Geist der Utopie - Ernst Bloch - E-Book

Geist der Utopie E-Book

Ernst Bloch

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Beschreibung

Im Sommer 1918 steht die Welt knietief in Blut: Der Krieg hat bereits Millionen von Opfern gefordert, die Spanische Grippe breitet sich aus, in Russland schlägt die Revolution in einen Bürgerkrieg um. Die alte Ordnung Europas wackelt und wird bald fallen. Eine ganze Generation – die Generation Y des vergangenen Jahrhunderts – steht auf einem Scherbenhaufen und schaut in eine ungewisse Zukunft.

Im Sommer 1918 erscheint im Verlag Duncker & Humblot das Buch eines jungen Mannes, das Furore machen wird: Ernst Blochs Geist der Utopie. Im Angesicht des Schreckens, inspiriert von den philosophischen Strömungen der Jahrhundertwende und befeuert von den alternativen Lebensentwürfen der Reformer und Anarchisten auf dem Monte Verità, beschreibt Bloch darin den Menschen als ein radikal zur Utopie begabtes Wesen. Es ist ein Werk, das seine Zeit auf unnachahmliche Weise in Gedanken und Worte fasst, maßlos und streng, sozialistisch und messianisch, düster und voller Hoffnung. Nun ist die Zeit für eine Wiederentdeckung.

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Seitenzahl: 677

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3Ernst Bloch

Geist der Utopie

Erste Fassung

Suhrkamp

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Übersicht

Cover

Titel

Inhalt

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

9Inhalt

Cover

Titel

Inhalt

Absicht

Die Selbstbegegnung

Ein alter Krug

Die Erzeugung des Ornaments

Kunstgeschichtlicher Exkurs

Das Aussagen

Der griechische Stil

Ägypten und die Immanenz

Die Sehnsucht als Substanz

Methodisches

System des Kunstwollens

Der komische Held

Zur Theorie des Dramas

Philosophie der Musik

Traum

Zur Geschichte der Musik

Anfänge

Das Verfahren

Das handwerkliche Nacheinander

Der soziologische Zusammenhang

Die sprengende Jugend der Musik

Das Problem einer Geschichtsphilosophie der Musik

Die Fülle und ihr Schema

Das Lied

Mozart

Die Passionen

Bach, seine Form und sein Gegenstand

Carmen

Offenes Lied und Fidelio

Missa solemnis

Die Geburt der Sonate

Brahms und die Kammermusik

Beethoven. seine Form, sein Gegenstand und der Geist der Sonate

Die Neuen

Wagner

Vorgänger

Falsche Polemik

Der Sprechgesang

Tanz und synkopischer Rhythmus

Die akkordische Polyphonie

Die transzendente Oper und ihr Objekt

Zur Theorie der Musik

Die Kunstrichter

Der Gebrauch und die Tondichtung

Das sich Hören

Der Anschlag

Die schöpferische Vertonung

Die Deutung oder über das Verhältnis der absoluten und der spekulativen Musik

Grundlage der Ästhetik überhaupt

Die Form in der Musik

Mittel, Formeln und Formen der transzendentalen Musiktheorie

Der freie Ton

Die beliebige Harmonielehre

Beziehungen des Rhythmus

Indirekte Beziehungen des Kontrapunkts

Das Bachsche und das Beethovensche Kontrapunktieren

Nochmals der frei vorkommende Ton

Die astronomische Musiktheorie

Der transzendentale Kontrapunkt

Das Geheimnis

Über die Gedankenatmosphäre dieser Zeit

Die Genießenden

Die Geheimlehrer

Die modernen Philosophen

Die Versuchsleiter

Die Werttheoretiker

Bergson

Husserl und Hartmann

Nietzsche, die Kirche und die Philosophie

Innerlichkeit und System

Kant

Hegel

Beschluß, Programm und Problem

Die Deutschen

Exkurs: Der Alexanderzug

Symbol: Die Juden

Zur motorisch-phantastischen Erkenntnistheorie dieser Proklamation

Die Gestalt der unkonstruierbaren Frage

Von uns selbst

Die innere Rede

Grund in der Liebe

Von der sachlichen Gediegenheit

Zur Metaphysik der Innerlichkeit

Das Dunkel

Das Staunen

Die Anweisung des Dunkels auf das Staunen

Jesus

Kategorien

Karl Marx, der Tod und die Apokalypse

Der sozialistische Gedanke

Tod, Seelenwanderung, Apokalypse oder das Problem der echten sozialen und kulturellen Ideologie

Über Seelenwanderung

Hoffnungen und Konsequenzen

Gestalten der universalen Selbstbegegnung oder Eschatologie

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

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11Absicht

Wie nun?

Es ist genug. Nun haben wir zu beginnen. In unsere Hände ist das Leben gegeben. Für sich selber ist es längst schon leer geworden. Es taumelt sinnlos hin und her, aber wir stehen fest, und so wollen wir ihm seine Faust und seine Ziele werden.

Was jetzt war, wird wahrscheinlich bald vergessen sein. Nur eine leere, grausige Erinnerung bleibt in der Luft stehen. Wer wurde verteidigt? Die Faulen, die Elenden, die Wucherer wurden verteidigt. Was jung war, mußte fallen, aber die Erbärmlichen sind gerettet und sitzen in der warmen Stube. Von ihnen ist keiner verloren gegangen, aber die andere Fahnen geschwungen haben, sind tot. Die Maler haben die Zwischenhändler verteidigt und den Seßhaften das Hinterland warm gehalten. Es lohnt sich nicht mehr, darüber zu reden. Ein stickiger Zwang, von Mittelmäßigen verhängt, von Mittelmäßigen ertragen; der Triumph der Dummheit, beschützt vom Gendarm, bejubelt von den Intellektuellen, die nicht Gehirn genug auftreiben konnten, um Phrasen zu liefern.

Und dieses allein ist wichtig. Wes Brot ich eß, des Lied ich sing. Aber dieses Versagen vor dem Kalbsfell war doch überraschend. Das macht, wir haben keinen sozialistischen Gedanken. Sondern wir sind ärmer als die warmen Tiere geworden; wem nicht der Bauch, dem ist der Staat sein Gott, alles andere ist zum Spaß und zur Unterhaltung herabgesunken. Wir bringen der Gemeinde nicht mit, weswegen sie sein soll, und deshalb können wir sie nicht bilden. Wir haben Sehnsucht und kurzes Wissen, aber wenig Tat und was deren Fehlen mit erklärt, keine Weite, keine Aussicht, keine Enden, keine innere Schwelle, geahnt überschritten, keinen utopisch prinzipiellen Begriff. Diesen zu finden, das Rechte zu finden, um dessentwillen es sich ziemt, zu leben, organisiert zu sein, Zeit zu haben, dazu gehen wir, hauen wir die phantastisch konstitutiven Wege, rufen was nicht ist, bauen ins Blaue hinein, bauen uns ins Blaue hinein und suchen dort das Wahre, Wirkliche, wo das bloß Tatsächliche verschwindet — incipit vita nova.

13Die Selbstbegegnung

15Ein alter Krug

Ich sehe ihm gerne zu.

Fremd führt er hinein. Die Wand ist grün, der Spiegel golden, das Fenster schwarz, die Lampe brennt hell. Aber er ist nicht nur einfach warm oder gar so fraglos schön wie die anderen edlen alten Dinge.

Man hat ihn jetzt vielfach nachgeahmt. Das ist ungefährlich, aber es gibt auch kostbare antike Exemplare, glänzend erhalten, enghalsig, bewußt modelliert, mit vielen Rillen, schön frisiertem Kopf auf dem Hals und einem Wappen auf dem Bauch, und diese stellen den einfachen Krug in den Schatten. Doch wer ihn liebt, der erkennt, wie oberflächlich die kostbaren Krüge sind, und er zieht das braune, ungeschlachte Gerät, fast ohne Hals, mit wildem Männergesicht und einem bedeutenden, schneckenartigen, sonnenhaften Zeichen auf der Wölbung, diesen Brüdern vor.

