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Wie funktioniert das Gehirn in Bezug auf Krankheiten und Schmerzen? Was bedeuten meine Schmerzen und was steckt wirklich dahinter? Der Arzt sagt:" Da kann man nichts mehr machen, das ist Abnutzung." Ist das wirklich die Endstation oder kann ich noch etwas bewirken? Eine Anleitung für Patienten um Schmerzen, Verletzungen und chronische Krankheiten zu verstehen und das Leben selbst verändern zu können.
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Seitenzahl: 199
Veröffentlichungsjahr: 2019
© 2019 Tamara Haas
Autor: Tamara Haas
Umschlaggestaltung, Illustration: Tamara Haas
Verlag und Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
ISBN
Taschenbuch:
978-3-7497-1090-4
ISBN
Hardcover:
978-3-7497-1091-1
ISBN
e-Book:
978-3-7497-1092-8
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Tamara Haas
Geheilt
Wie du deine Krankheiten selbst umprogrammierst
Inhalt
Teil 1
Wie du deine Krankheiten selbst umprogrammierst
Paul und der Bandscheibenvorfall
Das Gehirn
Gene
Tina und der Tinnitus
Schmerz ist dein Freund
Horst und die Leiter
Schmerzmittel JA oder NEIN?
Schwellung
Entzündungshemmer JA oder NEIN?
Warm oder kalt?
Westliche zivilisierte Welt und die Krankheiten, die wir uns selbst programmieren und produzieren
Wann sind wir zu solchen Weicheiern geworden?
Wie funktioniert die Alarmanlage?
Maria und die Enkelkinder
Wie verändere ich mein Leben?
TEIL 2
Bewegungsapparat
Linke Körperseite
Rechte Körperseite
Kopf und Rumpf
Halswirbelsäule
Brustwirbelsäule
Lendenwirbelsäule
Obere Extremität
Untere Extremität
Organe von A-Z
Vorwort
Dieses Buch ist ganz anders als alles, was es bisher zum Thema Schmerzen, Verletzungen und Krankheiten gibt. Das ist so, weil ich auch komplett anders bin als meine Kollegen im medizinischen Bereich. Studiert habe ich wie alle anderen auch, aber selbst während des Studiums bin ich schon oft angeeckt, weil ich Dinge in Frage gestellt habe, was manche gar nicht lustig gefunden haben. Ich habe die unangenehme Angewohnheit, Dinge nicht einfach zu glauben, sondern immer selbst zu überprüfen und nach Lösungsvarianten zu suchen, wenn das Ergebnis nicht zufriedenstellend ist. Das passt eben nicht gut in eine Gesellschaft, in der folgende zwei
Regeln gelebt werden.
1) Das haben wir immer schon so gemacht …
2) Autoritätspersonen haben nicht in Frage gestellt zu werden.
Mir ist völlig klar, dass ich mit diesem Buch und auch mit dem Folgebuch „Geschafft“ einigen gewaltig gegen den Strich gehe. Aber einer meiner Coaches hat mir gesagt, wenn du wirklich etwas bewegen willst dann musst du damit leben, dass das, was du tust, ca. 30 % - 50 % der Menschen vor den Kopf stößt, denn schließlich kann man es nie allen recht machen. Je größer die Veränderung ist, die du anstrebst, umso größer ist die Spaltung derer, die dich lieben, und derer, die dich hassen. Je größer und bedeutender die Tat, umso mehr polarisierst du. Mittlerweile lebe ich ganz gut damit, dass ich so manchen richtig in Aufruhr versetze, denn sonst wäre ja das, was ich tue, bedeutungslos. Und das Leben ist definitiv zu kurz, um bedeutungslos zu sein!
