Kriminalroman
IMPRESSUM
Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und
BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker
© by Author/ Titelbild: Nach Motiven von Pixabay mit Steve
Mayer, 2016
© dieser Ausgabe 2016 by AlfredBekker/CassiopeiaPress,
Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau,
herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.
www.AlfredBekker.de
Klappe
Chris(Tina) Dellbusch, die Jüngste im Tellheimer Referat 11
(Mord, Totschlag und Entführung) hat es mit der Leiche eines armen
Schluckers namens Martin Brotesser zu tun, den seine Nachbarn den
Trockenbrotesser nennen. Wer kann ein Interesse daran haben, so
einen Mann zu erstechen? Tina ist lange damit beschäftigt, ein
mögliches Motiv zu entdecken. Dann findet sie in einem
Bankschließfach einen vor einem Notar geschlossenen Vertrag,
wonach
Brotesser ein Millionen-Grundstück im besten Viertel Tellheims
kaufen will.
Hatte er so viel Geld aus einem Lottogewinn oder trat er nur
als Strohmann und Platzhalter auf?
Tina muss eine Menge über Kommunalpolitik, Baurecht und
Tellheimer
Geschichte lernen, bis sie einen blutigen Betrug durchschaut:
Wie reißt man sich ein wertvolles Grundstück fast legal unter den
Nagel, ohne einen eigenen Cent dafür zu bezahlen?
Personen
Martin Brotesser: Angestellter im Bezirksamt
Tellheim-Weidenthal
Adolf Gruber: Angestellter im Tellheimer Liegenschaftsamt der
DB
Leo Kusch: „Ökonom“ in der Bikini-Bar
Gerda Linke: Wirtin im Hölzer Hof
Helga Troll: Gerdas Schwester, Hausmeisterin in der
Ludwigstraße 44
Susanne (Susi) Lauter: Früher Bedienung in der
Bikini-Bar
Christine (Tine) Dellbusch: KK im Referat R – 11 der
Tellheimer Kripo
Britta von Sandau: Staatsanwältin in Tellheim
Lorenz Koch (67): Redakteur i.R.
Annegret Stamper: Mitarbeiterin in der Tellheimer
Kriminaltechnik
Josef Tönnissen: Verstorbener Hausbesitzer in
Tellheim-Weidenthal
Dr. Walter Brünn (51): Kinderarzt
Miriam Tönnissen (33): Geschäftsfrau in Karlsruhe, Josefs
Nichte
Anke Tönnissen (31): Lehrerin in Stuttgart, Josefs
Nichte
Maria Gerber geborene Tönnissen (35): Ehefrau in Basel
Alle Namen und Taten, Personen und Ereignisse, Geschäfte und
Organisationen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder
verstorbenen Personen wären rein zufällig.
Erstes Kapitel
Britta von Sandau hielt sich entsetzt die Nase zu: „Stinkt das
bei euch immer so?“
Doktor Rupp, der neben der Leiche kniete, hob den Kopf und
lächelte mokant: „Da können wir Ihnen noch was ganz anderes bieten,
Frau Staatsanwalt.“
Tine Dellbusch, die noch nie dienstlich mit der Staatsanwältin
von Sandau zu tun gehabt hatte, schwieg lieber und konzentrierte
sich auf die Leiche des vielleicht vierzigjährigen, etwas
dicklichen Mannes mit gekräuselten hellbrünetten Haaren, die
dringend nach einem
Friseur verlangten. Der Mann war nicht rasiert und machte auf
Tine einen seltsam schmuddeligen Eindruck. Er lag auf der rechten
Seite, mit dem Kopf zum Fenster, und war an zwei Stichen in die
linke Körperseite verblutet, das Blut war zum Teil an seinem Körper
heruntergelaufen, hatte das langärmelige hellgrauen Shirt verfärbt
und eine fast runde Lache zwischen Körper und Couchtisch gebildet.
Ein schmales Rinnsal hatte von dort noch die Kante eines
Hosenbeines der abgewetzten Jeans erreicht. Das inzwischen fast
eingetrocknete Blut hatte den hellen, abgetretenen Teppichboden
dunkel gefärbt. Das Wohnzimmer war nicht groß und spärlich, dazu
geschmacklos möbliert, keines der Stücke sah elegant oder neu oder
teuer aus. Es gab auf den ersten Blick auch keine Spuren oder
Anzeichen eines Kampfes oder Einbruchs. Die Stichwaffe war
verschwunden. Britta von Sandau räusperte sich unfreundlich:
„Danke, das hier reicht mir schon vollkommen.“
Dr. Rupp beugte sich wieder zu dem Toten hinunter und Tine
Dellbusch fragte nüchtern: „Wie lange ist er tot?“
„Schätzungsweise drei Tage.“
„Also am vergangenen Sonntag gegen Abend erstochen?“
„Vermutlich, ja.“
„Zwei Stiche in die Seite, nicht wahr?“
„Ja. Der Täter war höchstwahrscheinlich Linkshänder und stand
hinter seinem Opfer.“
„Der Täter? Eine Frau kommt nicht in Frage?“
„Eher nein. Es sei denn, sie ist ungewöhnlich kräftig.“
Den Namen des Toten kannten sie von der Hausmeisterin, die den
ermordeten Mieter gefunden und die Polizei alarmiert hatte. Martin
Brotesser, der in der Tellheimer Stadtverwaltung, im Bezirksamt
Weidenthal arbeitete. Ledig, keine Kinder, keine feste Freundin.
Viel mehr wusste die Hausmeisterin nicht von ihm, was Tine
Dellbusch ihr nicht so recht glaubte. Der Fotograf hatte seine
Knipserei beendet und begann, die Nummernschilder einzusammeln. Die
Kollegen der Spurensicherung warteten schon ungeduldig darauf, dass
sie anfangen konnten. Die Kommissarin Christine Dellbusch sah die
Staatsanwältin an: „Also ab zur Gerichtsmedizin?“
„Aber ja.“
Christine Dellbusch, im mundfaulen Präsidium nur als Tine
Dellbusch bekannt, zog sich die scheußlichen weißen
Plastik-Fingerhandschuhe an und begann ihren Rundgang durch die
kleine Dreizimmerwohnung und diktierte wie schon zuvor alles, was
ihr auffiel, in ihr tragbares Aufnahmegerät. Wohnzimmer,
Schlafzimmer, Küche, eine fensterlose Abstellkammer mit einem
abgeschrammten Schreibtisch, auf dem ein Computer stand. Alle Möbel
sahen aus, als seien sie gebraucht gekauft. Kein Hinweis darauf,
dass jemand versuch hatte, etwas Bestimmtes zu finden. Das Bett im
Schlafzimmer war benutzt, ebenso die Dusche und die Toilette im
Bad. Es roch muffig, eben ungelüftet. Die Hausmeisterin hatte
behauptet, es gebe keine Verwandten Brotessers in der Nähe der
Stadt, also packten sie auch den Inhalt der beiden
Kleiderschrankhälften ein. Um alles weitere würden sich die
Spurensicherung und ihr Leiter Seidel oder seine Vertreterin
Annegret Stamper kümmern, mit der sich Tine mittlerweile
duzte.
