Gekonnt leiden - Jürgen Löhle - E-Book

Gekonnt leiden E-Book

Jürgen Löhle

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Beschreibung

25 Jahre Brägel: Die besten Geschichten über die Radsport-Kultfigur Er ist leicht übergewichtig, nicht mehr der Jüngste und entspricht nicht unbedingt dem Bild, das man sich unter einem Rennradfahrer vorstellt: Das ist Brägel, seines Zeichens Radsport-Hobbyist und König der gescheiterten Ausreißversuche. Er kennt die aktuellsten Trainingstrends wie kein Zweiter, hat immer das neueste Gimmick am Rad und wird trotzdem regelmäßig abgehängt. Seit 25 Jahren strampelt sich Brägel so durch die Kolumne "Radschlag" in der Zeitschrift TOUR. Anlässlich dieses Jubiläums wurden die besten Geschichten aus dem letzten Vierteljahrhundert in einem Band zusammengefasst: Lachen Sie mit über die Moden, Macken und Eskapaden der beliebten Kultfigur und feiern Sie ein Wiedersehen mit Freunden wie dem alten Hans, dem Präsidenten und vielen anderen. • Zum 25. Jubiläum von "Radschlag": Die besten Brägel-Geschichten in einem Band! • Trikots, Tuning, Teamkollegen: Erheiterndes aus dem Alltag des Radsports • Treffend illustriert und in Szene gesetzt von Cornelia von Seidlein • Das ideale Geschenk für Rennradfahrer und Brägel-Fans Entdecken Sie den Brägel in sich! In jedem Radler steckt ein Brägel, egal ob Hobbyradler oder passionierter Profi. TOUR-Kolumnist Jürgen Löhle kennt sämtliche Spleens, Neurosen und Marotten der Radsportler und nimmt sie liebevoll und pointiert auf die Schippe. Nicht umsonst hat sich "brägeln" in der Rennrad-Community längst zum geflügelten Wort entwickelt. In Brägels Radsport-Geschichten fährt der Humor immer auf dem Gepäckträger mit und versüßt die Stunden bis zum nächsten Radausflug. Der umfangreiche Sammelband ist ein Muss für jeden Brägel-Fan und darf in keiner Satteltasche fehlen!

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TOUR

JÜRGEN LÖHLE

GEKONNTLEIDEN

BEST-OF BRÄGEL DIE ULTIMATIVE LEBENSHILFE FÜR HOBBY-RADSPORTLER

INHALT

1. IMMER KETTE RECHTS – BRÄGELS SPEZIELLE ART, EIN RENNRAD (UND MEHR) ZU BEWEGEN.

Kurz und flach? Geschenkt!

Wer, bitte, ist Jan Ullrich?

Konzentration aufs Wesentliche

Primat der Technik

Gleichberechtigung

Weil …, Weil …

Carbonrentner

Selbstversuch

Offener Brief

Um die Ehre

Alter schützt … vor gar nix

Macker im Acker

Morgenstund mit Hund

Elektro-Schock

Nein, nein! … ja?

Gekonnt leiden

Fußgänger geduldet

Rauschmittel

2. BRÄGEL UND SEINE FREUDE VOM RADCLUB

Wissen ist Macht

Brägollini

Gelobt sei …

Sorglos stillos

Operation Clubfrieden

Hitzeschlacht

Sommerfreuden

Ultralang

Rollende Trinker

Hokuspokus

Küchenschlacht

Agnes statt Pilates

Doktor Google

Bräxit

Wer ist Mandy?

Illegale Kleingruppe

3. BRÄGELS SUCHT NACH NEUEM – UND NACH DEM PERFEKTEN KÖRPER

Handymanie

Wade an Olivenöl

Einmal Profi sein

Kompjutah

Die Macht der Zahlen

Seitensprünge

Schöne Zeiten

Der eingebildete Kranke

Furcht vor Falten

Der Moralapostel

Glatt gebügelt

Zwitscher, zwitscher

… und nun zum Wetter

Prima Klima

Bewegliches Hindernis

Fastenzeit

Let’s Dance!

Veni, Vidi, Vici

4. BRÄGEL AUF REISEN

Inselduell

Wallfahrt

Dabeisein ist alles

Zitterpartie

Dabei sein ist alles

Ferienlager

Triumph in Alpe d’Huez

Nomadenleben

Urlaub von Anfang an

Holiday on Ice

Sehnsucht nach Leberkäs

Sieger am Galibier

Belgischer Härtetest

Vive la France!

5. BRÄGEL GIBT SICH FAMILIÄR

Tierversuch

Familienbande

Frühlingsgefühle

Vaterfreuden

Der Stammhalter

Vorsorglich fürsorglich

Brägel allein zu Haus

PA34SY678GPZ – Liebe im Netz

Generationskonflikt

Mit Drive

Willkommen zu Hause

Eheglück am Samstag

Gemeinsam einsam

1

IMMER KETTE RECHTS – BRÄGELS SPEZIELLE ART, EIN RENNRAD (UND MEHR) ZU BEWEGEN

KURZ UND FLACH? GESCHENKT!

WAS RADFAHRER SO ALLES SAGEN, UND WAS SIE DAMIT WIRKLICH MEINEN: EIN KLEINER KURS FÜRS ÜBERLEBEN AUF ZWEI RÄDERN

1994

»Gaaaanz ruhig bleiben«, ölt Brägel und kratzt sich die frisch rasierte Wade, »mach’ dir doch nicht ins Hemd. Wir fahren kurz und flach, und der Schwächste macht das Tempo.« Danach setzt er ein derart hundsgemein souveränes Lächeln auf, dass jedem Idioten sofort klar wird, dass er mit dem Schwächsten nur mich meinen kann. Da schau her, Brägel hat offenbar gewaltige Frühform. Wenn ich jetzt mitfahre, senkt mir der Kerl eine Tonne Blei in die Schuhe. Aber darum geht es gar nicht, man muss auch mal verlieren können. Viel gemeiner ist die Sprache. Wer Sprüche mit »kurz und flach« auch noch glaubt, den holt später der Teufel, das ist sicher. Verbale Stellungnahmen von Hobbyradlern sind nämlich ungefähr so wahrheitsgetreu wie die von Berufspolitikern. Eine Trainingsrunde unter zwei Stunden und ohne Steigungen ist genauso wahrscheinlich wie die Annahme, dass der liebe Herr Schäuble den Waffenhändler mit dem Koffer für einen Finanzbeamten mit einer Steuerrückerstattung gehalten hat. In Brägels speziellem Fall war »kurz und flach« übrigens 90 Kilometer über Mallorca, mit dem Anstieg nach Soller und einem Abstecher nach Valldemossa. Extrem flach und ziemlich kurz, stimmt schon. Einer, den Brägel erfolgreich überredet hat, saß am Abend ziemlich grau überm Spaghettiteller. Opfer der verbalen Radlerkeule.