Normalerweise läuft es doch so ab: Du hast Schmerzen, gehst zum Arzt. Der schickt dich zum Röntgen und/ oder MRT. Dort bekommst du dann anhand eines Bildes eine Diagnose. Dann beginnen die ersten schon mal alles, was da drauf steht, zu googlen. Dann findest du alle möglichen Schauergeschichten oder bekommst sie von deiner Umgebung erzählt. Dabei ist das aber wie mit dem Beipacktext bei Medikamenten. Wenn du dir da alles ansiehst, was möglicherweise eine Nebenwirkung sein könnte, dann nimmst du es entweder eh nicht mehr oder bekommst im wahrsten Sinne des Wortes alle Zustände.
Danach gehst du wieder zum Arzt, der dich dann entweder selbst behandelt oder zur Therapie weiterschickt. Und jetzt kommt der Haken an dem Procedere. Wir alle, die aus der klassischen medizinischen Ausbildung in Österreich kommen, werden fast ausschließlich auf das Gewebe hin ausgebildet. Unser Fokus liegt immer auf einem Teil, das „nicht funktioniert“ und Schmerzen macht. Im plakativsten Fall sind wir jemand, der den Körper betrachtet wie ein Mechaniker ein Auto. Einzelteile, die miteinander agieren, und wenn ein Teil abgenutzt ist, tauschen wir es aus. Die Ärzte, die auf medikamentöse Behandlung spezialisiert sind, ziehen immerhin noch die Stoffwechselkomponenten mit ein, weil sie mit meist künstlich hergestellten Präparaten den Körper auf der Ebene des Stoffwechsels beeinflussen. Aber auch das ist noch nicht genug, weil es immer noch nicht vollständig ist.
Der Körper hat mindestens drei „Stellschrauben“, an denen man drehen kann, um Veränderungen herbeizuführen. Im Positiven wie im Negativen.
Gewebe, Stoffwechsel und Gehirn.
Aufgrund unserer Ausbildung in Österreich sind wir alle (und da nehme ich keine Berufsgruppe aus) viel zu sehr auf das Gewebe fokussiert und viel zu verschlossen, um komplett neue Denkansätze zuzulassen, die eventuell in Teilen alles über den Haufen werfen, was wir jahrelang zuvor studiert haben.
Ich mache das nicht. Ich stelle mich, mein Wissen und meine Handlungen laufend selbst in Frage! Es gibt nur eine kleine Handvoll Mediziner, die das genauso sehen und deren Behandlungsmethoden nach einigen Jahren Erfahrung in keiner Weise mehr dem gleichen, was man ihnen im Studium ursprünglich beigebracht hat. Es ist mir eine Freude und ein Privileg, diese wenigen Berufskollegen am medizinischen Sektor zu kennen und mich mit ihnen austauschen zu dürfen.
Dieses Buch beschäftigt sind nun also mit der Erklärung der Komponente, die im klassischen Behandlungsablauf einer Verletzung nicht vorkommt. Dem Gehirn und seiner Bedeutung für Schmerzen, Verletzungen, Krankheiten und Heilung.
Keine Sorge, auch die Kapitel bezüglich Gehirn und Gene sind absichtlich so einfach und alltagstauglich wie möglich formuliert. Dieses Buch ist schließlich kein Fachbuch für Studierte, sondern ein Handbuch für jeden Interessierten. Also habe ich jedes Kapitel so geschrieben, als würde ich es meiner Uroma erklären, damit die es auch noch versteht.
Niemand hat etwas davon, wenn ich durch herumwerfen von Fachbegriffen mein Ego aufpoliere, um möglichst kompetent und klug zu wirken. Ich halte es wie Albert Einstein und bin der Meinung, wer etwas nicht einfach erklären kann, hat es selbst noch nicht ausreichend verstanden.
Also wünsche ich dir an dieser Stelle viel Spaß mit diesem absichtlich provokanten Buch. Es wird dir jedenfalls helfen, wirklich etwas zu verändern, wenn du offen für neue Denkweisen bist und tatsächlich etwas in deinem Leben verändern willst.
