Geht doch! - Uli Hauser - E-Book

Geht doch! E-Book

Uli Hauser

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Beschreibung

Lieber gut zu Fuß statt schlecht gelaunt

Uli Hauser ist immer schon gern zu Fuß gegangen, auch längere Strecken, wo andere lieber das Auto nehmen. Warum, darüber hatte er sich nicht den Kopf zerbrochen, so wenig wie über Schuhe oder darüber, wie man einen Fuß vor den anderen setzt. Im vergangenen Sommer nun hat er sich auf den Weg gemacht, von Hamburg aus Richtung Süden. Sein Ziel: Italien. Weil er wissen wollte, wie das geht: Gehen. Was es mit einem macht, im Kopf und in den Beinen. Weil er das Gefühl hatte, dass wir zu oft von Ort zu Ort hetzen, zu viel fahren, zu viel sitzen, zu wenig auf uns achten. Er lebte ohne Tempowahn und Terminkalender und hörte endlich mal auf seine Füße. Traf Ärzte, besuchte Schuhmacher und Mönche. Ließ sich von Menschen am Wegrand leiten, zur nächsten Begegnung und zur nächsten Geschichte. Er genoss die Schönheit des Augenblicks, Schritt für Schritt. Und ist überzeugt: Allen ginge es besser, wenn alle mehr gingen.

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Seitenzahl: 350

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Über das Buch

Uli Hauser ist immer schon gern zu Fuß gegangen, auch längere Strecken, wo andere lieber das Auto nehmen. Warum, darüber hatte er sich nicht den Kopf zerbrochen, so wenig wie über Schuhe oder darüber, wie man einen Fuß vor den anderen setzt. Im vergangenen Sommer nun hat er sich auf den Weg gemacht, von Hamburg aus Richtung Süden. Sein Ziel: Italien. Weil er wissen wollte, wie das geht: Gehen. Was es mit einem macht, im Kopf und in den Beinen. Weil er das Gefühl hatte, dass wir zu oft von Ort zu Ort hetzen, zu viel fahren, zu viel sitzen, zu wenig auf uns achten. Er lebte ohne Tempowahn und Terminkalender und hörte endlich mal auf seine Füße. Traf Ärzte, besuchte Schuhmacher und Mönche. Ließ sich von Menschen am Wegrand leiten, zur nächsten Begegnung und zur nächsten Geschichte. Er genoss die Schönheit des Augenblicks, Schritt für Schritt. Und ist überzeugt: Allen ginge es besser, wenn alle mehr gingen.

Über den Autor

Uli Hauser, Jahrgang 1962, ist Reporter beim »Stern«. Seine Texte wurden mit dem Theodor-Wolff-Preis ausgezeichnet, auch war er nominiert für den Egon-Erwin-Kisch-Preis und den Deutschen Reporterpreis.

Gemeinsam mit dem Hirnforscher Gerald Hüther schrieb er den Bestseller »Jedes Kind ist hoch begabt«, der mittlerweile in 14 Sprachen übersetzt wurde. Andere Bücher sind, u. a.: »Eltern brauchen Grenzen«, »Wie wir Schule machen«, »Die Spiritualität der Mönche«.

Hauser ist Vater eines Sohns, Ältester von sechs Geschwistern und lebt in Hamburg.

Uli Hauser

Geht doch!

Wie ein paar Schritte mehrunser Leben besser machen

Knaus

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Copyright © 2018

Albrecht Knaus Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-21716-7 V003

www.knaus-verlag.de

Dieses Buch widme ich meinem Vater, der sein Geld vielleicht lieber mit Liedern als mit Litern verdient hätte. Er war Milchmann und ist ein sehr guter Sänger.

Vorwort

Dass dieser Spaziergang schön werden würde, hatte ich mir erhofft. Dass diese Fußreise ein einziges Glück wurde, liegt nicht nur daran, eines Tages aufgebrochen zu sein.

Es hat zu tun mit den Menschen, die mir begegneten. Die mir entgegenkamen. Mit denen ich mich verband, ohne sie vorher gekannt zu haben.

Wenn Leute sagen, die Welt ist schlecht, sage ich: Die Welt ist gut.

Ich habe es erfahren.

Und mir einen Traum erfüllt. Mehr draußen zu sein. Wie früher. Als ich über Zäune stieg und durch die Gegend streunte, einfach so. Neugierig, was als Nächstes kommt, und immer in Bewegung.

Ich bin schon weit gekommen. Ich gehe auf die sechzig zu. Ich sparte Geld und bat den Chef, mich laufen zu lassen.

Es geht alles so schnell. Die Zeit, sie rast. Das Leben: zwischen zwei Pausen kurz einmal laut. Mit jedem Tag, den wir sind, haben wir einen weniger, der uns bleibt.

Mich hat beeindruckt, was mal ein Mann mit 85 Jahren sagte. Könnte er sein Leben noch einmal neu beginnen, würde er mehr barfuß gehen, von Frühling bis Herbst. Häufiger in Flüssen baden und der Sonne beim Untergang zuschauen. Und versuchen, so viele schöne Augenblicke wie möglich zu haben.

Ich war sorglos genug, es jetzt schon zu probieren. Ein Mutausbruch, ins Blaue hinein.

Aus Gedanken wurden Gänge. Richtig viele. Von Hamburg nach Rom, es hat sich so ergeben. Fast alles habe ich zu Fuß gemacht. Zu Beginn noch in schweren Bergstiefeln und hohem Tempo; am Ende beinahe schlendernd, barfuß in Sandalen. Die Zehen wollten auch etwas sehen von der Welt. Ich war zu fuß, ich war von früher.

Es wurden wohl 2000 Kilometer in hundert Tagen. Ein Film, von dem ich das Drehbuch nicht kannte. Clint Eastwood hat mal gesagt: Ich reite in die Stadt, der Rest ergibt sich.

So war es auch bei mir. Ich hatte keinen Plan. Ich kannte nur die Richtung und ein paar Adressen. Ich wollte in den Süden, in die Sonne. Am Morgen wusste ich nicht, wo ich am Abend sein würde. Was mich erwartete. Ich nahm an, was sich mir bot. Einverstanden war ich. Kein: Ja, aber! Sondern: Warum nicht?

Ich hörte mir alles an, ich machte alles mit, und mir war, als liefe ich auch ein bisschen neben mir her, staunend, was mir da widerfuhr.

Ich wollte wissen, was das Gehen mit mir macht. Und ich lernte meine Füße kennen.

