Ihr elenden Mörder - Jürgen Löhle - E-Book

Ihr elenden Mörder E-Book

Jürgen Löhle

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Beschreibung

Die Tour de France - große Emotionen, harte Kämpfe und unfreiwillige Komik Juckpulver im Trikot, Nägel auf der Rennstrecke und Rennradfahrer, die lieber den Zug nehmen: Jürgen Löhle kennt die wilden Geschichten, die sich auf der Tour de France zugetragen haben. Von den skurrilsten, spannendsten und tragischsten Ereignissen erzählt er in seinem Buch "Ihr elenden Mörder!". • Anekdoten, Kuriositäten und Fun Facts rund um die Tour de France • Fahrer, Fans und Helfer – Menschen, die die Tour prägten • Hintergrundgeschichten zu den Etappen und Teams der Tour de France • Witziges Geschenk für Fahrrad-Fans und Radsport-Enthusiasten Die besten Anekdoten der Tour de France – menschlich, komisch, tragisch Zu den bekanntesten Geschichten gehört sicherlich die des Algeriers Abdel-Kader Zaaf. Während der TdF 1950 war er auf der Etappe nach Montpellier dem Feld weit voraus, wurde aber vom Durst geplagt. In einem Restaurant leerte er eine Flasche Weißwein. Aus dem anschließenden Mittagsschlaf weckten ihn die Fans, die allerdings nicht verhindern konnten, dass er in die falsche Richtung losradelte und disqualifiziert wurde. Zwei Jahrzehnte später wurde einem Radprofi nach der Dopingkontrolle zur Schwangerschaft gratuliert. Einmal verirrte sich ein Mannschaftsbus auf die Ziellinie und konnte erst in letzter Sekunde vor dem Eintreffen des Pelotons wieder weggelotst werden. Unvergessen ist auch Chris Froomes Jogging-Einlage 2016 am Ventoux, als er nach einem Unfall auf sein neues Rad wartete. Diese und viele weitere Anekdoten zaubern schnell ein Lächeln und ungläubiges Staunen ins Gesicht der Radsport-Fans!

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JÜRGEN LÖHLE

”Ihr elenden Mörder“

KURIOSE GESCHICHTENVON DER TOUR DE FRANCE

Inhalt

Prolog

Auf der Straße

Die Anarchie der Gründertage

Falscher Bart und falsche Brille

Sekundenspiele

Um die Tour zu ärgern – die DDR verschiebt die Friedensfahrt 1987

Von Bussen und Bögen

Die verrückten Fans der Tour

Dichter Verkehr – Chris Froome rennt zu Fuß

In den Bergen

„Ihr elenden Mörder“

Treten, bis … ja, bis wer kommt?

Immer höher

Tiefe Stürze

Der Berg der Holländer

Der Letzte als Erster

Fair Play in den Rampen

Ullrichs Abgang über den Lenker

Das Wetter

Regeln, Taktik und viel Geld

Die Crux mit den Regeln

Die Rebellion der Pélissiers

Der Ärger mit dem Trikot aus Seide

Der taktisch verschenkte Etappensieg von Henn und Heppner

Aberglaube, oder: Lass bitte das Salz stehen

Der liebe Gott ganz nah am Rad

Geld regiert auch die Tour

Legales Essen und feister Betrug

Mahlzeit

Die Weißweinpause des Abdelkader Zaaf

Hennes Junkermann und „dä Fisch“

Doping

Fahrerstreik nach Dopingtests

Ziemlich gewagte Ausreden

Chaos-Tour 1998

Die Tour und die Presse

Gegen den Strom am Mont Ventoux

Die Sache mit dem Cabrio

Mit Rudi Altig geht es besser

Wo zum Teufel ist das Bett?

Alle sehen das Rennen – nur Livereporter der ARD nicht

Wenn Journalisten Rennen fahren

Finale

Prolog

Die Tour de France ist ein Radrennen – das könnte man durchaus so sagen, es wäre aber ein wenig zu kurz gesprungen. Etwa so wie: Wimbledon ist ein Tennisturnier, der Große Preis von Monaco ein Autorennen und der Ironman auf Hawaii ein Triathlon. Stimmt natürlich alles – und auch wieder nicht, weil all diese Veranstaltungen eben auch weltweit strahlende Monumente des Sports sind. Und manchmal auch mehr. Über die Tour de France sagen zum Beispiel viele, eigentlich sei sie ein Autorennen mit Radprofis als Behinderung. Oder so etwas wie ein Verkehrsinfarkt auf Reisen. Manche stempeln die Tour gern als das letzte große sportliche Abenteuer für Radrennfahrer und Zuschauer. All das trifft es natürlich auch.

