Gelebte Utopie - Tom Zabel - E-Book

Gelebte Utopie E-Book

Tom Zabel

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Beschreibung

Tom Zabel hat seit Anfang der 1980er Jahre als professioneller Straßenkünstler viele Städte Europas bereist und ist dem Theater im öffentlichen Raum bis heute treu geblieben. Das Stadtarchiv Innsbruck gab die Anregung dazu, seine Erfahrungen der letzten vierzig Jahre festzuhalten. Ergebnis dieses Schreibprozesses ist das vorliegende Buch. Neben Einblicken in sein Schaffen gibt Zabel einen Überblick über die vielen Ausdrucksformen darstellender und musikalischer Straßenkunst, sowohl national als auch international. Die Tiroler Landeshauptstadt dient dabei als Fallbeispiel.Der Bogen spannt sich von den sogenannten Buskern, die mitten im Alltag für ein "Hutgeld" auftreten, bis zu den Ensembles, wie etwa Royal de Luxe, die ganze Städte bespielen und nur für Veranstaltungen mit einem entsprechend hohem Budget leistbar sind. Vorgestellt werden neben vielen Einzelkünstler*innen auch Gruppen aus Tirol, wie Zirkus Meer, die 3 Herren und du & nichts, aus Österreich, wie Irrwisch, Vis Plastica und die Kompagnie von Willi Dorner, sowie aus ganz Europa, darunter The Natural Theatre Company, Otto & Bernelli und Odin Teatret. Berichte über Festivals wie das Festival der Träume (Innsbruck), Olala (Lienz), Inpuls (Dornbirn), La Strada (Graz), Mimos (Perigueux) und Oerol (Terschelling) runden diesen Teil ab. Daneben werden Einblicke in Organisationen gewährt, die diese Sparte vertreten und fördern, wie den deutschen Bundesverband Theater im öffentlichen Raum, das europäische Netzwerk In Situ oder das afrikanische Ma Rue. Den Abschluss bilden über ein Dutzend Interviews, die Zabel mit einigen der Protagonist*innen geführt hat.Der in Paris lebende Kulturjournalist Thomas Hahn ergänzt und kommentiert als Kenner der weltweit maßgeblichen französischen Straßenkunstszene den Blick des Künstlers auf sein Metier.

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TOM ZABEL

GELEBTE UTOPIE

 

© 2021 by Universitätsverlag Wagner Ges.m.b.H., Erlerstraße 10, A-6020 Innsbruck

E-Mail: [email protected]

Internet: www.uvw.at

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder in einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-7030-6577-4

Buchgestaltung, Satz und Umschlag: Rudolph Thomas, Satz aus der Avenir Umschlagabbildung: Felix Zabel, Tom Zabel, Performance Festival „The Untitled“, 2018, Innsbruck

Trotz intensiver Bemühungen konnten nicht alle Inhaber*innen von Bildrechten ausfindig gemacht werden. Die betreffenden Urheber*innen mögen sich bitte an den Autor wenden.

Lektorat: Thomas Hahn

Dieses Buch erhalten Sie auch in gedruckter Form mit hochwertiger Ausstattung in Ihrer Buchhandlung oder direkt unter www.studienverlag.at

Inhaltsverzeichnis

Vorwort Tom Zabel

Vorwort Thomas Hahn

 

I – Straßenkunst und ich

1. Wie alles begann

2. Sturm und Drang

3. Kontakte und Konflikte

4. Italien und der dionysische Ausnahmezustand

5. Burgtheater, ORF und London: Der Ruf der Institution

6. Puppen und andere Komplizen

7. Wenn Festivals die (Kunst-)Landschaft gestalten

II – Straßenkunst und Innsbruck

1. Schönes, freies Innsbruck? Die 1980er Jahre

2. Die 1990er Jahre: Freiheit, Spannung, Festivals

3. Auf dem Weg zu Eventkultur und Institution

4. Eine Schule für Straßenkunst in Innsbruck?

III – Straßenkunst und Institution

1. Perfekt verlegte Pflaster-Kunst: Meine (ideale) Bibliothek

2. Von Künstlern, Festivals und Agenturen

3. Straßenkunst in den Medien: Suchet, so werdet ihr …?

4. Kultur für alle? Nur unter strenger Kontrolle!

5. Dem Verband verbunden: Straßenkünstler organisieren sich

6. Straßenkunst und Neuer Zirkus: Hand-in-Hand vernetzt

IV – Straßenkunst und Interviews

1. Herbert Waltl

2. Andreas Hladky

3. Hans Tschiritsch

4. Nuschin Vossoughi

5. Sabine Maringer

6. Stefan Novak

7. Kosilo (Walter Kosar)

8. Willi Pramstaller

9. Maria, Hannah und Gerhard Crepaz 231

10. Mark Yeoman

11. Hans Mutschlechner

12. Jordi Beltramo

13. Alain Stan

14. Nicole Ruppert

15. Rober Sinsed

16. Dr. Kurt Drexel

17. Valeri Hristov

Danksagung

 

Anhang

Personen

(Theater-)Gruppen

Institutionen

Festivals

Bildnachweis

Vorwort Tom Zabel

Es ist kaum zu glauben, mein erstes Buch ist fertig. Während der Arbeit von drei Jahren war ich immer wieder unsicher, ob ich dem Auftrag gewachsen bin. Es galt, mein umfangreiches Archiv in eine entsprechende Form zu bringen und die Informationen, die eine neuerliche Recherche ergaben, einzubauen. Schließlich mussten noch die Rechte für den Abdruck der vielen Fotos und Abbildungen eingeholt werden.

Als das fertige Manuskript dem Verlag gegeben wurde und dieser eine Deadline festlegte, bis wann die Korrekturen und das Layout abgeschlossen sein sollten, wurde mir mit großer Freude klar, dass es nun tatsächlich in Richtung Veröffentlichung geht.

Von Anfang an wollte ich so etwas wie ein Handbuch verfassen, da es zu performativer Straßenkunst im deutschsprachigen Raum so wenig Literatur gibt. Es ergab sich, dass die Stadt Innsbruck diese Arbeit finanzierte und dadurch zum Beispiel einer mittelgroßen Stadt wurde, anhand derer dieses Thema behandelt wird.

Mit beinahe 60 Jahren wurde ich durch junge Initiativen an ebendiesem Ort wieder einmal als Vermittler dieser Kunstsparte aktiv. Die daraus entstandene Dynamik fand ihren Höhepunkt rund um den Direktor des Stadtarchivs, Lukas Morscher. Er wurde mir von der damaligen Leiterin des Kulturamtes, Maria-Luise Mayr, als Partner für eine Publikation empfohlen, als er gerade die wunderbare Ausstellung zum Subkulturarchiv vorbereitete. Lukas war für dieses Unterfangen in seiner unkomplizierten und weltoffenen Art ein Glücksfall!

Und jetzt, gegen Ende, schreibe ich das Vorwort und sehe, wie die vielen Fäden, die ich gesponnen habe, zu einem Ganzen werden und denke mit großer Dankbarkeit an all die Personen, die mir dabei geholfen haben. Ganz besonders gilt dies für Thomas Hahn, den ich als Lektor und Co-Autor angeworben habe. Wir haben nicht nur gemeinsam die Struktur erarbeitet, sondern auch immer wieder über den Inhalt diskutiert.

Seine Besonnenheit, Geduld und sein Wissen waren mir eine unerlässliche Stütze.