Ich traf Bettler und Bänker, Bäcker und Bauern. Ärzte und Mönche. Besuchte Schuhmacher und Orthopäden. Der eine verpasste mir Einlagen, der andere nahm sie mir ab.

Manchmal kamen Freunde vorbei, meist war ich mit mir. Auch Wildschweine kreuzten meinen Weg. Vor ihnen hatte ich noch mehr Respekt als vor Zecken.

Während ich diese Zeilen schreibe, mit einem Stift auf Papier, das habe ich seit Schulzeiten so schön nicht mehr geschafft, sitze ich unter einer Kastanie am Comer See. Gleich legt ein Schiff ab: nach Varenna, wo mir ein freundlicher Italiener, er heißt Roldano (nicht Ronaldo, wie die Leute immer meinen, er sagt, es gebe nur fünf Menschen mit seinem Namen in Bella Italia) ein Zimmer im Haus eines Freundes organisieren will. Roldano hatte mich auf der Straße aufgegabelt. Die einzige Trattoria im Ort hatte schon geschlossen. Er brachte mich hin, wo es noch etwas gab.

So waren meine Tage, gut und schön. Ich nahm mir vor, mich nie wieder hetzen zu lassen. Weder von mir noch von anderen. Im Augenblick leben, das sagt sich so leicht; ich kam diesem Gefühl verdammt nah. Ich habe es mir erlaufen. Und kann jedem nur empfehlen, auch mal ein paar Schritte mehr zu wagen. Es muss ja nicht gleich so weit sein. Um die Ecke geht auch.

Es ist keine Zauberei. Man braucht dafür keine Warnweste und keine bunten Schuhe, auch keine Extrahose mit Leuchtstreifen. Könnte ich nicht, schaffe ich nicht; darauf entgegne ich: Traut euch. Nicht immer wegfahren. Weggehen. Den Körper frei bekommen, und nicht nur den Kopf. Die Muskeln lockern und aus dem Vollen schöpfen. Sich neu erleben, das Sehnen und Dehnen und Strecken.

In diesem Buch sind Adressen von Menschen, die einen weiterbringen. Und von Orten, die man besuchen kann, wenn man es schön haben will. Schaut mal bei denen vorbei, egal von wo ihr startet. Und wie lange ihr dafür unterwegs seid.

In diesem Sinne: Geht doch!

Ein Feldweg hinter Hamburg

Als ich noch mit dem Auto unterwegs war, entdeckte ich eines Tages an einer Straße einen Wegweiser. Ich hielt an und schaute nach. Es war eine Schnitzarbeit, mehr ein Denkmal als ein Hinweis. Da stand, an dieser Stelle sei vor über 200 Jahren ein berühmter Mann vorbeigeritten. Ich habe seinen Namen vergessen, ich glaube, er war Soldat. Das ganze Land ist voll mit reitenden Männern auf Sockeln, gern auch in Marmor. Für den hier fehlte das Geld.

Ich sah mich um. Da war Wald, und da waren Wege. Und da lagen Steine, spitz und schroff und andere eher rund. Jemand hatte sie hier vergessen, ich denke, es war die Eiszeit.

Ich war neugierig und folgte der Spur der Steine. Hinter dem geschnitzten Wegweiser bog ein Weg von der Straße ins Feld. Es war ein schöner Morgen, und ich hatte Zeit. Das Feld wellte sich ein wenig. Am Himmel war noch die Sichel des Mondes zu sehen, ein Lichtblick in der Ferne.

Ich ging den Weg weiter. Vorsichtig und eher andächtig. Die Stimmung war feierlich. Aus Sträuchern stoben Vögel auf, so früh am Morgen erwarteten sie keinen Besuch. Aufgeregt flogen sie davon; tut mir leid, dachte ich, ich wollte nicht stören. Vorsichtig setzte ich meine Schritte. Freundlich wollte ich sein, an diesem herrlichen Sommertag.

Ich merkte, wie der Weg mich an die Hand nahm, komm, geh noch ein Stückchen, bleib ein wenig. Ich schaute zurück, mein Auto an der noch leeren Landstraße war nicht mehr zu sehen.

Dieser Morgen, so dachte ich, gehört nur mir. Ich war fast allein auf weiter Flur. Nach dem Feld säumten Bäume den Weg. Nicht groß, aber alt, sie trugen Falten. Sie nickten mir still zu, sie standen schon lange hier. Ihre Äste lagen sich in den Armen, sie bildeten ein Dach über meinem Kopf.

Am Anfang noch war der Weg sandig, jetzt war er mit Feldsteinen gepflastert; auch sie Geschiebe aus Gletscherzeiten.

Ich mag Feldsteine. Man hat früher aus ihnen Burgen gebaut und Scheunen und Kirchen; so als Weg gefallen sie mir immer besonders gut. Sie haben etwas Beruhigendes. In ihrer Gesellschaft fühle ich mich wohl. Feldsteine sind Zeugen einer Zeit, als die Menschen noch Geduld hatten und Schritt hielten. Verweilten.

Ich lauschte nach allen Seiten, aber da war niemand. Ich schloss die Augen und versuchte, den Wind zu spüren, einen Hauch davon. Die Luft war warm und weich. Verzaubert, die Welt.

Der Weg schien nicht lang zu sein. Vielleicht vierhundert Meter. Ganz hinten war wieder Asphalt zu sehen und auf der linken Seite ein Dorf. Irgendwann rollte von dort ein Trecker los und riss mich aus den Gedanken. Aus der Vorstellung, wie es gewesen sein muss, als dieser Reiter unterwegs war. Das Leder seines Sattels knautschte. Sein Pferd dampfte. Wie sich das Land formte und wie Menschen beschlossen, hierzubleiben, Felder anzulegen und Häuser zu bauen. Wege zu pflastern, sich gegenseitig zu besuchen und Handel zu treiben.

Ich verfolge gern Wege. Am besten finde ich Anfänge. Wenn noch nicht klar ist, wohin die Wege führen. Und wie weit.

Ich hätte gern gewusst, wie es weiterging. Aber ich konnte nicht einfach los, da war ja noch mein Auto. Das Pferd von heute. Ein alter Mercedes, den lässt man nicht einfach stehen.

Ich stieg ein und ließ den Motor an. Und dachte, schön wäre es gewesen.