Sie stammen zumeist aus der rheinfränkischen Gegend. Vielleicht sind sie schon römisch. Wenigstens erinnert der Ton, aus dem sie gebrannt sind, an billige römische Stücke. Auch klingt irgendwie eine italische Form in ihnen an, wenn auch noch so kräftig, zuerst soldatenhaft und dann nordisch vergröbert. Und nun sind sie weiter gewandert, aus der Taverne in die reichsstädtische Schenke, weingefüllt ringsum auf Regalen stehend, die Teniersschen Bauern mit den großen Nasen halten sie noch hie und da in den Fäusten, bis sie mit dem anderen verschwinden mußten, als alle gute bodenständige Handarbeit verschwand. Was an ihnen am meisten auffällt, das ist der Mann, der wilde Bartmann auf dem Bauch des soliden nordischen Gebildes. Damit spinnt sich ein seltsames Garn zu uns herüber. Denn die Toten sind trocken und müde, das mitgegebene Krüglein im Grab ist bald versiegt. Aber drüben verwahren wilde Männer neue Krüge, magische Krüge mit Lebenswasser. Sie sind zumeist an einsamen Hügeln zu treffen; noch heute heißen, verrufenerweise, einige solcher Stellen, vor allem in niederdeutschen Gegenden, Nobiskrug, und das Totenwirtshaus soll nicht weit davon gelegen sein. Die Männer weiden eine Herde, unfern dem Brunnen der Urd, dem das goldene Wasser entspringt, und geben auch wohl dem fragenden Toten Bescheid, damit er den Weg zur Heimat nicht 16verfehle. Derart ist der wilde Mann mit dem entwurzelten Tannenbaum in der Hand noch auf Gasthausschildern, desgleichen, da er die Geheimnisse des ewigen Schatzes behütet und kennt, auf Münzen und Geldscheinen, vor allem aber als Schildhalter niederdeutscher Fürstenwappen, auch des preußischen, allegorisch sichtbar geblieben. Doch hier, auf unserem Krug, blickt das Bärtige der Waldschratte noch unmittelbar heraus, die feuchten und dunklen Urwälder ältester Zeiten sind ganz nahe herangerückt, der Kopf des riesigen Troll spendet seinen faunischen, amuletthaften, alchimistischen Anblick. Sie sprechen aus der Zeit, die alten Krüge, da noch der Schlappohr und der feurige Mann auf den abendlichen Feldern der rheinfränkischen Gegend gesehen worden sein sollen und haben das Alte bäurisch, buchstäblich, unallegorisch bewahrt.

Es ist schwer zu ergründen, wie es im dunklen, weiträumigen Bauch dieser Krüge aussieht. Das möchte man hier wohl gerne inne haben. Die dauernde, neugierige Kinderfrage geht wieder auf. Denn der Krug ist dem Kindlichen nahe verwandt. Und zudem, hier geht das Innere mit, der Krug faßt und hat sein Maß. Aber nur noch der Geruch vermag einen feinen Duft von längst vergessenen Getränken mehr zu erraten als zu empfinden. Und dennoch, wer den alten Krug lange genug ansieht, trägt seine Farbe und Form mit sich herum. Ich werde nicht mit jeder Pfütze grau und nicht von jeder Schiene mitgebogen, um die Ecke gebogen. Wohl aber kann ich krugmäßig geformt werden, sehe mir als einem Braunen, sonderbar Gewachsenen, nordisch Amphorahaften entgegen, und dieses nicht nur nachahmend oder einfach einfühlend, sondern so, daß ich darum als mein Teil reicher, gegenwärtiger werde, weiter zu mir erzogen an diesem mir teilhaftigen Gebilde. Das ist bei allen Dingen so, die gewachsen sind, und hier hat das Volk daran gearbeitet, seine Lust und tiefere Behaglichkeit in einem Trinkkrug auszuprägen, sich auf dieses Haus- und Schenkengerät aufzutragen. Alles, was derart jemals liebevoll und notwendig gemacht wurde, führt sein eigenes Leben, ragt in ein fremdes, neues Gebiet hinein und kommt mit uns, wie wir lebend nicht sein könnten, geformt zurück, beladen mit einem gewissen, wenn auch noch so schwachen Symbolwert. Auch hier fühlt man sich, in einen langen sonnenbeschienenen Gang mit 17einer Tür am Ende hineinzusehen, wie bei einem Kunstwerk. Das ist keines, der alte Krug hat nichts Künstlerisches an sich, aber mindestens so müßte ein Kunstwerk aussehen, um eines zu sein, und das wäre allerdings schon viel.

19Die Erzeugung des Ornaments

21Wir sind plötzlich streng geworden.

Jetzt mehr als je. Aber wichtiger bleibt es zu spielen. Wir hatten es verlernt, von unten herauf, die Hand hat das Basteln verlernt. So ungefähr wurde auch der Feuerstein geglättet. Niemand wagt sich vor, von allen diesen trocken gewordenen, einfallslosen Menschen. Es wird um uns gehämmert, gehobelt und geschnitzt, als ob niemals etwas gewerblich gekonnt und zu vererben gewesen wäre. Aber dafür malen wir auch wieder wie die Wilden, im besten Sinn des Frühen, Unruhigen und Barbarischen genommen. So ungefähr wurde auch die Tanzmaske geschnitzt, so ungefähr baute sich der primitive Mensch seinen Fetisch zurecht, sollte auch nichts als die Not des Aussprechenmüssens wieder dieselbe geworden sein. Derart fällt beides merkwürdig zusammen, der hoffnungslose Verlust alles dessen, was früher am kleinsten Stück gewerblicher Arbeit selbstverständlich war, und der ebenso hoffnungsvolle Verlust des Geschmacks, des Stilwollens in dem, was die Hand bildet und ausdrückt.

*

Nur ist das Erstere, das bloß Strenge, fast bedingungslos schlecht.

Hier ist alles gleich erkältend und langweilig geworden. Wie könnte es freilich auch anders sein, nachdem niemand mehr das dauernde Wohnen kennt, sein Haus warm und stark zu machen.

Aber das ist nicht allein an dem Niedergang schuld. Er ist nicht nur darin begründet, daß der Auftraggeber unbekannt oder namenlos geworden ist. Denn wenn wir etwa das Arbeitszimmer als Aufgabe nehmen, so ist in dem erwerbstätigen Mann, der nur abends zum Ausruhen, Lesen oder Empfang der Gäste männlichen Geschlechts sein Zimmer betritt, und in dem Schriftsteller oder Gelehrten als dem angestammten, sozusagen faustisch vorstellbaren Bewohner des Arbeits- und Bibliothekszimmers zum mindesten eine Doppelreihe des Bedürfnisses, Auftrags und zeichnerischen Problems gegeben. Aber was nun zum Verkauf angeboten wird, bleibt unrettbar in dem Generalnenner des sogenannten Herrenzimmers befangen. Man kann daher durchaus 22behaupten, daß es eine viel breitere Bereitwilligkeit im Einkauf gibt, als sie die Geistlosigkeit der Angebote und Auswahl gestattet. Es ist danach nicht so sehr der Verbraucher als der Erzeuger, auf den all das leblose, unansehnliche Zeug zurückfällt, und auch nicht dieser, sondern die Maschine, die er beschäftigt, hat das Elend und den durchdringenden Phantasiemord auf dem Gewissen, der den kunstgewerblichen Bestand jedes Museums mit den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts abzuschließen zwingt.

Man soll gewiß lange genug bewegt und industriell denken. Aber das hat eben seine Grenze und seinen Umschlag, nicht ohne die alten Arbeitsformen wieder zu beleben. Man irrt, wenn man sozialistischerseits das Industrievolk als allein wesentlich festsetzt und gleichsam verewigt. Das mag dort erwünscht, ja taktisch notwendig sein, wo alles noch agrarisch zurechtgeschnitten ist, und der Arbeiter mehr als zu kurz kommt. Es mag auch insofern einen unleugbaren Sinn besitzen, als die alten Meister kaum noch aufzufinden sind und der schmutzigste kleinbürgerliche Schuft mit dem Wasser am Hals und allen Eigenschaften des sinkenden Mittelstands, dazu ohne eine Spur der alten Sauberkeit, Bedächtigkeit und Frömmigkeit des alten Meisters, den Handwerkerstand oder, wie man zutreffender sagt, den Stand der Kleingewerbetreibenden besetzt hält. Aber man darf nicht vergessen, die Maschine ist eine kapitalistische Erfindung. Sie ist, wenigstens im gewerblichen Gebrauch, durchaus nur zu den Zwecken billiger Massenproduktion mit hohem Umsatz und großem Gewinn und wahrhaftig nicht zur Erleichterung der menschlichen Arbeit oder gar zur Veredlung ihrer Resultate konstruiert. Wir wüßten nicht, was so erleichternd wirkte an dem Rasseln der Webstühle, an der Nachtschicht, an dem furchtbaren Zwang der gleichmäßigen Tourenzahl, an der verhinderten Werklust des Mannes, der immer nur Teile zu bearbeiten hat und niemals das Glück der ganzen und Fertigproduktion genießen kann —, wir wüßten nicht, was hier erleichternd wirkte gegenüber der früheren gemächlichen Herstellung (hier Haus, dort Werkstatt daneben) eines kleinen Quantums ehrlich gefertigter, kunsthafter Handgewirke. Sicherlich, der Bauer und der Handwerker sind fest vorgezeichnete, im Werkwesen selbst vorgedachte Typen der menschlichen Arbeit, und sie werden sich in ihrem Apriori 23wieder herstellen, wenn erst die kapitalistische Abirrung vorüber ist. Den großen Schwung in allen Ehren, aber alles, was er an Ergebnissen gebracht hat, die nicht selbst wieder wie die Lokomotive oder die Stahlproduktion dienend, funktionell und technisch sind, wird sich eines Morgens wieder einpacken lassen, und der mechanische Webstuhl wird mit der Kanone in dem gleichen sonderbaren Museum verderblicher Sagazitäten zu stehen haben. Wir wiederholen, man muß bewegt und industriell denken, um nicht nur einfach das Alte zu kopieren; denn hier, in diesem eratmenden Schritt, in dieser Beschleunigung, Unruhe und Vergrößerung unseres Aktionskreises liegen große seelische und gedankliche Werte verborgen; aber das bezieht sich nur auf die Maschine als einer äußeren Erleichterung und Willensform und nicht auf den feigen Massenkram der Fabriken oder gar auf die letzthinigen Typen und Resultate der heraufkommenden Welt von neuem bäuerlicher, frommer, ritterlicher Menschen.