Nüchtern betrachtet ist die Tour de France das größte mobile Sportereignis der Welt und das drittgrößte nach den Olympischen Spielen und Fußballweltmeisterschaften. Die 21 Etappen bewegen alljährlich Menschen und Millionen, schaffen Sieger und Verlierer, Stars und tragische Figuren. Als 2003 die Tour 100 Jahre alt wurde, erschienen Geschichtsbände, die waren so dick und schwer, dass man sie nur am Tisch lesen konnte, weil sie einen im Bett erschlagen hätten. Spätestens da war klar, dass dieses Radrennen unentwegt Geschichten produziert, die weit über das Nacherzählen eines Renntages hinausgehen. In Frankreich hat man das wortreiche Fabulieren darüber kultiviert; kaum ein Schriftsteller oder Philosoph, der etwas auf sich hält, hat nicht über die Tour geschrieben. Da unterscheidet sich die Frankreichrundfahrt gewaltig vom Giro d’Italia oder der Vuelta in Spanien. Beide Rennen sind vom Profil her vor allem in jüngerer Zeit oft noch härter, die Etappen schwerer. Aber die großen Geschichten werden über die „Grande Boucle“ erzählt, und genau dafür wurde sie ja 1903 von dem Verleger Henri Desgrange aus der Taufe gehoben: als Marketinginstrument für die Zeitschrift L’Auto-Vélo – später L’Auto, und aus der entstand dann die L’Équipe. Und L’Auto schrieb mit dickem Pathos über die wackeren „Helden der Landstraße“, damit die Auflage ebenso wacker stieg.

So entstanden über Generationen hinweg Geschichten, die so ziemlich alles sein konnten. Heldenepen oder rührselige Dramen von tragischen Verlierern und Opfern. Aber eben auch Storys über Heiteres und Kurioses – und genau von diesen Ereignissen handelt dieses Buch. Die Tour de France kurios – Anekdoten, die einem ein Lächeln oder Staunen ins Gesicht zaubern. Manchmal aber auch ein nachdenkliches Schaudern, wenn es um Doping geht. Viele Episoden, allerdings ohne den Anspruch auf Vollständigkeit. Auch dieses Buch kann nicht alle Kuriositäten aus der über 100-jährigen Tourgeschichte aufzählen. Dazu sind es zu viele, und vor allem ist bei manchen die Grenze zwischen Dichtung und Wahrheit doch ziemlich fließend. Ein wunderbares Beispiel dazu vornweg: In den 1970er-Jahren war es durchaus üblich, den Dopingkontrolleuren den Urin einer anderen Person unterzujubeln, den man in Beuteln am Körper trug und dann in die Probenfläschchen füllte. Fakt ist, dass der Belgier Michel Pollentier 1978 als Führender der Gesamtwertung bei so einem Versuch in Alpe d’Huez erwischt und disqualifiziert wurde. Hartnäckig hält sich zudem das Gerücht, dass damals noch ein anderer Profi auffiel – dem gratulierten die Kontrolleure nach dem Ergebnis der Tests allerdings herzlich zur Schwangerschaft … Da kann man nur sagen: Augen auf bei der Urinauswahl. Ob diese Geschichte wahr ist? Nichts Genaues weiß man nicht.

Reine Spekulationen gibt es in diesem Buch aber nur wenige, und die sind dann auch als solche gekennzeichnet. Die meisten hier wiedergegebenen Kuriositäten sind faktisch belegt. Besonders die jüngeren Datums. Und dann legen wir jetzt mal los.

Die Anarchie der Gründertage

Die Tour wird heute ja gern als großes, hektisches, kaum zu kontrollierendes Spektakel erlebt. Besonders in den Bergen, wenn die Zuschauer wie wild gewordene Kastenteufel brüllend neben den Radlern herrennen, schütteln viele am Fernseher nur den Kopf. Was für ein Theater, was für ein Stress, und warum regen sich die Leute denn um alles in der Welt so auf? Was passiert da, wenn der ansonsten eher distinguierte Verwaltungsbeamte plötzlich mit geballten Fäusten am Straßenrand hüpft und zuckt, als hätte er die Finger in der Steckdose, und dabei mit schrecklich verzerrtem Gesicht brüllt, dass man kaum noch die Hupen der Autos hört? Es ist wohl einfach die Faszination des archaischen Kampfes der Männer mit der Straße, die die Leute packt und ausflippen lässt. Wenn sich die Profis schon so schinden, dann muss auch ich alles geben. Manche wollen aber auch nur schlicht ins Fernsehen.