Ein kleiner Rucksack für einen großen Schritt

Ich hatte nicht lange gebraucht, den Rucksack zu packen. Es war der alte meines Sohnes, viel zu klein, aber mehr wollte ich nicht mitnehmen. Ich stopfte ihn voll. Eine kurze, eine lange Hose. Zwei Paar Socken, drei Shirts. Ich fragte meine Freundin, welchen Pullover ich dalassen sollte, den flauschig braunen oder den warmen beigen. Ich nahm beide mit. Und einen Schlafanzug. Ich wollte es gemütlich haben.

Vom Speicher holte ich meine Bergschuhe, sie waren noch dreckig von der letzten Wanderung. Bestimmt fünfzehn Jahre alt, aus braunem Leder. Eingelaufen. Zerknautscht, ich hatte sie nicht oft geputzt. Schuhe brauchen Pflege, darin bin ich nicht gut. Zog ich sie an, war ich draußen. Diese Schuhe hatten die Alpen gequert und waren am Meer gewesen, sie kannten Bäche, sie kannten Berge. Hunderte von Kilometern waren wir gemeinsam gegangen und vertraut miteinander.

Zwei Tage vor dem Abschied hatte meine Freundin die Freunde eingeladen. Sie schenkten mir einen Kompass und eine Zigarre und Blasenpflaster und ein Fläschlein Johnnie Walker für die Hosentasche. Sie fragten, in welche Richtung ich gehen würde und wann ich wiederkäme. Ich sagte, erst mal raus aus der Stadt, danach würde ich sehen.

Meine Idee war nicht, einfach nur weg zu sein und das Handy auszuschalten und zu mir zu kommen. Ich wollte mich auch nicht selbst erfahren. Ich war einfach neugierig, was passieren würde, wenn ich diesen ersten Schritt aus dem Haus machte, ohne große Vorbereitung und Checken und Schauen, welche Hosen nun die tauglichsten wären, welche Hemden, welche Socken. Ohne Fitness-App, Pulsmesser und Kalorienzähler. Aber mit einem Ladekabel für ein Telefon, das auch fotografieren konnte.

Ich schulterte den Rucksack und schaute in den Spiegel. Der Rucksack war zu klein für einen so langen Kerl, so kann man eigentlich nicht herumlaufen. Ich lächelte mir zu; junger Mann zum Mitreisen gesucht, dachte ich. Den Sommer über würde ich meine Gesellschaft ertragen wollen und mich treiben lassen. Auf einem Weg, von dem ich nur den Anfang kannte.

Mein Sohn und meine Freundin begleiteten mich die Treppe hinunter, vorbei am Laden unten im Haus. Ich wohne über einer Bäckerei, die Wulfs machen die besten Brötchen in der Stadt. Herr Wulf sagte, er würde auch gern einfach mal los.

Ich war meiner Freundin dankbar, sie ließ mich ziehen. Ich weiß nicht, wie lange ich fort sein werde, sagte ich. Vielleicht können wir uns in zwei Wochen sehen, es wären zwei Stunden mit dem Zug. Es wäre schön, sagte sie. Melde dich.

So eine Frau, die gönnen kann, wünsche ich jedem. Drei Ecken und zehn Stunden später stand ich im Wald.

Der erste Tag

Mein erstes Quartier erreichte ich kurz vor dem großen Regen. Ich war ja noch im Norden. Wir sind da nicht verwöhnt, was das Wetter angeht. Und froh, wenn wir Dinge ins Trockene bringen.

Mein Rucksack war nicht nass geworden, ich freute mich für ihn. Ich hatte keine Plane, die ich über ihn hätte werfen können. Meine Freundin hatte mich noch gefragt, was machst du, wenn es viel regnet. Das wird nicht passieren, sagte ich. Im Behaupten bin ich gut.

In Hamburg hatte der Himmel noch ein Einsehen, die Elbphilharmonie strahlte. Ihre Fenster funkelten in der Mittagssonne. Ich hatte ihr von der Elbbrücke aus hinübergewunken, als müsste ich mich von Hamburgs neuester Entdeckung auch noch verabschieden. Ein besseres Wetter hätte ich mir nicht wünschen können für meinen Aufbruch.

Nie zuvor hatte ich mich auf einen so langen Marsch gemacht; das Unterwegssein war mir einerseits vertraut und doch fremd. Mir stand frei zu gehen.

Noch fiel mein Blick auf Asphalt, auf Container, Kräne, Sattelschlepper, Gewerke und Gewerbe. Viel Verkehr.

Ich hatte mich vorher nach einem Weg erkundigt, über die Deiche und den Fluss entlang. Ich fand ihn nicht, und ich war zu faul zu suchen.

Als ein Zug vorbeikam, ließ ich jede Vorstellung fahren. Und mich selbst auch. Ich stieg ein und war eine halbe Stunde später in Lüneburg. Dort ging es richtig los.

Die alte Backsteinstadt begrüßte mich mit einer Ausfallstraße, die ich mir in Hamburg hatte ersparen wollen. Ich machte kein Aufhebens davon, bis ich in einem Kreisverkehr stand und nicht mehr weiter wusste. Ich kannte die Gegend von meinen Autofahrten aufs Land; aber nun wollte ich Feldwege gehen und mich nicht nach Straßenschildern richten. Der erste Mann, der mir den Weg wies, war ein freundlicher Autofahrer in einem Coupé; er war auch unter freien Himmel unterwegs, aber eben auf Reifen. Sie müssen sich rechts halten, sagte er und lachte. Natürlich wäre es einfacher gewesen, in seinen Wagen zu steigen und ins Grüne zu fahren, als mich von nun an durchs Gebüsch zu schlagen.

Ich kam mir ein wenig albern vor, als ich an einem Zaun entlangstrich, der einen Segelflugplatz vor ungebetenen Besuchern schützte; rechts unter mir verlief die Schnellstraße, auf der ich so oft gefahren war. Wie leicht man es doch auf so einer Straße hat, dachte ich, als ich mir Zweige aus dem Gesicht schlug und ein Loch suchte im Zaun. Ich wollte die Leute auf dem Flugplatz fragen, wie es von hier aus weiterging. Über mir schwebte lautlose Freizeitgesellschaft. Sie wackelte mit ihren Flügeln.

Da lang, sagte ein Mann und streckte seinen Arm in den Himmel. Er dachte offenbar in Luftlinie, das gefiel mir. Ich lächelte in mich hinein: Ich hätte auch auf den Kompass schauen können oder auf eine Karte. Aber ich wollte nicht.