Sie verstand es, die Maschine, alles so leblos, technisch und untermenschlich im einzelnen zu machen, wie es die Straßen des Berliner Westens im ganzen sind. Ihr eigentliches Ziel ist das Badezimmer und Klosett, die fraglosesten und originalsten Leistungen dieser Zeit, genau so wie die Möbel im Rokoko und die Architektur in der Gotik die eingeborenen Kunstarten dieser Epochen darstellen. Hier regiert die Abwaschbarkeit, irgendwie fließt überall das Wasser von den Wänden herab, und der Zauber der modernen sanitären Anlagen mischt sich als das Apriori der Maschinenware unmerklich noch in die entferntesten und kostbarsten Architekturgebilde dieser Zeit. Daran ist auch durch die vorübergehende Hoffnung einer Wiedergeburt der Form, sei es durch die neuen Stoffe des Glases, Stahls und Betons, sei es vor allem durch die neuen Form- und Konstruktionsmöglichkeiten auf Grund dieser Materialien, nichts gebessert worden. Denn alles, was die modernen Stoffe und Zweckkonstruktionen gebracht haben, um das, wie Ruskin sagt, mit Abkürzung zu tun, dessen Ehre gerade in seiner Schwierigkeit liegt, geht am Stil, dieser höchst schmuckfreudigen, fast nur aus Schmucksinn symmetrischen und »konstruierten«, luxuriös symmetrischen Angelegenheit vorbei, um bestenfalls in jener technischen Ähnlichkeit zu landen, die der Wolkenkratzer mit dem Birs Nimrud und die fei24erliche Kinofassade mit der ältesten, freilich aus einer anderen Geometrie heraus geometrischen Baukunst aufweist.

Nun ist dieses Versagen freilich nicht an allen Orten bedenklich; es gibt Gelegenheiten, wo man einer geschmackfremden Abstraktheit den expressionistischen Dank abstatten möchte.

Denn einmal ist das Auszieren trotz allem wieder erwacht. Man sucht mit Gewalt aus dem Trockenen heraus zu kommen. Man sieht allmählich ein, eine Geburtszange muß glatt sein, aber eine Zuckerzange mit nichten. So sucht man wieder farbig aufzulockern, man drängt auch bewußter als je auf das Zeichnen und das Leben der organischen Linie.

Zum andern ist das Abhandenkommen aller gewerblichen Fähigkeiten vielleicht doch nicht ohne positive Tiefe. Darauf hat Marc zuerst und mit Glück hingewiesen. Es kann dieselbe Göttin sein, die hier Not und dort Überfluß schenkt, hier die völlige Unfähigkeit zur schönheitsvoll geschlossenen Form und einen Organzerfall, der in der Geschichte nicht seinesgleichen findet, dort das Aufblitzen feuriger und rätselvoller Zeichen jenseits alles Stilwollens, aller luxuriösen Kunstindustrie und aller bloß eudämonistischen Ausgeglichenheit, Eurythmie und Symmetrik des Stilbegriffs. Man hat gesagt, daß ein russischer Bauer ein Heiliger sein müßte, um überhaupt nur ein anständiger Mensch werden zu können. Oder nach Lukács, daß ein moderner Architekt, der die Begabung Michelangelos besäße, gerade ausreichte, um einen schönen Tisch zu konstruieren. Aber es läßt sich diesem Satz auch hinzufügen, daß, wie stets die Kinder oder die Bauern, so jetzt auch ein bedürftiger, von Lebensmühe bedrängter Dilettant, der an Geschicklichkeit nicht mit dem kleinsten alter Maler zu vergleichen ist, trotzdem in der merkwürdigen Luft dieser Zeit Gebilde, unwerkhafte, stillose, aber ausdruckshafte und symbolische Gebilde erzeugen kann, die keinen letzthinigen Vergleich mit den großartigsten Aussagen der griechischen oder neuzeitlichen Stilepochen zu scheuen brauchen. Das ist der Weg, den der Blaue Reiter ziehen wollte, ein verwachsener, unscheinbarer Seitenweg, der die Hauptstraße der Menschheitsentwicklung bildet. Das ist weiterhin, trotz alles Feindlichen, Bösartigen, Negativen, das sich ebenfalls aus dem Stilsterben der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts ablesen läßt, der funktionelle Zusammen25hang dieser Stilepidemie mit den positiven Kräften des Expressionismus.

Zum Dritten gibt es ein abstraktes Umsetzen tapetenhafter Art. — Man übt es zwar falsch und dürftig genug. Das macht, hier wird die Treppe von unten nach oben gekehrt. Darum bleibt alles so unaufgeblüht, daß sich trotz Farbe und Sehnsucht nach dem Schnörkel, nach der spielenden, überschüssigen, organischen kapriziösen Linie sämtliche Rippen des Grundrisses zählen lassen. Wer aber den Zierrat will, darf nicht kunstgewerblich auf seine Gewinnung ausgehen. Hier hält sich kein eigenes Leben, es ist durchaus eine Frucht von unterwegs, das Rudern und Kriechen in einem abgeschnittenen Teich, nachdem sich die Flut verlaufen hat, und im ganzen der unmögliche Versuch einer in die Hände des bewußtesten, immanentesten Kunstwollens gelegten Schönheit von unten. Es gibt keine Fruchtbarkeit aus der reinen Form heraus oder mit ihr, diesem bloß Reflexiven des Stilcharakters, als Ziel. Man kann also sagen, daß weder der organische Zierrat noch der halb organische, halb anorganische Symmetrieumriß, wie ihn die Stilmanieren zeigen, irgendwie sind, im Sinn des Bestandes; sie geschehen, und zwar als der Zustand einer unechten Beruhigung, das heißt als Kunstgewerbe und im Größeren als Stil, wie er lediglich als Ausmünzung eines außerhalb alles Schönheitswollens gelegenen Fonds von vordem hellseherischen und nunmehr expressionistischen Beschreibungen exekutierbar wird. Darum hilft hier nur, sich von oben her bescheinen zu lassen, erst im Oberen das Ungewollte, Unbedenkliche, Organische, Irrationale aufblühen zu lassen, um derart, wie es zu allen, sogar den ausgeprägtesten Stilzeiten geschah, die unwillige Beziehung zum Ornament von dem Bilder-, Formen- und Ausdrucksreichtum der unangewandten Kunst unterstützt zu erhalten. Denn wenn auch das Kunstgewerbe Geschmack und ruhevollen Abschluß braucht, so ist es doch mit Ausnahme des sogleich zu erwähnenden Barock-Kunstgewerbes nicht dazu verpflichtet, diese freilich letzthin nur ihm eigentümlichen Stil- und Wertkategorien in seinem eigenen Bereiche zu entwickeln. Es genügt und ist allein durchführbar, sofern der stets abgeleitete Stil zwar nicht zum Ausdruck steigen, wohl aber der Ausdruck jederzeit zum eudämonistischen Stilgebrauch fallen kann, die Formen, das sich in 26der hohen Kunst ergebende Unterwegs der Formvermittlung, von dieser auf das Kunstgewerbe zu übertragen. — Das ist nun freilich nicht für alle Fälle richtig. Irgendwo gibt es durchaus eine lehrreiche Abstraktheit aus dem Geist der Tapete. Denn es lebt noch etwas zwischen Stuhl und Statue, nämlich der Teppich, das Allegoriehafte, die echte, nicht abgestandene, sondern probierende, wenn auch ebenfalls nur »versetzte«, abgeleitete reine Form. Und diese kann allerdings direkt von unten an auf die Ausdruckskunst einwirken, ohne anzuhalten und dürftig oder streng zu machen. Ein Stuhl selbst ist freilich nur dazu da, um besetzt zu werden, er weist sichtbar auf den ruhenden Menschen hin. Und eine Statue ist dazu da, um besehen zu werden, oder vielmehr, da ihr auch dieses, wie alle familiäre Beziehung gleichgültig ist, sie ruht in sich, ihrer eigenen Herrlichkeit zugewendet. Es ist sehr leicht, die derart bestehende, einfache Grenze zwischen der kunstgewerblichen und der künstlerischen Form zu bestimmen. Sie läßt sich am schlagendsten dadurch demonstrieren, daß man den Drehungsprozeß des Beschauers als unterscheidendes Merkmal einsetzt. Dann wird sich alles, was gebraucht wird, was Boden und Sessel bleibt, also durch ein sich erlebendes Ich beherrscht wird, dem Kunstgewerbe zurechnen lassen; während alles, was den Aufblick hervorruft, was sich zum Gebälk und über uns gezogenen Bildwerk erhebt, mithin zum Stuhl oder Schrein für den Leib Gottes übergeht, auch lediglich durch das darin gesehene, sich optisch entgegenkommende Subjekt eines zweiten Stockwerkes beherrscht wird und insofern der hohen Kunst zugehört. Und weil uns die kunstgewerblichen Dinge nur umgeben, so ist es ihnen eigentümlich, behaglich zu sein, die elegante Vollkommenheit vor allem zu halten und den Stil anzuziehen. Oder genauer gesagt, aus einer darüber hinausschießenden Ausdrucksbewegung gewisse Elemente des Schmucks und der Konstruktion anzuhalten und als Takt oder Maß zu stabilisieren, wie sich denn das ganze mittlere Griechenland und die halbe, das heißt, abgesehen vom Barock, die durch Renaissance und Empire »klassisch« eingerahmte Neuzeit die Kunst wesentlich nur als freundliche, ungeistliche Lebensbegleitung, aber nicht als die Beschwichtigung seelischer Notzustände, nicht als den Trostgesang einer um Hässlichkeit und Schönheit unbekümmerten Ichex27pression, nicht als die zu den Menschen heruntergestellte, sinnlich religiöse Abschilderung oberer Erlösungsgeschichte mithin wesentlich als maßvolles, eudämonistisches Derivat zubereitet haben. Aber schon das gebrauchende Ich sitzt an verschiedenen Orten. Den Sessel, den ein Bauer von ferne bewundert, wird der Edelmann unbedenklich benutzen. Denn die Kraft, die sich das Ich zur gebrauchenden Pointierung erlesener Gegenstände zutraut, bringt die Entscheidung, und vieles, was der Sonnenkönig als Kunstgewerbe empfinden konnte, ist späteren Zeiten, denen der sozial, gleichsam schon aktuell theologisch pointierende Ichpunkt gesunken ist, durchaus zur hohen Kunst geworden. Das mag gleichgültig sein, sofern der unterdessen über uns gedrehte Sessel doch seinen anfänglich wohllebig pointiert gewesenen Begleitungscharakter nunmehr geschichtslos beibehält. Aber, wie wir sagten, tertium datur; es gibt Stühle, die aus dem Sichhineinsetzen, aus der sonderbaren Haltung, aus der gleichsam abgenommenen Maske des sich Setzens ein Neues machen. Es gibt Stühle, die daraus etwas abstrakt Lebendiges entnehmen, bemalt, als ob auf ihnen die Haut, und ausgeschnitzt, als ob auf ihnen das Gestell eines Gespenstes, eines Geistigen abgezogen wäre, wie dieses an dem ganzen rätselvollen holländisch-englischen Barock-Kunstgewerbe mit seinen indisch-chinesischen Reminiszenzen zu studieren ist. Denn es lebt noch etwas zwischen Stuhl und Statue, ein Kunstgewerbe zweiter Ordnung, in dem sich statt des behaglichen, gleichsam abgestandenen, aus Rückständen zusammengesetzten Gewebes, statt der formhaften Geschlossenheit, transzendentalen Heimatlosigkeit und dem in sich bleibenden reflexiven Modellcharakter der unechten reinen Form, der echte, hinüberweisende Teppich der probierenden Allegorie ausstreckt. Hier ist keine Gefahr, daß das abstrakte Umsetzen tapetenhafter Art stilhaft macht, daß also die bewußte Qual der kunstgewerblichen Erfindungslosigkeit, wie sie sich in der sprödesten Strenge ihren Ausweg sucht, auf die ganz andersartige, unbewußte Qual des künstlerischen Expressionsdrangs einwirkt und dergestalt den Architekturwillen der Expression auf den ägyptischen Weg der abstrakten Strenge und des Raumes, des unterdessen ausgeglühten Raumes, statt auf den gotischen und barocken Weg der Seele und ihres Ortes hindrängt. Darum: indem man 28kräftiger als je auf das Zeichnen, auf das Leben der organischen Linie drängt, zieht von dem modernen, verzweifelten, barock sucherischen Kunstgewerbe cum grano salis ein Verändern und Umbiegen, eine neue Betonung des Umsatzmediums, ja sogar eine neue Betonung des Ruhezustands, der erschwerten, transzendental organischen Abstraktheit zur hohen Kunst herüber, die dem Schmuckwollen eben dieses Kunstgewerbes zweiter Ordnung einen gewissen heuristischen Anteil an der expressionistischen »Begriffsmalerei« zuerkennen läßt.