Noch etwas wurde durch die intensive Beschäftigung mit der Straßenkunstszene deutlich: Es ist eine flüchtige Kunstsparte und viele, wenn nicht die meisten Personen spielen darin eine zeitlich begrenzte Rolle. Möge das hier Zusammengetragene dazu beitragen, uns an sie und das von ihnen Geschaffene zu erinnern.

Dieses Buch möchte ich zwei Pionieren der Straßenkunst widmen:

Paul Yeoman (1958–2012) und Bernd Witthüser (1944–2017)

Tom Zabel

Vorwort Thomas Hahn

Zum ersten Mal begegnete ich Tom Zabel 2005 beim Festival der Straßenkunst in Aurillac. Du & nichts führten eine kreisförmige, sehr stille Zeremonie auf, die im Trubel dieses lauten, bunten Dauerspektakels gut und gerne hätte untergehen können. Doch die drei seriösen Herren hatten das Spiel mit den Grenzen von Kunst und Raum derart perfektioniert, dass es ihnen gelang, mit ihrem „Konzepttheater“ zu demonstrieren, weshalb Kunst – gerade auf der Straße – nicht nur dann existiert, wenn sie Massen in ihren Bann zieht, sondern gerade im Stillen ihre tieferen Werte entfalten kann. In der Zeitschrift Trottoir Magazin schrieb ich dazu: „Sie sind Dadaisten des Zeitlichen, wechseln die Geschwindigkeit ihrer Nicht-Handlungen nach Belieben. Da bleibt von unseren intellektuellen Lebensummauerungen kein Stein auf dem anderen. Sie kommen daher wie surrealistische Todesengel, Geheimagenten der Konzentration auf das wirklich Wesentliche, die ihr magisches Spiel mitten auf dem Asphalt treiben. Wen oder was werden sie in ihrem kleinen Plastiksarg beerdigen? Allein die Gewissheiten?“

Später traf ich sie mit neuen Stücken auf weiteren Festivals in Frankreich an. Doch bis zur Arbeit an Tom Zabels Buch hätte ich mir nicht träumen lassen, welch schriller, bunter Wandervogel der heute so zielsicher inszenierende Herr mit dem kahlen Schädel einst war. Seiner gelebten Utopie hat er im Laufe der Zeit immer neue Formen zu geben verstanden. Auch dieses Buch ist eine davon. Was kommt danach? Inzwischen scheint die große Zeit der Festivals ihrem Ende entgegenzugehen. Heute, Anfang der 2020er Jahre, sind sie als Veranstaltungen im öffentlichen Raum immer strenger werdenden Sicherheitsvorkehrungen (Terroranschläge, Coronavirus) und Kontrollmechanismen unterworfen. Doch gelebte Utopien sind fragile Gebilde und die Freiräume werden zusehends enger. Tom Zabels Schilderungen sind daher auch als Zeugnis einer Zeit zu verstehen, in der Optimismus und Gestaltungswille den Ton angaben, und als solches umso wertvoller. Dass über dieses Buch, gewissermaßen sein Lebens-Werk, nun auch Innsbruck und Tirol dauerhaft auf der Landkarte der internationalen Straßenkunst in Erscheinung treten, ist ein weiteres nicht zu unterschätzendes Verdienst Tom Zabels.

Thomas Hahn (T.H.)

I STRASSENKUNST UND ICH

Tom Zabel, von Europa nach Innsbruck und zurück

Man müsste noch mal zwanzig sein ... und so verrückt wie damals? So frei, so unbekümmert ... Tom Zabels Vita in der Straßenkunst ist ein Lebenskunstwerk, und zwar eines, das in dieser Form heute kaum noch vorstellbar ist. Denn Straßenkunst war lange eine Form gelebter Utopie, und genau das macht Zabels Erinnerungen aus vier Jahrzehnten heute so wertvoll. Natürlich schildert er hier seine persönlichen Begegnungen. Aber zwischen den Zeilen entsteht weit mehr: das Bild einer Zeit und einer Generation, die noch das Recht hatte, zu träumen. Es war ein Traum von Solidarität statt unerbittlichen Wettbewerbs, von freier Entfaltung statt Formatierung der Bedürfnisse. Und es war ein Kampf, ein ungewollter, bis hinein in Polizeiwachen und finstere Gefängnisse, ein Prozess aus dem eine ureigene, hoch anzusiedelnde künstlerische Identität entstand. Folgen wir also Tom Zabel auf seinem Weg durch das Leben und die Kunst.

T.H.

1. Wie alles begann

Geboren werde ich 1956 in Heidelberg als das älteste von sechs Kindern. Mein Vater stammt aus Berlin und meine Mutter aus Bremen. Er ist Architekt und sie die Tochter eines Gynäkologen und leitenden Arztes einer Klinik. Meine Mutter machte vor ihrer Heirat ihren französischen Übersetzer in Paris und ließ sich als Kindergartenpädagogin ausbilden.

Ich wachse also in durchaus bürgerlichen Verhältnissen auf. Wieso ich mich dann freiwillig als Straßenkünstler an den Rand der Gesellschaft (und gleichzeitig mitten hinein) begeben habe, hat wohl vielfältige Gründe. Einer ist sicher die Vergangenheit (und Gegenwart) Deutschlands und der daraus resultierende Wunsch, „auszusteigen“.

Mit sieben Jahren bekomme ich bereits Klavierunterricht. Allerdings leide ich zunehmend unter der strengen Lehrerin, was meine Eltern dazu bewegt, diesen wieder zu beenden. Ab meinem zehnten Lebensjahr nehme ich drei Jahre lang Unterricht für Gitarre und ab dem 15. noch zwei Jahre für Schlagzeug. Diese drei Instrumente spiele ich in dieser Zeit regelmäßig, wobei ich bis 19 in einer Band Schlagzeug spiele. Der Sound ist maßgeblich beeinflusst von Pink Floyd. Mein Klavierspiel ist an Keith Jarrett angelehnt und ich entwickele einige Stücke, die ich ausschließlich aus dem Gedächtnis wiedergeben kann. Ich höre mit 15 auch auf, nach Noten zu spielen. Wenn ich etwas schriftlich festhalte, sind es Akkorde, und das nur für die Gitarre, die bis heute mein Hauptinstrument ist.

Und als wäre die Liebe zur Pop- und Folkmusik nicht genug, begeistere ich mich ab dem 15. Lebensjahr auch noch für die Bildende Kunst und beginne, mich darin auszudrücken. Ich zeichne viel und gestalte Objekte sowie erste Installationen. Bis zum Abitur habe ich bereits drei Einzelausstellungen.

Als Teenager besuche ich regelmäßig Folkfestivals und Konzerte. 1972 höre ich erstmals den österreichischen Schriftsteller und Devianzforscher Rolf Schwendter mit seinen Anti-Liedern zur Kindertrommel, zu der er im Sprechgesang über den latenten Faschismus und seine eigene Theorie der Subkultur doziert. So wie ihn werde ich später auch einige andere, die ich im Laufe der Jahre kennenlerne, in verschiedenen Funktionen und Rollen wiedertreffen.

Hier ein Bild aus meinem Geburtsort Heidelberg Anfang der 1970er Jahre. Es zeigt die deutsche Folkband Elster Silberflug und entspricht dem Flair, mit welchem ich aufgewachsen bin. Ulrich Freise, eines ihrer Mitglieder, veröffentlicht 1978 im Lieder-Folk-Kleinkunst-Reader (éditions trèves) unter dem Titel „Tinglerzorn“ einen kritischen Artikel zum ambivalenten Verhältnis von Fußgängerzonen und Straßenmusik.

Und das ist die Folkband „Tanzbär“ 1976, die damals auch viel „auf der Straße“ aufgetreten ist. Mit Ernst und Marie-Rose Käshammer, die sie mitbegründet haben, bin ich seit dieser Zeit befreundet.

