Geisterball - Wolff-Christoph Fuss - E-Book

Geisterball E-Book

Wolff-Christoph Fuss

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Beschreibung

Deutschlands beliebtester Fußballkommentator über die wohl denkwürdigste Bundesliga-Saison aller Zeiten

Auch in Zeiten von Corona wird Fußball gespielt. Doch die Fans müssen größtenteils draußen bleiben aus den Stadien. Aber wenn kaum jemand auf der Tribüne sitzen darf, gibt es besonders viel zu erzählen: neue Geschichten, neue Dramen, neue Pannen, neue Lacher, neue Tränen. Deutschlands populärster Fußball-Kommentator Wolff-Christoph Fuss ist von Geisterspiel zu Geisterspiel gereist und berichtet von leeren Arenen, Dramen auf dem Rasen und drumerherum und einem Traumfinale in der Champions League. Mit Mund-Nasen-Schutz, aber ohne Maskerade zeigt er, warum der Fußball gerade jetzt für uns alle so wichtig ist. Ein Fuss-Ball-Buch mit Witz, mit Charme, mit Inhalt.

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Seitenzahl: 223

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Buch

Neue Geschichten, neue Dramen, neue Pannen, neue Lacher, neue Tränen. Dies alles eingebettet in das außergewöhnlichste Fußballjahr aller Zeiten. Wolff-Christoph Fuss erzählt von einem Fußballjahr im Zeichen von Corona und von Erlebnissen rund um die größten Spiele der letzten Jahre. Von Elfmeterdramen hinter Gittern bis hin zum Triumph des FC Bayern in der Champions League. Mit Mund-Nasen-Schutz, aber ohne Maskerade. Ein Fuss-Ball-Buch mit Witz, mit Charme, mit Inhalt.

Autor

Wolff-Christoph Fuss gilt als populärster TV-Fußballkommentator des deutschsprachigen Raums. Seine Kommentare wurden mehrfach ausgezeichnet und sind in ihren zu geflügelten Worten gewordenen Gipfelpunkten bei Fans und Zuschauern in aller Munde. Er ist seit nunmehr über 20 Jahren fürs Fernsehen tätig: DSF, Sport1, Premiere, Sat.1, seit 2012 für Sky. 2014 veröffentlichte er den Bestseller »Diese verrückten 90 Minuten. Das Fuss-Ball-Buch«.

Wolff-Christoph Fuss

GEISTERBALL

Meine irre Reise durch verrückte Fußballzeiten

Das neue Fuss-Ball-Buch

C. Bertelsmann

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© 2020 C. Bertelsmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-27762-8V002