Kunstgeschichtlicher Exkurs

Das ist wenig und viel zugleich.

Man will nichts als sich unabgelenkt sehen. Hier hilft aber nur schnitzwerkhaft zu denken.

Das Aussagen

Dazu braucht man durchaus nicht geschickt zu sein. Das ist wohl dort nötig, wo man geschmackvoll, stilvoll, griechisch formt. Aber hier muß man mehr sein, und das andere, wie es ausgleicht und berechnet, wird statt des Zwecks zur Beigabe und zur bequemen Sicherheit, jedesmal das kräftigste Mittel zur Aussage finden. Nichts ist dienender, abgeleiteter als das Wie, nichts ist zeugender als das Wer und das Was, die letzthin dasselbe sind. Man muß von hier ab innerlich üppig sein und so weit als möglich zur Woge werden. Das scheinbar Wirre, das Winklige, Wunderliche und Schnörkelhafte ist ihr klarster, schlichtester Ausdruck.

Der griechische Stil

So wurde von früh an durchwegs geschnitzt. — Man fing überall zuerst an in Holz zu arbeiten. Aber bald kam der Stein, und die Stämme wurden materialgerecht zu Säulen. Freilich, das griechische Lächeln geht um den Stein gleichsam herum. Denn hier sind wir lebendig und gebändigt zugleich geworden, allerdings um den Preis, sowohl im einen wie im anderen untief zu sein. Darum läßt sich hier eben nur ein Stück mehr oder minder ruhevollen Lebens auf den Sockel stellen. Darum ist es ebenso gleichgültig, ob die griechische Gestalt in Elfenbein, Silber, Bronze oder Marmor gearbeitet wird wie es der leichten, das Lächeln und das Wohlabgewogensein zugleich verherrlichenden Kunstart unwesentlich ist, auf die Wünsche des Stoffes zu hören und den Mate29rialgeist zu treffen oder ihm fremdgesetzlich zu erliegen. Hier wird noch zwischen Säule und Gebälk das federnde, jonische Kissen gelegt; die Ranke, der Akanthus, das Fleisch triumphieren, und wenn auch der Eierstab oder der Mäander eine anorganische Linie vorzutäuschen scheinen, so ist dies alles schon von innen her so sehr gedämpft und gerade nach eigner maßvoller Wahl so konfliktslos rechtwinklig beschlossen, daß weder das Leben gegen den Stein noch der Stein gegen das Leben in diesem ebensowohl organischen wie »anorganisch«, aus Sophrosyne konstruktiven Stil einzuschreiten brauchen. Denn was bestimmt, ist ein kleines Leben, das nichts gegen rechtwinklige Ordnung einzuwenden hat, mit Baumstümpfen und ähnlichen zweifelhaften Stützen oder Bildsäulen, bei denen die Torsi besser wirken als die Originale, an denen eben erst alles abzuschlagen war, was abgeschlagen werden mußte, um die Blockeinheit der Statue zu erlangen. So hat der griechische Bildner weniger dem Stein als der weltlichen Gesellschaft einen bösen Zoll bezahlt. Indem hier nämlich der Künstler sein Werk völlig bewußt zum Genuß hin entwickelte, mischte sich das zwar Lebendige, aber auch nichtssagend Konstruierte in einer Weise, die es als vorzüglich zum »Stil«, zum familiären und luxuriösen Kunstgewerbe einer Nation geeignet machte. Es ist durchaus notwendig, die griechische Kunstweise so weit zu spannen, gemäß der übergreifenden, allein und absolut stilerzeugenden Grunderfassung dieser Kunst als eines Genußvollen, Geschmackvollen, das Leben Schmückenden und zugleich Symmetrischen, um derart in der griechischen Kunst das unumgängliche Muster der Neuzeit, der griechischen und auch europäischen Neuzeit, das heißt eben, mit einziger Ausnahme des Barock, der Stilzeit par excellence zu begreifen. Dreifach ist so das Stilwollen als solches bestimmt: einmal als Rücksicht auf die schönheitsvolle Wirkung, dann als bewußtes Arbeiten am Mittel, am Werk, an der Konstruktion und zuletzt als die Verdrängung der nur auf den Ichausdruck gehenden Vision durch ein selbstgerechtes Formleben, entweder der bloßen Symmetrie oder der reinen, homogenen, für sich ruhenden, abgeschlossenen, streng immanenten Formexistenz des Kunstwerks überhaupt. Freilich, das alles schlägt irgendwo einmal um, man kann nicht, auch im Kunstwerk nicht, aus dem wirklichen Prozeß 30der Dinge und ihren Zielen heraustreten, und da im bewußten Kunstwollen vor allem das Konstruieren herrschend ist, so droht auch am Ende jedes Stils die ägyptische Erstarrung als die transzendentale Gefahr des materialgemäßen Konstruiertseins überhaupt.