Wie mit ihr vereinbart, suchte Tine die Hausmeisterin Gerda
Linke im Parterre auf. Die hatte bereits Kaffee gekocht und schien
sich auf ein Schwätzchen zu freuen. Wann konnte man schon mal über
einen Mord in seinem Haus erzählen? Tine vermutete, Gerda Linke
würde, wenn später die Journalisten mit gefüllten Brieftasche
anrückten, sich noch an viele, auch märchenhafte Details
„erinnern“, die sie der Kriminalbeamtin Tine Dellbusch verschweigen
wollte. Gerda war früher eine sehr propere Frau gewesen, Spuren des
ehemaligen Reizes waren noch immer zu entdecken.
„Ja, der Brotesser. Schäbiger Mann, schäbig gekleidet,
schäbige Wohnung. Die anderen Hausbewohner nannten ihn den
Trockenbrotesser, weil er so aussah und sich aufführte, als könne
er sich weder Butter noch Belag leisten.“
„Aber wenn er bei der Stadt arbeitete, kann er doch nicht so
schlecht verdient haben.“
„Hat er wohl auch nicht. Aber er hat das Geld lieber für
andere Dinge ausgegeben.“
„Zum Bespiel?“
„Zwei-, dreimal die Woche hat er sich mit Kumpeln zum Skat im
Hölzer Hof an der Eichengabel getroffen. Dort hat er auch oft
gegessen und ordentlich gebechert.“
„Woher wissen Sie das, Frau Linke?“
„Meine geschiedene Schwester Helga Troll hat den Hölzer Hof
gepachtet.“
„Brotesser war, wie Sie mir oben gesagt haben, nicht
verheiratet?“
„Nein.“
„Eine feste Freundin hatte er nicht?“
„Nein, ein- oder zweimal die Woche bekam er 'Besuch' von einer
recht hübschen jüngeren Frau.“
„Wissen Sie, wer diese Frau ist oder wie sie heisst?“
„Nein. Er hat sie in meiner Gegenwart immer nur 'Susi'
genannt, und wenn Sie mich fragen, ist sie ein
Professionelle.“
Den Gefallen, sie zu fragen tat ihr Tine nicht, die stämmige
Gerda sprach ohnehin unverblümt aus, was ihr gerade durch den Kopf
ging. „Sollten Sie dieser Susi noch einmal begegnen, sagen Sie ihr
doch bitte, Sie möchte sich im Polizeipräsidium am Krötengraben
melden. Ich heiße Christine Dellbusch und arbeite im Referat R –
11.“
Gerda Linke versenkte die Karte mit der linken Hand in einer
ihrer Kitteltaschen, als handele es sich um eine gewonnene
Goldmedaille.
„Sie schauen doch nicht alle Tage nach den Mietern?“
„Nein, es sei denn, die habe sich in den Urlaub oder ins
Krankenhaus abgemeldet und mich gebeten, mal nach den Blumen und
der Post zu gucken.“
„Blumen habe ich oben nicht gesehen.“
„Nein. Mir war aufgefallen, dass Brotesser heute den dritten
Tag seine Zeitung nicht aus dem Fach genommen hatte und sein
Briefkasten überlief.“
„Wie lange hat Martin Brotesser hier in der Ludwigstraße 44
gewohnt?“
„Ich habe vor fünf Jahren hier angefangen, und da wohnte er
schon mehrere Jahre im dritten Stock.“
„Und gearbeitet hat er im Bezirksamt Weidenthal in der
Pohlstraße?“
„Ja.“
Das waren, soweit Tine sich erinnerte, vier oder fünf Minuten
zu Fuß. Dazu brauchte Brotesser kein Auto. Seine Stammkneipe lag
drei Gehminuten in der Gegenrichtung. Kein großer Radius eines
anscheinend sehr bescheidenen Lebens. In die Tellheimer Innenstadt
musste er den Bus nehmen, der in der Parallelstraße, der
Ganghoferstraße, hielt.
Die Firma Holzbauer & Söhne hatte in der Eichengabel
mehrere Jahrzehnte lang Möbel für Büros, Wohnungen und Geschäfte
gebaut. Dann hatte ein Großbrand das wertvolle Holz- und
Furnierlager vernichtet. Vater und Sohn Holzbauer hatten nicht mehr
die Kraft aufgebracht, neu anzufangen, sie verkauften das wertvolle
Grundstück und zogen in den Süden. Eine Brauerei sicherte sich an
der Straßenfront Eichengabel eine vierstöckige Immobilie, die als
mehr oder minder seriöse Kneipe unter dem Namen Hölzer Hof bis
heute überlebt hatte. Das Hauptgeschäft stellte zur Zeit wohl das
Mittagsmenü dar, Suppe, Salat und ein Haupt-Tellergericht für
zusammen unter zehn Euro, die meisten Gäste arbeiteten in den Büros
der Nachbarschaft. Der Hölzer Hof würde kein Geheimtip für
Feinschmecker werden, aber was er bot, war nicht so schlecht, wie
man annehmen sollte.
Als Tine eintrat, rief ihr eine ältere Frau entgegen:
„Mittagessen erst ab 12 Uhr 30.“
„Ich möchte nicht essen, ich suche eine Frau Helga
Troll.“
„Das bin ich, und sie sind sicher die Kommissarin Christine
Dellbusch? Meine Schwester hat mich schon angerufen und Sie
angekündigt.“
Genau das hatte Tine befürchtet. Aber gegen so etwas war kein
Kraut gewachsen. Immerhin hatte Helga Troll dadurch Zeit gehabt,
sich über den Verlust eines Stammgastes zu beruhigen, eines
Stammgastes, den sie, wie sie ungefragt eingestand, nicht sehr
geschätzt hatte, obwohl er und seine Skatkumpel ganz schöne
Rechnungen gemacht und sich immer ruhig verhalten hatten.