Lass laufen, sagte auch Walter, der Vater meiner Freundin, als er mich am späten Nachmittag anrief. Wirf den Kompass weg und immer der Nase nach. Walter ist 86 Jahre alt. Seine Augen leuchten, wenn er davon spricht, wie er als Junge im Weserbergland auf Kuppen zulief und wissen wollte, wie es dahinter aussieht. Einen Hügel rauf, hinter dem nur Himmel war. Walter ist ein fitter Alter. Dass es so ist, hat mit früher zu tun. Sein Körper hat sich von klein auf gemerkt, wie schön Bewegung ist, und das hat er nie vergessen.

Ich war im flachen Land unterwegs, die Berge waren noch weit. Lief über Feldwege und querte Wiesen, Weiden, Äcker. Und erreichte den Wald, kurz vor der Dämmerung. Die Göhrde, Norddeutschlands größten Mischwald. Langsam bewegte ich mich auf seinen Schatten zu, die erste Nacht sollte unter Bäumen sein.

Unter Bäumen

Über Kilometer hatte sich der Boden platt gehalten, bis er sich nun in ein Wiesental senkte. In der norddeutschen Tiefebene machen ein paar Meter nach oben oder unten mächtig Eindruck; allzu viel Abwechslung ist man hier von Landschaft nicht gewohnt.

Ich war schon eine Weile im Wald, als ich an das alte Jagdschloss in der Göhrde kam, das ungenutzt vor sich hin schimmelt. Hier bog ich links ab, ich war auf vertrautem Gelände. Ich wollte zu Barbara und Kenny, ich kenne sie seit einiger Zeit. Sie haben aus einem Fachwerkhof ein Paradies gemacht für gestresste Großstädter, die Leute kommen von weit her, um hier zu entspannen. Sie mögen den großen Garten und Möhren schon am Morgen. Hier isst alles bio.

Ich genoss die letzten Meter an diesem Sommerabend. Vor zwei Tagen war ich noch im Büro und hatte Tschüss gesagt. Die Kollegen auf dem Flur wünschten mir viel Freude, nun wandelte ich in einer Kathedrale. Mächtige, riesige Bäume säumten meinen Weg. In Pfützen spiegelten sich Wolken. Waldboden dunkelte in der Dämmerung.

Der Himmel hatte Geduld mit mir, noch hielt er sich bedeckt. Links war das Forstamt mit einem Geweih über der Tür, rechts ein kleines Museum, das Naturum hieß. Über Kopfsteinpflaster wanderte ich ins Dörfchen Dübbekold, vorbei an einem Seminarhaus, in dem ein Schamane lebt. Früher war er Schlosser in Hamburg, heute steht ein Tipi in seinem Garten. Die Indianer haben ihn zu einem der ihren gemacht, und seither schickt der Göhrde-Schamane Menschen aus der Schwitzhütte hinterm Haus direkt in den Wald, damit sie sich dort in Ruhe ein paar Gedanken machen über ihr Leben.

Kaum angekommen platzte es aus allen Wolken. Der Himmel zog den Vorhang zu. Da war nur noch Wasser.

Unter einem Glasdach sah ich dem Geschehen zu. Die Beine waren schwer. Die linke Ferse meldete eine Blase und bekam ein Pflaster. Ich streichelte meine Füße und lobte sie. Ich war euphorisch und strahlte über beide Backen.

Ich war raus aus der Stadt. Und schaute auf stumme Riesen. Aufrecht und mit mächtigen Kronen. Mit gewaltigem Blätterwerk, von dem das Wasser locker abtropfte. Nach einer Weile kam noch einmal die Sonne durch, ein letztes Aufscheinen, und verzauberte das nass schimmernde Grün.

Wen die schon alle haben kommen und gehen sehen, dachte ich. Die Luft war warm und von einer schwülen Schwere. Ich streckte zufrieden meine Glieder. Dann nahm ich den Rucksack und ging schlafen.

Der schönste Morgen weit und breit

Am nächsten Morgen weckte mich die Sonne. Sie strahlte. Steh auf, Großer, schön ist die Welt. Ich wäre vor Freude auch aus dem Fenster gesprungen. Es war weit geöffnet, die ganze Nacht, ich wollte Wind spüren auf meiner Haut.

Auf leisen Sohlen schlich ich hinaus. Aus dem Wiesental waberte Morgennebel, nach dem Regen war Stille eingekehrt. Sie hatte sich über Nacht wie eine Decke über die Wiesen gelegt. Das Gras war feucht, und ich versuchte mich barfuß. Sommer ist so einfach, dachte ich.

Leichter Wind strich über meine Wangen. Am Waldsaum entlang lief ich über die Wiesen. Ich studierte den schweigsamen Wald, aus dem es noch immer tropfte. Ein Sturm hatte das Land überfallen, jetzt war es wieder die Ruhe selbst. Die Luft war kühl und klar. Der Wald schien mir schöner als je zuvor, weiter hinten im Gehölz erkannte ich ein Reh.

Die Bäume standen in vollem Saft. Gern hätte ich jeden einzelnen mit Namen begrüßt, hallo, ich bin der Neue, darf ich euch Gesellschaft leisten? Aber ich bin schlecht darin, mir Namen zu merken. Ich kann eine Buche von einer Eiche unterscheiden und eine Kiefer von einer Lärche; aber ich glaube, es ist ihnen nicht wichtig.

Vorsichtig setzte ich die blanken Füße in grünes Gras und auf braunes Laub, das noch nicht verfault war, liegengeblieben im letzten Winter, hier kümmerte es keinen. Ich nahm Fühlung auf mit dem Boden; er war nach dem Regen wunderbar weich.

Nicht weit von einem Bächlein lag ein Ballen Stroh. Die Sonne nahm sich seiner an. Sie tauchte ihn in ein sattes Gelb. Ich schloss die Augen und ließ mich wärmen. Vor mir lag ein langer Sommer. Bald würde die Sonne den höchsten Stand ihrer Bahn erreichen. Und in wenigen Tagen in das Zeichen des Krebses eintreten, mein Sternzeichen. Ich wollte dabei sein, wenn die Tage am hellsten und die Nächte am kürzesten sind, ich wollte erleben, wie das Licht sich streckt und Besitz ergreift von allem.

Für eine Weile würde ich unterwegs sein und nicht mehr mitreden beim großen Palaver der Welt. Ich würde meinen Füßen Auslauf und meinem Geist Erholung geben. Ich würde Wege verfolgen und mich verlaufen, ich würde mir etwas vornehmen und wieder verwerfen. Und es würde mir nichts ausmachen. Das hier war ein guter Anfang.