Alles Liebe
deine Tamara
Teil 1
Wie du deine Krankheiten selbst umprogrammierst
Allein der Titel ist ja schon eine Frechheit. Will sie jetzt echt gerade behaupten, ich sei selber schuld an meinen Schmerzen, weil ich sie selber programmieren kann? Ja, ich bin mal absichtlich so provokant, sonst liest es ja keiner.
Was ist an dieser Stelle gleich einmal die gute Nachricht? Es gibt NICHTS und zwar wirklich gar nichts, was der Körper nicht selbst in den Griff bekommen kann, solange ich die richtigen Dinge tue.
Wie aber ist das jetzt gemeint? Wie soll das funktionieren? Das Gehirn ist die Schaltzentrale (die Steuerung) des Körpers und gleichzeitig die Festplatte (der Speicher). Das heißt, einerseits nimmt das Gehirn alle Informationen und Reize auf, die den ganzen Tag auf dich einwirken, dann bewertet es diese, um zu wissen, ob ein Handlungsbedarf besteht. Wenn es beispielsweise eine Bedrohung wahrnimmt oder etwas, das dir schadet, dann wird das Gehirn versuchen, ein Programm zu starten, das dir hilft. Meistens ist es ein Wundheilungsprozess.
Beispiel: Du schneidest dich. Gehirn bekommt die Meldung: Verletzung der Hautbarriere, Schmerz, Blutverlust ➔ es reagiert mit Wundheilung.
Das leuchtet ja noch ein. Aber jetzt kommt’s: Das tut es auch dann, wenn gar keine physische Verletzung da ist. Das tut es immer dann, wenn ein Reiz auftaucht, der schädlich ist. Stress zum Beispiel.
Ja, ernsthaft! Das macht in deiner Schaltzentrale KEINEN Unterschied!
Die erste Phase der Wundheilung ist Entzündung, also Schmerz, Schwellung, Hitze oder Fieber. Auch diese Erfahrung wird sofort wieder vom Gehirn wahrgenommen, bewertet und abgespeichert. Je nachdem wie du mit Schmerzen umgehst oder generell mit Problemen, wird dein Gehirn unterschiedliche Bewertungen vornehmen. Ab hier wird es dann sehr individuell, weil jeder Mensch andere Geninformationen seiner Eltern erhält und schon im Mutterleib andere Informationen über Alltagsleben und Gefühle mitbekommt.
Der Vorgang selbst ist eigentlich gar nicht kompliziert. Solange dein Körper alles bekommt, was im Gehirn als Sollwert beziehungsweise Bedarf eingestellt ist, ist alles gut und du fühlst dich glücklich und zufrieden.
SOLL = IST
IDEALVORSTELLUNG = REALITÄT
Sobald es aber eine Diskrepanz zwischen dem, was dein Gehirn als nötig beziehungsweise „normal“ gespeichert hat, und dem, was in der Realität passiert gibt, entsteht ein Konflikt. Dein Gehirn erkennt diesen Unterschied und dann bewertet es ihn mit Hilfe der bereits abgespeicherten Daten. Stuft das Gehirn diesen Unterschied als bedeutungslos ein, wird nichts weiter passieren. Wenn es diesen Unterschied jedoch als Gefahr oder einen entstandenen Schaden klassifiziert, beginnt sofort ein Notprogramm. Quasi Alarmanlage. Das Gehirn versucht sofort den Körper zu heilen.
Grundsätzlich ist das ja eine sehr gute Sache. Diese Funktion stammt aus dem Tierreich und in vielen Körperfunktionen sind wir genetisch halt immer noch der Höhlenmensch.
Ein ganz einfaches Beispiel dafür ist, dass jedes Lebewesen sehr sparsam mit seiner Energie umgehen muss, weil es ja jede verbrauchte Energie wieder durch Luft, Wasser und Nahrung zuführen muss. Das heißt, jeder Körper stellt sofort alle Funktionen ein, die er nicht ständig und immer wieder braucht. Das ist schlicht und einfach eine Art Energiesparmodus. Muskeln und Gehirnverbindungen sind die beiden Dinge im Körper, die am meisten Energie benötigen. Daher werden sie sofort abgebaut, wenn sie nicht ständig gebraucht werden.