„Nach eben diesen Skatkumpeln wollte ich mich bei Ihnen
erkundigen.“
„Viel kann ich Ihnen nicht sagen. Der eine heisst Adolf Gruber
und arbeitet bei der Immobilienverwaltung der Deutschen Bahn, die –
wie Tine zu ihrem Erstaunen erfuhr – in Tellheim, in Weidenthal
zumal beträchtliche Flächen und Immobilien besaß. „Wissen Sie, wo
diese Immobilienverwaltung liegt?“
„Ja, gleich nebenan in Brökel in der Sybelstraße.“
„Zum Skat gehören drei. Brotesser, Gruber und ...“
„... und der Leo Kusch.“ Ihre Stimme verriet, dass sie diesen
dritten Mann nun überhaupt nicht leiden mochte.
„Es wäre toll, wenn Sie wüssten, wo er wohnt oder arbeitet“,
lockte Tine.
„Wo er wohnt, weiß ich nicht. Wahrscheinlich hier ganz in der
Nähe. Eine Gegenfrage: Wissen Sie, was ein Ökonom ist?“
„Ein Volks- oder Betriebswirt oder Finanzwissenschaftler. Oder
im Milieu der Hausmeister und Mann für alles in einem etwas
zwielichtigen Lokal.“
„Leo Kusch arbeitet, wenn man das überhaupt Arbeit nennen
darf, in der Bikini-Bar in Brökel.“
Von dem Schuppen hatte Tine schon im Präsidium gehört. Bar war
fast ein Euphemismus. Es handelte sich um einen Puff der gehobenen
Preisklasse, in dem alle Bedienungen in knappen Bikinis
herumliefen. Und zu jeder vollen Stunde einmal fielen alle Hüllen,
dann boten die Damen auf der Bühne im Eva-Kostüm eine Tanz-Show.
Tine hatte gestaunt – hundert Euro Eintritt und Getränkepreise, die
einem Normalverdiener die Tränen in die Augen trieben. Aber weil
nicht jeder hereingelassen wurde, Glücksspiel und Rauschgift und
handgreiflicher Streit mit rauen Methoden unterbunden wurden, war
die Bikini-Bar selten das Ziel von Polizei-Einsätzen. Eine Zeitlang
hatte sich das Jugendamt intensiv für die Bedienungen und
Tänzerinnen interessiert – die Truppe führte den merkwürdigen Namen
„Hayler Elfen“ - aber keine Verstöße gegen Gesetze und
Schutzbestimmungen feststellen können. Das Unternehmen zahlte sogar
korrekte Steuern und Sozialabgaben für seine Angestellten.
Die Kommissarin hatte inzwischen ihr Batterie-Bandgerät
aufgebaut, was Helga Troll nicht zu gefallen schien. Sie sagte aber
nichts.
Tine musste bei ihrer nächsten Frage grinsen: „Was treibt
einen Bikini-Mann in den Hölzer Hof?“
„Der Kerl muss, wie gesagt, hier in der Nähe wohnen und hat
vielleicht Sehnsucht nach normal bekleideten Menschen und
Biertrinkern“, erwiderte Helga Troll grimmig.
„Kusch – wie der Befehl an den Hund?“
„Ja, genau so. Leo Kusch.“
„Aber Kusch verhält sich hier ganz unauffällig?“
„Völlig, fast ein Mustergast. Aber sympathisch ist er mir
trotzdem nicht.“
„Und dieser Adolf Gruber?“
„Das ist ein Großmaul. Dicke Lippe, spuckt große Töne und
nichts dahinter und nichts auf der hohen Kante. Der geborene
Hochstapler und Betrüger.“
„Die drei so unterschiedlichen Typen haben sich
vertragen?“
„Zumindest beim Skat, ja.“
„Wann haben Sie Brotesser zu letzten Mal gesehen?“
Sie musste überlegen: „Am vorigen Freitag gegen 20 Uhr, da
habe ich den Fernseher für die Tagesschau angestellt.“
„Können Sie sich einen Grund vorstellen, warum Gruber oder
Kusch den Brotesser umgebracht haben könnten?“
Sie schüttelte energisch den Kopf. „Nein, ausgeschlossen. Der
Gruber ist zu feige und der Kusch weiß zu genau, was einem dann
blühen kann.“
„Er ist also vorbestraft?“
„Mehrfach.“
Tine erkundigte sich nicht, woher Helga Troll das wissen
wollte. Und weil auf dem Bandgerät der Warnblinker für die
Akkuspannung seine Arbeit aufgenommen hatte, verabschiedete sie
sich und fuhr ins Präsidium. Dort legte sie zuerst die berühmte
Akte an „... zum Nachteil von Martin Brotesser...“ und begann zu
sinnieren.
Wer ermordete einen armen Kerl, den seine Nachbarn als
Trockenbrotesser verspotteten? Na schön, mehrmals die Woche Skat,
mäßiges Essen in einem Lokal, für das die Bezeichnung Restaurant
die reinste Hochstapelei wäre. Dazu – wenn die neugierige Gerda
richtig lag – ab und zu der 'Besuch' einer Nutte namens Susi – war
das alles in seinem Leben? Weiter kam Tine nicht, weil sie von
Annegret Stamper gestört wurde, der Vizechefin der Spurensicherung.
„Schau mal, Tine, was wir unter einer Schublade in Brotessers
Wohnzimmerschrank gefunden haben. Mit einem Stück Tesa
festgeklebt.“
„Das ist ein Schließfachschlüssel ...“
„Richtig. Und zwar von der Leininger Volksbank.“
„Weisst du zufällig auch schon, in welcher Filiale?“
„Nein. Dafür soll uns die schöne Britta einen formellen
richterlichen Beschluss besorgen.“
„Warum nennst du sie die schöne Britta?“
„Ihre Mutter Dörte war noch schöner, ebenfalls Staatsanwältin.