www.cbertelsmann.de

Für Emmi und Milla

Inhalt

Prolog

Das Ende

Die Pause

Es geht wieder los

Untiefen vor dem Neustart

26. Spieltag – Das neue Normal

27. Spieltag – Maskenball

28. Spieltag – Der Geisterklassiker

29. Spieltag – Der Kaffeepott in Paderborn

Nachholspiel

30. Spieltag – Schalke-Wochen und Fans im Revier

DFB-Pokal – Jetzt geht’s ans Eingemachte

31. Spieltag – Störenfriede und Muskelgruppen

32. Spieltag – Die geplatzte Hose

33. Spieltag – Besondere Nächte in Anfield

Der letzte Spieltag – Vollendete Tatsachen

Europa-Maske – Das Triple

Das nächste neue Normal

Epilog

Dank

Prolog

»HEUTE wird Geschichte geschrieben.« Ein im Sportjournalismus inflationär verwendeter Satz, der die Hoffnung auf ein großes Spiel ausdrückt und kaum je in Erfüllung geht. Der »Eintrag in die Geschichtsbücher« – ein ebenso oft verwendeter Spruch – klingt dann auch weitaus opulenter, als es sich in Wirklichkeit verhält. Niemand wird in 2000 Jahren bei Ausgrabungen ein Buch finden, in dem beispielsweise steht: »Im Jahr XY gewinnt zum ersten Mal Verein XY alle seine Heimspiele in der Hinrunde.« Und kein Mensch der Zukunft wird staunend vor diesem Buch stehen, das Gestein vom Deckel klopfen und den Staub aus den Seiten pusten, anerkennend mit der Zunge schnalzen und voller Staunen zu sich sagen: »Meine Güte, was waren das bei XY doch für Teufelskerle damals!« Kurzum, es gibt dieses Buch nicht. Es gibt statistische Datenbanken, die dann auch während Fußballübertragungen im entsprechenden Fall Alarm schlagen. Versehen mit dem Zusatz: Das gab es soundsolange nicht, oder: Das hat es so noch nie gegeben. Es sind künstlich herbeigeführte Erhöhungen, die ein Kommentator tatsächlich meist vollkommen unbewusst so an den Zuschauer weitergibt.

Es gibt Spiele, da sagt ein Fußballreporter: Heute wurde Geschichte geschrieben. Hier paaren sich im Rückblick Demut und Ergriffenheit, einhergehend mit der Erkenntnis, welch großes Privileg es doch gewesen ist, dieses bestimmte Spiel begleitet haben zu dürfen. Wenn ich meinen persönlichen Fundus der jüngeren Vergangenheit so durchgehe: epische Duelle zwischen Bayern und Dortmund; 2019, als Liverpool den FC Barcelona aus der Champions League warf; das Jahrhundertderby 2017. Etc. pp. Ehe ich mich verliere – von all dem wird in diesem Buch auch die Rede sein. Häufig geht es um spektakuläre Verläufe, vollkommen abgedrehte Dramaturgien oder Titel und Meisterschaften. Zeugen des Spiels können sich hierbei nicht selten noch minutiös an den kompletten Tagesablauf erinnern. Zumindest bis zu dem Zeitpunkt, als möglicherweise erhöhter Alkoholkonsum die Erinnerung besiegte. Ab dem Zeitpunkt war es dann einfach nur noch schön, oder eben nicht mehr. Oder beides.

Nüchtern betrachtet kommt es so gut wie nie vor, dass ein Fußballfan schon vor dem Spiel weiß, dass er gleich etwas Historisches erleben wird, ohne die Bestätigung der folgenden 90 Minuten und des Ergebnisses dafür zu brauchen. Dies änderte sich im Frühjahr 2020. Da wusste er es. Er wusste es, ohne im Stadion gewesen zu sein. Er wusste es, ohne überhaupt ins Stadion zu dürfen. Am 13. März 2020 wurde Bundesligageschichte geschrieben. An diesem Tag wurde erstmals ein kompletter Spieltag abgesagt. 72 Stunden später verlängerte die Deutsche Fußball Liga die Pause bis mindestens zum 2. April. Am 17. März verschob die UEFA die Europameisterschaft für den kommenden Sommer um ein Jahr.

Schon da sickerte durch, dass ein Saisonabbruch in Tateinheit mit dem damit verbundenen Einbehalten der Fernseh- und Sponsorengelder für viele Clubs das ökonomische Ende bedeuten würde. Ein florierender Wirtschaftszweig wie der Profifußball in Deutschland am Ende. Ist das denkbar? Die Liga vor dem Aus, und in 2000 Jahren wird man sagen: Bundesliga? War da mal was?

Es dauerte schließlich bis zum 16. Mai, bis sich der Vorhang wieder öffnete. Danach neun Spieltage in leeren Stadien, mit der Aussicht auf das womöglich spannendste Meister-Finish der letzten Jahrzehnte. Und was wird eigentlich aus der Champions League? Das alles inmitten der schwersten Krise seit Ende des Zweiten Weltkriegs, in Deutschland und weltweit. Es klingt vollkommen surreal. Eher nach Hollywood-Blockbuster denn nach Wirklichkeit.