Aber eines ist auch klar: Was wir heute als Massenevent erleben, war in den Gründertagen der Tour nicht mehr als ein besserer Kindergeburtstag. Exemplarisch dafür war gleich die zweite Tour 1904. Aus heutiger Sicht lief die so kurios, dass sie es heutzutage beinahe jeden Tag in die Spitzenmeldungen der Tagesschau schaffen würde. Schon nach der ersten Etappe von Paris bis Lyon ließ Tourchef Henri Desgrange den Etappenzweiten Chevalier disqualifizieren, weil er ein gutes Stück der 476 Kilometer in einem Auto gesessen hatte. Im weiteren Verlauf des Rennens wurden Fahrer von Zuschauern bedroht oder sogar verprügelt. Maurice Garin, der Sieger der ersten Tour de France ein Jahr zuvor, wurde auf der Etappe nach Marseille in der Gegend von St. Etienne von Zuschauern mit Knüppeln niedergeschlagen, weil er mit zwei anderen auf der Verfolgung von Lokalmatador Alfred Faure war. Um die Leute zu „beruhigen“, schoss der Rennleiter Géo Lefèvre mit seiner Pistole immer wieder in die Luft. An dieser Geschichte kann man übrigens wunderbar sehen, wie trüb doch manchmal die Quellen sind. Von den Schüssen berichteten viele; es gibt aber auch Quellen, die schreiben, dass damals Tourchef Henri Desgrange persönlich und nicht sein Rennleiter Lefèvre geschossen habe. Wie auch immer – so ein Vorfall würde heute das sofortige Ende des Rennens bedeuten.

Von da an war die Tour 1904 dann eine einzige Skandalfahrt. Überall an der Strecke gingen „Lokalpatrioten“ auf Fahrer aus anderen Regionen los, streuten Nägel auf die Straße oder schlugen sogar zu. Garin wurde dann auch noch einmal im Südwesten von Zuschauern verprügelt. Alfred Faure gab danach seine Startnummer ab und fuhr nach Hause: „Ich habe keine Lust, auf dem Weg nach Paris umgebracht zu werden.“ Auch die Fahrer waren sich untereinander nicht grün und streuten selbst Nägel hinter sich aus, um der Konkurrenz möglichst wirkungsvoll zu schaden. Da man sich nicht helfen lassen durfte, war so ein Reifenschaden mit einem gewaltigen Zeitverlust verbunden. Die Tour gewann dann wie im Jahr zuvor der zweimal niedergeschlagene Garin – aber sein Erfolg hielt nur kurz. Fünf Monate später, Anfang Dezember 1904, kassierte der französische Radsportverband das Klassement und disqualifizierte nachträglich 29 der 87 gestarteten Fahrer wegen Vergehen wie unerlaubtes Fahren mit dem Auto oder auch mit der Eisenbahn, verbotene Verpflegung oder Windschattenfahren. Unter den für die Fahrer belastenden Aussagen war auch die, nach der einige Fahrer einen Flaschenkorken auf einen Draht aufgezogen hätten, der wiederum mit einem Auto verknüpft worden sei. Den Kork zwischen den Zähnen, hätten sie sich von den Autos ziehen lassen und dabei darauf vertraut, dass dies unbemerkt bleibe, weil sie ja die Hände am Lenker hatten. Kurzum, die ganze Tour war ein einziger kurioser Skandal.