Ich wollte mich verwandeln. Das Gewohnte verlassen, um Ungewöhnliches zu erleben. Neuen Schwung in mein Sein bringen; über fünfzig Jahre waren nun vergangen, seit ich das Gehen erlernt hatte. Es war nach der Geburt das Großartigste, was ich geschafft habe.

Seither laufe ich wie selbstverständlich durchs Leben, ohne noch wirklich darauf zu achten, wie. Wie ich den Fuß setze, die Hüfte bewege, in jeder Sekunde und mit jeder Faser meines Körpers der Schwerkraft trotze. Der Kraft, die alles auf der Welt zu Boden drückt. Ich stieß mich vom Ballen ab, stellte mich auf und hob das rechte Bein, es eine Zeitlang in der Luft zu halten. Nach wenigen Sekunden wackelte ich schon sehr bedenklich, und ich war froh, es wieder auf die Erde setzen zu können. Dann hob ich das linke, sehr langsam, das gleiche Spiel; mein Körpergewicht verlagerte sich, nun übernahm das andere Bein Verantwortung und hielt mich aufrecht.

Ich versuchte mich im Beobachten der Schritte. Es ging auf und ab, rauf und runter. So bewusst hatte ich das noch nie erlebt. Das machst du also den ganzen Tag, wenn du gehst, dachte ich. Wir denken ja immer, dass wir genau wissen, was wir tun und was in uns vorgeht. Aber so, wie wir unsichtbar Luft aufnehmen, passiert in uns vieles, dessen wir uns nicht bewusst sind.

Mit jedem Schritt brachte ich mich aus dem Gleichgewicht und hielt mich doch mit beiden Beinen auf dem Boden. Der hat einen guten Stand: So reden wir von Menschen, die wir bewundern.

Was mir noch auffiel an jenem Morgen: dass ich, um vorwärtszukommen, meinen Körper ein wenig fallen lassen musste, in den Schritt hinein, immer wieder und im Vertrauen darauf, von Muskeln, Bändern und Gelenken gehalten und unterstützt zu werden. So wollte ich mich fortan fallen lassen ins Leben, mit jeder Entscheidung, mich aus dem Stand heraus zu bewegen.

Gehen: Es ist die einfachste Art, unseren Körper von einem zum anderen Ort zu bewegen. Nicht einmal Schuhe brauchen wir dafür. Aber eben und immer den Wechsel und den Gegensatz und den Ausgleich. Keine Aktion ohne Reaktion.

Zu gerne würde ich mich erinnern können an die Zeit, als ich meine Rückenmuskeln entdeckte, im ersten Lebensjahr. Wie jeder von uns so ungefähr im dritten Monat nach der Geburt plötzlich den noch unverhältnismäßig großen Kopf anhob und ein Gefühl bekam für das Gleichgewicht. Und die Augen Welt schauten.

Von dieser neuen Sicht auf die Dinge waren wir so begeistert, dass wir von nun an immer wieder versuchten, den Kopf zu heben und zu balancieren. Erst konnten wir nur die Nackenmuskeln zusammenziehen, die Muskeln im Rücken aber noch nicht anspannen. Doch nur wenige Wochen später lockte eine weitere Belohnung für all das Mühen: Wir waren in der Lage, den Rücken zu wölben, die Arme und die Beine zu strecken. Was für ein Abenteuer, ein Juchzen und Schluchzen, die pure Freude. Raumgreifend wurden wir, und mit jeder neuen Bewegung kamen mehr Muskeln ins Spiel, die nichts anderes im Sinn hatten, uns zu helfen, eines Tages wie von selbst gehen und stehen zu können.

Wie das genau war, als aus dem rollenden Bündel am Boden ein aufrechter und selbstständiger Mensch wurde, das würde ich gern noch einmal bewusst erleben. Ein Mensch, der später auf Bäume kletterte, durch die Büsche flitzte und den ganzen Tag in Bewegung war. Der Körper machte alles mit, was sich der Kopf für ihn ausgedacht hatte. Es gibt, zum Beispiel, wohl kaum ein Baby, das nicht irgendwann in der Lage war, seinen Fuß an den Mund zu führen, was für ein Spaß. Ich beherrschte dieses Kunststück bestimmt auch einmal.

Wenn ich das heute probiere, kommt mein Fuß ungefähr einen halben Meter vor dem Gesicht zum Stehen. Und auch nur so weit, weil ich mit den Armen und viel Kraft die Füße noch ein paar Zentimeter weiter in die Richtung der Nase schiebe. Es sieht ziemlich albern aus, also lasse ich das.

Weil sich das Hirn nur Dinge merkt, die wir wirklich brauchen, und Geschmeidigkeit verloren geht, wenn wir uns nicht dauernd mit jedem Muskel bewegen, habe ich das verlernt. Die Erinnerung, wie sich diese Handlung anfühlt und wie sie genau ausgeführt wird, ist nicht mehr da.

Eine Erinnerung aber hat sich fest eingegraben in unser Gedächtnis, auch das des Körpers. Diese Erinnerung ist nicht individuell, es ist eine kollektive. Es ist die Erinnerung an die Zeit, als sich die Menschen zu Fuß in Bewegung gesetzt haben. Schritt für Schritt die Savanne querten und Wüsten überlebten, Berg und Tal und Eis und Schnee überwanden. Es ist die Erinnerung an den Aufbruch, gierig nach Neuem zu sein; wissen zu wollen, wie es hinter dem nächsten Baum, dem nächsten Fluss, am nächsten Tag weitergeht. Diese Erinnerung hat sich abgespeichert im ältesten Teil unseres Gehirns, dem Stammhirn, dem Gedächtnis aller Entwicklung: im Hippocampus.

Wie wunderbar: In mir war das gesammelte Wissen der Menschheit, es war jetzt an mir, es wieder mal zu bemühen.

Kenny und der liebe Wolf

Beim Frühstück traf ich Kenny. Am Abend noch hatte er über Knieschmerzen geklagt, die waren nun weg. Er reibt seine Knie mit Retterspitz ein, einer alten Kräutermischung, klappt immer, sagte er.

Kenny ist ein gemütlicher Nordländer. Ein bedächtiger Typ. Er hat viele Jobs gehabt und ist lange um die Welt gezogen; aber Ruhe, sagt er, findet er nur hier. Im Schutz der Bäume. Das Hotel sichert ihm ein Auskommen, aber seine Sehnsucht ist der Wald. Ein paar Kilo zu viel und schmerzende Knie halten ihn nicht davon ab, sich durch die Büsche zu schlagen. Kenny verfolgt die Fährten von Wölfen.