Verantwortlich war ein Virus, das erst Corona hieß, dann Covid-19, schließlich SARS-CoV-2. Virusfamilie, Atemwegserkrankung (Coronavirus Disease 2019), Erreger-Virus (Severe Acute Respiratory Syndrome Coronavirus 2). Ja, in Zeiten der Pause hat dieses Land auch einen Crashkurs in Virologie belegt – ich bin dafür selbst äußerst empfänglich. Für Fachtermini aus verschiedensten Sparten bin ich stets dankbar. Im wahren Leben verschoben sich die Prioritäten, beziehungsweise sie wurden richtig sortiert. Das alte Bill-Shankly-Zitat, es gehe um mehr als um Leben und Tod im Fußball, wurde einmal mehr der maßlosen Überhöhung überführt. Die wahren Helden stehen nicht auf dem Fußballplatz, sondern sind die tragenden Säulen dieses Landes, auch wenn gerade kein unbekannter Erreger vorbeischaut. Medizinische und soziale Pflegekräfte – Menschen, welche die Grundversorgung garantieren. Denen nicht Woche für Woche 80 000 Zuschauer zujubeln. Fairerweise muss man allerdings hinzufügen, dass sie bei einem falschen Handgriff auch nicht im Wochenrhythmus von 80 000 ausgepfiffen und beschimpft werden. Auch all jenen ist dieses Buch gewidmet. Die Kunst dieses Sports ist es, magische Momente zu kreieren, Helden für 90 Minuten zu erschaffen. Die dann bei den Zuschauern ein plötzliches Wohlgefühl auslösen, oder auch spontanen Ärger. Ob jetzt mit Fans im Stadion oder ohne.

Der Fußball ist ein wichtiger Teil dieser Gesellschaft – die schönste Nebensache, von den unwichtigen Dingen die vielleicht wichtigste. Er sollte innerhalb dieser sechs Wochen ein Stück Normalität zurückbringen. Er sollte wirtschaftlich überleben. So entstanden sechs Wochen Bundesligageschichte, sechs Wochen deutscher Geschichte. Neun Spieltage, eingebettet in eine schwierige, oft existenzbedrohende gesellschaftliche Lage. Im Anschluss daran als absolute Novität ein Finalturnier in der Champions League von faszinierender Dramatik. Überlagert von einem Virus, über das zu viele Menschen zu wenig wissen, was sie nicht hinderte, sehr viel darüber zu reden. Das Gesamtszenario war ernst, aber eben nicht nur. Es war dramatisch, aber eben nicht nur. Es war auch skurril und lustig und traurig und fröhlich und spannend. Es war fast wie immer, nur besonders.

Das Ende

FREITAG, 13. März 2020. Das Derby Dortmund gegen Schalke, das ich am nächsten Tag kommentieren sollte, ist also abgesagt. Noch am Tag zuvor hatte es geheißen, alles finde wie geplant statt. Ohne Zuschauer, versteht sich, aber ja, es finde statt. Noch am Vormittag des 13. mussten sämtliche persönliche Daten für die Akkreditierung im Dortmunder Stadion hinterlegt werden. Das kannte ich für gewöhnlich nur von Champions League Finals oder großen Turnieren. Und dort waren eher Sicherheits- als Gesundheitsaspekte der Grund. Die Frage »Hast du Fieber?« war mir durchaus schon im Rahmen von Fußballübertragungen gestellt worden. Allerdings eher während oder nach, nicht aber vor den Spielen. Jedenfalls war auch geplant, jeden der circa 350 handverlesenen Anwesenden einer Fiebermessung zu unterziehen und beim kleinsten Anhaltspunkt für erhöhte Temperatur einen unmissverständlichen Platzverweis zu erteilen. Aber mit Pauken und Trompeten. Vielleicht würde man auch umgehend festgenommen und beim Gesundheitsamt Dortmund in einem Kellerverlies in Gewahrsam genommen. Bei Brot und Wasser gehalten, und in regelmäßigen Abständen kommt einer in Imker-Montur vorbei und misst die Temperatur. Wer weiß das schon? Und das alles nur wegen ein paar mutierter chinesischer Fledermäuse, die über Ischgl nach Heinsberg kamen. Warum auch immer, und wie auch immer. Geflogen, wahrscheinlich. Der Kreis Heinsberg liegt nicht weit weg von Dortmund. Viele BVB-Fans wohnen dort, auch Schalker, auch Gladbacher. Am vorangegangenen Samstag spielte Mönchengladbach gegen Dortmund. Vor Zuschauern. Ausverkauft, klar, weil Borussia-Duell, weil Meisterschaftsduell. Trotzdem wurde es Zuschauern aus dem Kreis Heinsberg freigestellt, das Spiel zu besuchen. Sie durften ihre Karten zurückgeben, umtauschen, bekamen ihr Geld zurück oder erhielten stattdessen Gutscheine für ein kommendes Spiel ihrer Wahl. Viel Kulanz und viel Tamtam um einen Schnupfen. Dass das durchaus seine Berechtigung hatte, war im Kreis Heinsberg da bereits klar, weil dort schon tagelang Menschen von Medizinern in voller Vermummung getestet, untersucht und behandelt wurden. Unter Quarantäne standen, sich in häuslicher Isolation befanden, intensivmedizinisch versorgt werden mussten, an den Folgen verstarben. Von wegen Schnupfen.