Wir Menschen, zumindest die, die in der Zivilisation leben, müssen aber weder Tiere jagen noch Wasser oder essbare Pflanzen suchen, um zu überleben. Wir haben all diese Dinge im Überfluss. Das weiß nur unsere DNA leider nicht. Ich habe genau die Gehirnleistung, Schnelligkeit, Kraft und Beweglichkeit, die ich täglich verwende und somit auch verlange. Reduziere ich zum Beispiel meine tägliche Lauf- oder Gehstrecke, wird diese Funktion sofort angepasst und reduziert. Dein Gehirn kann nicht sagen: „Ist schon okay, wir haben einen Kühlschrank der immer voll ist und eine Wasserleitung, aus der 24 Stunden am Tag Trinkwasser kommt. Ich halte darum jede Funktion, die ich jemals erlernt habe, am Laufen“. So funktioniert das nicht. Wenn du dich ohne Hilfe eine hohe Mauer hinaufziehen oder 10 km und mehr laufen willst, musst du das vorher trainieren. Wenn du das dann kannst, aber wieder aufhörst, diese Möglichkeiten ständig zu nutzen, werden sie wieder abgebaut.
Das ist weder gut noch schlecht. Das ist einfach so. Wenn du deinen Körper über deinen aktuellen Leistungszustand hinaus belastest, dann entstehen kleine Verletzungen. Die Folge, die wir dann spüren, kennen wir als Muskelkater. Dein Gehirn erkennt einerseits die Verletzungen in den Muskelfasern und gleichzeitig die Notwendigkeit, dass diese stärker sein müssen. Also startet das Gehirn das dafür notwendige Notfallprogramm: Wundheilung. Du spürst Schmerzen, Steifigkeit und harte Stellen im Muskel. Die Verletzung wird repariert und sogar noch besser gebaut als vorher. Das nennen wir dann Muskelaufbau. Das soll jetzt aber nicht heißen, dass für Muskelaufbau immer eine Verletzung der Muskelfaser notwendig ist.
Hast du das mit Training absichtlich hervorgerufen, wird dein Gehirn kein großes Drama daraus machen. Es hat ja auch gleichzeitig die Information bekommen, dass dies Absicht war und du bei einem harten Training ja auch ein gewisses Maß an Muskelkater erwartet hast.
Anders sieht es da schon mit Schmerzen und Symptomen aus, die du nicht erwartet hast oder bei denen du dir nicht erklären kannst, woher sie stammen. Vor allem, wenn diese Schmerzen oder Symptome dann deine Tagesabläufe verhindern oder durcheinanderbringen, die dir in unserer zivilisierten Gesellschaft vorgeschrieben werden.
Nehmen wir an, 2 Menschen haben plötzlich starke Rückenschmerzen. Peter muss als Alleinverdiener seine Familie ernähren und ist darauf angewiesen, dass sein Körper einwandfrei funktioniert. Michael hat keinerlei Stress, weil er finanziell gut abgesichert ist und stets jede Unterstützung von seinem Umfeld bekommt, die er braucht.
Für Peter sind die Rückenschmerzen eine völlig andere Bedrohung als für Michael. Dementsprechend wird das Gehirn von Peter die Schmerzen völlig anders beurteilen und andere Programme ablaufen lassen als das von Michael.