Unter den nachträglich Bestraften waren auch die ersten vier des Gesamtklassements. Maurice Garin beendete daraufhin mit 32 Jahren erbost seine Karriere, beklagte aber bis zu seinem Tod 1957 die aus seiner Sicht grobe Ungerechtigkeit, die ihm da widerfahren sei. Sieger der zweiten Tour wurde so der im Juli 1904 erst 19-jährige Henri Cornet, der damals als Fünfter in Paris gut drei Stunden Zeitrückstand auf Garin hatte. Cornet gehörte nicht zu den Großen der Szene und konnte später bei der Tour als bestes Ergebnis einen achten Platz erringen, ist aber bis heute der jüngste Toursieger. Den Platz in den Geschichtsbüchern dürfte er auch behalten. Die Tour de France stand nach dieser kuriosen Nummer übrigens bereits nach der zweiten Auflage vor dem Aus. Henri Desgrange schrieb unter dem Titel „Das Ende“ einen resignierten Abgesang in seinem Blatt. In diesem Leitartikel hieß es wörtlich: „Ich befürchte, die zweite Auflage der Tour ist auch zugleich die letzte. Sie ist an ihrem Erfolg zugrunde gegangen, und an den nicht zu zügelnden Leidenschaften, die sie entfesselt hat.“ Aber schon kurze Zeit später bereitete er die Tour 1905 vor. Es war dem alten Fuchs schnell klar geworden, dass vor allem die Skandalstorys für seine Zeitung L’Auto eine wunderbare Wirkung hatten. 1903 verkaufte er 20.000 Exemplare, zwei Jahre später war die Auflage auf 100.000 gestiegen. Und aus keinem anderen Grund hatte Henri Desgrange die Tour de France schließlich gegründet.

Dass Zuschauer die Radfahrer körperlich angehen, ist heute zum Glück nur noch ganz selten der Fall. Es traf in der jüngeren Geschichte vor allem den vierfachen Toursieger Christopher Froome, dem die Fans das monatelange juristische Rumgeeiere nach einer positiven Dopingprobe verübelten. Am Ende stand zwar ein Freispruch, aber keiner, der so richtig überzeugen konnte. All das ist natürlich kein Grund, Rennfahrer wie im Fall Froome mit Urinbeuteln zu bewerfen. In der Gründerzeit der Tour gingen die Angriffe jedoch auch nach 1904 noch munter weiter. Manchmal trafen sie dann auch Leute, die eigentlich mit der Tour der Berufsradfahrer überhaupt nichts zu tun hatten. Es war damals so, dass das Rennen nicht auf abgesperrten Straßen lief und dass sich Amateure unter die Profis mischen durften, ganz legal. Wer sich anmeldete, konnte mitfahren, ganz einfach.

So startete zum Beispiel 1907 ein gewisser Baron Henri Pépin de Gontaud. Der Mann hatte Geld, seine Form dagegen war eher nicht renntauglich. Der Herr Baron engagierte deshalb zwei Berufsfahrer als Helfer, darunter Jean Dargassies, den Vierten der Tour 1904. Einer Quelle zufolge zahlte Pépin de Gontaud dem Schmied aus dem Languedoc so viel, wie er als Sieger der Tour erhalten hätte. Zu den Essenszeiten fuhren die beiden professionellen Helfer voraus und orderten in einem sehr guten Restaurant ein opulentes Mahl für den adligen Radler, der sich dann direkt vom Sattel an einen reich gedeckten Tisch setzen konnte. Übernachtet wurde in den besten Häusern an der Strecke. Von solchem Luxus konnten die anderen Teilnehmer, inklusive der Spitzenprofis, natürlich nur träumen. Wer von sich aus nicht gut betucht war und auch keine Chance auf ein Preisgeld hatte, für den war die Tour eine echte Herausforderung, da Desgrange zu Beginn nicht einmal die Hotels bezahlte. Es soll Profis gegeben haben, die nach der Zieldurchfahrt Ansichtskarten verkauften, andere machten Kunststückchen wie Rückwärtssaltos auf dem Marktplatz und gingen danach mit dem Hut Geld sammeln. Wohlgemerkt, nach oft 16 Stunden Rennen.