Ich kommentierte am Mittwoch vor dem Derby Paris Saint-Germain gegen Borussia Dortmund. In der Champions-League-Konferenz für Sky. Vor Geisterkulisse. Es gab in der schwarz-gelben Delegation nicht wenige, die das für übertrieben hielten. Einige tausend Anhänger von PSG versammelten sich rund um den Parc des Princes. Vorschriftsmäßig mit Bengalos im Turnbeutel. Dicht an dicht. Bereit, den Viertelfinaleinzug mit der Mannschaft zu feiern. Die Polizei übte sich in deeskalierender Zurückhaltung. Im Stadion verzweifelte die Dortmunder Mannschaft am Schweigen von den Rängen. Ein teilnahmsloser Ritt des Dortmunder Ensembles. Bei einer Atmosphäre wie beim Feierabendkick auf der Betriebssportanlage. Durchaus ergebnisorientiert, aber mit deutlich größerem Interesse nach einem langen Tag an Hochgeistigem nach Abpfiff. Dortmund schlich erst durchs Spiel und dann von dannen. Paris unter Trainer Thomas Tuchel stürmte erst durchs Spiel und dann in den Stadionumlauf, um mit den ab diesem Zeitpunkt endgültig eskalierenden Fans den Viertelfinaleinzug zu feiern. Erstmals seit vier Jahren. Im Parallelspiel an diesem Abend empfing der FC Liverpool zeitgleich Atlético Madrid. Das Stadion an der Anfield Road war randvoll. In vielen Belangen. Die Anhänger des Titelverteidigers waren bereit für eine magische Nacht und willens, alles dafür zu tun. Es war ein großer Abend. Es war zeitweise magisch, oft typisch stimmungsvoll, und doch sollte am Ende dieses Abends Diego Simeone die Cojones seiner Spieler lobpreisen. Diese hatten das emotionale Stahlbad Anfield Road siegreich überstanden. Jürgen Klopp und der FC Liverpool würden sich von nun an ausschließlich auf den Titelgewinn in der Premier League konzentrieren können. Den ersten seit 30 Jahren. 25 Punkte Vorsprung zu diesem Zeitpunkt auf den Zweiten, Manchester City. Goodness me, das wird die Party des Jahrtausends in Liverpool. Für diesen Abend allerdings standen die Erkenntnisse: Klopp raus, Dortmund raus, und Geisterspiele sind scheiße! Unterstützt wurde dieser Eindruck durch das Rheinderby am frühen Abend. Mönchengladbach gegen Köln. Ein paar Delegationsmitglieder beider Clubs saßen auf der Tribüne. In weitestgehend willkürlichen Abständen. In kleinen Gruppen oder alleine, je nach Gusto und üblichen Sehgewohnheiten. Ein behördlich angeordnetes Geisterspiel. Das erste der Bundesligageschichte. Auf den Tribünen keine Ultras in Maleranzügen, keine Entscheidungsträger im Fadenkreuz, keine Präsentation gestohlener Fahnen, kein Platzsturm. Ein paar Dutzend Kölner Ultras waren am Nachmittag grölend durch Mönchengladbach marschiert. Einige Hundert Gladbacher feierten nach Abpfiff den Derbysieg am Stadion.