Ägypten und die Immanenz

Nun muß man freilich jederzeit bauen. Das Bild braucht eine Wand, die Gemeinde ein Haus und eine tektonische Einheit. Es will jedoch kaum gelingen, warm zu wirken und zugleich lückenlos geformt zu sein. Dagegen scheint nichts leichter erreichbar als biedermaierliche Klarheit. Nichts scheint schon dem Gips, besonders wenn er sich zum Rang des Beton erhebt, so unverlierbar in die Seele geschrieben zu sein, als die Kraft seine Welten ägyptisch zu machen. Auch dort, wo man nur entlasten will, wo Glas, Stahl und Beton zusammenwirken und derart die reine Zweckform diesseits alles Stoffzwangs wie diesseits aller Auszierung ihr nüchternes Wesen treibt, drängt sich der Raum ein oder vielmehr, wenn auch noch so abgeschwächt und ohne die porphyrene Dichte, seine ägyptische Reminiszenz. Das ist erstaunlich; denn an sich könnte der Raum auch gotisch werden, und der englische Gruß im Chor der Nürnberger Lorenzkirche ist gerade dazu geschaffen worden, um den Raum zu singen, in dem er hängt, um den Raum singen zu lassen und in sich, gerade durch sein Hängen in der Mitte, den inneren Gesang seines Raumkörpers zu konzentrieren. Aber was die Glaswände angeht, die Stahlpfeiler, Betonvertikalen und die gleichfalls in der Mitte hängenden Bahnhofsuhren, so können sie über die bloße Atemfreude, die bloß angenehme Weite und völlig leblos bleibende, der Straßenreinigung verwandte Raumklärung nicht anders als vermittelst der Lüge der abstraktesten Konstruiertheit gegen Ägypten zu hinausgelangen. Allerdings, das Erstaunen hebt sich, sobald man erkennt, daß eben das Konstruiertsein das Tertium comparationis zwischen der Zweckform, Stilistik und Ägypten bildet, wenn auch im höchst verschiedenen Ausmaß der transzendentalen Beziehung. Beides, Zweck und Strenge, liegt dem griechischen Stil beständig nahe. Oder vielmehr, um homogen zu reden, wenn auch nicht die Zweckform als ein noch völlig unkünstlerisches, rein negatives Zufallsgebilde der Sauberkeit, so liegt doch sowohl das Nächste, das nach der Zweckform kommt und sie mit einem 31Sprung im Kunstgemäßen vertritt: das Biedermaier, wie das Oberste, das nach der konstruktiven Stilistik kommt, die Strenge und Kubik Ägyptens, dem griechischen Stil, dem Stil überhaupt, beständig nahe. Das eine, das Biedermaierliche, ist schon an den frühesten Steinwerkzeugen zu bemerken, es zieht seine reinlichen, praktischen Linien in Renaissance, Regence, Louis XVI. und Empire, um zuletzt, nach dem Abbau der Stile am Beginn des neunzehnten Jahrhunderts, gleichsam auf dem Boden zurückzubleiben, als stilistisches Minimum überhaupt. Das andere, das Ägyptische, hat sich zuerst bei den Ägineten und zuletzt beim Empire, bei der formalen Möglichkeit eines Einflusses der Pyramidenexpedition auf das Empire, hereingedrängt und bildet, so wie das Biedermaier die untere Grenze gegen den amusischen Zustand darstellt, den obersten Raum der transzendentalen Beziehung des griechischen Stils und damit der Stilistik überhaupt. Aber, was sich dahinter auftut, ist das weitere Verratenwerden an Ägypten, das nur so lange zu vermeiden ist, als das Leben beibehalten, und das kühle Dreieck des Giebels, das reine, gewiß nur aus Weltfrömmigkeit gewählte, aber auch von der Todesstrenge mitgeformte Rund des Bogens, überhaupt die ganze zwiespältige Symmetrie des griechischen und klassischen Stils in jener unscharfen, heimatlosen, untiefen, ungegenständlichen Immanenz festgehalten wird, die nur aus Entscheidungslosigkeit nicht zu Ägypten, dem Winterland, Totenland, Weltwinter, wie es in den alten okkulten Schriften genannt wird, und dem Ort der rein anorganischen Wertsphäre übertritt. Nun ist allerdings auch nicht unbedingt zu begrüßen, was warm und deutsch gebaut wurde. Denn dieses ist zweifellos, schon soweit hier das kleine Leben, Sprossen und Blüte, eingemischt ist, die schlechtere Form. Wie sich hier, was auf den merkwürdigen Grabplatten im Wormser Dom klar zu sehen ist, das Gestrüpp der Baumzweige unmittelbar zum Maßwerk verschlingen kann, so ist alles Deutsche zunächst bloß lebendig, es ist scheinbar insgesamt eine kleine, an das Mittelgebirge erinnernde, noch organische Landschaft der Gotik. Anders steht es in Italien und zum Teil auch in Frankreich, wo sich das Gotische gerade in der Breite, im kristallinischen Maßwerk, in den Türmen ohne Helme und der kräftigsten, dabei höchst mystischen Horizontale objektiviert. Man hat zwar bisher 32diese dahingelagerte Bauart nicht besonders geschätzt. Auch wir sehen etwas Tieferes, aber wir dürfen es uns nicht zu leicht machen, dieses nicht nur über dem Stil, sondern gerade über der Form Tiefere zu lieben. Indem man freilich die befreiten Gemütszustände des Betrachters in das Werk selbst verlegte, wurde entweder der Tanz und die schöne Heiterkeit Griechenlands oder die andersartige Leichtigkeit der nach oben weisenden, der dreifach unterstrichenen und mit allem möglichen rezeptiv-organischen Espressivo versehenen Transzendenz der deutschen Gotik zu der obersten künstlerischen Werkkategorie erhoben. Ganz anders liegt der Fall, sobald die Schwere als der wesentliche Zustand der anima figurata erscheint. Seitdem es die französischen Maler verstanden haben, wieder mit Farbe zu modellieren, überhaupt gesinnungsmäßig auf Giotto zurückzugehen und das kräftig zurechtgesetzte Insichruhen zu gestalten, ist das kleine, leichte Leben schlecht oder als eine im vollen Schwanken des Geästs dahinrollende Welt zum Rätsel geworden, und Phidias wird so dunkel, wie es früher Mykene, Ravenna oder Assissi war. Hier muß sich selbst die scheinbar durchgehends abstrakte orientalische gleich der gotischen Kunst eine Unterordnung ihrer verwirrten, also japanisch-malayisch-chinesischen, rokokohaft rezipierbaren Elemente unter die große Horizontale von Ägypten, Babylon, Byzanz und der romanischen Gotik gefallen lassen. Die breite Gliederung ist demgemäß durchaus nicht, wie dies noch in den griechischen Bauten und dem völligen Equilibre der Renaissance ja sogar, um nichts zu verwischen, gewiß auch in zahlreichen gotischen Möbeln, vor allem tirolischer und rheinischer Herkunft, und in den weltlichen Bauten der flandrischen Gotik scheinen mag, der Ausdruck der Diesseitigkeit, sondern ganz im Gegenteil, der Ausdruck der vollendeten Ruhe und reinen, fertigen, unendlich endlichen Immanenz. Und zwar einer Ruhe, die selbst die herniederfahrende, segenspendende Madonna der byzantinischen Apsis noch als Abstandsbewegung und umgekehrtes Barock ablehnen könnte, und die als vollendetes, das heißt als ein im Schillerschen Sinn naives Besitzen der Transzendenz dem Nu der letzten Gegenwart der Mystik zu vergleichen ist. Derart also gibt die horizontale Bauart gewiß den einleuchtendsten Begriff der großen vollendeten Kunst wieder. Daraus erklärt sich auch die Gering33schätzung, mit der noch Schelling von der deutschen Gotik als der bloßen rohen, »naturalistischen« Abbildung der Äste, Zweige, des Laubwerks und der unermeßlichen Krone eines gleichsam zur Stadt gewordenen Baumes spricht. Das liegt nicht nur an der klassizistischen Gesinnung, sondern es ziemt hier völlig ehrlich zu werden und zu bekennen, daß die organische Linie und der vertikale germanisch gotische Baugedanke zwar nicht dem Bauen als Äußerung, wohl aber jeder Begrenzung der Vision auf ihre Versinnlichung widerspricht und wie jeder Stilisierung, so auch jedem lückenlosen Formalismus, jeder Kunstdefinition der geschlossenen, material-formalen Immanenz, freilich nur dieser, zum Ärgernis und zur Torheit werden muß. —