Paul und der Bandscheibenvorfall
Paul kommt mit starken Rückenschmerzen zu mir in die Praxis. Er kann sich kaum bewegen, die Schmerzen strahlen in die Beine aus und es wurden ihm mehrfache Bandscheibenvorfälle diagnostiziert. Er ist ziemlich verzweifelt, weil es sein Leben sehr stark beeinträchtigt und seinen Beruf gefährdet. Es wäre sehr kurzsichtig gedacht, hier nur auf das Gewebe zu schauen. Besonders bei Patienten, die schon lange Schmerzen oder immer wiederkehrende Probleme haben, ist es nicht genug, sich nur auf das Offensichtliche zu fokussieren. Paul hat brav die Faszientechniken angewandt, die ich ihm geraten habe, und auch seinen Stoffwechsel nach meiner Anleitung verbessert. Aber der entscheidende Faktor, dass er die Schmerzen langfristig in den Griff bekommen hat und sie auch nicht wieder aufgetreten sind, war die mentale Komponente. Er hat herausgefunden, dass der Stressauslöser für seinen Rückenschmerz seine Schwiegermutter ist, die er mit seiner Familie daheim pflegen muss. Noch dazu ist sie nicht gerade die angenehmste Zeitgenossin. So eine Situation ist für das Gehirn verständlicherweise ein riesiges Dilemma. Stell dir einmal Pauls Alltag vor. Er arbeitet den ganzen Tag hart und möchte dann nach Hause kommen, um sich dort zu erholen, aber genau dort lauert auch schon der größte Stressfaktor. Das ist natürlich für das Gehirnareal, das ihn beschützen soll, der helle Wahnsinn. Es gibt praktisch keinen Ort auf der Welt, an dem Paul sich in Ruhe zurückziehen und erholen kann. Konfliktpotential Nummer zwei für das Gehirn von Paul ist die Tatsache, dass er erst Frieden finden wird, wenn die Schwiegermutter eines Tages verstorben ist. Das ist ein unlösbares Problem. Zumindest erweckt es im ersten Moment den Anschein. Dicht gefolgt von einem moralischen Dilemma, das Paul hat. Denn oberflächlich betrachtet wäre der einzige Weg, keinen Stress mehr zu haben, sich zu wünschen, dass die Schwiegermutter bald stirbt. So etwas kann und darf man sich aber nicht wünschen. Kein Wunder, dass sein Gehirn tagtäglich Alarm schlägt. Also was hat Paul nun gemacht, um das Problem zu lösen? Schritt 1 war, herauszufinden, welches Thema den Stress auslöst. Schritt 2 war, den Stressauslöser einem bestimmten Schmerz zuzuordnen. Das hat Paul schon mal geschafft. Er weiß nun, dass die Schwiegermutter, die die ganze Familie belastet, ihn ganz besonders quält und seine Rückenschmerzen immer wieder aufs Neue auslöst. Nun wirst du dich fragen, was man in so einer ausweglosen Situation tun kann. Paul hat etwas Geniales gemacht, darum will ich dir das auf gar keinen Fall vorenthalten. Allein schon die Tatsache, dass ihn die Schwiegermutter mehrmals täglich am Telefon belästigt hat und er nicht in Ruhe arbeiten konnte, hat schon jede Menge Stresshormone ausgeschüttet. Er hatte bereits ein ungutes Gefühl, wenn er nur am Handy ihren Namen aufblinken sah. Also hat er folgerichtig entschieden, dass es nötig ist, sich selbst darauf hinzuweisen, dass die Schwiegermutter in Verbindung mit seinen Schmerzen steht. Daher hat er einfach ihren Namen in seinem Handy durch „Kreuzweh“ ersetzt. Weißt du schon, was jetzt passiert ist? Jedes Mal, wenn die Schwiegermutter erneut angerufen hat, erschien auf dem Display nun „Kreuzweh ruft an“. Nun musste er jedes Mal lachen, wenn sie angerufen hat. Somit hat er es geschafft, die Alarmreaktion des Stammhirns auszuschalten. Du kannst nämlich nicht gleichzeitig etwas lustig finden und dich davor fürchten. Also hat er die Ausschüttung der Stresshormone unterbunden, indem er „Spaßhormone“ ausgeschüttet