Damit Sie nicht auch solche leidvollen Erfahrungen machen müssen, erklären wir Ihnen den Unterschied zwischen Äußerungen Rad fahrender Menschen und ihrem tatsächlichen Handeln. Und das ist ein gewaltiger, das können Sie glauben. »Kurz und flach« ist dabei das Paradebeispiel. Wer tatsächlich piano rollen will, sagt nämlich in aller Regel gar nichts. Gut trainierte Hobbyrenner versuchen Sie dagegen mit »kurz und flach« zunächst aufs Rad und an der ersten Steigung ins Verderben zu locken. Sie können den wahren Inhalt der Aussage aber am Blick erkennen. Wer kurz und flach sagt und dabei lächelt, der meint das Gegenteil. Wenn Sie darauf hereinfallen, erleben Sie am ersten Anstieg die nächste Schweinerei. »Lass’ dir ruhig Zeit, wir warten oben«, heißt es dann gönnerhaft. Aber auch das ist nur die halbe Wahrheit. Neulich bin ich mit so einer Horde gefahren und plötzlich kam Brägel (wirklich erstaunliche Frühform) mir wieder entgegen und erkundigte sich mit grauenhafter Fürsorge, ob denn wirklich alles in Ordnung sei, mit dem Puls und so und überhaupt. Das ist dann die Höchststrafe. Und »oben warten« heißt in Wahrheit, dass die Meute mit genervtem Blick am Straßenrand steht. Manche gähnen demonstrativ, andere tun so, als stünden sie schon vier Stunden dort. Mindestens. Und wenn du schließlich halbtot angekeucht kommst, schwingen sie sich in der gleichen Sekunde wieder in den Sattel. »Weiter, wir werden sonst kalt«, heißt es. Das stimmt ausnahmsweise, aber mir kocht die Birne und der Pulsmesser jault. Mit Warten hat das nun gar nichts zu tun.

Unten dann die nächste Lüge. »Häng’ dich hinten rein, wir nehmen dich mit«, heißt es. Hier die Übersetzung: »Jetzt fahren wir dich vollends aus den Schuhen, du Schattenparker. Wir drücken immer schön den dicken Gang, genau einen Zacken härter, als du Weichei es verträgst.« »Geht’s denn mit dem Tempo?«, nervt Brägel (der muss übrigens gedopt sein, jede Wette). »Nein«, japse ich, »es ist ein bisschen zu schnell.« Die Reaktion: nullkommanull. Überhaupt nix passiert, der Zug donnert weiter auf den nächsten Anstieg zu, keine Chance, den Puls in den aeroben Bereich zu drücken. Aber das soll auch genau so sein. Kurz und flach ins Verderben.

Die verbale Trickserei setzt sich im Radladen fort. Immer wieder gern genommen werden die Bezeichnungen »geschenkt«, »fast geschenkt« oder »echt geschenkt«; insbesondere gegenüber nichtradelnden Lebenspartnern in Gütergemeinschaft. Brägels echt geschenkte neue Magnesium-Pedale haben 356 Mark gekostet, der Alurahmen fürs Zweitrad war für 1.998 Märker natürlich »fast geschenkt«. Ich wollte auch so ein Ding und habe leider erst beim Zahlen bemerkt, dass geschenkt wohl ein kleines bisschen billiger gewesen wäre. Jetzt habe ich Madame zu erklären, warum ein bisschen Nichts, das kaum mehr wiegt als ein gemischter Salat für zwei Personen, genau so viel kostet wie eine Woche Skiurlaub im Viersterne-Hotel. Den habe ich nämlich mit Blick auf die Finanzen abgelehnt.

Auch bei Trainingsleistungen wird gelogen, dass sich die Speichen biegen. »Ich habe in diesem Jahr noch nichts trainiert«, steht für mindestens 1.000 Kilometer bis Ende März. Ein »klein wenig Training« deutet auf 1.500 bis 2.000 Kilometer hin. Auffällig ist auch, dass Radfahrer vor Beginn einer gemeinsamen Trainingsfahrt grundsätzlich sterbenskrank sind oder es gerade waren. Wobei sich die Heftigkeit der Krankheit umgekehrt proportional zur eigenen Leistung verhält. Wer nichts draufhat, wurde noch bis vorgestern von einem unbekannten Virus aus der afrikanischen Graswurzelsteppe malträtiert, der ältere Menschen oder Kinder mit hoher Wahrscheinlichkeit das Leben gekostet hätte. Deshalb sei es sowieso ein Wunder, dass man überhaupt auf dem Sattel sitzen könne. Gut kommt auch eine rätselhafte Autoimmunerkrankung, die noch nicht exakt diagnostiziert werden konnte, aber einen furchtbar quält. Meist handelt es sich dabei schlicht um einen Schnupfen. Seltsamerweise jammert Brägel nicht; und er ist verdammt gut in Form. »Na, Alter, hast wohl schon ’ne Menge trainiert?«, frage ich. Die Antwort ist klar: »Nein, so gut wie nicht, höchstens 100 Kilometer bisher und ein-, zweimal Hometrainer.« Geschenkt.

WER, BITTE, IST JAN ULLRICH?

RADPROFIS, FUSSBALLER, AUTORENNFAHRER – WELCHE SPORTLER SIND DENN NUN DIE GRÖSSTEN?

1994 bis 2001

Brägel befindet sich zur Zeit im Wintertraining, wie er das nennt. Das bedeutet: Der Lapp schaufelt jeden Abend beim Italiener Unmengen Pasta in sich rein, garniert mit einer Drei-Mann-Dosis Chianti. Neulich habe ich mich erweichen lassen und bin mitgegangen.

Am Tisch sitzen noch zwei Herren, die etwas befremdet aus der Wäsche schauen, als Brägel nach Vorspeisen, Fettucini mit Steinpilzen und Pizza Tonno noch eine Portion Spaghetti Carbonara ordert. Brägel blökt: »Ullrich, meine Herren, nimmt im Winter auch immer zu.« Das mag ja sein, nur wiegt der selbst nach 24 Dinnerparties noch zehn Kilo weniger als Brägel vor seiner Mast, will ich gerade einwerfen, als einer der Männer fragt: »Verzeihung bitte, aber wer ist Ullrich?« Brägel starrt fassungslos sein Gegenüber an, aus seinem offenen Mund fällt ein Stück Tunfisch-Pizza in den Chianti.