1973 – Katalog zu einer Ausstellung in der Düsseldorfer Kunsthalle. Die Straßenkunst wird dabei nur am Rande behandelt. Es ist wohl eine der ersten so umfangreichen Präsentationen und Publikationen zu diesem Thema. Das Buch, das ich mir erst zur Zeit der Recherche, 46 Jahre nach der Veröffentlichung, zugelegt habe, macht mir bewusst, wo wir in Deutschland zu dieser Zeit standen.

1975 erscheint diese Publikation zur Geschichte des Schiefen Theaters aus Basel.

Zuerst lerne ich 1978 das Theater und Café Zum Teufel in Basel kennen, dann seinen Gründer Dominique Thierry. Von ihm erfahre ich vom fahrbaren Kleintheater Das Schiefe Theater, das er und Albert Le Vice nach ihrem Abschluss der Ecole Internationale de Théâtre von Jacques Lecoq in Paris mit ihren späteren Ehefrauen realisiert haben. Nach einer siebenjährigen Europatournee mit mehr als 1.100 Auftritten geben sie am Barfüsserplatz ihre letzte Vorstellung. Ich erwerbe das in einer Auflage von 250 Exemplaren im Eigenverlag herausgegebene Büchlein, ein schönes Dokument eines Freien Theaters, getreu dem Motto dass Freies Theater eben auch bedeutet, sich selbst zu veranstalten. Aus dem Buch erfahre ich erstmals von Jacques Lecoqs Schule. Aber dazu später.

Von 1974 bis 1976 spiele ich in der städtischen Puppenbühne Mannheim und drei Jahre später in einer anthroposophischen Produktion in Kassel.

Hier ein Bild einer meiner ersten Aktionen im öffentlichen Raum in Ludwigshafen am Rhein.Es war (noch) keine Aufführung mit Publikum, sondern ein Schnappschuss, der beim Betrachten eine gewisse Spannung erzeugt, die beiden Personen in eine Beziehung setzt, eine Geschichte suggerierend. Mein Freund, der das Foto machte, wurde später Filmemacher.

1977 lebe ich drei Monate auf Kreta und verdiene erstmals mein Geld mit gezeichneten Ansichten der dortigen Landschaft und der Stadt Chania. Es ist das erste Mal, dass ich die Freiheit so richtig auskoste, die ein selbstbestimmtes Leben ermöglicht, und dies legt den Grundstein für mein weiteres (Berufs-) Leben. Zwei Passagen aus meinen damaligen Liedtexten lauten „Zeit ist kein Geld, sondern Leben“ und „Lebenspausen gibt es nicht“.

In diesem Jahr besuche ich in Heidelberg einen Workshop eines Theater-Gurus, dessen Name mir nicht mehr einfällt. Er meint zu Beginn, dass sein Körper sterben möchte. Das macht einen ziemlichen Eindruck auf mich. Er hat zwei Assistenten dabei, welche die Übungen jeweils vormachen. Wir haben fünf Tage hintereinander täglich acht Stunden hartes Training und er meint, wir werden uns am nächsten Morgen nicht mehr bewegen können und alle Muskeln werden uns höllisch wehtun, aber er werde das gleiche Arbeitspensum beibehalten. Und er verspricht uns, dass wir dadurch ein höheres Energielevel erreichen werden, welches gleichermaßen den Geist und den Körper umfasst. Tatsächlich wird es exakt so kommen. Es geht um Techniken, die ich später aus der Arbeit Grotowskis kennenlernen werde. 1978 arbeite ich für einen Monat in der Nähe von Paris. An den Wochenenden trete ich als Straßenmusiker im Tuileriengarten und in den Gängen der U-Bahn auf. 1979 verbringe ich drei Monate in Perugia und verdiene wieder meinen Lebensunterhalt mit

Porträtzeichnen und dem Verkauf selbstgemalter Bilder der Stadt und ihrer Umgebung. Daneben gebe ich in den Gassen der Altstadt zur Gitarre Songs verschiedener LiedermacherInnen und auch selbstverfasste Lieder zum Besten. Allerdings geht es mir in dieser Zeit nicht um den Verdienst, sondern darum, Kontakte zu knüpfen und Erfahrungen zu sammeln. Einmal schlendere ich mit meiner Gitarre durch die Altstadt und treffe auf einem alten, zu einem Fußgängerweg umfunktionierten Viadukt auf eine englische Künstlerin, die dort an ihrer Staffelei steht und malt. Wir freunden uns an und sie erklärt mir, dass sie tagsüber hier arbeite, da sie ihren Geliebten, einen berühmten australischen Künstler, der tagsüber in seinem Atelier arbeitet, immer erst abends treffen könne. Sie vertreibt sich die Zeit damit, dass sie an diesem Ort in zwölf Tagen vier Aquarelle herstellt und zwar je eines in eine der vier Himmelsrichtungen.

Dies ist ein Ausschnitt einer schwarz-weiß Fotokopie von einem der zuvor beschriebenen Bilder einer englischen Künstlerin, in welchem sie mich – mit Bart, Gitarre spielend und an einer Mauer lehnend – in eine Ansicht von Perugia eingebaut hat.

Danach lebe ich einige Monate in Kassel, wo ich als Gasthörer bei Harry Kramer an der Kunstakademie studiere und als Aktmodell Geld verdiene. Kramer ist ein „Enfant Terrible“ dieser Institution, war er doch schon Frisör und Tänzer und wurde mit seinen Filmen eines kinetischen Puppentheaters und den zugehörigen Figuren-Objekten auf die Documenta eingeladen. Neben anderen spektakulären Aktionen hat er Udo Lindenberg in Brotteig gegossen, Bühnenbilder für Peter Zadek entworfen und Zirkusartisten in seinem Atelier empfangen. Ab und zu besuche ich in Kassel auch die Freie Internationale Universität (FIU) von Joseph Beuys.

Die nächste Station ist München, wo ich auch drei Monate bleibe. Dort besuche ich 1979 das dritte Internationale Festival des Freien Theaters in einer Zeltstadt am Rande des Olympiaparks. Einiges findet im Freien statt, wie z.B. ein Stück des Freien Theaters München (FTM). Teilweise auf Stelzen und mit einem Ghettoblaster erzählen sie in einer Art Prozession ihre Geschichte. Mich beeindruckt die Energie und teilweise Aggressivität der DarstellerInnen. Zwei der Mitglieder gründen später das bekannte Stelzentheater Zebra. In Erinnerung bleibt mir auch eine Show des Münchner Comedian Eisi Gulp mit vielen bunten Requisiten aus einem Zirkuswagen heraus. Eine andere Truppe lädt mich dann am Abend zur gemeinsamen Feier hinter einem Theaterwagen ein und ich verfalle endgültig dem Charme dieser Szene.