Mittlerweile liegt jedes Bundesligaspiel unter dem statistischen Mikroskop. Dem Spiel wurde nachgewiesen, dass ungewöhnlich wenige intensive Läufe aus- und intensive Zweikämpfe durchgeführt wurden. Praktisch keine Provokationen auf dem Platz, wenig Lamentieren, kaum Schauspielereien. Lächerliche drei gelbe Karten. Zwei für Foulspiel, eine für Spielverzögerung. Der Boulevard wollte ein »Kuschelderby« gesehen haben. Auch den Protagonisten fehlte es im Spiel ohne die Fans im Stadion an der »entscheidenden Würze«. Das alles habe mit Fußball oder Derby nur sehr am Rande zu tun gehabt, hieß es, unter anderem sogar vom Schiedsrichter des Spiels, Deniz Aytekin.

Mein Heimatsender Sky hatte sich sehr früh mit der Corona-Problematik auseinandergesetzt. Die Champions-League-Sendung zum Spiel von Dortmund in Paris fand bereits ohne Studiopublikum statt, und jeder, der die Sendezentrale in Unterföhring betrat, musste schon Anfang März die Prozedur einer Körpertemperaturmessung über sich ergehen lassen. »36,5«, fachsimpelte mir also unser messender Sicherheitsmitarbeiter entgegen, als ich an besagtem Abend das Studio betrat. »Alter Schwede! Kalt wie eine Hundeschnauze!«, entgegnete ich. »Sie hom a gscheide Untertemperatur!« Ja, so sind sie, die Bayern. Kernig im Ton und messerscharf in der Anamnese. »Da trinkst en Glühwein, dann bist voll dabei!« Und offensichtlich auch mit klarem therapeutischem Blick. Ich nahm seinen Hinweis zur Kenntnis, wenngleich ich im Sinne einer unfallfreien Übertragung auf diese Form der Medikamentierung verzichtete. Wie immer, das möchte ich hier gerne hinzufügen. Dementsprechend untertemperiert beging ich die Übertragung des Spiels Paris gegen Dortmund. Immerhin schien meine Temperatur zu den folgenden 90 Minuten aus dem leeren Prinzenpark zu passen. Der Wahnsinn tobte parallel in Anfield, der Heimat des Fiebers. Als ich später am Abend nach Hause kam, hatte sich die Temperatur in Richtung 37 °C bewegt. Ich nahm es ein wenig überrascht, aber doch auch beruhigt zur Kenntnis. Gesundheit schadet nicht.