Die Sehnsucht als Substanz

Aber man will nichts anderes als sich selber unabgelenkt sehen. Und dazu hilft, wie wir sagten, aufs Kräftigste schnitzwerkhaft zu denken. Denn das griechische Leben ist flach und das ägyptische, der begriffene Stein, ist tot. Aber das innere Leben glüht und stampft. Es treibt hinüber und macht seine Gestalten verschlungen, winklig, voreinander, übereinander gestellt und aufgetürmt. Es ist dieselbe Kraft, die sich in der Lava, dem Bleisturz im kalten Wasser, der Holzmaserung und zuhöchst in der zuckenden, blutenden, fetzenartigen oder sonderbar geballten Gestaltung der inneren Organe ausgewirkt hat. Man kennt die Verschlingungen, Schlangenleiber, Seepferde und einander zugeneigten Drachenköpfe in der nordischen Linienführung. Sie lassen sich an Stuhllehnen, friesischen Schranktüren und anderen Bauernmöbeln noch bis zum Anfang des neunzehnten Jahrhunderts verfolgen, und es gibt nichts, das sich diesem unheimlichen, fälschlich aus der Verlebendigung des Anorganischen abgeleiteten Pathos vergleichen ließe. Wenn jetzt überhaupt noch eine Rettung möglich ist, dann kann sie nicht anders als durch eine Wiederaufnahme dieser fast völlig vergessenen nordischen Linien geschehen. Alles, was blühen und üppig werden soll, muß bei den nordischen Gebilden in die Lehre gehen, und es gibt keinen Wirbel, keine Ausschweifung und keine baumeisterliche Gewalt mit den tief organischen Gesetzen dieser Ausschweifung, die nicht mit ihrem Haupt in der wilden, wolkengesättigten, mit allem Wehenden, musikalisch Ahnungsvollen und Unendlichen erfüllten Luft dieser nordischen Organik atmete. Zudem unter34liegt es seit Worringers glücklichen und beziehungsreichen Darstellungen keinem Zweifel, daß hier, in dieser Bandgeflechts- und Tierornamentik, die nordische Seele, der Weg und die Heimat der primitiven, expressiven Seele zugleich, ja die deutsche Renaissance, Barock und Gotik, die heimliche Gotik zugleich gegeben sind. Darin aber schlägt erst recht das Laubwerk zusammen, der wunderlichste Zierrat überzieht alle Flächen und beseitigt, überkraust die Wände, die leere, einfach nur raumschließende Kraft der Wände. Die griechische Linie traf nichts als das Lebendige in seiner äußeren Erscheinung, als die jedem sichtbare, geheimnislose, epidermale Organik und ihren leichten, geschmackvollen, vom inneren beseelten Gleichmaß her bestimmten Rhythmus. Die ägyptische Linie kennt überhaupt nur Strenge, und die Sophrosyne wird danach im Umschlag zur Geometrie, sofern hier im Stein nicht das Fleisch, sondern durchaus nur der Stein gedacht wird, gemäß dem Geist des Materials, der der Geist der Wüste oder der alpinen Landschaft und des ungeheuren Totentempels der anorganischen Natur ist. Dagegen die gotische Linie hat den Herd in sich; sie ist ruhelos und unheimlich wie ihre Gestalten; die Wülste, die Schlangen, die Tierköpfe, die Wasserläufe, ein wirres Sichkreuzen und Zucken, in dem das Fruchtwasser und die Brutwärme stehen und der Schoß aller Schmerzen, Wollüste, Geburten und organischen Bilder zu reden beginnt; nur die nordisch-gotische Linie trägt so das Zentralfeuer in sich, auf dem sich das tiefste organische und das tiefste geistliche Wesen zugleich zur Reife bringen. Das ist aber dem schwachen griechischen Leben so fremd als möglich, und zugleich das äußerste Gegenspiel zu den Ägyptern als den Meistern des Todes, als dem Blick, dem Gott noch mehr als Mauer wie als Hand erschien, als dem Land, in das Josef verkauft worden ist, als dem Geist des menschenleeren Astralmythos, den die Juden verlassen haben, um die große Traube aus Kanaan zu sehen. Also nicht die griechische, sondern die nordisch-gotische Linie ist das vollkommene organische Wesen, und nur mit ihr im Bunde konnte in allen überstilistischen Zeiten Ägypten, der konstruierte Stein durchgeschlagen werden, wobei das Romanische, Byzantinische, Gotische und vielleicht auch, von seiner ihm ja uneigentlichen Stilhaftigkeit abgesehen, das Barock den steigenden Triumph dieses 35organischen Überschäumens über den Kristall darstellt. Oder vielmehr, wenn man es nur an sich sieht, so ist das Barocke nichts als der neuzeitlich sentimentale Versuch zum Gotischen, aber wenn man es als ein noch nicht zu Ende Geführtes, Vorbehaltenes und Apriorisches wertet, so bildet das Barock eine neue, der Gotik überlegene, gegen den unbekannten, rein innerlichen Gott, gegen die Sehnsucht als Substanz und Ziel geöffnete Gegenstandsreihe und Objektivität. — Mithin: wir können nichts anderes als die endlose Linie wollen, ohne uns um uns selbst zu betrügen. Der Wald wandert an ihr in die Wüste, in den Kristall hinein und setzt diesen herab zu einem bloßen, längst schon ausgeglühten Hilfsmittel. Sie war als nordische Linie ein wirres Blühen und Drängen aus allem heraus, ohne zu wissen wohin; und ist erst als gotische Linie insofern zur echten, nicht nur organischen, sondern organisch-geistlichen Transzendenz abstrakt geworden, als über ihrer wild aufschwellenden Flut das große, sie ganz determinierende Gestirn des Menschensohns aufgehen konnte. So scheint uns hier über allem das Menschengesicht entgegen, Ornament und absoluteste Abstraktheit zugleich, sofern hier endlich das Ornament und nicht die Konstruktion transzendental wird, und der Geist des Schnitzwerks dergestalt statt des bloß Klaren endlich das Warme und Reine, statt des rein astralischen, von Mensch und Seele entblößten Sonnenumrisses endlich den Retter, Jesus, den Menschensohn, den Herrn und Führer des Seelenreichs, zum Prinzip seiner Deduktion gewinnt. In Summa: der Stoff ist gesprengt, das absolut Formmäßige, Konstruktive ist abgesetzt, der tiefste, freilich nur der tiefste Gegenstand regiert; und wenn man nicht dem Holz und der Holzkonstruktion des gotischen Steins, diesem ganz äußeren, nur erleichternden Vehikel, das nichts als bequem ist und auf dem nicht mehr wie bei der Steinkonstruktion Ägyptens der ganze Astralmythos fährt, eine völlig ungebührliche Bedeutung geben will, noch jenseits der geistreichen, schwierigen, aber durchaus nur heuristischen Anti-Steinlogik der gotischen Konstruktion: so wird nicht nur die stilistische, sondern auch die transzendentale Freude am Werk, an den auch gegenständlich brauchbaren Werkchiffren, als der prästabilierten Harmonie von Erlebnis, Stoff, Form und Dingmaterialität verschwinden müssen. Die Sucht nach dem Ausdruck 36erläutert gerade die wuchernde, vergewaltigende Ornamentkunst als die angemessenste Methode, den Menschen, diesen apriorisch aufgegebenen Gegenstand der gesamten Kunstgeschichte, zu treffen.