Befreundet mit einem Hauptkommissar, mit dem sie in einem Haus
wohnte. Die beiden haben zusammen gründlich aufgeräumt. Ein Chef
des Landes-Verfassungsschutzes, zwei ranghohe Mitarbeiter des BND
und des MAD mussten gehen. Und als Britta sich hier vorstellte,
meinte der Leitende Hornvogel: 'Hoffentlich sind Sie nicht so
rabiat wie Ihre Mutter. Schön genug sehen Sie ja aus'.“
„Ein liebenswürdiger Leitender.“
„Na ja, er wurde bald danach gegangen.“
Tine lächelte trübe. Es dauerte, bis man die Seilschaften und
inoffiziellen Verbindungen und Beziehungen in einer Behörde
durchschaute. Hornvogels letzter Nachfolger als Leitender
Oberstaatsanwalt, Paul Hase, war in das Amt des
Generalstaatsanwaltes versetzt worden. Seine langjährige Freundin
Jule Springer fungierte jetzt als Erste Hauptkommissarin im Referat
11 – Mord, Totschlag und Freiheitsberaubung – und würde den
Polizeidienst in wenigen Monaten verlassen, um nun doch ihren
Hoppelhasen, „mein Langohr Paulchen“, zu heiraten: Es wird Zeit für
mich und, wenn wir noch kleine Häschen haben wollen.“ Jules
Vorgängerin im R – 11 hatte aus unbekannten Gründen vorzeitig den
Dienst gekündigt, um zu ihrem Freund nach Berlin zu ziehen, dessen
Frau sich von ihm getrennt hatte. Es war ein stetes Kommen und
Gehen, das der jungen Kommissarin Christine (Tine) Dellbusch gar
nicht gefiel. Und nun noch eine neue Staatsanwältin, die den Ruf
als Tochter einer streitbaren Mutter zu verteidigen hatte.
Tine tippte noch bis 21 Uhr 30 die ersten Protokolle für die
Akte Brotesser und fuhr dann zur Bikini-Bar. Der Mann am Eingang
musterte sie grämlich: „Frauen haben keinen Zutritt.“
„Ach, wissen Sie, in gewisser Weise bin ich keine Frau.“ Sie
hielt ihm ihren Dienstausweis unter die Nase: „Ich möchte Leo Kusch
sprechen.“
„Jetzt?“
„Warum nicht?“
Der bullige Typ erinnerte sich wohl daran, dass er Anweisung
hatte, Ärger mit der Polizei zu vermeiden, und zog den Kopf ein:
„Moment, ich rufe ihn an.“
Leo Kusch sah ganz und gar nicht so aus, als würde er auf
Kommando eines Frauchens kuschen, aber auch er riss sich zusammen
und führte Tine Dellbusch über einen Nebeneingang, zu dem er
Schlüssel besaß, in ein Büro, bot ihr einen Stuhl an und sagte dann
spöttisch: „Sie kenne ich noch gar nicht. Bei der Sitte sind Sie
nicht, wie?“
„Nein, bei Mord und Totschlag.“
„Ach nee. Und was habe ich mit Mord und Totschlag zu
tun?“
„Mit dem jüngsten Opfer haben Sie oft Skat gespielt, im Hölzer
Hof.“
„Ach nee. Und wer hat den Löffel abgegeben? Gruber? Oder der
Trockenbrotesser?“
„Martin Brotesser.“
„Ich glaub's nicht! Wer bringt denn so ein harmloses und
nutzloses Würstchen um?“
„Um das herauszufinden, bin ich hier.“
„Also, ich war's nicht- damit das gleich klar ist.“
„Wann haben Sie Brotesser zum letzten Mal gesehen?“
„Das war – Moment – am vergangenen Freitag. Im Hölzer Hof.
Helga – die Wirtin – hatte gerade den Fernseher angemacht, da ist
Martin aufgestanden und hat gemeint, es werde Zeit für ihn, er
bekäme gleich noch lieben Besuch.“
„Besuch?“
„Das war so eine Umschreibung für das Callgirl, das regelmäßig
zu ihm kam.“
„Callgirl?“
„Er hatte keine Freundin, aber gelegentlich männliche
Bedürfnisse. Und mit Susi hatte er einen festen Preis und feste
Termine ausgehandelt.“
„Susi?“
„Susanne Lauter.“
„Sie kennen sie?“
„Na klar doch. Susi hat mal hier gearbeitet. Sie war eine der
Hayler Elfen.“
„Ich kenne Elfen aus dem Märchenbuch, aber Elfen aus Hayl bin
ich noch nie begegnet.“ Hayl war ein größeres Dorf am Fuß des
Vorgebirges.
Kusch musste sich zusammenreißen, um ruhig zu bleiben und zu
einer längeren Erklärung anzusetzen.
Drei junge Mädchen aus Hayl, alle groß, schlank und blond,
hatten zu ihrem eigenen Vergnügen eine Tanzgruppe gebildet und
traten bei Volksfesten, Jahrmärkten und Jubiläums-Feiern auf. Und
weil jedes Kind einen Namen haben muss, nannten sie sich nach ihrem
Heimatdorf die Hayler Elfen. Das Trio hatte Erfolg, so dass sich
andere Blondinen ihnen anschlossen, die schon nicht mehr aus Hayl
stammten. An einem Wochenende bekam sie Otto Kulicz zu sehen und
der hatte – wie so oft -sofort eine zündende Idee. Er suchte für
seine neu eröffnete Bar nicht weit vom Bootshafen Tellheim eine
ungewöhnliche Attraktion und schlug den Mädchen vor, dort als
Bedienungen im Bikini zu arbeiten und jede Stunde einmal nackt ihre
Tänze und Akrobatik vorzuführen. Die meisten Mädchen sprangen ab,
aber es blieben genug übrig, eine zuerst winzige Tanztruppe Hayler
Elfen zu bilden, der sich im Laufe der Jahre immer mal wieder
Neuzugänge anschlossen.“
„Im Laufe der Jahre?“ unterbrach Tine. Kusch schaltete sofort.
„Ja. Die Truppe besteht seit fast elf Jahren. Elfen, die zu alt
oder zu dick oder zu steif werden, müssen gehen und manche tun dann
das, was sie in der Bikini-Bar nach der letzten Vorstellung um ein
Uhr nachts schon häufiger getan haben. Sie gehen mit ihren Freunden
und Bekannten oder Kunden von der Bar auf eines der Zimmer – das
kümmert die Geschäftsführung nicht, so lange das friedlich, ohne
Skandal und ohne Gewalt abläuft. „Private Kunden“ außerhalb der Bar
sind den Elfen erlaubt. Die Bikini-Bar verdient an dem
Hurengeschäft nicht direkt.“
„Und so eine ausgemusterte Elfe ist diese Susi?“
„Ja.“
„Haben Sie ihre Adresse und ihre Handynummer?“
„Aber ja.“ Er schaute im Computer nach und kritzelte die
Angaben dann auf einen Zettel.
„Danke. Wie haben Sie Brotesser und Gruber
kennengelernt?“
„Im Hölzer Hof suchten zwei Männer einen dritten Kumpel für
einen gepflegten Skat. Die Wirtin hat mich vorgeschlagen.“
„Wann haben sie Brotesser zum letzten Mal gesehen?“
„In der vergangenen Woche. Da haben wir zuletzt Skat
geklopft.“
„Haben Sie Brotesser umgebracht“
„Blödsinn. Warum sollte ich?“
„Was ist mit Gruber?“
„Nennen Sie mir einen Grund, warum der das getan haben
sollte.“
„Mit Gruber habe ich noch nicht gesprochen“, sagte Tine
ehrlich.