Der letzte Wolf war in der Göhrde vor über 150 Jahren erschossen worden, danach hatten die Menschen das Wild für sich. Nun sind die Wölfe wieder da und nicht nur Schafe angefressen.

Heimlich, still und leise erobern sie ein Bundesland nach dem anderen, sie nähern sich sogar Hamburg. Niemand hätte das für möglich gehalten. Einmal im Jahr gibt die Regierung einen Bericht heraus, wie viele Wölfe in diesem Jahr unterwegs sind, eingeteilt in Rudel und Einzelexemplare. Und fast jede Woche melden Landwirte Verluste. Denn die Wölfe machen, was sie wollen. Sie wildern nicht nur im Wald. Sie töten auch auf dem Deich.

Die Landesregierung hat Kenny beauftragt, die Wölfe im Blick zu behalten. Er ist »Wolfsberater«. Wölfe sind, was Beratung betrifft, eher resistent; aber finde mal einen besseren Namen. Kenny weiß, ihre Spuren zu lesen. Wölfe benutzen die Wege der Menschen, das spart Energie. Und hinterlassen an Wegkreuzungen Nachrichten. Das Trittbild eines Wolfes ist etwas größer als das eines Hundes, und die hinteren Füße landen in den etwas größeren Abdrücken der Vorderfüße. Wölfe sind große Wanderer: Manchmal laufen sie Hunderte von Kilometern, um Ausschau zu halten. Ich fühlte mich ihnen verbunden.

Ich fragte Kenny, ob es möglich wäre, mit ihm der Spur von Wölfen zu folgen. Klar, sagte er und lud mich ein mitzukommen. Am Nachmittag würde er wieder mit einigen Gästen losziehen.

So lange wollte ich dann doch nicht warten, obwohl das Angebot verlockend war. Ich wollte los.

Von Dübbekold bis Beseland

Die Göhrde ist eine gute Gegend, sich einzulaufen. Nationalparkverdächtig, es gibt viele seltene Pflanzen und Tiere und wenig Monokultur. Multikulti auf 75 Quadratkilometern. Das hat auch zu tun mit dem Dreißigjährigen Krieg. Als Deutschland Brachland war und die Apokalypse verbrannte Erde hinterließ. Ein weitsichtiger Herrscher, August der Jüngere, ein Welfe, verfügte damals eine »Verordnung gegen die Waldverwüstung«, auch um zum Jagen einen schönen Wald zu haben.

Jahrhundertelang war die Göhrde eine Schießbude der Mächtigen. Die Jäger zäunten sie ein und ließen sich Geweihe vor die Flinte jagen. Das war schlecht für die Tiere und gut für die Bäume: Während die einen fielen, blieben die anderen stehen. Hier halten sich Eichen seit 340 Jahren senkrecht, und Fichten sind 140 Jahre ungeschlagen. So ein Mischwald ist selten geworden.

Ich hatte mich noch kurz mit Kennys Frau Barbara unterhalten, die keinen Tag mehr ohne das Gefühl leben möchte, jederzeit aus der Tür gehen und über Stunden im Wald verschwinden zu können. Keinen halben Tag hielte es sie mehr in der Stadt aus, sagte sie, das Gedränge, das Schnelle, das Laute. Überall Buchstaben, die nach Aufmerksamkeit verlangen, der Lärm und die Leute. Menschen, die Handys spazieren führen und dich nicht anschauen, wenn du sie grüßt.

Und keine Bäume, die man umarmen kann. Keine Bäume? Ich schaute Barbara fragend an. Ja, sagte sie, je länger ich hier wohne, umso wichtiger wird mir ihre Gesellschaft. Vor Jahren noch habe sie sich nicht getraut, das zu sagen, weil man sie womöglich für eine Spinnerin gehalten hätte. Aber mir gibt das Kraft, mich anzulehnen, sagte Barbara. Ich nickte nur, ich war noch nicht so weit. Im Büro umarmen wir nicht gleich jeden, den wir sehen.

Ich hatte gut geschlafen, ich hatte mich gut unterhalten. Heiter gestimmt verließ ich das gastliche Haus im schönen Dübbekold. Von hier führte ein Weg nach Osten durch den Wald und über Sand an die Elbe, ich aber wollte in die andere Richtung, nach Süden. Hinterm Haus entdeckte ich ein kleines Schild, es war an eine Eiche genagelt. Eine kleine Wegweisung aus Messing, mit gezackten schwarzen Pfeilen: Europäischer Weitwanderweg stand darauf, Ostsee-Wachau-Adria. Ans Mittelmeer, bitte hier entlang. Diesen Pfeilen würde ich folgen können wie ein Kind früher den Holzstückchen bei der Schnitzeljagd. Zwei Monde später könnte ich in Italien sein, vielleicht würden 25 Kilometer am Tag reichen.

Was für eine Verheißung: die Adria. Mir wurde warm, ich sah mich am Strand, Sand zwischen meinen Fingern. Heiß war die Luft und hell, Wolken zogen hoch und weiß über mir dahin. Aber noch waren es über tausend Kilometer.

Ich hatte mir so ungefähr eine Route zurechtgedacht. Die norddeutsche Tiefebene wollte ich schnell hinter mir lassen, und ein wenig mehr Zeit in der Mitte Deutschlands verbringen. Um dann, Anfang August, grob über den Daumen gepeilt, vielleicht in München zu sein. Und danach Richtung Südosten über die Alpen nach Triest laufen, in die frühere Hafenstadt der Habsburger, als Österreich sich noch in die Länge streckte und keinen Kanzler hatte, der Kurz hieß. Für die Überquerung der Alpen hatte ich vorgesorgt; der Alpenverein hatte mir einen Pass geschickt für die Benutzung von Hütten, und ein kleiner Wanderführer hatte noch Platz gefunden in meinem Rucksack.

Europa ist durchzogen von Fernwanderwegen, dieser hier trug die Nummer sechs. Er startet in Finnland und geht über die Göhrde weiter in die Türkei. Aber ich musste erst einmal artig nach links und nach rechts schauen, mein Fernpfad querte die Bundesstraße 216, die von Lüneburg nach Dannenberg, über die Elbe nach Dömitz und von dort nach Ludwigslust führt.