Einige Minuten später hat sich geklärt, dass wir mit einem Fan von Bayern München und einem Formel-1-Freak am Tisch sitzen. Urplötzlich waren wir mittendrin in einer heftigen Diskussion über Für und Wider der Sportarten. »Fußballer, ha«, höhnt Brägel. Das seien doch alles grinsende Sonnenbank-Zombies, Goldkettchenträger, schwafelnde Dummbeutel, die den ganzen Tag nur »Ich sach mal« oder »Ja gut« rausbringen. »Und bei Länderspielen müssen die immer den Text der Nationalhymne auf der Anzeigetafel ablaufen lassen, weil der Basler sonst wieder oins, zwoa, gsuffa brüllen würde.«

Der Bayernfan holt Luft und fährt den Konter. »Hören Sie doch auf mit Ihren Stramplern. Die sind ja wie Hamster im Laufrad. Und dazu noch vollgestopft mit Chemie. Lauter radelnde Apotheken. Wie die schon aussehen mit ihren lächerlich bunten Hemdchen, den Nachttöpfen auf dem Kopf und den Angeber-Sonnenbrillen.« Ganz nebenbei seien die Rennen auch stinklangweilig, weil man wochenlang zuschauen muss, bis endlich einer gewinnt. Und dazwischen passiert nichts, außer die Polizei nimmt Hotelzimmer auseinander.

Quatsch, mault Brägel, allein die Kunst beim Sprint, der runde Tritt am Berg, die diffizile Steuertechnik bei der Abfahrt – das Stichwort für den Schumi-Fan: »Technik, Geschwindigkeit, das Spiel im Grenzbereich; das hat keiner besser im Griff als Schumacher«, schwärmt er. Dafür bläst er Tonnen Dreck in die Luft, maulen die anderen. Mag sein, aber das sei ökologisch auch nicht schlimmer, als wenn die Bayernspieler nach dem Training ihre S-Klasse starten oder ein gedopter Radler seinen sondermüllpflichtigen Urin in eine Wiese pinkelt.

Jetzt waren wir mittendrin in der schönsten Schreierei. Einmischen sinnlos. Aber die Frage bleibt: Welche Sportart taugt zu was? Hier nun die ultimativen Definitionen, die, logischerweise, wissenschaftlich abgesichert sind:

Berufsfußballer sind Menschen, die ihr Geld damit verdienen, dass sie einmal in der Woche luftgefüllten Lederkugeln hinterherrennen. Die Kugeln werden meist mit dem Fuß, gelegentlich auch mit dem Kopf geschlagen, wobei letzteres in vielen Fällen dazu führt, dass Berufsspieler im Lauf der Jahre ein eher einfaches Gemüt entwickeln. Bestätigt wurde dies jüngst durch einen Test. Auf die Frage: »Welches Buch beeindruckt Sie am meisten?«, antworteten 94,6 Prozent mit: »Mein Sparbuch«. Weitere Nennungen: »Drei Schwedinnen auf Ibiza« und: »Kicker-Sonderheft Bundesliga«. Fußballer haben deshalb Trainer, die ihnen sagen, wo das Tor steht und wieviel Uhr es ist. Dazu noch Manager, die ihre Verträge aushandeln, sie bescheißen und sie am Ende ihrer Karriere in eine Lottoannahmestelle oder eine Auto-waschanlage entlassen.

Berufsradfahrer verdienen ihr Geld sehr viel härter. Die meisten haben in ihrer Jugend auch mal versucht, Loddarmadäus zu werden, wurden aber als Grobmotoriker ausgemustert. Wie Fußballprofis auch, verbringen sie den Januar meist auf einer Kanaren- oder Baleareninsel zum Training. Fußballprofis erkennt man an der Golftasche, Radprofis am etwas ungelenken Gang und Badelatschen mit drei Streifen. Berufsfahrer verdienen zwar sehr viel weniger Geld als Kicker, bekommen dafür aber Medikamente umsonst, die andere noch nicht einmal kaufen können. Außerdem werden sie nahezu ununterbrochen ärztlich untersucht und sind deshalb die gesündesten Menschen auf diesem Planeten. Dafür müssen sie während der Saison jeden Tag arbeiten und oft genug in lausigen Hotels schlafen. Radprofis brauchen selten einen Manager und haben am Ende ihrer Karriere fünf Alternativen: Radgeschäft, Sportlicher Leiter, Co-Kommentator ARD, Co-Kommentator Eurosport oder Pharma-Repräsentant.

Formel-1-Helden haben den härtesten Job. Sie müssen derart schnell um die Kurven jammern, dass es ihnen beinahe den Kopf von den Schultern reißt. Deshalb trainieren sie neun Stunden am Tag ihre Halsmuskulatur, was derart anstrengend ist, dass es einem das Kinn dauerhaft verzieht – siehe Michael S. Daneben müssen die Herren unentwegt langbeinige Blondinen mit Sonnenbrillen abwehren und sich um so lästige Dinge wie einen Liegeplatz für die Yacht in St.-Tropez kümmern. Ihre wenige Freizeit nutzen sie zum Fußballspielen, Radfahren oder Kinder zeugen. Sollte nicht ein kleiner Schraubenbruch bei Tempo 350 die Karriere beenden, droht Rennfahrern am Ende die totale Öde. 30 Jahre lang auf der Luxusyacht durch die Südsee – ein Alptraum, weshalb viele so lange in anderen Rennserien weiterfahren, bis doch noch ein Schräubchen bricht, oder auf Polo oder Hundeschlittenrennen umsatteln.

Die drei Herren in der Kneipe jedoch sind strengen Definitionen nicht zugetan. Sie brüllen weiter, wobei ein Verlierer feststeht. Brägels Carbonara sind kalt geworden.

KONZENTRATION AUFS WESENTLICHE

DIE STARS MACHEN ES VOR: MAN KANN NICHT DAS GANZE JAHR ÜBER IN BESTFORM SEIN. JEDER BRAUCHT SEINEN SAISONHÖHEPUNKT …

1994 bis 2001

Zu meiner großen Freude kommt Brägel zur Zeit ziemlich bleich daher. »Na, Alter, was ist? Hast du Grippe, oder ist deine neue Flamme doch wieder mit einem anderen abgezwitschert?« Eigentlich müsste er nach so einer Ansprache am Montagmorgen aus der Haut fahren. Wenigstens ein kleines bisschen. Statt dessen nimmt mich der Lapp mit Leidensmiene zur Seite. »Pass gut auf«, flüstert er. Und dann geht es los. Von wegen Grippe. Er habe sich beim Italiener durch eine mit alter Sahne verhunzte Lasagne eine Schädigung seiner empfindlichen Darmflora zugezogen (Durchfall). Das wiederum hatte eine katastrophale Störung seines Trainings zur Folge. Besonders, weil auch noch eine hartnäckige bakterielle Infektion der oberen Atemwege (Husten) dazukam. Zudem plagen ihn eine Einblutung in die unteren Hautschichten am linken Oberschenkel (blauer Fleck nach Kontakt mit der Schreibtischkante) und eine chronische Entzündung in der Mundhöhle (Zahnfleischbluten nach Biss in einen grünen Apfel). »Von wegen ein bisschen blass; ich bin am Ende«, nuschelt der Nachbar.

