden, die die Welt je gesehen hatte. Und für uns war sie das auch: ein gigantisches, buntes Megaspektakel. Wir waren beide neun Jahre alt. Und die Übertragung war für uns das Fernsehereignis des Jahres. Viel besser als »Wetten, dass…?« am Samstagabend. Und das war ja schon nahezu unschlagbar.

Da waren Feuerschlucker, brennende Stepptänzer und Artistinnen auf Rhönrädern. Aborigines, die zwischen Rauchschwaden tanzten, und Kinder, die mit ihren Körpern einen Fischschwarm bildeten. Der australische Popstar Vanessa Amorosi sang einen Song über Helden, und Cathy Freeman, die spätere Olympiasiegerin im 400-Meter-Lauf, entzündete in einem weiß glänzenden Ganzkörperlycraanzug in einem Pool aus Wasser das olympische Feuer. Ganz großes Kino.

Und dann war da der Einlauf der Athleten. 10000 Sportlerinnen und Sportler aus 200 Ländern, die in alphabetischer Reihenfolge ihre Runde durchs Stadion drehen durften. Alle mit stolzen Gesichtern. Alle endlich dort angekommen, wo sie schon immer hinwollten. Alle mit der Hoffnung im Blick, sich einen Traum zu erfüllen, für den sie sehr lange, sehr hart gearbeitet hatten, und mit dem Gefühl im Herzen, Teil von etwas Größerem zu sein.

Olympia hat etwas Magisches. Eine so starke Symbolkraft, dass sie einen mit sich reißt. Dem kann man sich kaum entziehen. Egal ob man 9 oder 99 ist. Das habe ich schon damals vor dem Fernseher gespürt. Und als ich 21 Jahre später selbst nach Tokio flog, noch während der Pandemie, als die Welt kopfstand und nichts mehr so war wie vorher, da war ich trotz der besten Vorbereitung so aufgeregt, dass ich kaum noch essen und schlafen konnte.

Bei Olympia teilnehmen zu dürfen, ist tatsächlich die größte Ehre für jede Sportlerin und für jeden Sportler. Das sind nicht nur leere Worte oder Plattitüden. Sein Land zu repräsentieren, während die ganze Welt einem dabei zuschaut, ist schlichtweg nicht zu toppen.

Deswegen war ich zutiefst enttäuscht, als ich hörte, dass ich als Athletin nicht bei der Eröffnungsfeier in Tokio einlaufen durfte, weil der Segelverband es uns wegen der Ansteckungsgefahr untersagte. Ich lag im Bett und habe Wuttränen geweint, weil ich fand, dass diese Pandemie mit all ihren Regeln und Einschränkungen den Spielen ihren magischen Funken nahm. Diesen einmaligen Spirit, der sie für uns alle so besonders macht. Meine Steuerfrau Tina und ich haben dann trotzdem gefeiert. Allein in unserem Zimmer. Wir schmissen uns zur Eröffnungsfeier in unsere Teamklamotte, ein Kleid in pastelligem Mint, das nach der langen Historie der eher bemitleidenswerten Outfit-Kreationen sogar ziemlich gut aussah – und dann stießen wir auf uns an. Während viele unserer deutschen Teamkollegen vor leeren Rängen durch die Arena in Tokio schritten, blätterten wir in unserem Hotel im Fotobuch, das uns unsere Familie und Freunde mit auf den Weg gegeben hatten. Daraus prostete uns meine Camping-Clique aus einem Wohnmobil zu und wünschte »Volle Kraft voraus«. Der deutsche Ausnahme-Offshore-Segler Boris Herrmann, der zusammen mit seinem Vorschoter Julien über Jahre zur Kieler Woche und an Trainingswochenenden bei uns gewohnt hatte, winkte vom Boot und schrieb »Go for it!«. Tinas Fitnesscoach Jojo schickte ein Bild von seinem ersten Training mit ihr. Da hängt Tina mit knallroten Wangen waagerecht und kerzengerade an einem Seil an der Wand und muss einen Basketball zusammenpressen. »Lebt euren Traum, zeigt es allen und denkt dran: locker bleiben«, hatte er daruntergekritzelt. Und meine Schwester Anne stellte mit ihrem Mann und den drei Mädels die olympischen Ringe auf dem Wellenbrecher in Strande nach und schrieb: »Wir werden bei jedem Start, bei jeder Wende, bei jeder Halse und bei jedem Zieleinlauf bei euch sein. Wir werden mitfiebern, jubeln und euch tragen. Mit euch über die Wellen hüpfen und applaudieren – für den Erfolg. Genießt die Zeit miteinander und macht eure Rennen.« Und da kullerten bei mir schon wieder die Tränen. Aber dieses Mal vor Freude.