Ich wechselte die Seite. In sanftem Schwung ging es durch den Wald. Auf dem Boden lagen tote Stämme, in Büschen und Bäumen hüpften Vögel. Ameisen häuften sich zu Hügeln, ich ließ sie links liegen. Entlang des Weges waren große Löcher, da sitzt jetzt der Fuchs drin und wartet, bis ich weg bin, dachte ich. Die Sonne hatte sich auch zurückgezogen. Von Sommer keine Spur, und so sollte es in den nächsten Monaten im Norden auch bleiben. Doch entfernte ich mich mit jedem Schritt weiter von der Wahrscheinlichkeit, die schönste Zeit des Jahres bei schlechtem Wetter zu verbringen.

Ich kam mir vor wie Forrest Gump, der aus dem Film. Dieser hatte mich wirklich beeindruckt. Er war auch einfach so losgelaufen. Ich erinnerte mich, wie ich einmal in Amerika in die Gegend kam, wo ein paar Szenen gedreht worden waren. Ich stoppte, holte Sportschuhe aus dem Auto und rannte. Nun raschelte ich durch den Wald, ich war ein Laub-Bube. Mir gefiel dieser Einfall.

Um mich herum waren bucklige Stämme und Äste mit Stacheln, rissige Rinden und zarte Triebe. Die Farbe der Blätter änderte sich mit dem Dach über ihrem Kopf; je weniger Licht auf sie fiel, umso kräftiger schien das Grün. Manchmal sah ich durch die Kronen Wolken ziehen, aber der Wald hier war schon sehr dicht. Bisweilen war da ein Schlag, er hallte durch die Stille. Es war der Specht, mit scharlachroter Feder, der mit kräftig kantigem Schnabel gegen den Stamm hämmerte. Er ist ein geduldiger Jäger und wartet, bis die Jungen anderer Vögel so groß geworden sind, dass sie eben noch in sein Maul passen. Dann verschluckt er sie.

Im Wald herrscht ein Kommen und Gehen. Ich war einer von vielen. Hier ist keiner ohne Migrationshintergrund. Die Buche hat sich aus den Karpaten vorgearbeitet, der schlanke und doch kräftige Rothirsch mit breiter Brust ist ein Steppentier. Dem Kaiser zu Ehren, der in der Göhrde gern jagte, wurde vor über hundert Jahren sogar Muffelwild importiert, aus Sardinien. Es vermehrte sich munter, die Jäger hielten sich zurück. Dann kam der Wolf. Das Mufflon wurde zu einem gefundenen Fressen. Gehegt und gepflegt hatte es keine Ahnung, wie es mit so einem Wolf umgehen soll. Wildschweine werden wütend, Rehe rennen weg. Ein Mufflon flüchtet erst und bleibt dann stehen und stellt sich. Es kennt es nicht anders, zu Hause funktioniert das auch. Im norddeutschen Flachland aber brauchst du andere Qualitäten. Da musst du schnell sein.

Kenny hatte mir gesagt, ich solle unbedingt durch den Breeser Grund gehen. Ein Stück Heide, spärlich mit Bäumen bestanden, der Rest eines alten Hutewaldes, in den Hirten einst Schweine und Großvieh führten. Auf der Waldweide fanden sie genug Eicheln und Bucheckern, sich satt zu fressen.

Auf dem Weg dorthin vernahm ich plötzlich ein Grunzen. Schnell suchte ich mir einen Stock, ich wollte vorbereitet sein, was immer da kam. Ich schaute auf den Weg vor mir. Und sah, einen Steinwurf entfernt, eine Bache die Seite wechseln, gefolgt von vielleicht sieben Frischlingen. Die Mutter drehte ihren Kopf zur Seite und warf mir einen Blick zu. Ich verstand und blieb stehen, ich wollte keinen Streit. Ich hüte mich vor Wildschweinen, zu viele Geschichten kenne ich von wütenden Keilern und überraschten Spaziergängern. Es sollte die einzige Begegnung mit wilden Schweinen sein; irgendwann später sah ich noch einmal einen Schatten im Wald, er bewegte sich im Rückwärtsgang.

Im Breeser Grund machte ich eine Pause. Ich setzte mich auf einen Baumstumpf, er lag unterhalb eines kleinen Hügels. Noch nie schien mir ein Wald so unberührt, ich dämmerte vor diesem Landschaftsgemälde ein. Und wachte auf, als sich zu viele Ameisen meiner bemächtigten. Sie ließen sich leicht abschütteln; besser am Fuß als am Ohr, dachte ich. Als ich mich wieder sortiert hatte, schaute ich mir die Bäume näher an. Ich wünschte, einen Bogen Papier und ein paar Stifte mit mir zu führen und ein paar Striche zu wagen. Mir gingen Bilder durch den Kopf, wie ich sie in Museen gesehen hatte, Stimmungen, auf Leinwand gebannt. Von Caspar David Friedrich zum Beispiel.

Über harten Wurzeln verwitterte Stämme, die sich noch so eben senkrecht hielten, vielleicht war dies der letzte Sommer ihres Lebens. Und der nächste Windhauch würde sie zu Fall bringen. Ich sah verstorbene Bäume, noch nicht beerdigt, aber voll Leben. Mit Stammgästen, die sich auf dem Friedhof breitmachten. Würmer, Vögel, Siebenschläfer. Heimat für Hirschkäfer und Waldkäuze.

Hier faulte die Welt vor sich hin, so schön kann Sterben sein, dachte ich. Ich blieb ein bisschen und wartete auf einen Wolf. Hier sind sie oft, hatte Kenny gesagt. Aber es kam keiner. In Wahrheit machen sie einen großen Bogen um uns Menschen. Ich dachte an meine Freundin und ihre schönen grünen Augen. Stunden hätte ich bleiben können in diesem Traum von Landschaft.

Aber ich musste mich sputen; ich hatte kein Zelt und wollte nicht unter freiem Himmel schlafen. Ich war erstaunt, wie viel Strecke mit Hochsitzen abgesteckt war. Alle Nase lang war da ein Schießstand. Mal hastig zusammengehämmert, ein anderes Mal mit weichem Kissen gepolstert. Manche dieser Schussanlagen lagerten auf Anhängern, man kann sie von Lichtung zu Lichtung durch den Wald ziehen. Ein Jäger, lästerte einst der Naturschützer Horst Stern, brauche nicht mehr als Geld, gute Beziehungen, Sitzfleisch und einen ruhigen Zeigefinger.