hat. Er hat diese Lösung dann später noch adaptiert und verbessert, indem die Schwiegermutter einen eigenen personalisierten Klingelton bekommen hat, zur Erheiterung der gesamten Umgebung. Was aber noch passierte, war, dass er in diesem Moment die Macht bekommen hatte, zu entscheiden, ob er den Anruf annahm oder nicht. Er hat die Macht bekommen, zu entscheiden, dass er für „Kreuzweh“ jetzt gerade keine Zeit hat. „Kreuzweh“ ruft er dann zurück, wenn er die Zeit und die Nerven dafür hat. So hat Paul sein Leben komplett verändern können, ohne etwas an der eigentlichen Situation ändern zu müssen. Du siehst also: Selbst in einer solch ausweglosen Situation kannst du dein Leben trotzdem komplett zum Positiven verändern. Aus dieser Situation heraus lernst du dann künftige Probleme ganz anders zu betrachten. Wenn du nur ein paar Mal die Erfahrung gemacht hast, dass du Probleme lösen kannst, die zu Beginn unveränderbar erschienen, gibt es irgendwann einmal nichts mehr, mit dem du nicht selbst fertig wirst. Du lernst, wie man nicht länger Opfer seiner Schmerzen ist, sondern die Macht über die Situation gewinnt.
Das Gehirn
Keine Sorge, jetzt wird es nicht hoch kompliziert. Ich werde alles so einfach und logisch wie möglich erklären. Es sieht zwar toll aus, wenn man als Fachkraft mit Fachausdrücken um sich wirft, aber ich sehe das wie Albert Einstein und bin der Meinung, dass man, wenn man es nicht einfach erklären kann, es selbst noch nicht ausreichend verstanden hat.
Ungefähr 300 Millionen Jahre alt ist unser Reptiliengehirn. Der sogenannte Hirnstamm. Er liegt zwischen dem Rückenmark und dem restlichen Gehirn. Er steuert die wesentlichen Abläufe im Körper, die zum Überleben notwendig sind wie Herz, Kreislauf, Atmung und Verdauung. Niemand von uns muss Gott sei Dank bewusst darüber nachdenken, ob sein Herz schlägt oder ob er atmet. Das Reptiliengehirn, also der Hirnstamm, lässt sich auch nichts direkt befehlen. Ich kann es nur indirekt über mein Verhalten und die damit verbundene Hormonausschüttung steuern. Wenn ich beispielsweise Sport treibe oder mich über etwas aufrege, wird mein Puls höher. Ich kann mir aber während des Sports keine bestimmte Herzfrequenz wünschen oder befehlen. Der Hirnstamm war in der Vergangenheit zum Überleben zwingend notwendig. Er kennt in lebensbedrohlichen Situationen nur drei Lösungsstrategien, nämlich kämpfen, flüchten oder totstellen. Am einfachsten stellen wir uns den Hirnstamm als einen großen starken Beschützer, als Security oder Türsteher vor. Nennen wir ihn Harry. Kannst du dir Harry gut vorstellen? Hervorragend! Harry entscheidet in Situationen, die er für lebensbedrohlich hält, ob die Hormone, die ausgeschüttet werden, dich zum Kämpfer machen, du zum Ausdauersportler auf der Flucht wirst oder ob Totstellen gerade die beste Lösung ist und du wie ein Reh im Scheinwerferlicht erstarrst. Kennst du das, wenn du bei einer Prüfung plötzlich einen Blackout hast, obwohl du alles gelernt hast und den Stoff beherrscht? Das war Harry. Die Angst in der Prüfungssituation war so groß, das Harry entschieden hat, mit dem Prüfer zu kämpfen mache keinen Sinn. Vor dem Prüfer wegrennen macht auch keinen Sinn. Also bleibt nur die dritte Option die er kennt: Er lässt dich erstarren und du stehst mit weit aufgerissenen Augen panisch vor dem Prüfer, hast keinen Zugriff mehr auf deine Großhirnrinde und dein logisches Denken, wo all dein Wissen abgespeichert ist. Das kommt daher, dass in Notsituationen die Blutzufuhr aus der Großhirnrinde umgeleitet wird in die Notfallsysteme, also zu Harry.