„Brauchen Sie Anschrift, Arbeitsplatz und die
Telefonnummern?“
„Bitte ja.“
Kusch half gerne aus und meinte dann etwas vorsichtig: „Ich
würde an Ihrer Stelle nach dem Täter nicht nur unter uns
Skatbrüdern suchen.“
„Ich habe heute erst angefangen.“ Es war klar, dass Kusch
möglichst viele Verdächtige ins Spiel bringen wollte. Er hatte zwar
anscheinend offen und rückhaltlos geantwortet, aber ein alter
knastgeschulter Fuchs wusste, dass hauptsächlich viele Blindspuren
des Spürhunds Ende sind.
Was er nicht wissen konnte, war, dass er in Tines Erinnerung
eine schmerzhafte Stelle getroffen hatte. Christine Dellbusch
stammte nicht aus Hayl, war aber in der benachbarten Stadt
Guntersburg aufgewachsen und hatte die Hayler Elfen noch als
Dreiergruppe bei einem Lantener Herbstfest etwas neidisch
bewundert. Sie hätte damals auch gerne so ein besticktes
Trachtenkleid besessen, aber der Preis überstieg das Familienbudget
bei weitem.
Und sie hätte sich auch gerne an der Rampe verbeugt, um
bewundert und beklatscht zu werden – ein Traum, den sie immer für
sich behalten und von dem sie nur schwer und spät Abschied genommen
hatte.
Sie hatte nie gehört, was aus den ersten drei Hayler Mädchen
geworden war, und konnte sich nicht vorstellen, dass alle als
Prostituierte und Nackttänzerinnen in einer Bikini-Bar gelandet
waren. Doch Tine hatte inzwischen erlebt und gelernt, dass viele
Lebenswege sehr krumm verliefen und an allen möglichen unerwarteten
Endstationen wie in Sackgassen scheiterten.
Die Spätlese hatte, wie es ihrem Namen scheinbar entsprach,
noch geöffnet. Das Weinlokal schloss selten vor Mitternacht, weil
wichtige Stammkunden erst viertel vor zwölf aufbrachen. Denn dann
waren sie eine Minute vor Mitternacht am Eingang des privaten
Altersheimes Zukas, das Punkt 24 Uhr schloss. Die alten Herren
waren geschätzte Kunden in der Spätlese, weil sie erfahrene
Weintrinker waren, schöne Rechnungen machten und ausgesprochen
leise und diszipliniert Karten oder Schach spielen. Die ganz in
ihre Partie versunkenen Schachspieler scheuchte der Wirt Fido Lorch
rechtzeitig mit dem Satz: „Zukas sperrt Sie aus“ auf die Straße.
Tine Dellbusch hatte mit dem früheren Kripo-Kollegen Fido Lorch ein
Verhältnis gehabt, das aber nur knapp einen Monat dauerte; doch sie
waren nach ihrer einvernehmlichen Trennung Freunde geblieben und
wenn Tine „ihren Moralischen“ hatte, schaute sie vor dem
Schlafengehen gerne bei Fido auf ein Glas herein. Und der sagte
auch prompt: „Du siehst müde aus. Kummer?“
„Es geht... Nein, dienstlich läuft alles glatt, aber ein Zeuge
hat mich, was er nicht wissen konnte, an eine unschöne Phase meiner
Schulzeit erinnert.“
„Ich habe einen spanischen Contado, inzwischen ausreichend
gelagert.“
„Gerne.“
Der Wein war hervorragend, Fido verstand eine Menge von
Weinen, und viele verkaufte er ungern, weil er sie lieber selben
getrunken hätte.
„Großartig, Fido. Zum Dank eine weniger großartige Frage.
Kennst du die Bikini-Bar?“
„Die in Brökel?“
„Ja.“
„Warum fragst du?“
„Ich habe einen Mordfall, und das Opfer hatte ein- oder
zweimal die Woche Besuch von einer früheren Hayler Elfe bekommen.
Das ist doch die große Attraktion in dem Schuppen, nicht
wahr?“
„Na ja. Die Bedienungen laufen, wie schon der Name sagt, alle
in sehr knappen Bikinis herum, da bleibt nicht viel verborgen. Jede
volle Stunde fallen auch diese Stofffetzen und die ganze weiblich
Mannschaft tanzt nackt auf der Bühne.“
„Hübsche Frauen?“
„An sich ja. Für meinen Geschmack etwas zu dünn, zu wenige
Busen und zu wenig Po. Aber da denkt wohl jeder Mann anders.“
„Aber was passiert ...“
„Moment, Tine. Was die Mädchen nach der letzten Show treiben,
bleibt ihnen überlassen. Kritisch wird es erst, wenn der Busen
nicht mehr so stramm und der Po nicht mehr so knackig ist. Dann
werden sie rigoros aussortiert und manche landen dann bei
Hausbesuchen ... Schau mich nicht so strafend an: Ich bin da nur
ein Mal gewesen, hundert Euro sind doch verdammt viel Eintritt für
einen jungen Kripomenschen, und wenn du sie als Spesen absetzen
willst, musst du verdammt viel erklären. Und keiner will dir
glauben. Hast du einen bestimmten Verdacht?“
„Nein. Ich wollte nur morgen bei der Neuen nicht so dumm
dastehen.“
„Die Neue?“
„Britta von Sandau. Ich habe zum ersten Mal dienstlich mit ihr
zu tun. Jule hat eine Kiefervereiterung und feiert krank.“
„Toi,toi,toi. Und bevor dich eine quälende Frage auf dem
Heimweg überfällt: Das Schicksal der Hayler Elfen kenne ich von
Asta Krendel. Ich mochte sie gut leiden und sie mochte mich so
einigermaßen leiden und hat mir seinerzeit gut zugeredet, den
Dienst zu quittieren, als ich mit Olaf Heidiger in den Clinch
geraten war. Der soll übrigens eine Zeitlang Stammkunde in der
Bikini-Bar gewesen sein.“
Der Abschiedskuss war nicht aufregend, aber Tine ging doch
getröstet nach Hause. Alle hatten ihr gesagt, auf den Ex-Kollegen
Fido Lorch und seine Verschwiegenheit dürfe man sich verlassen. Und
sie hatte sonst niemanden, bei dem sie während einer
melancholischen Phase Trost suchen konnte.