Das mag ja sein, seine weinerliche Art ist aber doch ziemlich neu. Zumindest, wenn er noch nicht einmal im Sattel sitzt. Also bohre ich ein bisschen nach, bis er endlich mit dem Grund seiner Leiden rüberkommt. Brägel hat ein Buch der »Arbeitsgemeinschaft Radsportärzte in Deutschland« (ARD) gelesen. Der Titel: »Jan Ullrich – in 100 Tagen vom Totenlager zum Toursieg«. Das hat ihn schwer beeindruckt und mit zwei Erkenntnissen zurückgelassen. Erstens: Jeder sportive Mensch ist im Prinzip dermaßen krank, dass er sekündlich mit seinem Ende rechnen muss. Zweitens: Radsport auf höchstem Niveau ist nur dann möglich, wenn man maximal einmal im Jahr ernsthaft in die Pedale tritt. Für ihn heißt das: Alle Konzentration gilt dem 18. Juli 1999, einem Sonntag. Da findet die RTF »Rund um Kleckersdorf« statt, und Brägel hat für die mittlere Strecke gemeldet. 90 Kilometer mit zwei Hügeln.

So ein Schmarrn. Der Kerl weiß genau, dass wir jedes Jahr Kleckersdorf fahren, manchmal sogar die 135 Kilometer. Und er weiß auch, dass wir uns an diesem Tag, wie jedes Jahr, nachmittags auf meiner Terrasse zur Übertragung der Touretappe treffen werden. Den Hinweis kontert er freilich gnadenlos. »Du willst ja auch nur mitfahren. Ich will alles, ich will den Sieg.«

Und deswegen ist er jetzt sterbenskrank. Weil ja auch der Ullrich immer erst zu dick und dann zu schwächlich daherkommt, kopiert Brägel gnadenlos das südbadische Erfolgsmodell, was ihm beim Gewicht sowieso nicht schwerfällt. Und den ganzen Krankenzirkus macht er nur, um mich an einem lächerlichen Fünfprozenter abzuhängen; was ihm im übrigen nicht gelingen wird. Ganz sicher nicht.

Der Wahnsinnige konsultiert jetzt einen Sportmediziner, einen Ernährungsberater, einen Physiotherapeuten, einen Akupunkteur, vier Geistheiler, eine spiritistische »Gnade« und einen Guru aus der Schweiz, der gut gegen Blähungen sein soll und 500 Mark pro Sitzung kassiert. Dienstag abends geht er zudem in ein Rebirthing-Seminar. Brägel glaubt ganz fest daran, dass er die Wiedergeburt von Fausto Coppi sei. Das ist natürlich völliger Blödsinn, weil der Nachbar schon gelebt hat, als Coppi noch gar nicht tot war. Außerdem ist der Italiener nie von Lasagne krank geworden. Capito? »Dann war ich eben Eddy Merckx«, grollt er. Himmel, hilf; am Ende einigen wir uns darauf, dass er früher vielleicht einmal als Josef Fischer unterwegs war. Nein, nicht unser Außenminister. Fischer hat 1896 die erste Auflage von Paris–Roubaix gewonnen und müsste damit 1999 eigentlich für eine Wiedergeburt zur Verfügung stehen. Aber auch das ist unwahrscheinlich, schließlich haben die Jungs damals nicht so geschwächelt.

Brägel hat jetzt erst einmal alle RTF-Termine bis Mitte Juni abgesagt. Er will mit seiner Entourage im warmen Süden trainieren und sich zum ersten Mal Mitte Juni über 60 Kilometer bei einer 200-Kilometer-Touristikfahrt in der Emilia Romagna ausbelasten. »Bei der ersten Verpflegung gehe ich aber raus«, sagt er. Wenn das der alte Fischer hören könnte.

Auch das Training hat er radikal umgestellt. Brägel radelt mit vorgeschnalltem Pollenfilter und trinkt vorher zwei Liter Blutreinigungstee. Auch das ist von Ullrich im übrigen nicht bekannt, ebensowenig wie der tägliche Einlauf mit Bachblütenextrakt. Für die Zeit nach dem 18. Juli hat Brägel eine Serie kleinerer RTFs (so um die 40 Kilometer) eingeplant. »Und einige Pressetermine«, erklärt er. Sollen wir ihm wirklich sagen, dass die örtliche Zeitung seit Wochen stöhnend seine Faxe in den Papierkorb wirft? Besser nicht, er ist schon bleich genug. Außerdem wird ihn die Erkenntnis hart treffen, dass es bei der Kleckersdorfer RTF gar keine Zeitmessung gibt. Zumindest nicht bei der mittleren Runde.

Aber, wie gesagt, er hat sowieso keine Chance, auch gesund nicht. Doch dass er im Moment so blass ist, macht einem schon Sorgen. So sieht Jan Ullrich nicht mal im Dezember nach einer Woche Vollgas-Fete aus. Vor einigen Jahren gab es ja einmal einen Dopingverdacht gegen Brägel. Er soll mit Eigenurin experimentiert haben. Es ist zwar (leider) nicht bewiesen worden, aber eines ist auch klar: Nie wieder ein Schluck aus seinem Bidon. Am Ende wird man davon noch krank.

PRIMAT DER TECHNIK

RADFAHREN IST EINE GESUNDE, SPORTLICHE BETÄTIGUNG AUF EINEM GERÄT, DAS PERFEKT AUF DIE BEDÜRFNISSE DES MENSCHEN ABGESTIMMT IST. ODER?

1994 bis 2001

Früher hockte der Mensch auf Bäumen, die Knie irgendwo bei den Ohren, zupfte ein paar Blätter und war eigentlich ganz zufrieden. Wenn er mal in die Welt hinein wollte, sauste er auf allen vieren durchs hohe Gras, schrie gelegentlich »Ugah, ugah«, damit nicht aus Versehen ein Mammut auf ihn drauftrampelte, und ließ es sich gut gehen. Das waren halt noch so richtig schöne Zeiten. Das Leben kam heiter daher und beschwingt.

Jetzt haben wir den aufrechten Gang und einen rechten Stress. Was hat uns denn die Evolution gebracht? Richtig – viel Arbeit, viel Ärger, und hätte nicht irgendein genialer und aufrechter Mensch die Braukunst erfunden, dann gäb’s noch nicht einmal ein Weizenbier.