Aus dem Wald heraus organisierte ich mein nächstes Quartier. Es waren wohl noch mehr als zehn Kilometer, und es war schon Nachmittag. Eine Schneise wies mir die Richtung und geleitete mich aufs freie Feld. In der Dämmerung erreichte ich ein Dorf, einen Rundling, dessen Häuser sich um einen Platz in der Mitte gruppierten. Diese jahrtausendalte slawische Siedlungsform hat sich bis heute in dieser Gegend, dem Wendland, gehalten. Aus Zeiten, als Völker wanderten und sich Gebiete suchten, wo sie sich fruchtbar mehren konnten. Ich nahm ein Zimmer, öffnete das Fenster, bettete meine tapferen Füße und mein Haupt in ein frisch bezogenes Bett und schlummerte ein.

Das Wendland

Beim Frühstück mit selbstgemachter Marmelade und Eiern von frei laufenden Hühnern kam ich zum ersten Mal in die Verlegenheit, mich zu erklären. Da saßen andere Gäste, die mit dem Rad unterwegs waren, und solche auf der Durchreise, Handelsvertreter. Sie zückten ihr Handy und rechneten nach, wie viele Kilometer ich unterwegs sein würde, wenn ich nach Italien liefe. Darüber hatte ich mir nur wenige Gedanken gemacht. Aber du musst doch wissen, in welche Richtung es geht, wie lange du unterwegs sein willst, wie du die Etappen einteilst, fragten sie. Ich war nicht in der Stimmung, Antworten zu geben.

Mir ging es gut, das war alles: keine Krankheit, keine Krise, weder Sonnenbrand noch Burnout. Da war ein Ziehen im Nacken, ein paar Muskeln waren verspannt, hart geworden. Aber mit ein wenig Gymnastik würde ich die wieder locker bekommen.

Ich dachte an meine Arbeit. Die Kollegen würden jetzt im Büro sitzen, Zeitungen sich stapeln und Meldungen sich stauen. Ich war fein raus. Ich sag mal so: Gehen, weil es am schönsten ist. Sechs Monate Raus-Zeit. Das Gehalt um die Hälfte runter, aber mehr Zeit als Geld. Und die Knie hatten endlich anderes zu tun, als das Sitzen zu organisieren.

Im Büro braucht man nicht viel Körper. Dass wir gut aufgestellt sind, das meinen wir nicht wirklich, das sagen wir nur so. Den Muskel, der uns dabei helfen könnte, sitzen wir die längste Zeit platt. Der Gluteus maximus klingt wie der letzte große Dinosaurier, lebt aber noch, langweilt sich auf dem Bürostuhl ohne Ende. Man könnte ihn beschäftigen, wenn man zum Beispiel Kniebeugen machte mit ausgestreckten Armen, immer noch die beste Übung, aber wer macht das schon.

Dieser Gluteus war einmal dafür gedacht, den Oberschenkel in der Streckung zu stabilisieren; ohne ihn wäre aus dem aufrechten Gang nie etwas geworden. Jetzt hängt er bei den meisten durch, weil keiner mehr weiß, wofür er eigentlich da ist. Drei von vier Menschen arbeiten bei uns heute am Computer. Und für fast jede Arbeit braucht man einen Stuhl. Der hat zwar oft Rollen, aber viele fühlen sich nach stundenlangem Sitzen wie gerädert. Weil auch der große Rückenstrecker, der Musculus erector spinae, zuständig für die Aufrichtung der Wirbelsäule, fast nicht bewegt wird. Und andere Muskelgruppen dagegen halten müssen, dass wir nicht kippen. Einseitig belastet, heißt es dann, und muskuläre Dysbalance, wenn wir uns vor Schmerzen krümmen.

Das Sitzen, ich hatte es satt. Auf dem Rad zur Arbeit, in der Bahn zum Termin, im Flieger: sitzen. Jemanden treffen: sitzen. Was besprechen: sitzen. Essen: sitzen. Nur der Kaffee, der war to go. Ich war schon lange Büromensch geworden. Ein Stubenhocker. Kaum aus dem Bett, stand da ein Stuhl.

Manchmal schlenderte ich vom Schreibtisch zum Fenster am Ende des Flurs und schaute aufs Wasser. Wir haben die Elbe vorm Haus. Der Himmel groß, der Fluss breit. Auf Schiffen wehen bunte Fahnen. Waren Feiern im Betrieb, sang ich »La Paloma«. Mich trägt die Sehnsucht fort in die blaue Ferne, unter mir Meer und über mir Nacht und Sterne. Schwierig war immer die Zeile vom Sturmwind, der sein Lied singt, irgendwann beherrschte ich aber auch diese. Dann winkt mir, ihr könnt ja mitsingen: der großen Freiheit Glück. Draußen Sturm und drinnen ein Lüftchen, das gab mir zu denken. Schien die Sonne, ging die Jalousie runter. Zu viel Licht. Meine Augen suchten Weite, sie kamen aber nur bis zum Bildschirm.

Sie waren es leid, auf den kleinen Kasten zu starren. Die Hornhaut trocken, der Lidschlag verringert: Wie viel Stress Augen im Büro haben, kann man mittlerweile auch bequem auf dem Handy nachschauen, es gibt eine App, kostenfrei, für den Selbsttest.

Ich brauchte aber keine App, um festzustellen, was mir fehlte, ich brauchte Auslauf.

Kaum war ich aus dem Dorf raus, vorbei an einer langgezogenen Scheune, bemerkte ich eine Zecke. Sie hatte sich an einer Stelle verschanzt, an die ich nicht gut rankam und für die man die Hosen runterlassen musste. Ich versuchte, sie mit einer Zange zu ziehen, es gelang mir nicht. Ich blieb stehen und wartete, ob sich jemand meiner erbarmte. Als eine Frau vorbeiradelte, sprach ich sie an. Sie leistete lächelnd Hilfe.

Ich hatte die Frau von weitem gesehen, sie kam auf mich zu. So ist das jetzt, dachte ich, du lässt alles auf dich zukommen.

Ich bin vertraut mit diesem Landstrich, ich kenne ihn seit fast dreißig Jahren. Das Wendland zählt zu den am dünnsten besiedelten Gegenden Deutschlands. Die erste Ampel kam wohl 1974. Von hier sind es zweieinhalb Stunden mit dem Zug nach Berlin, von Hamburg anderthalb mit dem Auto. Die Elbe trennte einst Ost und West.