Zweites Kapitel
Susi Lauter meldete sich am Handy und gähnte los: „Wer sind
Sie?“
„Ich heiße Christine Dellbusch, Kripo Tellheim. Ich würde mich
gerne mit Ihnen über Martin Brotesser unterhalten.“
„Nix dagegen. Geben Sie mir eine Chance, vorher zwei oder drei
Stunden zu schlafen? Ich komme gerade von der Arbeit.“
„Natürlich. Ich komme dann zu Ihnen in den Reusensweg,
einverstanden?“
Adolf Gruber war schon zum Dienst losgeradelt, wie seine
Freundin am Telefon erklärte. Tine rief im Liegenschaftsamt der
Bahn an und verabredete sich mit Adolf Gruber auf 17 Uhr in seinem
Haus im Septimusweg 22. Pünktlich an ihrem Schreibtisch saß dafür
die Staatsanwältin Britta von Sandau, der Tine ausführlich Bericht
erstattete.
„Merkwürdig“, sagte die Sandau gedehnt. „Irgendein Motiv für
den Mord in Sicht?“
„Bisher nicht. Allerdings hat die Spusi in Brotessers Wohnung
versteckt einen Schließfachschlüssel gefunden. Wahrscheinlich bei
einer Filiale der Leininger Volksbank. Wir brauchten bitte einen
richterlichen Beschluss für die Öffnung des Faches und für Einsicht
in Brotessers Konten.“
„Geht in Ordnung“, murmelte Staatsanwältin von Sandau. „Was
ist mit Liebe, Hass, Eifersucht? Soll ich mir mal diese
Hausmeisterin aus der Ludwigstraße vorknöpfen?“
„Geben Sie mir noch ein, zwei Tage Zeit? Noch zeigt sie sich
ganz kooperativ.“
„Okay. Den dritten Skatmann haben Sie noch vor sich?“
„Heute nachmittag im Septimusweg.“
„Donnerwetter. Was sagten Sie? Angestellter bei der
Liegenschaftsverwaltung der Bahn? Kein Wunder, dass die Fahrpreise
so irre steigen, wenn sich ein kleiner Angestellter bei der
Liegenschaftsverwaltung der Bahn den Septimusweg leisten
kann.“
Tine schaute sie groß an, und die Sandau lachte gutmütig: „Sie
kommen nicht aus Tellheim?“
„Nein, ich bin in Guntersburg groß geworden.“
„Ja dann ... Der Septimusweg liegt in Weidenthal und das ist
so das feinste und teuerste Viertel von Tellheim, der Quadratmeter
kostet ab 3000 Euro aufwärts.“
„Nein.“
„Ich kann mir Weidenthal nicht leisten und wenn ich mich nicht
irre, verläuft der Septimusweg, das Weidenthaler Filetstück, direkt
am Weidenbusch entlang. Deswegen sollten Sie die Augen offen
halten, wo Sie eine Möglichkeit für Betrug und Schiebereien oder
Erpressung sehen.“
Tine ging wie betäubt in ihr Büro zurück. Sie hatte mit viel
Mühe eine bessere Einraumwohnung mit knapp vierzig Quadratmetern
gefunden und zahlte 15 Euro kalt für den Quadratmeter, die Mieten
stiegen in Tellheim geradezu verboten rasch. Und wenn gebaut wurde,
dann Eigentumswohnungen zu Preisen, von denen Tine im Moment nicht
einmal zu träumen wagte.
Der Reusenweg war eine schmale Sackgase, die direkt am Fuß des
vor kurzem erhöhten Flussdeiches endete. Links und rechts standen
je vier windschiefe Häuschen, bessere Hütten, die alle so aussahen,
als würden sie beim nächsten Hochwasser wegschwimmen. Und die
Hochwassermarken gingen fast so rasch in die Höhe wie die
Mieten.
Susi Lauter wartete schon auf sie. „Kaffee ist gekocht. Von
ausgeschlafen kann keine Rede sein. Wenn Sie mich wegen Martin
Brotesser sprechen wollen, wissen Sie sicher, welchen Beruf ich
ausübe.“
„Ja, Sie waren eine Hayler Elfe, sind dann – Entschuldigung –
ausgemustert worden und machen heute Hausbesuche.“
„Ja, angeblich hüpften meine Brüste und mein Po wabbelt. Zum
Glück gibt es noch Männer, denen das gefällt und die dafür
anständig zahlen.“
„Zu denen gehörte Martin Brotesser?“
„Ja. Ein-, zweimal die Woche hat er mich bestellt.“
„Wann waren Sie zum letzten Mal bei ihm?“
„Am Sonntagnachmittag. Ich wäre sogar freiwillig länger
geblieben, aber er hat mich regelrecht vor die Tür gesetzt. Er
erwartete nämlich noch Besuch, und der sollte mir auf keinen Fall
begegnen.“
„Wissen Sie, wer das war?“
„Der Weihnachtsmann.“
„Wie bitte?“
„Nach diesem Besuch würde er, Martin, der Trockenbrotesser,
genug Geld haben, sich auch ein großes Haus mit Garten oder
zumindest eine große Wohnung zu kaufen.“
„Haben Sie ihm das geglaubt?“
„Keine Silbe. Martin war ein Träumer und auch beim Träumen
einer von der langsamen Truppe. Wissen Sie, warum manche Männer am
Sonntag während des Gottesdienstes plötzlich laut auflachen?“
Tine schüttelte verblüfft den Kopf.