2. Sturm und Drang

Kleinstadt schlägt Großstadt

Ich habe Tom Zabel – natürlich – auf Festivals kennengelernt, die der Straßenkunst im weitesten Sinn gewidmet sind, u.a. auf dem unumgänglichen jährlichen Treffpunkt der Szene in Aurillac, im Herzen der Auvergne. Das von dem Pionier Michel Crespin (1940–2014) gegründete und von diesem bis 1993 geleitete Festival bildete 1986 den ersten institutionellen Rahmen für Straßenkunst und ein Jahr später entstand in Châlon-sur-Saône das Festival Châlon dans la rue. Dass Aurillac, abseits jeglicher Hauptverkehrsadern gelegen und dazu noch die statistisch kälteste und regnerischste Stadt Frankreichs, zum Zentrum einer Outdoor-Kultur werden konnte, unterstreicht die Gestaltungskraft von Kulturpolitik. Denn Aurillac mag das Zentrum von Frankreichs Regenschirmindustrie sein (das heute dort existierende Zentrum für Straßenkunst heißt denn auch selbstironisch Le Parapluie – Der Regenschirm), weltweit bekannt wurde die Stadt erst als sie jährlich eine Augustwoche lang ihre Straßen, Gassen und Plätze den KünstlerInnen zur Verfügung stellte. Heute sind Straßentheaterfestivals in ganz Europa miteinander vernetzt und selbst in Asien immer häufiger anzutreffen. In Frankreich hat eine Mehrheit der Bevölkerung bereits einer Outdoor-Aufführung beigewohnt, während nur eine Minderheit Aufführungen im Theater besucht. Straßenkunst ist in diesem Sinne somit die populärste Kunstgattung überhaupt. Zu Beginn der 1980er Jahre war diese Szene allerdings noch im Entstehen begriffen. Und Paris ist eine der wenigen Städte Frankreichs, in denen sich das Straßentheater, trotz einiger Versuche, nie wirklich etablieren konnte. Die Hauptstadt ist schlicht zu überfüllt und zu eng bebaut. Selbst von der Piazza vor dem Centre Pompidou sind die Busker verschwunden. Aber natürlich treten StraßenmusikerInnen in Paris trotzdem auf: In der Metro! Und weiter geht die Reise mit Tom Zabel.

T.H.

Ich lasse mich treiben, immer meiner Bestimmung auf der Spur. So lebe ich im Sommer 1980 drei Monate in der süditalienischen Stadt Vieste, wo sich eine Anekdote ereignet, die Kraft und Seele der Straßenkunst veranschaulicht. Ursprünglich will ich mit einem Arzt in Vieste Heilpflanzen anbauen. Dieser hatte in einem Münchner alternativen Stadtmagazin eine Anzeige geschaltet und ich hatte ihn kontaktiert. Als wir miteinander telefonieren, beschließen wir, dass ich zu einem bestimmten Termin hinunter kommen und mit der Arbeit beginnen solle.

Ich fahre also den größten Teil der Strecke mit dem Fahrrad hinunter, ein Zelt, einen Schlafsack, eine Gitarre und DM 50,- dabei. Doch als ich bei seinem Haus ankomme, ist dieses verriegelt und die Nachbarn wissen nur so viel, dass er dort seit einiger Zeit nicht gesehen wurde. Auch das Telefon bleibt stets unbeantwortet. Ich gehe also zu einer großen Terrasse mit Blick auf das Meer, wo ich für mich Gitarre spiele und meine Gedanken schweifen lasse, auf der Suche nach einer Inspiration. Als ich das Instrument einpacken möchte, schauen mir immer noch ein paar Leute zu, welche zuvor wohl auch zugehört hatten. Spontan entwickle ich eine kleine Pantomime aus der Handlung „die Gitarre in die Hülle schieben“. Vom Interesse der ZuschauerInnen angespornt, wird meine Improvisation immer skurriler und auch die Menge immer größer. Nach einer guten Weile beende ich meine Darbietung und verbeuge mich unter dem Beifall der Leute.

Danach beschließe ich, wie zuvor in der Toskana mein Geld mit Porträtzeichnen etc. zu verdienen. Und in den Phasen, in denen ich in der Altstadt nicht porträtiere sondern nur meine Bilder verkaufe, stehe ich nicht selten an meinem Stand und spiele unaufdringlich Gitarre. Übrigens, den besagten Arzt soll ich nie zu Gesicht bekommen, und ehrlich gesagt habe ich ihn auch bald vergessen.

Auf Kreta hatte ich erste Kontakte nach Wien geknüpft und war auch einige Male dort zu Besuch. Weil es zeitlich und inhaltlich hierher passt, möchte ich das folgende Festival erwähnen, obwohl ich es nicht selbst erlebt habe. Vom 28. April bis zum 1. Mai 1978 wird zum ersten Mal das internationale Straßentheaterfestival in Wien vom dortigen Dramatischen Zentrum und dessen damaligem Leiter Horst Forester veranstaltet. Die Realisation lag bei Herman Prigann. Im Programmheft steht: „Elf Gruppen verändern die Stadt. Ein Fest auf sieben Plätzen, in den Straßen, den Parks und auf der Jesuitenwiese.“ Und Forester schreibt:

„Schauspiel auf der Straße, in Parks, auf Plätzen, mitten unter den Leuten, das ist lebendiges Volkstheater, das seine Inhalte aus unserem täglichen Leben bezieht. Vom Schauspiel bis zum Zirkus über Pantomime, Masken- und Bildertheater setzt das Straßentheater alle Darstellungsmittel ein, um seine Geschichte zu erzählen, um unsere Gesellschaft und uns selbst widerzuspiegeln.“

In weiterer Folge gibt es 1979 eine zweite und 1981 die letzte Ausgabe. Die Programmierung und die dahinter stehenden Kontakte zeigen bereits, dass ein globales Netzwerk und rege Zusammenarbeit im Entstehen begriffen sind.

Das (DIN-A1-)Plakat zur dritten und letzten Ausgabe des Festivals zeigt die Natural Theatre Company, die in ihren Anfängen sehr experimentell gearbeitet hat.

Domaine de Lestanière, Revue trimestrielle Nr. 2

Zwei 1980er Ausgaben dieses Magazins fand ich vor vielen Jahren in einem Antiquariat in Amsterdam. Diese Ausgabe ist dem Straßentheater gewidmet und damit ein frühes Zeugnis der Auseinandersetzung mit dieser Kunstsparte. Pioniere wie Els Comediants und Leo Bassi sind mit Texten und Fotos vertreten.

Der Verlag Entretemps veröffentlichte unter der Rubrik „Arts de la rue“ noch einiges mehr.

Von Bassi, der in einer Zirkusfamilie aufwuchs und damals viel Straßentheater bzw. Interventionen im öffentlichen Raum machte, ist ein mehrseitiger Artikel abgedruckt. Die inhaltlichen Infos erschließen sich mir nicht nur durch den Text, sondern auch durch das Flair und die Verbindungen, welche zwischen den Zeilen zu spüren und zu erspüren sind.

1981 erlebe ich bei einem Wettbewerb für Straßenmusik in meiner Heimatstadt Ludwigshafen am Rhein das Duo Otto & Bärnelli (Hans Otto Richter & Bernd Witthüser). Das Besondere ihrer Darbietung ist, dass die beiden, die sich auch als „die beste Two-Man-Band“ bezeichnen, sich in dem natürlich entstandenen Kreis der Zuschauer frei bewegen und diesen manchmal durchqueren, sodass das Publikum darauf reagieren kann und muss. Sie erhalten den 1. Preis und faszinieren mich so sehr, dass ich beschließe, ebenfalls professioneller Straßenmusiker zu werden.

Die LP „Lage®bericht“ der mobilen fgz-gruppe.

Im selben Jahr veröffentlichen sie die LP „Lage®bericht“, eine Produktion der mobilen fgz-gruppe. Der Name ist geradezu eine Kurzbeschreibung und weist auf die Besonderheit ihrer Darbietung hin, eben in Bewegung zu sein, und bezieht sich auf die Fußgängerzonen. In Europa in den 1950er und 1960er Jahren geplant und eingerichtet, haben diese Einkaufsbereiche unsere Städte nachhaltig verändert und bieten der Straßenkunst ganz neue Möglichkeiten. Zehn Jahre später, bei ihrem ersten Besuch in Innsbruck, schenken sie mir ein Exemplar mit einer Widmung.