Methodisches

So zu urteilen, wie es bisher geschehen ist, heißt freilich nichts als für sich bestehend anzuerkennen. Es ist seit Riegl allerdings üblich geworden, das wertgemäß eingeordnete Nacheinander völlig auszuschalten. Das ist in vielem Einzelnen gewiß berechtigt. Selbstverständlich ist das kleine, schmale Verwerfen und Anerkennen der später Gekommenen nach dem, was ihnen gerade in den Gesichtskreis paßt, das beste Mittel, sich um den geschichtlich vorliegenden Reichtum zu betrügen. Aber ganz läßt sich das Auf und Ab nicht austilgen, wenn man nicht aus lauter Nachfühlung, aus lauter geschichtsloser Absolutheit in den skurrilsten Relativismus fallen will. Man weiß, wie häufig sich schon bei Kindern ein nicht anders Können als ein nicht anders Wollen verkleidet. Aber auch abgesehen von dem Fuchs und den Trauben braucht man hier durchaus nicht alles schön oder bedeutend zu finden, ja es ist sogar ein Zeichen, daß man von der wahrhaften Größe bisher fremder Zonen wenig verspürt hat, wenn man den Begriff des Verfalls und überhaupt jede Wertabfolge unterschiedslos aus dem neuentdeckten Gebiet verbannen will. Selbstverständlich ist das Kunstwollen nicht leicht durchschaubar, und die alten Robinsonaden oder die aufklärerischen Fiktionen der erwachenden Bildsäule, des sprachlosen Alalus oder des bewußt eingegangenen Staatsvertrags, überhaupt die fatalen Kategorien des Allmählich mit der genetischen Aufreihung in Vorstufen und klassische Muster werden von einem gewissen, aber nur von einem sehr hohen, als irrational hervorspringenden Punkt ab zur Banalität. Daß es aber nicht immer so ist, läßt sich beispielsweise sehr deutlich an den afrikanischen Schnitzwerken fühlen. Sie sind schön, sonderbar, bizarr, tief, aber doch zumeist nur so, daß man diese Schnitzwerke noch irgendwie begreifen kann, daß man genau so, wie man lebt und ist, all dieser Fremdartigkeiten sprunglos teilhaftig werden kann. Sie sind irgendwie gleitend, irgendwie untere Stufe und irgendwie einem afrikanischen Geist 37zugehörig, der, mag auch noch so viel Uneingeholtes zurückbleiben, doch im arabischen und ägyptischen Nordafrika nicht weniger laut geworden ist. Das läßt sich jedoch von den australischen Schnitzwerken nicht behaupten; hier sind Messergriffe, Trinkhörner und kleine, unendlich verkrümmte Schiffsgötzen zu sehen, dazu riesige, mehrere Meter hohe, zu den furchtbarsten Verkrampfungen ausgeschnitzte Gruppen, die die Begattung zwischen Menschen und Insekten darstellen, und die selbstverständlich jede Erklärung aus unserem Begriffskreis wie auch jedes Landenlassen oder Mediatisiertwerden durch China, durch den übrigen lemurischen Kulturkreis unmöglich machen. Man sieht, nur hier geht es echt zu, nur hier ist ein geistig Irrationales gegeben, das nicht in den Wechsel des Könnerischen, jederzeit Diskutierbaren in den Formen, in der Technik der Vermittlung fällt, das nicht zeitlich ist mit dem anderen, was zeitlich ist, sondern das unverwechselbar, einmalig, sprunghaft in sich vollendet vorliegt und so auch eine feste Grenze um jenes ganz eigentlich erst ungenetische Gebiet zu ziehen erlaubt, in dem allein die geschichtslose Absolutheit herrscht und sinnvoll ist. Hier erst hat man das unabweisliche Gefühl, dem Wesentlichen der primitiven Plastik gegenüber zu stehen. Jedenfalls aber lassen sich viele andere Gebilde bestimmten Anfangs- und Verfallszeiten zuordnen, wie sie in der Stümperei oder Schülerschaft ganzer Epochen, in verloren gegangenen Techniken und dem höchst genetischen Ringen mit dem Material deutlich zu verfolgen sind, gerade vom Standpunkt der immanentesten Kritik aus zu verfolgen sind, wenn anders nicht das Kunstwollen atomisiert und mit einem laxen Psychologismus und Positivismus sondergleichen von jeder kategorialen Gliederung, von jedem Bezug auf die ihm vorgesteckten phänomenologischen Spezies, von jedem Herrschaftsrecht immanenter, wenn auch unter sich unvergleichbarer Wertsysteme ferngehalten werden soll. Ja es ist sogar letzthin unmöglich, dem, was über dem Können und Technischen liegt, also dem jeweils Geistigen und Gegenständlichen der Kunst seine Geschichtslosigkeit zu garantieren. Auch das Feste wird wechselnd beleuchtet. Denn nicht nur vor, sondern auch in den Bildern bewegt sich das Licht. Gewiß, es ist richtig, was Kandinsky bemerkt: das Sprechenmüssen, das alles Unnötige, Äußerliche verwirft, gibt allenthalben den 38unveränderlichen Maßstab, um ein objet d'art, also eine Fälschung, auch wenn sie das Original, ihr eigenes Original ist, um dieses Errechnete, Untervisionäre, Ciceronianische oder auch Akribiehafte, wie es sich freilich dem nichts fühlenden, bloß denkerischen Ich empfehlen mag, von einem Kunstwerk zu unterscheiden; ganz gleich, ob das Bild noch naß auf der Staffelei steht oder ob es als jahrtausendalte Wandmalerei ausgegraben worden ist. Aber das hindert nicht, daß die großen Formen ein Nacheinander zeitlicher Art haben, jenseits dieses an sich noch künstlerisch leeren, zumindesten gegenständlich undeutlichen Bauhorizonts. Sie könnten aber nicht zeitlich sein, wenn es wirklich zeitlose Werte gäbe, wenn also ihre Gegenstände, jenseits der Formvermittlung, ein gänzlich zeitloses, weltüberlegenes Oben innehätten. So jedoch ist das Höchste, das zu erreichen ist, immer noch nicht das Letzte und bewegt sich deshalb auf dieses Letzte zu, trotz des Schopenhauerischen Satzes, daß die Kunst überall am Ziel sei. Dazu gibt es sogar in dem gegenständlich überlegenen religiösen Gebiet eine Parallele: ich wollte, es brennte schon, sagte Jesus; aber statt dessen konnte und mußte die Lehre Christi in die Zeit eingehen, Geschichte haben und in der Geschichte leben, entsprechend dem ebenfalls noch Zeitlichen, Prozessualen und Undefinitiven ihrer Verkündigung und ihrer nur erst relativen, »theogonischen« Apriorität. Hier spiegelt sich also durchaus eine obere Geschichte in der niederen Geschichte, sofern eben der alte Gegensatz zwischen dem Werden und dem Sein, zwischen der genetischen und der transzendentalen Methode, zwischen der Sinnenwelt und der Ideenwelt, zwischen der Geschichte und dem Apriori unhaltbar in seinem Panlogismus geworden ist und die Geschichte selbst in die Metaphysik als Stellungswert des Nacheinander und Geschichtsphilosophie des Apriori eingeführt zu werden fordert.

System des Kunstwollens

Dieses aber läßt auf andere Weise teilen.

Es gibt ein Eingedenken, das jedem Abschluß hinderlich ist. Derart kommt aber auch in das einfach nur Abstrakte, wie es als Wertbegriff des gebundenen, geistig abgezielten Kunstwollens eingeführt worden ist, eine deutliche Bewegung. Und zwar 39gemäß dem Unstarren und doch Abstrakten der Gotik wesentlich mit dem Ergebnis einer Doppelform, eines ägyptischen und eines gotischen Inhalts dieser Abstraktheit.

Denn es gibt nicht nur entweder das Auszieren oder das Umreißen zu wollen. Sondern es sind mindestens vier Dinge, die der Wille zum Kunstwerk in sich trägt, und das Vierte ist das Wichtigste, wenn man auch im Bild die Tiefe sucht.

Man will sich selbst bezeichnen. Das ist das erste Streben. Aber dazu muß man sich von sich abhalten. Man will so wenigstens in der von uns abgehaltenen Form dorthin gelangen, wo wir nie hingekommen sind und alles Unerlebbare, wenngleich unserer allein Würdige auf uns wartet. Das ist das zweite Streben, der Wille zur Form. Aber der schwache Leib kann allein nicht leben und greift nach einer Schale. Was der Einsiedlerkrebs begonnen hat, führt der bauende Mensch in der Technik und in der dynamischen Komponente der bildenden Kunst weiter. Denn das bloß Lebendige zehrt und ist der geprägten Form nicht günstig. Es war niemals möglich, den Umweg über den Stein als das dem menschlichen Gegenstand fremdeste Material zu vermeiden. Nicht nur, weil es kein lebendiges Gewebe gibt, das als dauernder Träger dienen könnte, sondern weil der Träger, wie an jedem Bronzeschwert oder jedem Dialog zu sehen ist, um so mühevoller stilisiert werden muß, je näher sein praktisch reales Vorkommen dem künstlerisch realen Vorkommen steht, je weniger also schon das artfremde Material als Isolierschicht zwischen der wirklichen und der ästhetisch gereinigten Realität zu verwenden ist. Aber diese erste Mühe des Umbildens ist doch nur um den Preis erspart, daß sich dahinter die eigene Sprache des gegenstandsfremden Materials zu regen beginnt, um nun gerade das Blut und die Seele, diese dem Stein wesensfremdesten Inhalte, der Welt und den Formprinzipien des Steines zu unterwerfen. Alles, was man getan hat, um Blühen und Auftrieb hineinzubringen, die Pfeiler, die Wölbungen und die gesamte Reihe der geistigen Lösung des Baustoffs nach Kraftrichtungen kann zwar die Plumpheit der homogenen Mauermasse rechnerisch, aber unendlich viel schwerer auch metaphysisch durchdringen oder, genauer gesagt, so durchdringen, daß in der vollendeten Kunst das Heimweh und das von Jesus angezündete Feuer bewahrt bleibt. Nach außen geht hier 40der geheimnisvolle Weg, zu den Steinen oder in den Tod hinein, und es ist furchtbar zu sehen, auf wie weite Strecken hin das benutzte, emporgedrehte Material die Formen färbt, in die es mündet. Dabei zeigt sich letzthin in völlig eklatanter Weise, daß die Form, die kunstgewerblich zunächst nur dürftig streng macht, die in der Dichtung überwiegend nur den Stilcharakter, das untere Künstliche, Unwesentliche, selber Unfruchtbare, Unvisionäre, Hilfskonstruktive bezeichnet, und die nur in der Musik hie und da die Gefahren einer fremden, vergangenen Zahlenmystik, diesseits des sich selbst Zählens der Seele heraufbeschworen hat —, daß diese lückenlose Formhaftigkeit in den bildenden Künsten gerade den Stein wiedergebärt, ihn also nicht nur als Stoff bearbeitet, sondern vermittelst der Blockeinheit, konstitutiven Strenge und Konstruktions-»Wahrheit« dieses transzendental geladene Material auch als Gegenstand rezipiert. In keinem anderen Gebiet ist die Form so enge und bedenklich mit ihrem Material als dessen transzendentale Dingspezies, als Chiffre für seine Menschenleere oder für die architektonisch wiedergeborene Physis verbunden. Wo es lebendig zugeht, wird der Weg von dem Menschen bis zu dem, was des Menschen ist, unabgelenkt begangen. Wo es aber anorganisch zugeht (und es ist leichter im Stein bis zum Ende anorganisch zu bleiben), wird das mathematische Wesen zuletzt zu einer heiligen Mathematik emporgedreht, die die Sprache des Granits und Lichtes und aller dem physischen Material eingeschriebenen Ordnung überhaupt enthält und daher letzthin in dem Astralmythos landet. Hier schlägt der Stoff über die ziehenden Geschlechter einen Bogen, um letzthin eben mittelst dieses seines dauernden, toten Materialcharakters die Natur einzumischen oder herbeizutragen und sie, die darin gehobene anorganische Natur, als das Vehikel und Symbol der Ewigkeit oder des in sich ruhenden Weltkreises zu gestalten. Wenn wir zuerst, solange wir uns wollten, frei waren, so sind wir im Zweiten, sobald wir das Werk wollen, Knechte geworden, und zwar die Knechte des Materials, das wir erst recht wollen müssen, wenn überhaupt feste Abszissen und Ordinaten für das Bild entstehen sollen. Damit werden wir aber nicht nur in eine öde, verrufene und durchaus nicht gesuchte Gegend gelockt, sondern die ganze erste oder auch zweite Absicht unseres Auszugs ist zu41gunsten eines aufgezwungenen Schalenziels, Stoffziels vergessen. Die ursprünglich organische Wegrichtung wird fast ohne die Spur einer Erinnerung aufgegeben oder vielmehr zugunsten des fremdgesetzlichen, uns strikt entgegengeltenden Ziels eines Dritten, einer anorganisch abstrakten Konstruktion verlassen. Es lastet überdies noch etwas in den menschlichen Gestalten und in der darzustellenden Welt, das nach unten sieht und mit dem Kopf in der Erde steckt, das von selber dem Stein entgegenkommt und ihm Recht gibt, ohne sich zu wehren, ja das in der baulichen, letzthin astralmythisch deduzierten Mathematik seinen viele Blätter zurückschlagenden, sich selbst gleichsam aufrollenden Glauben besitzt. Wo es also rein konstruktiv zugeht, wie in Ägypten, diesem ewigen Muster aller absoluten Formarchitektur, steigt ein längst vergessenes Grundwasser wieder auf, so daß sich, weit gründlicher als in dem leeren Ruhm der sogenannten Naturschönheit, eine Art Mineralogie höherer Ordnung, eine Art zweiter, über alles hinausgehobenen Naturphilosophie in der Sphäre der Ästhetik zu instituieren droht.