So arbeitete ich mich also dem Revierderby entgegen. Mit normaler Temperatur und sinnierend darüber, was mich da am Samstag erwarten würde. Kein Spiel in Deutschland lebt so sehr von Emotionen, von der Nähe, von der Rivalität, von der Hingabe zweier Traditionsclubs. Mit bundesweiter Strahlkraft. Mindestens. In der Regel erfüllt dieses Spiel sämtliche Erwartungen. Manchmal sprengt die Partie auch jeden erwartbaren Rahmen. In der Saison 2018/19 fügte Schalke den Dortmundern die einzige Bundesliga-Heimniederlage des Jahres zu. Ein abstiegsbedrohtes Schalke hatte keine Erwartungen mehr an die Saison, außer der, den Kollegen die Meisterschaft zu versauen. 4:2-Sieg, praktisch ohne Vorwarnung. Mission erfüllt. Der Jahrhunderttrainer Huub Stevens hatte in Feuerwehrmann-Manier seinen Königsblauen auch diesen letzten Gefallen getan. Oder im November 2017: ein Duell, das als Jahrhundertderby in die Geschichte eingehen sollte. Ich war seinerzeit mit Ulli Wegner im Stadion, sollte mit ihm am gleichen Abend aus Oberhausen auch noch einen WM-Kampf im Schwergewichtsboxen kommentieren. Er ist einer der erfolgreichsten Boxtrainer weltweit. Er wollte sich, verständlicherweise, nachmittags das Derby nicht entgehen lassen. Das war der Wahnsinn in 90 Minuten: Dortmund führte nach 25 Minuten 4:0, und Schalke war zu diesem Zeitpunkt zu Gast auf seiner eigenen Beerdigung. Und während ganz Dortmund siegestrunken philosophierte, wie zweistellig es wohl werden würde, schmiedete Schalke-Trainer Domenico Tedesco den Plan zur Aufholjagd. Nach 33 Minuten schon ein Doppelwechsel: Leon Goretzka und Amine Harit für Franco di Santo und Weston McKennie. Zur zweiten Hälfte Matija Nastasic für Thilo Kehrer. Nach 65 Minuten stand es nur noch 4:2. »4:2 nur noch, 25 Minuten sind Zeit, Schalke braucht zwei Tore!«, sprach es aus mir. Als der Satz gesagt war, musste ich kurz innehalten. Was habe ich da erzählt? Grammatikalisch am Rande der Legalität, ja, rhetorisch so eben vertretbar, ja, aber wie viel Sinn macht so ein Satz? In einem Bundesligaspiel? Also, fraglos, im Europapokal könnte das stimmig sein, so denn eine Mannschaft wirklich gemäß dem Hinspiel noch zwei Tore aufzuholen hätte. Aber in einem Bundesligaspiel, an einem 13. Spieltag, am 25. November 2017? Nicht wirklich. Man könnte es den unbewusst gesetzten Vorboten einer Vorahnung nennen. Oder einfach: Glück. Nachdem Daniel Caligiuri in der 86. Minute den Anschlusstreffer erzielt hatte, vollendete Naldo die Schalker Aufholjagd in der 4. Minute der Nachspielzeit mit einem wuchtigen Kopfball nach einer Ecke von Jewhen Konopljanka. Tedesco sprintete vor die Schalker Kurve, alle Schalker Spieler sprinteten vor die Schalker Kurve, während sich im Rest des Dortmunder Stadions auf Knopfdruck Trauerzugstimmung in Gang setzte und zügig verbreitete. »Schalke 04 gewinnt das Derby mit 4:4!«, fazitierte ich. Mittlerweile habe ich in Interviews so häufig über dieses Derby gesprochen, dass ich sage: »Ja, klar, ich hab’s vorausgesehen.« Nur um die Fragerunde abzukürzen. »Wirklich?« »Ja, wirklich.«

Was also bringt Derby 180 im März 2020? Mir fehlen jedwede Erfahrungswerte bezüglich Geisterspielen im Stadion. Ich kenne gefüllte Stadien, in denen aus der Kurve aktiv die Stimmung verweigert wurde. Das Berliner Olympiastadion wirkt halb voll auch eher spärlich. San Siro in Mailand erlebte ich mal bei einem Bremer Champions-League-Spiel mit knapp 20 000 im weiten Rund. Dazu dichte Nebelschwaden – das hatte durchaus etwas Mystisch-Gespenstisches. Auch bei einem Europa-League-Spiel des VfL Wolfsburg 2015 in ebenjenem Stadion hatte ich eher das Gefühl, dass hier Besuchergruppen die Stadiontour gebucht hatten. Aber echte Geisterspiele? Fehlanzeige! Am Ende kann sich ein Kommentator mit handfesten Daten und Fakten aus der Statistik auf ein Spiel vorbereiten. Mit vorgefertigten Einlassungen, Manuskripten oder gar Drehbüchern bewaffnet in 90 Minuten zu gehen ist nicht dienlich. Es gilt der Grundsatz: Sagen, was ist, und daraus die richtigen Schlüsse ziehen. Die richtigen Fragen stellen, richtig interpretieren. Das Spiel macht den Kommentar, und nicht umgekehrt. Insofern beließ ich es beim kurzen Versuch, mich an meinem Schreibtisch in die Geisterkulisse Signal Iduna Park zu denken. Es ist unmöglich. Also fragte ich am Freitagmorgen bei der Dortmunder Pressestelle noch ein paar relevante Rahmendaten ab: Wie viele Menschen inklusive Mannschaften, Stab und Schiedsrichter werden morgen im Stadion sein? Antwort: Die Stadt Dortmund hat 354 genehmigt, ein paar haben abgesagt, also maximal 340. Ich rief den Dortmunder Stadionsprecher Norbert, »Nobby« genannt, Dickel an. Einer der besten seines Fachs und vor allem ein Freund. Ich wollte wissen, wie er denn die Dortmunder Folklore vor dem Spiel zu bedienen gedenke. Er war kurz angebunden, versprach aber, mich am Nachmittag zurückzurufen.