Dieses von Kai Engelke herausgegebene Buch ist das erste, und wie ich weiß auch einzige, Handbuch in deutscher Sprache für diese Sparte, aus den 1970ern wohlgemerkt! Es hat mich in meinen Anfängen begleitet, mir einige Hintergründe eröffnet und ProtagonistInnen der hiesigen Szene nähergebracht.

1982 ziehe ich nach Wien. Dort fertige ich bastelnderweise in einem Monat meine erste „Musikmaschine“ an und schneidere ein Kostüm, um selbst als One-Man-Band regelmäßig in der Fußgängerzone Kärntner Straße aufzutreten. Offiziell war dies zwischen 17:00 Uhr und 21:00 Uhr erlaubt. Um anonymer zu sein, trage ich im ersten Jahr eine Perücke und schminke mich.

Nach ein paar Wochen spricht mich in einer Pause Juliane Spitta an. Die junge Deutsche meint, es würde in meinem Vortrag etwas fehlen. Als ich wissen möchte, was dies sei, meint sie, ein zweites Instrument, z.B. eine Geige, wie sie eine spiele. Sie hatte gerade ihre Matura gemacht und in Wien einen Freund (Boris Koneczny) besucht, der gerade am Reinhard-Seminar studierte (und den ich 30 Jahre später bei einer großen Platzinszenierung des deutschen Theaters PAN.OPTIKUM in der Hauptrolle als Pablo Neruda beim internationalen Straßentheaterfestival in Holzminden wieder treffen soll). Juliane will eigentlich noch an diesem Tag wieder zurückreisen. Daraus wird dann jedoch nichts, da ich sie zu mir einlade und sie kurzerhand ihre Zugkarte verfallen lässt. Wir werden bald darauf ein Paar und erarbeiten eine gemeinsame Show, die recht gut ankommt.

Kurz darauf besuchen wir dann einen Workshop für Clownerie des Regisseurs und Clowns Hubertus Zorell, der wie Andreas Vitasek an der Mime- und Theaterschule Jacques Lecoq in Paris studiert hatte. Viele deren AbgängerInnen wurden, wie auch diese beiden, erfolgreiche Mimen. Nicht viel später engagiert uns der ORF, um in einer Sendung zwei Wienerlieder in einem Hinterhof zu singen. Ausgerechnet uns Piefke!(1)

Wir beschließen, auf eine längere Tour zu gehen und ziehen mit einem Auto los, in welches wir außer verschiedenen Instrumenten und Kostümen auch alles zum Zelten hineingeben. Diesmal tun wir, was viele Busker tun, eben quer durch Europa zu reisen und in Städten aufzutreten, die z.B. Fußgängerzonen, Uferpromenaden oder andere geeignete Plätze und Parks haben. Eine der ersten Stationen ist für uns am Genfer See. Danach fahren wir zu dem legendären Festival für Bordun-Musik und InstrumentenbauerInnen in Saint-Chartier (Rencontres Internationales de Luthiers et Maîtres Sonneurs), von dem ich von meinem Freund, dem Instrumentenbauer Ernst Käshammer (damals Mitglied der bekannten Folkband Tanzbär aus Mannheim) erfahren hatte und den wir dort auch treffen. Dort tummeln sich auch allerlei Kunsthandwerksleute und wir fallen mit unserer ganz speziellen Straßenmusik positiv auf. Der Geist der Folk- und Hippie-Bewegung ist dort noch sehr lebendig und es wird tage- und nächtelang musiziert und auf mehreren Tanzböden zur Livemusik getanzt.

 

(1) Wikipedia: Das Wort „Piefke“ ist in Österreich eine umgangssprachlich verwendete, meist abwertend gemeinte Bezeichnung für Deutsche mit entsprechender Sprachfärbung.

3. Kontakte und Konflikte

Straßenmusik ist Subversion!

Die Musik ist das Herzstück und der Ausgangspunkt aller Straßenkunst, angefangen bei den mittelalterlichen MinnesängerInnen. Doch auch ErzählerInnen und Gaukler-Innen gehören zum Repertoire, seit sich die Menschen in Europa in Städten zusammenschlossen. Wenn heute von Straßentheater oder Straßenkunst die Rede ist, meinen wir dagegen eine Bewegung, die in den 1960er und 1970er Jahren entstand, getragen von dem Streben nach künstlerischer und gesellschaftlicher Freiheit. Der Grand Magic Circus, eine Truppe von WanderkünstlerInnen, gegründet von Jérôme Savary (1942–2013), lebte diesen Geist kollektiv in Musik und Gauklertum. Sie traten outdoor auf, obwohl das untersagt war. Das clowneske und musikalische Wandervölkchen wurde zum Epizentrum einer Szene, die auf Gemeinschaft und Vermischung der Kunstsprachen setzte. Die szenische Dimension stand so von Anfang an im Mittelpunkt. Doch Theater war damals noch ausschließlich eine Disziplin von Wort und Text. Nur Brecht hatte Musik integriert. Das Straßentheater kannte dagegen keinerlei Hierarchie zwischen den Disziplinen. Bald gründeten sich auch musikalische Ensembles wie Brass Bands, die szenische Themen, Kostüme und Figuren in ihre Arbeit einflochten. Ein Meister dieses Fachs ist zum Beispiel Ulik (Compagnie Le Snob), der in Stücken wie „Glissendo“ Ton, Form und Bewegung in Einklang bringt. Doch derartig aufwändige Inszenierungen bedürfen der gesamten Infrastruktur professionell organisierter Festivals und verursachen bereits in der Entstehung beträchtliche Kosten, die nur in einem mit Steuergeldern finanzierten System wieder eingespielt werden können. Die ursprüngliche Idee eines Daseins in Freiheit ist damit infrage gestellt. Intensiver wird Autonomie in der Szene der Busker weiter gelebt. Hier zieht man spontan weiter, findet zusammen und geht wieder auseinander, immer dabei, die behördlich gesetzten Grenzen der Freiheit am eigenen Leib zu erfahren. Die von Tom Zabel beschriebenen Episoden und Anekdoten aus seinem Leben als Straßenkünstler sprechen Bände.

T. H.

Nach einigen Tagen in der Schweiz kommen wir in Paris an und treten dort ein paar Mal im Quartier Latin auf. Nachdem dort jemand vom Balkon einen mit Wasser gefüllten Plastiksack hinunterwirft, der neben uns zerplatzt, brechen wir die Vorführung ab und gehen zum Auto zurück. Dort angekommen, müssen wir feststellen, dass man uns beraubt hat. Es ist ernüchternd, von der Polizei zu hören, dass dies leider an der Tagesordnung sei. Aber bevor wir wieder abreisen, studieren wir noch ausführlich die Szene der StraßenkünstlerInnen vor dem Centre Pompidou.