Aber das Ich treibt weiter. Denn es besitzt den Wechsel auf das Ende. Das ist freilich nicht aus den griechischen und italienischen Einfühlungen zu gewinnen. Hier ist, wie deutlich genug zu erkennen war, alles gedämpft oder aus beidem zugleich pflanzlich und symmetrisch so lange gemischt, bis das ruhige Wetter der begleitenden Schönheit, der Schönheit als Ordonnanz entstand. Daher sind überall dort, wo man den eigentlich organischen Zug sucht, Griechenland und die Renaissance als die bloß auf Freude, Takt, Maß gestellten Stile zu überschlagen. Das Gesetz hat noch keinen großen Mann gebildet, aber die Freiheit brütet Kolosse und Extremitäten aus. Und darum muß der Zierrat als Umriß, der erreichte organische Sättigungsgrad, die Bereitschaft zur organisch-dynamischen Funktion, die bewahrte organische Bindungskraft oder Valenz in oder vielmehr jenseits der Konstruktion — im Nordischen, Gotischen und Barocken als den reinen Aussagen der Subjektivität an ihr selbst gesucht werden. Es gibt also noch ein anderes Zieren zu wollen. Es treibt und gärt hier in den Steinen, mit uns zu blühen, unser Leben zu haben. Denn es geht nicht an, sich auszulassen, wenn man mit den Kräften des Menschensohns in sich baut. Und es gibt nichts, das krankhafter und unseliger 42wirken könnte als das bewegungslos Typische in den ägyptischen Gesichtern und Statuen. Wenn uns auch die ägyptische Form noch so beruhigt und streng erscheinen mag, so ist es doch ein Leichtes, das Furchtsame und Nervöse aus ihr herauszufühlen, das aus dem sich verschweigen Müssen der Seele und aus dem namenlosen Schrecken Ägyptens vor dem breiten, erdrückenden, in der Quantität verschlossenen Gott des Weltalls spricht. Denn von einem völligen Opfer des inneren Buchs konnte keine Rede sein: man war schon dadurch, daß man Pyramiden baute, weil man noch keine Menschengeschichte besaß, auf dem Wege zu einem Aufstand, zum Ausspielen gegen den unendlichen Druck der Natur. Dazu kommt, daß schon damals die Seele den astrologischen Ring zu sprengen suchte, daß Nebel, Feuer, Wanderungen, Luzifer, Totenrichter und Moralprobleme in fernen, fremdartigen Zirkeln heraufkamen, ja daß das Leben der Gestirngötter allein schon durch das Bewußtsein seiner als eines Vorgangs vor der Erschaffung des Menschen und eines astralischen Mythos bereits als geschehen, durchschritten, unwahr oder wenigstens als keineswegs endgültig wahr erscheinen mußte. So führt dies hin auf die Gebilde, in denen endlich das Vierte, wieder Organische, organisch Abstrakte geschieht. Ob das ein Auszieren oder ein Umreißen ist, wird hier, wo beides zusammen in einem geschieht, belanglos. Es ist der endlich frei gewordene Zierrat, das geschehende Ornament mit seinem ihm eingeborenen organischen Wesen als Konstruktion zugleich, wie es allen Umriß einverleibt, überflügelt und sich wie die Konstruktion aus dem sich selber Sehenwollen als dem rezipierten Ersten im Vierten deduziert. Wenn man also dennoch namentlich entscheiden soll, ob hier das Auszieren oder das Umreißen vorherrscht, so wird man sich an das Überwiegende in diesem Zusammen zu halten haben und dann allerdings sehen müssen, es ist noch mehr Ornament als Konstruktion darin, es ist die Einfühlung auf einer ganz neuen Stufe, es ist die Herabsetzung der gegenstandslos gewordenen Konstruktion zum bloßen Hilfsmittel der Äußerung und Werkäußerlichkeit überhaupt, es ist die Erzeugung der Konstruktion aus dem Ornament und die Erzeugung des Ornaments aus dem sich selber Sehenwollen als jenem letzthin organischen Konstruktionsprinzip, von dem alles Formen vor der materialen Ablen43kung ausging. So kann damit das nach außen gebrachte Innere, mithin das Organische höherer Stufe, das Organische in Abstraktheit und das leise Wiedersehen des Ich mit dem Ich, der Ich sein werde, als gotische Entelechie der ganzen bildenden Kunst geschehen. Die Steine blühen hier und tragen Früchte, der Atem der Lebendigkeit, lange verschwiegen, reicht bis an das Ende und darüber hinaus. Hier wird endlich der Mensch, in seinen Toten noch, wie Jean Paul sagt, das eingelegte und in seinen Lebendigen das erhabene Bildwerk der Erde, als Pointe des Alls gepriesen. Hier herrscht jene schöne Wärme, in der die lebendige Seele nicht erstickt, die Wärme der Geliebten und das Licht, das von der Blume, von aller Mägde Luzerne ausgeht, die schöne Wärme, in der die lebendige Seele durch Demut und Andacht die beiden Hüter der Schwelle besiegt und gleich dem Jesuskind selber von der gotischen Maria in die Arme genommen wird. Denn es jagt und wuchert in diesen Steinen, nirgends werden wir verleugnet, nirgends wird der einschließenden Kraft des Materials ein mehr als reflexiver Tribut gegeben, die Mauer ist geschlagen, die bunten Fenster führen in endlose Landschaften hinein, wir stehen mitten in der Liebe, von den Heerscharen umstellt, ja die Gewänder und Mienen der Heiligen nehmen selber alle raumschließende Kraft an sich, es ist ein steinernes Schiff, eine zweite Arche Noah, die Gott entgegenfliegt, die Spitze des Turmes verwandelt sich zur Kreuzesblume als dem mystischen Kehlkopf, der das Wort des Sohnes empfängt, und über all diesen Wundern — »wie führt mich jeder Schritt so weit!« »Das ist ein tief Geheimnis, zum Raum ward hier die Zeit« —, über all dieser unendlichen Verwirrung der Linie lächelt Maria so süß und weise, daß sich die Gräber erhellen, daß sich die fernen mystischen Kammern bereiten und auch dem niedrigsten der Brüder die restitutio in integrum erleuchtet steht. Gewiß ist vieles unförmlich an diesen Domen, an diesen Dombildungen aus menschlicher Gestalt, aber es ist die Unförmlichkeit zwischen unserem Herzen und unserer Welt. Was sich zuerst so dunkel gab, die ganze Unruhe, Mischung und Unentschiedenheit der normannisch-germanischen Bauweise, jene Sucht, in der sich das Niedere erhöht sehen will und eine aus dem organischen Gestaltungsprinzip stammende Ornamentreihe gegen die aus dem kristallinischen 44