Eine Kleinigkeit von etwa 175 Millionen Jahren später hat sich das Säugetiergehirn entwickelt. Dieser Teil des Gehirns ist deutlich größer und leistungsfähiger, da das für die Brutpflege nötig war. Besonders interessant für uns ist das limbische System. Das limbische System ist die Hauptsteuerung für Emotionen, triebgesteuertes Verhalten und Merkfähigkeit. Es beeinflusst auch Hypothalamus und Hypophyse, welche die Hormonausschüttung regulieren. Stellen wir uns das limbische System also als etwas ältere hoch emotionale Dame vor und nennen wir sie Helga. Helga ist gerne in Gesellschaft, mag es also gar nicht, alleine zu sein. Das ist auch die Grundeigenschaft aller Säugetiere, die ja bekanntlich gerne in Rudeln oder Herden leben.
Helga bestimmt über unsere Emotionen und somit auch darüber, wie wichtig uns bestimmte Ereignisse sind und ob wir sie als bedrohlich wahrnehmen oder nicht. Sie ist hoch emotional und neigt zum Überreagieren. Kennst du so jemanden? Immer Sorgen um alles und jeden machen, aber vor allem darüber, was die anderen über einen denken könnten. Kannst du dir auch das gut vorstellen? Perfekt! Immer wenn Helga Gefahr wittert, ruft sie Harry auf den Plan, der dann sofort mit seinen drei Standardlösungen für jedes Problem zur Stelle ist. Somit bestimmen Helga und Harry gemeinsam unsere Reaktionen und unser Benehmen in stressigen Situationen, auch wenn das heutzutage nicht mehr ganz zeitgemäß ist, siehe das Beispiel mit dem Prüfer und der Reaktion des „Totstellens“.
Der jüngste Teil unseres Gehirns ist der Neocortex, der aus Groß- und Kleinhirn besteht. Durch sie verfügen wir über komplexe Denkvorgänge und die Möglichkeit, größere Mengen an Wissen abzuspeichern. Die aktuelle Größe der Großhirnrinde hat sich aber erst in den letzten 200.000 Jahren entwickelt, in denen auch die weithin bekannten Falten im Gehirn entstanden sind, um mehr Oberfläche zu schaffen. Im Vergleich zu den beiden vorher besprochenen Gehirnteilen ist der Neocortex relativ jung und gleicht einem Supercomputer auf dem neuesten Stand. Nennen wir ihn Sheldon. Sheldon kann die neuen Erfindungen und Eindrücke der Jetztzeit verarbeiten und speichern. Kein Wunder, dass ihm Harry und Helga schwer misstrauen. Harry und Helga gibt es schließlich schon viel länger und sie sind traditionell und konservativ. Sie halten ihre Lösungen immer für die besten, schließlich haben sie das seit vielen Millionen Jahren ja immer schon so gemacht. Jetzt kommt plötzlich Sheldon daher und will den beiden erklären, dass ein Verkehrsstau, ständiger Handyterror und Arbeitsstress keine Alarmsituationen darstellen und daher auch kein Eingreifen erfordern?