Als nächste Etappe fahren wir zum Festival d‘Avignon, wo wir in der Stadt auftreten. Wir sehen u.a. dort zum ersten Mal die Gruppe Natural Theatre Company, wie sie als eine fingierte Hochzeitsgesellschaft PassantInnen in die Kirche lockt, um dort ihrer grotesken Zeremonie beizuwohnen. Nach einem weiteren Auftritt von uns auf dem großen Kunsthandwerksmarkt schauen wir bei den Vorbereitungen eines kleinen Wanderzirkus zu. Sie nennen sich Circus Hazard und haben uns vorher selbst beobachtet. Sie fragen uns, ob wir mit Musik Werbung für ihre Show machen können, was wir gerne tun. Als sie nach ihrer Darbietung bei den ZuschauerInnen Geld sammeln, beobachtet ein Passant ein Romamädchen, wie es ebenfalls absammelt. Er nimmt ihm den Behälter weg und leert den Inhalt in den Hut der Truppe. Als wir zwei danach beim Tourneebus der Gruppe herumstehen und den anderen beim Einpacken Gesellschaft leisten, tauchen plötzlich einige Männer auf und beginnen, die Truppe zu beschimpfen und zu behaupten, sie hätte dem Mädchen Geld gestohlen. Sie drohen ihnen, wenn sie nicht bis zum nächsten Morgen verschwunden seien, könnten sie für nichts garantieren. Und als sie uns beide sehen, meinen sie nur: „Und das gilt auch für Euch!“ Die Polizei, die wir gleich danach rufen, rät uns, dem Folge zu leisten, da sie auf diese Randgruppe keinen wirklichen Einfluss nehmen könne. So reisen wir gezwungenermaßen mit der Truppe des Circus Hazard weiter. Es werden drei aufregende Wochen, in denen wir mit ihnen gemeinsam auf verschiedenen Plätzen und Festivals in Südfrankreich auftreten.

Danach geht es für Juliane und mich weiter nach Italien. In der Nähe von Rom wollen wir ein Seminar der bekannten Colombaioni-Clowns besuchen, zu denen man im Archiv des dänischen Odin Teatret einen Link zu einem Video von 1968 findet. Das Seminar ist leider ausgebucht, aber wir dürfen dort für zwei Tage übernachten, mit den Teilnehmern ein Video eines ihrer legendären Auftritte anschauen und einem der Clowns eine Kostprobe aus unserem Programm vorspielen und um seine Meinung bitten. Ich erinnere mich nur an das Wesentlichste und werde dies auch nie vergessen: „90% der Requisiten benötigt ihr eigentlich gar nicht!“ Ich verstehe durchaus, was er damit meint, brauche aber noch lange, um wirklich zu diesem Punkt zu kommen.

Wir treten einige Mal bei der Piazza Navona auf und ein Herr fragt uns, ob er von uns ein Video machen kann. Wir verabreden uns also für den Sonntagmorgen. Kurz vor Ende unserer Darbietung fällt mir ein Fotograf auf, den ich danach anspreche. Er meint, ja, er habe ein paar Fotos gemacht und wenn wir möchten, könnten wir in den nächsten Tagen einmal bei ihm vorbeikommen und sie anschauen, wozu wir einwilligen. Aber zuvor hat uns noch der andere Herr direkt danach eingeladen, bei ihm zuhause den Film anzusehen. Wir gehen also mit ihm, seiner Frau und ihrem Baby zu ihnen. Als wir das Video dann sehen, sind wir einigermaßen enttäuscht, sieht man doch darauf meistens seinen Sprössling, wie er aus dem Kinderwagen heraus in die Kamera lächelt. Dagegen ist der Besuch bei dem Fotografen eine positive Überraschung, denn seine Bilder sind eines schöner als das andere. Dieser Diplomat, der die Fotografie aus großer Leidenschaft betreibt, lebt mit seiner Frau, einer bekannten Stoffdesignerin, in einer wunderschönen Wohnung direkt im Zentrum von Rom.

Juliane Spitta und Tom Zabel, Piazza Navona, Rom 1982.

2019 lässt mir Juliane ihre Erinnerung an diese Anekdote zukommen: „Und lustig ist, dass der nette Fotograf in Rom der Direktor der FAO war – Riad Traboulsi. Und der andere Herr, der das Video machte, war der damalige Direktor der Friedrich Naumann Stiftung. Letzterer behauptete, dass er mit Rudi Dutschke zusammen in einer WG gelebt habe. Und jetzt fand er, dass man den Kapitalismus nicht ändern könne, also solle man von ihm profitieren und sich ein möglichst großes Stück vom Kuchen sichern. Ich fand ihn peinlich und bescheuert. Wir saßen aber viele Abende bei dem Fotografen, mit dem uns eine tiefe Sympathie verband. Er bereitete uns immer leckere, liebevoll angerichtete Speisen und sah uns dann mit einigem Abstand freundlich und still beim Essen zu. Die besten Früchte, Tomaten, Oliven und Käse, die ich kannte. Danach sprachen wir und er zeigte uns seine wunderbaren Schwarzweißbilder. Was für ein Streetphotographer!!! Und was für ein feiner, gebildeter Mann … Leider wohl etwas zu bescheiden, denn man kennt seine Fotos nicht.“

Allerdings hat er mittlerweile ein Buch veröffentlicht und ist auch mit einer Website im Internet vertreten.

Dieses Buch von 1982 enthält u.a. eine Sammlung von grandiosen Fotos berühmter Clowns aus 100 Jahren und eine ins Deutsche übertragene fundierte Abhandlung über die Geschichte des Clowns vom Herausgeber.

1983 sind Juliane und ich seit einiger Zeit wieder in Wien und treten draußen beim Festival der Clowns auf der Jesuitenwiese im Prater auf. Der vielseitige Kulturmanager Alf Krauliz hatte es für die Festwochen produziert. Dort sehen wir zum ersten Mal Jango Edwards und Johnny Melville.

Bernd Uhlig hat hier Johnny Melville 1982 fotografisch festgehalten.

Das Plakat aus demselben Jahr stammt von Gottfried Helnwein.

Das Plakat für das Festival der Clowns 1983 gestaltete Jörg Huber, welcher auch zahlreiche weitere Plakate für Zirkusse und Zauberkünstler geschaffen hat.

Huber studierte, wie Helnwein an der „Graphischen“, an der ich zu Beginn meiner Zeit in Wien nach der Kunstakademie München ein drittes und letztes Mal als Aktmodell gearbeitet habe. Der stellvertretende Leiter des Wiener Circus- und Clownmuseum Michael Swatosch war so nett und nahm für diese Publikation beide Poster aus dem Rahmen der ständigen Ausstellung und fotografierte sie ab.

Wir nehmen sogar an einem Clownwettbewerb teil, wie im Übrigen auch Miki Malör, eine andere Künstlerin und Powerfrau der österreichischen freien Theaterszene.

Vier Jahre später traut sich André Heller, die Genregrenzen der teils elitären Bildenden Kunst zu sprengen, in dem er für die Ausstattung „seines“ Vergnügungsparks Luna Luna in Hamburg zahlreiche bekannte zeitgenössische KünstlerInnen (u.a. Roy Lichtenstein, Salvador Dali, Joseph Beuys) einbinden kann. Wenn es darum geht, wer etwas Ähnliches davor bereits gemacht hat, muss Harry Kramer genannt werden. Auch Herbert Waltl bittet nach der Jahrtausendwende für das Festival der Träume in Innsbruck mit Oswald Oberhuber einen der bekanntesten Tiroler bildenden Künstler, ein Poster dafür zu entwerfen.

Nach einem Jahr trennen sich die Wege von Juliane und mir und ich bin wieder alleine unterwegs. Jetzt spiele ich also samstags solo am Flohmarkt (beim Wiener Naschmarkt). Es ist einer der zwei Orte, an denen ich am öftesten anzutreffen bin. Dort versammeln sich die schrägsten Vögel der Stadt, und ich bin einer von ihnen.