An jenem Freitag, den 13. März, bekam Corona eine extreme Dynamik. Erste bestätigte Fälle innerhalb der ersten und zweiten Liga. Viele Verdachtsfälle. Die Fledermaus von Wuhan bekam ein Gesicht. Die Hektik im Land war spürbar. Die Hektik in Europa war spürbar. Die italienische Liga – abgesagt. Die englische Liga – abgesagt. Französische Liga – abgesagt. Spanien – ebenso. Real Madrid befand sich schon seit Donnerstag in Quarantäne. Ein Basketballprofi des Vereins war positiv getestet worden. Damit war klar: Auch die zweite Phase der Achtelfinalrückspiele in der Champions League würde betroffen sein. Real hatte noch ein Rückspiel offen – bei Manchester City. Die UEFA würde nicht umhinkommen, den Spieltag in der kommenden Woche zu streichen. Aber klar, UEFA, Freitagmittag, da sitzt jetzt keiner mehr. Die Brüder sind längst im Wochenende. Der Druck auf die deutschen Profiligen wuchs minütlich an. Um 15:01 Uhr schrieb mir Stefan von Ameln, der Projektverantwortliche der DFL für das Derby: »PK-Raum erst nach dem Spiel geöffnet – also morgen keine Vollpension – Produktionsmobil im Tunnel.« Mein Redakteur Michael Morhardt, der während der 90 Minuten immer neben mir sitzt, und ich buchten unsere Flüge um. Eigentlich war für Sonntag die Rückreise im Plan, mit vorheriger Hotelübernachtung. Wir nahmen jetzt die 19-Uhr-Maschine Düsseldorf–München am Samstagabend. Für gewöhnlich ein süßer Traum, aus Dortmund nach Spielende innerhalb von einer Autostunde nach Düsseldorf zu kommen. Zugegeben auch so sportlich terminiert, aber schaffbar. Weil eben nicht über 80 000 Menschen nach Abpfiff das Stadion verlassen würden. Da wir zudem angehalten waren, menschliche Kontakte so gut es ging zu vermeiden, würden wir also mit Schlusspfiff unseren Arbeitsplatz verlassen, ins Auto steigen und auf direktem Wege nach Düsseldorf fahren. Nicht wie gewohnt ein Schwätzchen halten mit Spielern oder Verantwortlichen. Mit den Unparteiischen noch mal über Entscheidungen diskutieren. Aber interessiert sich jemand für ein 1:0, während im Rest der Welt Szenarien gemalt werden, die an fünf vor Armageddon erinnern? Keiner kannte die Gefahr wirklich, keiner kannte den Gegner wirklich, wenige wussten bereits: Es kann lebensbedrohend werden. Die Prognosen waren düster. Überall wurde alles abgesagt, und die deutschen Profiligen wollen trotzdem spielen. Auf der Insel der Glückseligen, am Büffet der Ignoranz, im Epizentrum der Gleichgültigkeit. Oder wie, oder was? Mannschaften aus Bielefeld, Osnabrück, Fürth und Hamburg befanden sich bereits in der unmittelbaren Spielvorbereitung. 18:30 ist am Freitag Anstoßzeit für die Zweitligapartien. Am Abend sollte Fortuna Düsseldorf den SC Paderborn in einem Erstligaduell empfangen. Es fühlte sich nicht richtig an. Ganz und gar nicht. Um 16 Uhr wurde schließlich der komplette Spieltag abgesagt. Die Liga wurde unterbrochen. Kein Derby also. Die einzig richtige Entscheidung.