Man kann nun aber leider nicht jeden Abend gläserweise Weißbier in sich reinschütten. Erstens leidet die Form, zweitens schmeckt’s im Winter nicht so recht und drittens jault die Gattin, weil immer die Zitronen aus sind. Dem Himmel sei Dank, gibt es aber noch das gute Radel und neuerdings eine Entwicklung, die am Zahn der Zeit ein paar Millionen Jährchen abschleift. Der Velo-Mensch hat allerlei aerodynamische Hilfen am Lenker entdeckt, die ihn zurück in die heitere Vergangenheit zwingen. Jetzt duckt sich der Homo Strampelcus aufs Gerät, krümmt sich zusammen wie ein Wurm, beugt wie einst der Primat das Kreuz dem Boden zu. Und wo sich der Mensch wieder zum Halbaffen entwickelt, ist einer natürlich nicht weit – genau, Kamerad Brägel.

Der kam neulich mit einer abenteuerlichen Konstruktion daher. Nach einer Fernsehübertragung vom Stundenweltrekord in Manchester war er in den Keller geflitzt, hatte den Wäscheständer seiner Freundin auseinandergeschraubt, aus den Einzelteilen ein Rechteck aus vier Rohren gebastelt und das Ganze mit Schraubschellen an seinen Lenker geklemmt. Danach sah das arme Velo aus wie eine Fernsehantenne auf Rädern, und wenn Brägel nach den Griffen (mindestens einen Meter vor dem Vorbau) fingerte, berührte sein Hintern gerade noch so die Sattelspitze. Kurzum – wieder einmal ein Bild des Jammers. »Genau wie Boardman«, jubelte der Lapp dagegen, als er mühsam die Straße runtereierte. Ein klarer Fall von Selbstüberschätzung. Der Brite hat sich bei seinem Stundenweltrekord flach gemacht wie ein Bierdeckel, Brägel dagegen klemmte wie ein aufgeklappter Zollstock auf seiner peinlichen Konstruktion. An jenem Tag waren das übrigens seine letzten Worte. Die Aluröhrchen gaben unter seinen 95 Kilo nach, er stieg kopfüber ab und musste sich auch noch vor seinem Hausbesitzer in Sicherheit bringen. Der war nämlich kurz zuvor fassungslos vor seinem durchgeschnittenen Gartenschlauch gestanden. Brägel hatte noch irgendetwas als Griff gebraucht …

Es dauerte fast vier Tage, um die Szenerie wieder zu beruhigen. Schließlich packte Brägels Freundin ihren Koffer wieder aus, der Vermieter nahm die Kündigung wegen Vandalismus zurück, Brägel wurde im Krankenhaus an der Stirn genäht und bekam 14 Tage Sportverbot.

Das Problem aber bleibt – Aerolenker, das muss jetzt einfach sein. Damit ist der Mann nun allerdings nicht allein auf der Welt. Wer was auf sich gibt, macht sich krumm. Angefangen hat das Ganze seinerzeit mit einem Ami namens Greg LeMond, der sich bei der letzten Etappe der Tour de France 1989 einen, damals nur Triathleten bekannten, Lenkerbügel ans Rad schraubte und im abschließenden Zeitfahren Laurent Fignon noch aus dem Gelben Trikot fuhr – um acht Sekunden nach 4.000 Kilometern. Das hat schon Eindruck gemacht auf die Szene. Und heute gibt es nun Sachen, die gibt es eigenlich gar nicht. Aberwitzig verbogene Rohre, mit Polster und ohne, Griffe mit Gummi oder mit Kork, Hörnchen und Sticks und weiß der Teufel, was noch.

Das Resultat dieser Art von Aufrüstung bleibt aber in jedem Fall das gleiche. Der Mensch bringt sich in eine Position, die ungefähr so bequem ist wie Unkraut jäten im Stehen.

Und weil bei vielen die Lendenwirbelsäule auch schon ein bisschen steif geworden ist, wird der Bügel eben solange nach oben gebogen, bis es wieder bequemer wird. Da sitzt nun unser Aeroradler, fast wieder aufrecht, aber mit zusammengedrückter Lunge, weil er den engen Bügel nicht loslassen will.

Genaugenommen können die ganzen Dinger ja nur von Orthopäden erfunden worden sein, die sich Gedanken um die Patienten von morgen gemacht haben. Der letzte Lenkerschrei bestätigt das. Die spartanischen Griffe vorn zwischen den Bremsen sollen ja schon Jan Ullrich über die Pyrenäen geholfen haben. Mittelgriff und dann rein ins Pedal. Man nennt das übrigens »Spinaci« (zu deutsch: Spinat), was bedeutet, dass man davon so dicke Arme wie weiland Popeye bekommt. Allerdings nicht wegen der Muskeln, sondern weil die Unterarme ungeschützt auf dem harten Lenkerrohr abgestützt werden müssen.

Nein, wir wollen hier nicht meckern. Streng wissenschaftlich gesehen ist es ja sogar gesund, sich ins Lenkerhorn zu legen. Aber nur dann, wenn alles stimmt. Auflage 20 Zentimeter unter Sattelhöhe, Winkel zwischen Ober- und Unterarm zwischen 90 und 105 Grad, desgleichen auch zwischen Oberarm und Oberkörper. Und wenn das Knie hochkommt, darf es maximal zehn Zentimeter am Ellenbogen vorbeidrehen. Soweit die Theorie: Wer Brägel gesehen hat, braucht keinen Winkelmesser. Seine Knie können gar nicht bis auf zehn Zentimeter an die Ellenbogen heran, weil dazwischen die Wampe schwabbelt. 90 Grad kennt der nur in der Sauna, und was passiert, wenn die Arme 20 Zentimeter unterm Sattel sind – siehe oben.

Es gibt eben einfach leichtere Wege zurück zu den Wurzeln der Menschheit. Zum Beispiel mit einem Weizenbier in der Hand auf einem Baum hocken, die Knie an den Ohren, warum nicht? Beim Radeln darf es aber schon noch ein bisschen mehr moderner Mensch sein. An dieser Stelle müssen wir leider aufhören – Brägel kommt mit farbigen Nasenpflastern über die Straße gehetzt. Aber das ist eine ganz andere Geschichte.

GLEICHBERECHTIGUNG

WENN ZWEI DAS GLEICHE TUN, IST DAS NOCH LANGE NICHT DASSELBE…

2002

Es hat sich doch einiges geändert in den vergangenen hundert Jahren. Zum Beispiel sind Frauen und Männer gleichberechtigt. Das steht sogar im Grundgesetz, wobei das Thema Radfahren dort leider nicht explizit erwähnt wird. Auf dem Velo sind Männer deshalb immer noch ein bisschen gleicher als Frauen, was besonders für unseren Sportskameraden Brägel und seine Viola gilt. Brägel hat im Frühjahr beschlossen, seine mittlerweile Angetraute und Mutter seines Sohnes in die Geheimnisse des sportiven Radfahrens einzuführen. Brägel junior ist aus dem Gröbsten raus, also will der Lapp die Mutter des späteren Toursiegers Jan-Miguel ein bisschen auf ihren künftigen Lebensinhalt einstimmen.