Das Besondere auf der Straße ist, dass man ständig neue Leute kennenlernt. Und es ist etwas, das ich in dieser Zeit bis zum Exzess betreibe. An so einem Tag am Flohmarkt, bereits in der kalten Jahreszeit, spricht mich ein interessanter Typ an und lädt mich zu einer Musik-Session am Abend ins WUK ein. Ich gehe also später dorthin und die Stiege hinauf in den Trakt der MalerInnen. Ein Großteil des Gebäudekomplexes ist spärlich benutzt. Durch eine Türe höre ich Klänge, doch sie ist abgesperrt und alles Rufen und Klopfen hilft nichts. Etwas, das ich heute noch tue – und damals noch öfter – ist, in meinem Kostüm, manchmal sogar geschminkt, zu meinen Auftritten zu gehen bzw. zu fahren. Und in diesem, meinem ersten Jahr, trage ich diese Prinz-Eisenherz-Perücke. So ausstaffiert setze ich mich auf eine Stufe und warte einige Zeit, ob nicht doch jemand die Tür öffnen würde. Und endlich kommt eine schlanke, großgewachsene Frau ganz in Schwarz gekleidet und mit schwarzem Kopftuch im unbeheizten Stiegenhaus herauf. Sie spricht mich an und lädt mich zu einem heißen Tee in ihr Atelier ein. Es ist meine erste Begegnung mit Linda Czapka, die ich später heirate.

Im Gegensatz zu vielen sogenannten StraßenkünstlerInnen, die mit dem „Hut“ arbeiten, tingele ich nicht ständig durch Europa, sondern halte mich hauptsächlich in Wien auf. Außerdem lebe ich in der Helferstorfer Straße, einer der legendären WGs des 1. Bezirks, und damit so wie viele andere StudentInnen der Hochschule für angewandte Kunst. Dort beginne ich im Herbst, nach Mainz, Kassel und Bamberg, zum vierten Mal ein Kunststudium, diesmal bei Peter Weibel. Linda hatte zur selben Zeit dort angefangen und wird später als Linda Bilda eine renommierte Künstlerin. Auf dieser später zur Uni erhobenen Institution bin ich ganze 13 Semester als ordentlicher Hörer eingeschrieben. Sie ist für mich wie eine wunderbare Insel der Kreativität. Ich verkehre also mit den unterschiedlichsten Menschen, darunter innovative KunststudentInnen wie Pipilotti Rist und viele andere der Wiener Szene. Ich lerne die Arbeiten von angesagten KünstlerInnen wie Bruce Naumann oder Louise Bourgeois kennen. Gleichzeitig bewege ich mich inmitten all der Gestalten, die sich regelmäßig auf der Straße aufhalten. So lerne ich diese Stadt aus allerlei Richtungen kennen. Mein Stammplatz ist beim Brunnen am Graben, an welchem ich unbehelligt, trotz anderslautender Gesetze, die sämtlichen sieben Jahre, die ich in Wien am Stück lebe, auftreten kann.

Die Aufnahmeprüfung an der „Angewandten“ dauert zwei Tage. Am ersten werden zwei praktische Aufgaben gestellt. Erstens das Zeichnen einer Hand und zweitens sollen wir eine Arbeit zum Thema „Figur im Raum“ machen. Weil ich bereits einige Jahre älter als der Durchschnitt bin und dieser Prüfung mit einer gewissen Abgebrühtheit begegne, nehme ich mir die Freiheit, den Unterrichtsraum und das Schulgebäude zu verlassen. Ich schaffe kurzerhand eine Collage, die selbst Ergebnis einer Aktion in einem legendären Kaffeehaus im angrenzenden Stadtpark ist, welcher Linda Bilda und Pipilotti Rist beiwohnten. Am zweiten Tag mache ich eine Performance, welche den zweiten Professor für Bildnerische Erziehung (Herbert Tasquil) zur folgenden Warnung für seinen Kollegen Weibel veranlasst: „Nehmen Sie ihn ja nicht auf, er wird Ihnen sonst Schwierigkeiten machen.“ Womit er nicht ganz Unrecht behalten sollte. Doch das hielt Weibel nicht davon ab, es trotzdem zu wagen.

Einige Wochen später bekomme ich den Auftrag, für ein Familienfest am Burgtheater mobil im Haus als One-Man-Band im Einsatz zu sein. Zuvor traf ich Pipilotti Rist mit ihrer Mutter draußen und fragte sie, ob sie nicht so nett sein könne, später ein paar Fotos zu machen.

Auf der Fußgängerzone in der Innenstadt werde ich Freund so mancher Stadtoriginale, wie z.B. des „Lercherl“ (Emil Thun). Das ist ein älterer Herr, der eine Handvoll schräge Grimassen beherrscht und dazwischen ein wenig singt, wie ein Lercherl eben. Manchmal, wenn ich ihn treffe, meint er: „Halte einmal meine Taschen!“ Er trägt einen langen Mantel mit großen Taschen, in welche die PassantInnen ihm ihre Spende stecken. Sie sind meistens gegen Ende seiner Darbietung prall gefüllt und man erzählt sich, dass er drei sogenannte Zinshäuser besitze, also reich sei und das verdiente Kleingeld in Kästen staple und es nie zur Bank bringe. Oder „Der Blinde“, der in seinem Rollstuhl sitzt und Akkordeon spielt. Jemand meint, dass er ihn am Abend beobachtet habe, wie er aus dem Rollstuhl stieg, die dunkle Brille abnahm, ganz normal gehen konnte und mit seinem Mercedes weggefahren sei. Apropos Mercedes: Auch meine Vorbilder Otto & Bärnelli können sich zu der Zeit als erfolgreiche Straßenmusiker lange einen leisten. Oder der stadtbekannte WaLuLiSo (Ludwig Anton Weinberger) – was für Wald, Luft, Licht und Sonne steht – mit seiner römischen Toga, seinen Sandalen, seinem Lorbeerkranz auf dem Kopf und seinem Stab, mit einer Hand gehalten, an dem oben die Attrappe einer Friedenstaube befestigt ist. In der anderen Hand trägt er einen roten Apfel. Als überzeugter Anhänger der Freikörperkultur ist er immer braungebrannt. Wenn er bei mir vorbeikommt und ich gerade eine Pause mache, spricht er mich an und begrüßt mich wie einen Kollegen der Zunft der Straßenakteure, zu der er sich zugehörig fühlt.

Im Sommer 1983 reise ich mit meiner späteren Frau Linda Czapka nach Zagreb, wo eine serbische Freundin von ihr studiert. Ich habe meine Gitarre dabei, um Straßenmusik zu machen, soweit es erlaubt ist. Die Freundin erklärt mir, wo in der Innenstadt Straßenkünstler anzutreffen sind und ich begebe mich dorthin. Ich habe meine exotischen Kostüme und auch die Marionette, mit der ich mittlerweile auftrete, zuhause gelassen und ziehe ganz schlicht gekleidet los, um in der Fußgängerzone fremde und eigene Songs zu singen. Als ich gerade einmal eine halbe Stunde gespielt habe, kommt ein Polizist auf mich zu und fordert mich auf, den Koffer zu schließen und mit ihm mitzukommen. Auf der Wache muss ich lange warten und werde schließlich vernommen. Als ich frage, wie lange es noch dauert, meint der Beamte: „Wir müssen nur noch in ein anderes Gebäude gehen, um eine Unterschrift zu holen.“ Dort angekommen, empfangen mich zwei Herren in Zivil. Sie halten mich an den Schultern und der Beamte geht weg, während er sich mit einem Winken verabschiedet. Nun werde ich aufgefordert, den dunklen Gang mit ihnen bis zu einem Zimmer entlang zu gehen. Erst jetzt realisiere ich, dass dies wohl ein Gefängnis ist. Und nun beginnen drei Tage permanenter Demütigung. Die beiden tun so, als könnten sie deutsch und ich beginne, ihnen fassungslos die ganze Geschichte zu erzählen und sie sagen immer wieder „ja, ja, ja“. Nach ganzen zehn Minuten realisiere ich, dass sie kein Wort verstehen und sie brechen in lautes Lachen aus. Nun muss ich ihnen meinen Schmuck, Gürtel und Schnürsenkel aushändigen und werde dann in eine Zelle mit anderen Gefangenen gebracht. Das ist das erste Mal, dass man mich in ein Gefängnis einsperrt und es ist für mich kaum zu ertragen. Das Gefühl der Machtlosigkeit macht mich fast wahnsinnig und ich verstehe diese Maßnahme nicht im Geringsten. Und zu allem Überfluss werde ich von einem Mithäftling noch zusätzlich gequält. Als das Licht ausgeschaltet wird und wir alle auf unseren Pritschen liegen, richtet er, der mir gegenüber liegt, sich auf und beginnt mit mir zu sprechen. Man habe ihn aufgefordert, bei der kommenden Verhandlung für mich auszusagen. Er habe, so sagt er mir, vorher an meinen Augen gesehen, dass ich Drogen nehme und ich solle nicht verzweifeln, ich werde maximal ein halbes Jahr bekommen und in einem Arbeitslager immer an der frischen Luft sein.