„Weil sie in der Sekunde den Witz kapieren, den einer am
Freitagabend beim Bier erzählt hat.“
„Ein Langsamschalter also?“
„Eine Geistes- und Gehirnschnecke. Nicht dumm, er kapierte
alles, was man ihm sagte oder erklärte, aber eben erst sehr viel
später als die anderen. Aber das behielt er dann auch, er hatte ein
Gedächtnis wie ein Elefant.“
„Kennen Sie seine Skatbrüder aus dem Hölzer Hof?“
„Jein. Den Leo Kusch kenne ich natürlich aus der Bikini-Bar,
aber diesem Adolf Gruber bin ich nie begegnet.“
„Können Sie sich einen Grund vorstellen, warum einer der
beiden Brotesser getötet haben sollte?“
„Nein. Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, warum einer
dem armen Martin was getan haben soll. Gut, er konnte einen mit
seiner Langsamkeit gelegentlich auf die Palme treiben, aber
deswegen jemanden ermorden? Und ich habe einen festen Kunden
verloren, der keine Offenbarung war, auch finanziell nicht, aber
pflegeleicht und der pünktlich ohne Meckern zahlte. Was nicht bei
allen Männern die Regel ist.“ Sie trank ihre Tasse aus und sah Tine
fest an: „Ich kann mir überhaupt keinen Grund vorstellen, warum
irgendwer Martin Brotesser ermorden sollte.“
„Aber beim letzten Mal hat er Ihnen gegenüber davon
gesprochen, dass er bald auch ein Haus besitzen werde?“
„Ja.“
„Plante oder hoffte er auf ein großes Geschäft? Eine
Erbschaft? Den Lotterie-Hauptgewinn?“
Susi antwortete nicht sofort und grübelte, während Tine sie
intensiv musterte. Eine naive, oder gar elfenhafte Schönheit war
Susi schon lange nicht mehr, aber sie hatte noch nicht den harten
Ausdruck einer zynischen Hure angenommen, die heimlich jeden
Menschen verachtete und vor allem ihre Kunden. Und die bösartigen
Begriffe „aussortiert“ oder „ausgemustert“ verstand Tine angesichts
der immer noch sehenswerten Figur Susis in dem schwarzen engen
Turnanzug noch weniger. Dann schaute Susi hoch und begegnete Tines
musterndem Blick. „Sie bringen mich da auf einen Gedanken“, sagte
sie ernsthaft. „Martin hatte etwas Geld für sein Hausprojekt
zusammengekratzt, das er mir stolz gezeigt und vorgezählt hat.
Nämlich fünfundzwanzigtausend in bar. 'Martin' habe ich ihm gesagt,
'dafür kann man heute in Tellheim nicht einmal eine Garage oder
Hundehütte kaufen, geschweige denn ein ganzes Haus.'- 'Weiß ich
doch', hat er mir sofort geantwortet, 'das ist ja auch nur der
Anfang, den Rest kriege ich noch'.“
Tine schnaufte: „Wir haben in Brotessers Wohnung kein Bargeld
gefunden, sondern nur einen versteckten Schließfachschlüssel, mit
Tesa unter einer Schublade festgeklebt. Noch wissen wir nicht, in
welcher Bank er was in dem Fach aufgehoben hat.“
„Leininger Volksbank, die Filiale am Fassmarkt.“
„Die Filiale kennen wir auch noch nicht.“
„Das hat er mir gesagt.“
Nun ja, Brotesser war ein komischer Vogel gewesen, gut
möglich, dass er ein Callgirl ins Vertrauen gezogen hatte. „Sie
kennen doch Gerda Linke?“
„O ja. Die Neugier auf zwei Plattfüßen.“
„Halten Sie es für möglich, dass sie ...“
„Na ja. Aber sie ist ja nicht dumm. Sie hat mit ihrem
Generalschlüssel eine Leiche gefunden, und sie weiß, dass man sie
als erste verdächtigen wird, wenn was aus der Wohnung verschwunden
ist.“
Das klang nur zum Teil logisch. Und wenn der Mörder das
Bargeld mitgenommen hatte? Mit Gerda Linke würde Tine ohnehin noch
mehr als einmal sprechen müssen.
„Dann hätte ich noch eine Frage: War Brotesser ehrlich?“ Und
weil Susi sie verwundert anstarrte, setzte Tine hinzu: „Wissen sie,
wir haben es bei der Polizei mit zwei Sorten Ehrlichkeit zu tun.
Die einen sagen die Wahrheit, weil sie wissen oder fürchten, dass
wir ihnen das Gegenteil schnell nachweisen können. Die anderen sind
von sich aus ehrlich; das sind die selteneren.“
„Tja, wie soll ich ... Es gibt noch eine dritte Sorte: Die
würden ganz gerne mal betrügen und lügen, aber die haben zu viele
schlechte Erfahrungen gemacht, und trauen ihrer Intelligenz nicht
so ganz.“
„Und dazu gehörte Brotesser?“
„Ich glaube nicht, dass er irgendwelche Hemmungen gehabt
hätte, andere Menschen über's Ohr zu hauen, aber mit solchen
Absichten ist er wohl zu oft auf die Schnauze gefallen, um es
wieder zu versuchen. Gegen eine Notlüge hat er sicher nie etwas
gehabt.“
„Sehr helle war er also nicht?“
„Nein, aber ihm hat viel geholfen, dass er ein tolles
Gedächtnis besaß. Langsam zwar, aber zuverlässig.“
„Ein Sonntagslacher in der Kirche.“
„Ja, bestimmt.“
Tine rief für alle Fälle vorher bei Gerda Link an, die ihr
aber einen Korb gab: „Tut mir leid, Frau Kommissarin, aber ich habe
einen Termin für eine Knochendichtemessung, und den möchte ich
nicht versäumen.“
„Kein Problem, ich melde mich wieder – und für heute toi, toi,
toi.“
„Danke.“
In der Kantine setzte sich Tine neben Asta Krendel, die
Leiterin des R – 13, im Haus immer noch kurz die Sitte
genannt.
„Was kann ich für Sie tun?“ fragte Asta Krendel endlich, weil
Tine immer noch schwieg.