Dazu hat er zuerst einmal sein Equipment für knapp 1.500 Euro »upgedated«, wie er das nennt: Einen Satz neue Laufräder, superleichte Pedale, Schuhe und einen Wahnsinnscomputer, der Dinge misst, von denen er nicht mal weiß, was sie bedeuten. Außerdem versucht er, das in TOUR vorgestellte Buch von Richard R. Türck zu bestellen, weil er sich unbedingt Seegurken ans Tretlager schrauben will. Darüber lachen wir im Radclub seit zehn Tagen, aber das ist ein anderes Thema. Brägel ist jedenfalls bereit.

Für Viola hat Brägel auch was passendes gefunden. Ganz hinten im Keller, sein altes Staiger-Zehngang, mit dem er vor gut 30 Jahren in die Schule geradelt ist. Rund 18 Kilo schwer und mit sehr hübschen, antiken Rostblüten im Lack. Das bringt er zwecks Modernisierung zum Händler, der allerdings lapidar zum sofortigen Verschrotten rät. Brägel juckt das aber nicht. Er wühlt ein bisschen in der Altmetall-Sammelkiste seines Händlers und legt dem Mechaniker eine uralte Siebenfach-Schaltung, Riemenpedale, Unterrrohrschalthebel und einen gebrauchten Ledersattel auf die Werkbank. Und ein paar museumsreife Modolo-Bremsen. »Sie soll fahren, nicht bremsen!«, scherzt Brägel. Keiner lacht. Und weil er schon mal da ist, kauft er noch ein neues Telekom-Trikotset und eine smarte Sonnenbrille. Für sich.

Ausfahrt am nächsten Sonntag. Brägel sitzt in Magenta und mit geölten Waden auf seinem 4.000-Euro-Renner und zupft gutgelaunt an der verspiegelten Brille. Der neue Computer ermittelt leise summend Außentemperatur, Blutdruck und anaerobe Schwelle, die Sonne blitzt in den blanken Speichen. Dahinter Frau Viola in Tennisschuhen, Shorts und einem T-Shirt der örtlichen Bausparkasse. »Wir fahren locker, maximal mit Puls 120, runder Tritt, etwa 25 Kilometer. Du fährst vorne, denn wenn ich das mache, muss ich dauernd zurückschauen, ob du mitkommst«, doziert Brägel mit öligem Lächeln. Viola nickt brav und rollt an. Brägel gibt ihr noch gönnerhaft einen Klaps auf den Po und will dann auch losfahren. Leider kommt er nicht richtig ins linke Pedal, sucht erst fluchend den Klick, und dann, als er endlich drin ist, Viola. Die hat sich aber schon hundert Meter abgesetzt. »Weiber«, denkt er. Ein kurzer, geschmeidiger Antritt à là Cipollini, und schon ist er wieder dran.

Viola fährt und freut sich, und Brägel gibt schlaue Anweisungen: »Mehr über das Tretlager setzen, höhere Frequenz, auf den Puls achten, schalten.« Viola antwortet nicht und fährt. Nach zehn Kilometern kommt ein kleiner Hügel. Brägel wird einsilbig. »Wenn du weiter so drückst, geht dir gleich die Luft aus.« Viola sagt nix und drückt. Brägel sagt auch nicht mehr viel – weil er Luft braucht. »Hey, ruhiger, Himmelhergottnochmal, fahr’ einen Gang leichter«, bellt er sie an. Viola sagt nix, schaltet nicht, fährt. Eine Gruppe Hobbyradler saust vorbei und freut sich an dem Anblick: Die Dame auf dem Oldtimer, und dahinter der High-Tech-Macho mit leicht rotem Schädel. »Du brauchst wohl Windschatten, Alter?«, ruft einer. Brägel kocht über. »DU BIST VIEL ZU SCHNELL«, herrscht er nach vorn. Viola sagt nix und fährt.

Nach 20 Kilometern bekommt Brägel echt Probleme. Rührt im Getriebe, tritt mal schneller, mal langsamer, nimmt einen Schluck aus der Trinkflasche. Viola trinkt nicht und fährt. »Du kannst morgen vor Muskelkater nicht mehr laufen«, keucht Brägel, »wir sind hier beim Radfahren und nicht auf der Flucht.« Viola sagt nix. Brägel auch nicht. Dafür beginnt jetzt sein Pulsmesser zu piepsen. Der Kerl verflucht den Tag, als er für seine Flamme das Rad entdeckt hat. »Entweder ich bin krank oder die ist gedopt«, presst er kaum hörbar hervor.

Finale. Die letzten fünf Kilometer, es geht leicht bergauf. Viola sagt nichts und fährt, Brägel verliert den letzten Rest Selbstachtung, macht sich ganz klein, konzentriert sich auf das Hinterrad seiner Holden und würde ihr liebend gern in die Waden schießen oder sie in siedendem Kettenfett braten. Sagen kann er nichts mehr. Den Pulsmesser hat er ausgeschaltet. »Ist das sehr langsam für dich, Schatzi?«, kommt es plötzlich von vorn. Brägels Schädelfarbe wechselt von Rot zu Purpur, was Viola aber nicht sieht. »Geht schon, Mausi«, flötet der Dampfkochtopf hinter ihr mit letzter Kraft.

Ziel. Viola strahlt, wischt sich ein paar Schweißtropfen von der Stirn. »War richtig klasse, Männe, das können wir jeden Sonntag machen.« Brägel sagt nichts mehr. Erst am Abend in der Kneipe. »Ich lass mich scheiden!«, mault er beim ersten Hefeweizen. Aber dann grinst er maliziös und beschließt, einen Kinderanhänger zu kaufen. Für Viola – damit die Mutter-Kind-Bindung während des Trainings nicht leidet.

WEIL …, WEIL …

BRÄGEL KANN AUCH NÜTZLICH SEIN: SEINE BESTEN AUSREDEN FÜR PLÖTZLICHE FORMSCHWÄCHEN. ZUR FREIEN VERFÜGUNG …

2001 bis 2004

So Buben; auf geht’s, suupi, jetzt nochmal richtig«, jubelt Brägel am Anstieg zum Col de la grande Finale. In Wahrheit heißt der Hügel natürlich nicht wie ein französisch-italienischer Eisbecher. Es ist eine namenlose Erhebung mit etwa 180 Meter Höhenunterschied, die immer am Ende der Trainingsrunde unseres Radclubs liegt. Aber wir wollten ja von Brägel berichten. Der also haut zwei Gänge hoch, geht aus dem Sattel, tritt, was er kann und zwar ziemlich exakt 24 Sekunden. Dann platzt Brägelchen wie zu erwarten, rührt in den Gängen, stellt die Knie seitlich aus, ruckt am Lenker und bleibt fast stehen. Wir fahren vorbei, grüßen freundlich. »Suupi«, ruft einer. Die anderen lachen.