Das ist die Grundvoraussetzung für Konflikte im Gehirn. Wie im ersten Kapitel schon erwähnt, hast du einen Soll-Zustand, also eine Vorstellung davon, wie im Leben alles sein sollte. Jedes Mal, wenn in deinem Alltag allerdings etwas anders verläuft, ruft das Harry und Helga auf den Plan. Die beiden streiten dann mit Sheldon darüber, ob hier eine bedrohliche Situation vorliegt und ob ein Eingreifen und somit Ausschütten von Stresshormonen notwendig ist. Das erklärt auch, wieso du Angst real fühlst, obwohl sie eigentlich gar nicht notwendig ist. Menschen die vor Spinnen Angst haben, haben diese Angst auch dann, wenn Sie die Spinnen nur als Bild auf einem Monitor sehen. Die Bedrohung von einem Bild auf einem Monitor ist logischerweise gleich null. Aber erklär mal Helga und Harry aus der Steinzeit, was ein Computer ist und dass es Unsinn ist, sich vor einem Foto auf einem Bildschirm zu fürchten.
Erschwerend kommt hinzu, dass es viel mehr Nervenbahnen von Helga und Harry Richtung Sheldon gibt als in die andere Richtung. Somit ist es sehr einfach für Helga und Harry, sich ständig einzumischen. Hingegen ist es für Sheldon sehr schwierig, auf die anderen beiden Einfluss zu nehmen. Das ist auch der Grund, warum es keinen Sinn macht, sich in einer Angstsituation einzureden, dass man keine Angst hat oder alles nicht so schlimm ist. Harry und Helga werden in der Situation, in der die Hormone bereits ausgeschüttet wurden, nicht besonders gut auf Sheldon hören. Da muss sich Sheldon schon etwas Besseres einfallen lassen. Außerdem haben es Helga und Harry nicht gerne, wenn man sie nicht ernst nimmt, sind sie doch deine permanenten Lebensretter, zumindest aus ihrer Sicht.
Gene
Klingt kompliziert, aber ich verspreche, auch hier halten wir es ganz einfach und verständlich. Lange Zeit hat die Wissenschaft darüber gestritten, wie viel Prozent des menschlichen Verhaltens genetisch festgelegt ist und wie viel Prozent durch Erziehung und Umwelteinflüsse stattfinden kann. 2001 gelang erstmals die Decodierung des gesamten menschlichen Genoms. Aber das war kein Grund zur Freude für die Wissenschaft. Denn es hat mehr Fragen aufgeworfen als es Antworten geliefert hat. Nur 2 % des menschlichen Erbguts enthält den Code für die Herstellung von Proteinen. Die restlichen 98 % hat man später als „Junk DNA“, also als Abfall bezeichnet. Nach dieser Theorie hätten sich unnötige Sequenzen im Laufe der Evolution angesammelt und konnten nicht entsorgt werden. Damit wollte sich die Wissenschaft aber nicht zufriedengeben. Es kann ja wohl nicht sein, dass der Mensch zu 98 % aus Müll besteht. Man hat also 2003 das ENCODE-Project gegründet, das neun Jahre lang die Funktion des menschlichen Genoms untersuchte. Die sogenannte DNA, wird nun nicht mehr länger als Müll angesehen, sondern hat die Fähigkeit, auf das Genom, also auf die 2 %, zurückzuwirken. Also in einfachen Worten, ca. 2 % der DNA sind die Erbinformationen, die festgeschrieben sind. Sie beinhalten auch alle Erbkrankheiten. Aber die 98 % RNA haben die Fähigkeit, auf diese 2 % einzuwirken. Das kann die Erklärung dafür sein, dass es Erbkrankheiten gibt, die eine oder mehrere Generationen überspringen. Du trägst zwar in deinen 2 % die Veranlagung für Brustkrebs und vererbst diesen auch weiter, aber bei dir bricht er nicht aus, weil deine RNA ihn nicht aktiv schaltet. Oder vereinfacht gesagt, nur 2 % ist dir vorgegeben. Was du daraus machst, bestimmst du selbst zu 98 % mit deiner Einstellung, mit deinem Verhalten, mit deinen Gedanken, mit deinen Handlungen. Das ist die schönste Sichtweise aus der medizinischen Forschung, die ich kenne. Du selbst hast die Verantwortung und wer die Verantwortung hat, hat bekanntlich auch die Macht.
Tina und der Tinnitus