Falscher Bart und falsche Brille

Dass es bei der Tour zwei Klassen von Rennfahrern gab, hielt sich noch recht lange. 1930 stellte Henri Desgrange das Rennen radikal um. Da seit 1913 außer Henri Pélissier im Jahr 1923 kein Franzose mehr die Tour hatte gewinnen können und die Auflage seiner Zeitschrift L’Auto mit der Zeit sogar während des Rennens zu sinken begann, änderte der Tour-Gründer den Austragungsmodus. Statt wie bisher von Fahrradherstellern gesponserter Einzelstarter traten nun Nationalmannschaften gegeneinander an. Desgrange glaubte, dass die Franzosen mehr starke Profis als andere Nationen in einer Mannschaft würden bündeln können und dass so am Ende ein Franzose gewinnen würde. So kam es dann auch. André Leducq beendete nach 17 Jahren die sieglose Serie der Franzosen. Desgrange war damals der Meinung, dass eigentlich nur fünf Nationen in der Lage seien, eine würdige Nationalmannschaft für die Tour aufzubieten. Neben Frankreich waren das noch Belgien, Italien, Deutschland und Spanien. Alle anderen Nationen durften zwar in teilweise gemischten Teams ebenfalls teilnehmen, ihre Fahrer bekamen aber die Hotels nicht bezahlt und waren so eher Profis zweiter Klasse. Und damit sie die Stars auch ja nicht behinderten, mussten sie zehn Minuten nach den großen Teams starten. 1931 ist ihm diese Regelung aber sauber auf die Füße gefallen: Max Bulla fuhr bei der zweiten Etappe aus der Gruppe der zweiten Garde heraus die beste Zeit, überholte die vor ihm Gestarteten aus den großen Nationalmannschaften und eroberte das Gelbe Trikot. Als erster Österreicher übrigens. Der Profi aus Wien gewann dann noch einmal zwei Etappen, und Desgrange musste reagieren. Der Tourchef sorgte schließlich dafür, dass Bulla im Jahr darauf mit der deutschen Mannschaft starten durfte. Eine Etappe konnte er zwar nicht wieder gewinnen, als Mitglied der deutschen Mannschaft genoss er aber den Sonderstatus mit bezahlter Unterkunft und gutem Essen.

Max Bulla (links) war der erste Österreicher im Gelben Trikot – und einer, der die Avantgarde ärgern konnte.

Das war damals schon erstrebenswert, denn Reichtümer waren für die Leute aus der zweiten Reihe nicht zu verdienen. Die Fahrer waren dankbar für jedes Gratisessen oder ein kühles Getränk. Allerdings mussten die Profis schon aufpassen, was sie so alles annahmen. 1910, als die Tour zum ersten Mal über die Pyrenäenriesen führte, lag Paul Duboc in Führung, als er bei einer Pause plötzlich leichenblass im Straßengraben liegen blieb und sich ständig übergeben musste. Duboc hatte von einem Zuschauer eine Wasserflasche angenommen, in der auch ein Gift gewesen sein soll, hieß es. Nach einer Stunde fuhr er zwar weiter, erreichte das Ziel aber mehr schlecht als recht als Letzter. Die Chance auf den Gesamtsieg war perdu, da ging nichts mehr. Nutznießer des vermuteten Anschlags auf Duboc war Gustave Garrigou, der nun die Spitze übernahm. Ein normaler Vorgang im Sport, aber schnell entstand die Verschwörungstheorie, Garrigou stecke hinter der präparierten Flasche, von der man bis heute nicht mal weiß, ob es sie überhaupt gegeben hat. Dass Garrigou ihn vergiften wollte, glaubte zwar nicht einmal Duboc, aber als die Tour sich in Richtung Rouen, Dubocs Heimatstadt, bewegte, war allen klar, dass Garrigou in großer Gefahr war. Und so kam es zu einem bis heute einmaligen Kuriosum: Gustave Garrigou wurde eine dicke Brille aufgesetzt, ein falscher Bart angeklebt, und sein Rad wurde in einer anderen Farbe lackiert. Da der Führende damals noch kein Gelbes Trikot trug, war der verkleidete Garrigou für die aufgebrachten Menschen in Rouen nicht zu erkennen. Die Sache ging gut, Garrigou gewann die Tour. Duboc war übrigens schnell wieder auf dem Damm, gewann danach noch zwei Etappen und wurde am Ende noch Gesamtzweiter. Das Gift konnte also nicht besonders aggressiv gewesen sein. Wenn es denn überhaupt eines gegeben hatte.

Die Straßen der Tour waren auch schon immer ein beliebter Ort, um politische Botschaften loszuwerden. Aufmerksamkeit war den Demonstranten stets gewiss. In den Anfängen wurde über sie geschrieben, heute kommt eine geschickt inszenierte Aktion live ins Fernsehen, was natürlich auch völlig unpolitische Spinner anlockt. So wie den Mountainbiker und Stuntradler Alexis Bosson, der auf der zehnten Etappe der Tour de France 2018 quer über die Straße und über eine Ausreißergruppe um den Führenden Greg van Avermaet hinwegsprang. Die Profis waren gerade im Aufstieg zum Plateau des Glières, als der Mountainbiker plötzlich – von einer Rampe katapultiert – über ihnen durch die Luft flog. Verletzt wurde niemand, die meisten Profis waren so konzentriert, dass sie es gar nicht bemerkt haben. Das Video auf YouTube wurde aber ein großer Erfolg. Schwachsinn war die Aktion natürlich trotzdem – und ganz sicher keine Demo für irgendetwas Wichtiges.