Abends, im Clubhaus, erzählt uns Brägel mit stockender Stimme, warum es wider mal nicht ging. Er sei seit zwei Monaten Mitglied im esoterischen Zirkle »Kreisender Kosmos« und hätte zur seelisch körperlichen Läuterung just vor der Winterausfahrt vier Tage bei Gemüsebrühe und Mineralwasser gefastet.

Das sei zwar suupi, mache aber ein bisschen müde. Warum der Lapp jetzt einem Widergeburtsverein beigetreten ist, fragen wir erst gar nicht, weil es eh keiner glaubt, zumal Brägel gerade das zweite Weizen zu seinem Schniposa-Teller (Schnitzel, Pommes, Salat) bestellt. Mal abgesehen davon, dass der Menschheit nicht viel verloren ginge, wenn es Brägel nur einmal im Kosmos gäbe, fällt die Geschichte wohl eher unter die Rubrik »Beste Ausreden« – und darin ist der Mann Weltmeister, wenn nicht gar Master of the Universe. Keine Schwäche, die Brägel nicht haargenau erklären könnte. Im Folgenden deshalb seine Best-of-Liste, ohne Anspruch auf Vollständigkeit.

Das Naheliegendste sind körperliche Probleme, die er allerdings exclusiv auf dieser Welt hat. Zum Beispiel die chronische Virusinfektion, die seit Monaten verschiedene Spezialisten deutschlandweit in Atem hält, die aber auch nicht so genau wissen, was dem Mann fehlt. Der Virus lässt den armen Kranken die meiste Zeit völlig in Ruhe und entfaltet seine zerstörerische Kraft nur bei körperlicher Beanspruchung, wobei durchzechte Nächte bei Weihnachtsfeiern nicht dazu gehören. Gut macht sich auch die Aussage, dass Nebenwirkungen der Medikamente, die er wegen seiner rätselhaften Infektion ständig einnehmen müsse, wichtige Stoffwechselvorgänge negativ beeinflussen und ein Verkleben der roten Muskelfasern zur Folge haben würden. Wahlweise zu diesem Szenario philosophiert Brägel nach peinlichen Auftritten am Berg über eine orthopädische Schwäche im rechten Kniegelenk. Dabei wirft er mit Ausdrücken wie Meniskus-Läsion, chronisch entzündeter Kapsel und ähnlichem um sich, kann aber mit dem final geschädigten Gelenk problemlos vier Stunden suupi Ski fahren. Wir raten ihm zu einer Operation, Brägel lehnt ab, weil »jede Narkose dein Leben um ein Jahr verkürzt«, wie er sagt. Angesehen davon, dass ein Jährchen angesichts seiner anstehenden Wiedergeburt locker zu verschmerzen sein dürfte, hat er dieses Wissen um die Narkosefolgen exclusiv.

Gern rharbarbert Brägel auch über Statikprobleme an und auf seinem Velo. Neulich hat er sich dabei selbst übertroffen. Der Lapp hat zu Geburtstag von seiner Viola suupi-neue Radsocken geschenkt bekommen, mit einer etwas dickeren Sohle, weil ja der Winter vor der Tür steht. Diese Socken waren dann für einen Schwächeanfall verantwortlich, den er damit erklärte, dass sich durch die dicke Sohle seine Sitzposition verändert habe. Er sei plötzlich vier Millimeter zu hoch gesessen und hätte deshalb seine urwüchsige Kraft nicht optimal aufs Pedal übertagen können. Himmel, hilf. Einer hat diese Geschichte tatsächlich geglaubt und die Sohlendicke seiner Socken vermessen. Kein Witz.

Vor jeder Ausfahrt unternimmt Brägel zudem exakte Vermessungen an seinem Rad. Zwischen Sattelspitze und Vorbau müssten eineinhalb Armeslängen Luft sein; wobei er meistens so draufsitzt, als habe er die Armlänge eines Orang Utan zum Maß genommen, und zwar zweieinhalbmal. Auch Messfehler zwischen Sattelunterseite und Tretlagermittelpunkt müssen oft als Grund herhalten. Peinlich war aber die Ausrede mit dem Sattelstand. Da die Sattelspitze sechs Grad zu steil nach oben ging, habe es ihm wegen verstärkten Hodendrucks die Blutversorgung im Oberschenkel abgestellt, jaulte er neulich.

Unerreicht sind Brägels psychologische Ausreden: Natürlich sei die Weltlage alles andere als suupi und wirke leistungsmindernd aufs Gemüt; vor allem durch die Baisse an den Finanzmärkten, Sabine Christiansens Trennung von ihrem Mann oder den Film »Drei Schwedinnen auf Ibiza« in RTL2. Warum gerade der? »Weil er erst um 02:45 Uhr anfing«, sagt Brägel, »war zwar suupi, aber jetzt bin ich müde.« Ganz neu ist die Eingebung, dass er sich in diesem Leben nicht so plagen soll, weil ihm die Wiedergeburt als Skilehrer in St. Moritz avisiert wurde. »Und da braucht man volle Power«, sagt Brägel.

Suupi. Wir nicken voller Verständnis und fragen ihn, ob er bei unserer 50-Kilometer-Weihnachtstour am 6. Dezember mitfahren will. »Natürlich bin ich dabei«, behauptet es, »im Moment bin ich suupi in Form«. Das wird sich ändern bis zum Start, das ist sicher. Wahrscheinlich waren dann die Zimtsterne schlecht, wenn es ihn wieder aus der Gruppe raushaut. Oder die Vorfreude auf das Nikolausfest mit seinem Junior ist schuld, oder das traurige Leben von Dieter Bohlen – warum auch immer. Wir werden’s erfahren. Subito.