25. SPIELTAG – TABELLE (vor Coronapause)

Verein

SP.

S

U

N

TORE

DIFF.

PKT.

1

Bayern München

25

17

4

4

73:26

47

55

2

Borussia Dortmund

25

15

6

4

68:33

35

51

3

RB Leipzig

25

14

8

3

62:26

36

50

4

Borussia Mönchengladbach

25

15

4

6

49:30

19

49

5

Bayer Leverkusen

25

14

5

6

45:30

15

47

6

FC Schalke 04

25

9

10

6

33:36

-3

37

7

VfL Wolfsburg

25

9

9

7

34:30

4

36

8

SC Freiburg

25

10

6

9

34:35

-1

36

9

TSG Hoffenheim

25

10

5

10

35:43

-8

35

10

1. FC Köln

25

10

2

13

39:45

-6

32

11

1. FC Union Berlin 

25

9

3

13

32:41

-9

30

12

Eintracht Frankfurt

24

8

4

12

38:41

-3

28

13

Hertha BSC

25

7

7

11

32:48

-16

28

14

FC Augsburg

25

7

6

12

36:52

-16

27

15

1. FSV Mainz 05

25

8

2

15

34:53

-19

26

16

Fortuna Düsseldorf

25

5

7

13

27:50

-23

22

17

SV Werder Bremen

24

4

6

14

27:55

-28

18

18

SC Paderborn 07

25

4

4

17

30:54

-24

16

Die Pause

FREITAG, 13. März 2020. 16:00 Uhr. Es war, als ob in meinem Leben jemand den Stecker gezogen hätte. Normalerweise sind die Monate März, April, Mai die intensivsten des Jahres. Es sind die entscheidenden Wochen der Saison. Im Drei-Tage-Rhythmus große Spiele, wichtige Spiele, entscheidende Spiele. In normalen Spielzeiten stehen zu Hause gepackte Koffer. Ich komme alle paar Tage vorbei, kurzer Klamottenwechsel, schnelle Frage: Wie geht’s den Kindern? Pampige Antwort: Wir haben nur eins, und schon geht’s weiter zum nächsten Champions-League-Spiel, zum nächsten Pokalkracher oder zur nächsten wichtigen Bundesligapartie. Es sind auch die Wochen, die den größten Spaß machen. Und jetzt? Frei! Wann geht’s weiter? Keine Ahnung! Wie geht’s weiter? Keine Ahnung! Was machste jetzt? Keine Ahnung! Es waren die Vorläufer des Tage später vollzogenen Komplett-Lockdowns in Deutschland und in ganz Europa. Das alles hatte im ersten Moment den Touch von: große Freiheit im privaten Gefängnis. Wobei Gefängnis ein etwas unsachlicher Begriff ist.

Einmal im Jahr bin ich nämlich in Münchens größtem Gefängnis zu Gast. Im Sommer, wenn in Stadelheim das große Insassenfußballturnier stattfindet. Ich kann nicht leugnen, dass mich ein etwas mulmiges Gefühl beschlich, als ich vor einigen Jahren zum ersten Mal dort war. Die Anfrage der Justizvollzugsanstalt kam etwas überraschend. Aber ich fand das interessant und spannend und sagte zu. Im weiteren Verlauf der Vorgespräche stellte sich heraus, dass sich die Anstaltsleitung überlegt hatte, es wäre doch ganz nett, wenn ich das Finale als Schiedsrichter begleiten könnte. Ähm, ja klar, ähm, warum nicht?! Wenn im Finale die Bankräuber gegen die Einbrecher spielen, herrscht bestimmt größtes Verständnis für strittige Entscheidungen. Und dass Fairplay gerade hinter Gittern großgeschrieben wird, das weiß doch im Grunde jeder.