Die gab es natürlich auch. Aber manchmal sorgen leider auch berechtigte Proteste für traurige Momente. So einen gab es 1982 im Norden Frankreichs. Die Tour rollte durch die Region Hauts-de-France, unweit der belgischen Grenze. In diesem Teil der Republik ist das wirtschaftliche Glück nicht gerade zu Hause, die Stahlindustrie hatte damals große Probleme, es gab wenig Arbeit, die Jungen zogen weg, viele Dörfer wurden zu freudlosen Altersheimen. Die Tour de France sollte da für ein paar Stunden buntes Leben in das Alltagsgrau bringen. Die fünfte Etappe war als Mannschaftszeitfahren von Orchies nach Fontaine-au-Pire geplant. Der Zielort war ein Dorf mit damals 1.250 Einwohnern, eigentlich viel zu klein für die Tour. Aber es gab dort noch Leben und Energie, und man hatte sich geschlossen und mit aller Kraft für die Tour starkgemacht. An diesem 7. Juli freuten sich alle auf die großen Stars um Nationalheld Bernard Hinault, die im 73 Kilometer entfernten Orchies als Teams zum Zeitfahren auf die Strecke gingen. Allerdings kamen die Teams nur 18 Kilometer weit, dann blockierten wütende und enttäuschte Stahlarbeiter die Strecke. Eine große Eisenhütte hatte die Schließung zum Ende des Jahres verkündet, Hunderte sollten ihren Job verlieren, die eh schon benachteiligte Gegend drohte vollends zum Armenhaus zu werden. Tourchef Jacques Goddet eilte mit seinem Rennleiter Félix Lévitan an die Strecke und versuchte, die Protestierenden zu beruhigen. Ohne Erfolg. Aber die Polizei zum Räumen aufzufordern, das wollte er auch nicht. Mit Transparenten und Menschenketten blockierten die Stahlarbeiter weiter die Straße, die Teams mussten ausweichen oder kurzzeitig absteigen, ein reguläres und faires Rennen war jedenfalls nicht möglich. Schließlich ließ Goddet die Etappe abbrechen, der Tag wurde annulliert, das Mannschaftszeitfahren um ein paar Tage verschoben. Das ging damals, weil zwei Halbetappen an einem Tag durchaus noch üblich waren. Als die Nachricht im Zielort Fontaine-au-Pire ankam, brach dort eine Welt zusammen. Monatelang hatten viele ehrenamtlich gearbeitet, das Dorf war herausgeputzt, ein Fest am Laufen, aber keiner sollte kommen. Ein paar Stunden später hellte sich die Stimmung aber doch wieder etwas auf. Goddet ließ dem Bürgermeister ausrichten, dass die Tour dann eben ein Jahr später in diesem Örtchen vorbeischauen würde. Heute wäre so etwas unmöglich, die moderne Tour würde so einen Mini-Zielort wohl kaum akzeptieren, es sei denn, der Ort hätte eine große Tradition und einen solventen Sponsor. Fontaine-au-Pire hatte weder noch. Aber Goddet hielt Wort: 1983 hieß die dritte Etappe Soissons–Fontaine-au-Pire. Wieder war es ein Mannschaftszeitfahren, es führte über 100 Kilometer, und die Teams kamen unter dem Jubel der Menschen auch alle im Ziel an.

Sekundenspiele

Die Tour de France wird in den Bergen entschieden. Oder beim Zeitfahren. Vielleicht auch noch durch einen Sturz, aber doch nicht auf der letzten Etappe in Paris. So könnte man meinen, und seit vielen Jahren ist das Finale auf den Champs-Élysées auch ausschließlich die Schaubühne der Sprinter. Der Sieger der Tour steht dagegen spätestens einen Tag vorher fest. Wer am Samstag vor Paris das Gelbe Trikot trägt, wird, so das ungeschriebene Gesetz, nicht mehr angegriffen – und sei sein Vorsprung auch noch so klein. Das war aber nicht immer so, und deshalb kam es 1989 zu einem kuriosen Finale, zu einem Wechsel des Gelben Trikots im allerletzten Moment und zu einem Toursieger, der nach knapp 3.300 Kilometern und einer Gesamtfahrzeit von etwa 88 Stunden um minimale acht Sekunden vorn lag.