Von den Eröffnungsfeiern geht seit jeher eine enorme symbolische, emotionale und politische Kraft aus. Es sind Feiern für die ganze Welt. Sie stehen für Frieden und Völkerverständigung, und 2021 standen sie außerdem noch für die Hoffnung, dass das Leben irgendwann einmal wieder ganz normal weitergehen würde. Diese Feiern erzeugen Gänsehautmomente, die einem auf ewig in Erinnerung bleiben.

Ich weiß zum Beispiel noch, dass damals, in Sydney, die Kanutin Birgit Fischer die Fahnenträgerin des deutschen Teams war. Mit einem minimalen Lächeln führte sie die 432 deutschen Olympioniken im Stadion an, die hinter ihr maximal euphorisch ihre Hüte mit breiten Krempen schwenkten. Die Männer in blauen Jacketts und mit gelben Krawatten. Die Frauen in grauen, sackigen Anzügen und mit Halstüchern, die aussahen, als hätte man sie den Pfadfindern geklaut. Modisch war das mehr als fragwürdig, dafür für uns als Neunjährige ausgesprochen lustig.

Bei K im Alphabet angekommen, erhoben sich die Zuschauer plötzlich und jubelten lautstark, weil die Athleten und Athletinnen aus Süd- und Nordkorea vereint einliefen. Nicht getrennt, wie man es bei den beiden politisch verfeindeten Staaten hätte annehmen können. Sie setzten ein Zeichen. Für Versöhnung und für Frieden. Sie gingen gemeinsam, Schulter an Schulter, hinter einer neutralen Flagge. Verstanden haben wir das damals nicht. Wir wussten nur, dass da gerade etwas Wichtiges passierte. Etwas, das 110000 Menschen zutiefst bewegte.

Sport verbindet. Olympia noch mehr. Das habe ich selbst zu spüren bekommen. Es geht um mehr als Medaillen. Um mehr als Sieg und Niederlage. Man wächst zu einer Gemeinschaft zusammen, die Grenzen ausradieren kann. Egal ob zwischen Ländern oder in irgendwelchen Köpfen. Das hat mich schon immer gefesselt.

Die Olympischen Spiele in Sydney haben mich und meine Eltern damals über Wochen begleitet. So wie viele wahrscheinlich. Heike Drechsler holte noch einmal Gold im Weitsprung, der Schwimmer Ian Thorpe wurde mit drei Weltrekorden und drei Goldmedaillen der Superstar der Spiele. Viel wichtiger war aber für mich, was für viele wahrscheinlich eine Randnotiz blieb: Ein Mädchen aus meinem Nachbardorf, Amelie Lux, gewann Silber im Surfen. Ganz unverhofft. Als erste Deutsche überhaupt. Das war damals unser kleines Sommermärchen. Da fängt man schon mal an zu träumen.

Vier Jahre zuvor hatte ich noch bei uns im Garten Olympia nachgespielt. Ich hatte Hürden aufgebaut, war so weit gesprungen, wie ich nur konnte. Am Ende stand ich auf dem Treppchen immer ganz oben. Ist ja klar. Und mit Amelie, so empfand ich das wenigstens, da bekam Olympia auf einmal ein nahbares Gesicht. Eines, das ich gut kannte. Schließlich war sie die, der man auf dem Weg zur Schule auf dem Fahrrad begegnete. Die man sah, wenn sie nachmittags nass geschwitzt aus dem Fitnessstudio kam. Oder hinter der man beim »Schrödi« an der Kasse stand, dem einzigen Supermarkt bei uns in Strande, bei dem man vom Seehundkuscheltier bis zur Naschitüte alles kaufen konnte, und wo der Besitzer noch heute den alten Omis das Kleingeld aus dem Portemonnaie zusammenzählt, wenn sie es nicht mehr zusammengekramt bekommen.