„Mir ist in einem Fall eine Hayler Elfe begegnet, die aus
dieser Tanztruppe in der Bikini-Bar rausgeflogen ist.“
„Und jetzt arbeitet sie sozusagen in meinem Bereich?“
„Ja. Sie macht 'Hausbesuche', und einer der so Beglückten ist
ermordet worden.“
„Haben Sie die Elfe in Verdacht?“
„Nein.“
„Was möchten Sie hören?“
„Was ist das für ein Schuppen, diese Bikini-Bar?“
„Ein Puff für gehobene Ansprüche.“
„Rauschgift, Glücksspiel, Erpressung?“
„Nichts davon ist uns bekannt.“
„Und wem gehört der Schuppen?“
„Einer Leininger Unterhaltungs-KG.“
„Kommanditisten mit lokalem politischem Einfluss?“
„Wie kommen Sie darauf?“
„Ich habe mit Fido Lorch einen fantastischen Rotwein
getrunken.“
„Dann sind Sie die Nicht-Bomben-Christine?“
„Ja.“
„Erklären Sie mir, wie man zu so einem albernen
Namens-Attribut kommt?“
„Gerne. Bei Lengede sind mal bei einem Grubenunglück mehrere
Bergleute in einer Luftblase unter Tage eingeschlossen gewesen. Man
hat dann einen Minischacht in diese Blase gebohrt und die Leute in
einer Art Metallgitterröhre ans Tageslicht gezogen. Diese
Metallröhre heisst die Dahlbuschbombe und die ganze Rettungsaktion
das Wunder von Lengede. Ich heiße Dellbusch, aber viele fragen
sofort – haben Sie was mit der Rettungsbombe von Lengede zu
tun?“
„Aha. Jetzt verstehe ich. Fido hat sich mal etwas voreilig mit
dieser KG angelegt und den Kürzeren gezogen. Sehen Sie ihn
häufiger?“
„Ja.“
„Dann bestellen Sie ihm doch bitte beim nächsten Mal schöne
Grüße von Asta.“
„Mach' ich.“
„Und wenn Sie sich unbedingt mit dieser Puff-KG anlegen
wollen, kommen Sie lieber vorher zu mir.“
„Okay, danke.“
Bevor sie in den Weidenbusch fuhr, las Tine noch Dr. Rupps
Bericht. Brotesser schien sich gegen seinen Mördern nicht gewehrt
zu haben, außer den beiden Einstichen gab es keine weiteren Wunden
oder Hinweise auf Gegenwehr. Auch an der geschätzten Todeszeit
hatte sich nichts geändert. Sonntagabend. Kein Alkohol im Blut,
kein Rauschgift, nur ein handelsübliches rezeptpflichtiges Mittel
zur Blutverdünnung. Rupp hatte noch vermerkt, der gute Martin habe
ziemlich wenig Brot gegessen, sondern die Kalorien lieber in
flüssiger Form zu sich genommen; seine Leber hatte gerade
angefangen, sich dagegen zu wehren. Die Waffe könnte ein sehr
spitzes, stabiles Küchenmesser mit wenigstens 25 Zentimetern
Klingenlänge gewesen sein, aber ein Messerblock, in dem so ein
Messer wohl gesteckt hatte, war in Brotessers Küche nicht gefunden
worden. Wenn, dann hatte der Mörder nicht nur die Mordwaffe,
sondern den ganzen Block mitgenommen.
Das half ihr auch nicht viel weiter.
Tine war noch nie durch den Weidenbusch gelaufen, der sich als
ein kleines, lichtes Wäldchen mit alten Buchen und Eichen
herausstellte. Die größten Lücken hatten sich rund um umgestürzte
Bäume gebildet, auf denen prachtvolle Pilze wucherten, die
allerdings alle nicht essbar aussahen. Um diese Tageszeit herrschte
reger Hundeverkehr, Blase und Darm wollten geleert werden. Die
meisten Hundebesitzer schienen sich zu kennen und hielten kleine
Schwätzchen, und wer keine Hundeleine in der Hand trug, schob einen
Kinderwagen oder eine Kinderkarre. Bis auf das Kläffen aufgeregter
Zwergpinscher und die Spielgeräusche auf einem gut besuchten
Bolzplatz war es himmlisch ruhig, warm und schattig, nur sehr weit
entfernt rollte ab und zu ein Zug. Zwischen zwei Hecken führte ein
Pfad aus dem Wäldchen hoch auf den Septimusweg, dessen
handtuchähnliche Grundstücke mit den Schmalseiten bis an den
Waldrand reichten. An der Straße standen hohe Linden, bereit, die
dazwischen parkenden Autos mit klebrigen Tröpfchen zu beglücken.
Irgendwo brummte ein Rasenmäher. In den meisten Häuser links und
rechts der Straße waren die Dachstühle ausgebaut. Zweigeschossige
Bauten waren selten und sichtlich älter, wie das Haus Nummer 22.
Als Tine auf die Haustür zuging, kam sie an einem total
verwilderten, mit seltsam vertrocknetem und ihr unbekannten Unkraut
mit blauen Blüten im hoch bewachsenen Teil des Grundstücks vorbei –
die blauen Blüten waren alle schon vertrocknet – auf den letzten
Metern kam ihr ein junger Mann Anfang zwanzig entgegen, der den
Kopf wegdrehte, um sie nicht ansehen oder grüßen zu müssen. Tine
schaute ihm verwundert nach. Direkt vor dem Haus parkten zwei Autos
mit Tellheimer Kennzeichen. Garagen schien es nicht zu geben. Tine
lächele schräg. Von der Haustür bis zum Septimusweg waren es wohl
an die 30 Meter, und das war für viele heutige Autofahrer ein zu
langer Fußmarsch. Aber vielleicht scheuten sie auch nur die
Lindentröpfchen.
Adolf Gruber war groß, stämmig.eist und blond. Tine missfiel
er auf den ersten Blick, zumal er auch eine Herablassung an den Tag
legte, die wohl freundlich gemeint war, aber ganz anders wirkte.
Sie setzten sich in der Essecke an einen schmalen Holztisch.
„Jaja, der arme Brotesser.“
„Sie haben davon gehört.“
„Sicher, Leo Kusch hat mich angerufen.“
„Herr Gruber, wann haben Sie Martin Brotesser das letzte Mal
gesehen oder gesprochen?“
„Das war – Moment – Freitag voriger Woche, da haben Leo,
Martin und ich im Hölzer Hof Skat gespielt.“
„Hat Brotesser bei der Gelegenheit zufällig gesagt, was er für
das Wochenende plante?“
„Nein. Dass seine flotte Susi ziemlich regelmäßig am
Sonntagnachmittag zu ihm kam, wussten wir. Aber sonst – nein, kein
Wort.“
„Können Sie sich vorstellen, dass Susi Lauter ihn erstochen
hat?“
„Nein, warum denn? Martin war ein Stammkunde und Susi ist, was
sie gar nicht verheimlichte, mittlerweile auf solche Kunden
angewiesen. Mag sein, dass er nicht ihr Lieblingskunde war, aber er
hat nie angedeutet, dass es Spannungen mit seiner Susi gab.“
„Hatte Brotesser mit andern Menschen Ärger, Probleme,
Spannungen? Gab es Drohungen, Warnungen? Können Sie sich
irgendeinen Grund vorstellen, warum man ihn umgebracht hat.“
„Nein, das kann ich nicht. Martin war eher ängstlich und
vorsichtig, ging jedem Streit aus dem Wege.“
„Mehrere Bekannte haben mir gesagt, dass er sehr langsam
war.“
Gruber lachte. „Das dürfen Sie laut sagen ... Bis der sich mal
entschieden hatte. Beim Reizen konnte er einem den letzten Nerv
rauben, aber ihn deswegen umbringen?“
„Das heisst, er hatte keine Feinde?“
„Zumindest keine, die Leo oder ich kennen.“
„Herr Gruber, vielleicht können Sie mir bei einem anderen
Widerspruch helfen. Brotesser schwamm ja nicht gerade in Geld
...“
„... Oh nein, wir haben ihm oft aushelfen müssen, sein Essen
und Bier im Hölzer Hof zu zahlen ...“