CARBONRENTNER

DER GENERATIONENKONFLIKT MACHT BRÄGEL ZU SCHAFFEN. ALSO ERFINDET ER DEN KNIGGE FÜR RENNRADFAHRER

2005

Es ist nur ein kleiner Anstieg. Wir fahren locker dahin, als von hinten eine Gruppe anrollt. »Keinen Stress jetzt«, keucht Brägel, »lassen wir sie einfach vorbei.« Auch der alte Hans nickt eifrig. Na gut. Es ginge zwar noch was, aber es muss ja nicht jedes Mal Rennen sein. Die anderen fahren vorbei, wir grüßen freundlich. Keine Antwort. Der alte Hans hebt mangels Luft die Hand. Keine Reaktion. »SERVUS«, kräht Brägel, als sie fast schon vorbei sind, aber die anderen bleiben stumm, schauen hinter ihren verspiegelten Brillen starr nach vorn, nach links oder durch uns durch. Lauter junge, schlanke Kerle. Einer rotzt (nach rechts), die anderen schweigen. Als der letzte vorbei ist, hören wir deutlich: »Viel Kohle, kein Tritt – typisch Carbonrentner.« Die anderen Schnösel lachen. »Los, die blasen wir aus den Schuhen«, ächzt Brägel. Ich mache ihm klar, dass er fast am Limit ist, die da vorn aber höchstens im Standby rollen, dass die Lackel fast unsere Söhne sein könnten und die beste Reaktion unsererseits jetzt gar keine ist. Brägel fügt sich schnaubend, der Präsident murmelt ein gequältes »Pedalpack, mistiges«, wir rollen schweigend weiter und hängen dunklen Gedanken nach.

Zwei Stunden später im Clubhaus die Aufarbeitung. Wir fragen uns, ob wir selbst früher auch derart respektlos gegenüber älteren Sportkumpeln waren. Der alte Hans verneint, wobei nicht sicher ist, ob es überhaupt schon ältere Rennradler gab, als Hans jung war. Damals waren gestandene Männer schließlich mit dem Wiederaufbau, dem Wirtschaftswunder und der Produktion geburtenstarker Jahrgänge beschäftigt. Brägel meint, dass er als Jugendlicher im Fußballverein den Kickern der AH immer die Sporttaschen getragen hat, was wir nicht so recht glauben wollen. Wahrscheinlich hat er da Biermarken fürs Sommerfest bekommen. Es besteht also der begründete Verdacht, dass wir auch nicht anders waren und den Respekt vor Älteren erst entwickelt haben, seit wir selbst morgens nur noch mit Dehnübungen für Kreuz und Knie in die Senkrechte kommen, also so ungefähr ab Mitte 30.

Fest steht aber, dass im Land der Anstand leidet, quer durch alle Alters- und Gesellschaftsschichten. Politiker werden als Absahner enttarnt, im Aufzug grüßt keiner mehr, und jetzt lassen sich sogar schon leibhaftige Schiedsrichter von schmierigen Halbwelt-Strizzis bestechen. Dabei galten die Unparteiischen zusammen mit Ordensschwestern als letzte moralische Instanzen in schwerer Zeit. Armes Deutschland. Aber da wir vom Radclub immer schon an das Gute glauben, gehen wir begeistert auf Brägels Idee ein, eine Art Knigge für Rennradfahrer auszuarbeiten.

Nach zwei Hefe hell stehen die Rahmenbedingungen für einen anständigen Freizeitsport. Es ist ab sofort strikt verboten, sich von hinten unbemerkt fremden Radlern zu nähern, sich anschließend schamlos im Windschatten zu erholen, nur um dann an einem passenden Berg mit 350 Watt anzutreten. Das ist nicht nett. Künftig begrüßen wir Fremde mit einem freundlichen Hallo und lassen sie auch in den Genuss unseres Windschattens kommen. »Haben wir doch noch nie gemacht«, flüstert der alte Hans. Ich nicke, aber Brägel denkt schon weiter. Die Handzeichen, die auf Löcher in der Straße oder sonstige Hindernisse aufmerksam machen, müssen wieder mehr zum Einsatz kommen, wer sich die Nase ausblasen will, lässt sich an das Ende der Gruppe zurückfallen, und gepinkelt wird in Zukunft nur außerhalb geschlossener Ortschaften und mit dem Rücken zur Straße. Hupende Autofahrer werden künftig nicht mehr mit dem Einsatz körperlicher Gewalt und unanständigen Worten bedroht. Ich erinnere mich noch gut, wie Brägel vor zwei Wochen einem hupenden Autofahrer nachhetzte und ihm beim nächsten Halt mit seiner Trinkflasche ins Auto gespritzt hat. Danach hat er ihn mit einer Salve von Wörtern belegt, von denen ein paar Kinder am Straßenrand rote Ohren bekamen. Das Ganze endete mit einer eindeutigen Morddrohung für den Fall, dass sich der Automobilist nicht sofort verpissen, Verzeihung: verkrümeln würde.

Und jetzt will Brägel zum Benimm-Radler werden. »Wir müssen Vorbilder sein«, sagt er. Es soll auch Schluss damit sein, dass wir uns über andere Radfahrer lustig machen und über ihre Velos oder Trikots herziehen. »Sollen wir sie auch noch ein bisschen küssen?«, ätzt der alte Hans, dem es langsam zu viel wird. Ich denke auch, dass es jetzt reicht. Ausgerechnet Brägel, der mich erst kürzlich hämisch gefragt hat, wann ich mein sieben Jahre altes Cinelli ins Museum für historische Technik bringen wolle. Danach hat er dreckig gelacht und voller Stolz seinen neuen Carbonrenner (7,153 Kilo, das Gramm zu je einem Euro) am Stammtisch präsentiert (er hat tatsächlich das Rad in der Kneipe um den Tisch geschoben).

Ich will Brägel gerade ein bisschen einbremsen und die dritte Runde Hefe hell bestellen, als die Jungradler das Vereinsheim betreten. Sie setzen sich grußlos und bestellen Apfelschorle und Latte Macchiato. Der Präsident erhebt sich schwer (84 Kilometer, zwei Hefe hell) und sendet eine Botschaft an den Nachbartisch: »Hört mal, demnächst sagt ihr Hallo, wenn ihr an uns vorbeifahrt. Das gehört sich so.« Er setzt sich, die Jungen tun so, als hätten sie nichts gehört. Jetzt kommt Brägel. »Seid ihr taub? Habt ihr nicht gehört, was der Chef gesagt hat? Das nächste Mal wird gegrüßt, sonst zieh ich euch persönlich mit der Luftpumpe einen Scheitel über eure gegelten Igelschädel, ihr Schnösel.« Die Jungen stehen auf, verbeugen sich, rufen: »Schönen guten Tag, die Herren«, und setzen sich wieder. Dann lachen sie herzhaft. Brägels Kopf glüht wie eine Christbaumkugel, aber er setzt sich schweigend wieder hin.

Es ist wirklich gar nicht so einfach mit dem Anstand.

SELBSTVERSUCH

DOPING IST, KEINE FRAGE, ALLERSTRENGSTENS ZU VERURTEILEN. WOBEI MAN JA DOCH MAL GERN WISSEN MÖCHTE, OB’S WAS BRINGT …

2006

Aus gegebenem Anlass müssen wir erst einmal darauf hinweisen, dass dieser Radschlag in weiten Teilen leider äußerst unappetitlich ausgefallen ist. Menschen mit vorhandenem Schamgefühl sollten also an dieser Stelle aussteigen und auf das nächste Heft warten. Danke.