Als dieser Typ dann mal in die Ecke zum Pinkeln geht, was im Übrigen völlig offen geschieht, gehe ich zu einem anderen Insassen mit dem ich mich ein wenig angefreundet habe. Als er hört, dass ich wegen Straßenmusik eingesperrt wurde, singt er mir zum Trost „Sonderzug nach Pankow“ von Udo Lindenberg vor und redet dem anderen ins Gewissen: „Lass‘ den Jungen in Ruhe, sonst bekommst du es mit mir zu tun!“ Einen Tag später werde ich einen Saal geführt und dort einem weiteren Verhör unterzogen. Als ich das erste Mal wieder ein geöffnetes und nicht vergittertes Fenster sehe male ich mir aus, dort rauszuspringen. Selbst die Tatsache, dass ich mich im zweiten Stock befinde, habe ich in meine Überlegung einbezogen. Gott sei Dank habe ich darauf verzichtet.

Als der dritte Tag anbricht, habe ich gelernt, dass man aus der Zelle entlassen wird, wenn man das Essgeschirr abgeben muss. Als es endlich soweit ist, macht sich in mir eine vorsichtige Freude breit. Doch ich werde ein letztes Mal erniedrigt. Anstelle der Freiheit wartet auf mich eine Zelle mit Schwerverbrechern. Dort breche ich zusammen und beginne jämmerlich zu weinen und werde ausgerechnet von einem dieser harten Kerle getröstet, der mir sagt: „Hey, krieg dich wieder, das ist nur so ein fieser Gag. Sie werden dich gleich entlassen.“ Nach einer Stunde ist es dann so weit. Man hatte mir all die Zeit über nicht mitgeteilt, ob sie meine Partnerin über den Grund meines Verschwindens informiert war, so wie ich es erbeten hatte. Ich bekomme eine Entlassungsurkunde, worin ich das Befolgen der Strafe mit meiner Unterschrift garantiere. Demnach habe ich fünf Jahre Einreiseverbot nach Jugoslawien und muss das Land innerhalb von 24 Stunden verlassen. Zudem muss ich ein Strafgeld entrichten. Als ich dann aus dem großen Tor herausgehe, steht dort meine Freundin. Dies ist einer der glücklichsten Momente meines Lebens und ich bin erleichtert, diesen Ort zu verlassen.

Eine Freundin meiner Frau Linda Czapka schickte mir wenig später diese Fotostrecke, die sie in einer Studentenzeitung fand und die meine Verhaftung in Zagreb zeigt. Bei genauerer Betrachtung ist auf allen Bildern ein Mann zu sehen, der entweder ein Beamter in Zivil ist oder einfach ein gehässiger Bürger, der mich angeschwärzt hat.

4. Italien und der dionysische Ausnahmezustand

Die Bacchanalien von heute?

Dass sich Festivals der Straßenkunst so erfolgreich verbreiten konnten, liegt in erster Linie an der bereitwilligen Unterstützung durch LokalpolitikerInnen, die erkennen, wie positiv die Bevölkerung auf diese Ausbrüche aus dem Alltag reagiert. Der jährliche Rhythmus, die festliche Stimmung und die Bewegungsfreiheit in einem für den Autoverkehr gesperrten öffentlichen Raum finden breite Zustimmung. Je größer das Festival, umso mehr steigen zudem die Einnahmen der Geschäftsleute. Und das nicht nur bei Essen und Trinken. Selbst die Nachfrage nach Brillen schießt sprunghaft in die Höhe! Die Festivals sind moderne Formen der antiken Bacchanalien und des Karnevals. Mehr noch: In manchen Städten entstanden künstlerisch gestaltete Formen, inspiriert vom Modell des Karnevals von Rio de Janeiro oder des Londoner Notting Hill Carnival. Doch viel hängt von den Ausmaßen des Ereignisses ab. Ist das Straßenkunstfestival von kleinem Format, so bleibt es ein Geschenk der Stadtverwaltung an ihre eigenen BürgerInnen. Je größer eine dieser Veranstaltungen wird, umso mehr Menschen kommen von außerhalb, und viele davon, um abends und nachts zu feiern. Es ist ja Sommer … In manchen Hochburgen Frankreichs hat sich das bereits auf das künstlerische Angebot ausgewirkt, sodass nächtens vor allem Musikgruppen durch die Straßen ziehen. So findet, nun spontan, auch die Form des Umzugs wieder Eingang. Da diese Form, wenn es um Theaterkunst geht, viel ordnungstechnischen Aufwand und damit Kosten verursacht – sowohl für die Compagnien wie die Gemeinden – ist sie in letzter Zeit in den Hintergrund getreten. Der Umzug, oder auch die Parade, stellt eine Verbindung mit karnevalistischen Traditionen her, die für eine gewisse Zügellosigkeit steht und sich auf die Tradition der Bacchanalien im antiken Rom berufen kann. Die künstlerische Gestaltung dient denn auch dazu, die Veranstaltung kulturell und sozial zu überhöhen und Ordnung zu schaffen. Am weitesten geht dabei die Stadt Lyon, in der alle zwei Jahre ein Festival stattfindet, das dem zeitgenössischen Tanz gewidmet ist und indoor stattfindet. Nur an einem Sonntag findet das weltweit bekannte „Défilé“ statt. Es ist ein Umzug, der von ChoreographInnen unter Beteiligung der Bevölkerung gestaltet wird. Hunderttausende stehen dann an den Verkehrsadern der Innenstadt und feuern TänzerInnen an, die hauptsächlich aus den Vorstädten stammen. Diese Form des Karnevals stiftet nicht weniger Identifikation als die Umzüge in Rio oder in Köln, und bietet zeitgenössisches Flair gepaart mit künstlerischen Überraschungen. Im Fall von Lyon wurde so auch die Kommunikation zwischen der bourgeoisen Innenstadt und der Bevölkerung der Randbezirke spürbar verbessert.

T.H.

1984 trete ich, wie auch in den weiteren Jahren, sogar im Winter draußen auf. Allerdings nur, wenn es keine Minusgrade hat und auch nur für eine kürzere Zeit. Als ich wie üblich am Abend mein Kleingeld zähle und Haufen mit den verschiedenen Währungseinheiten bilde, fällt mir eine Münze auf. Als ich sie näher betrachte, stelle ich fest, dass auf ihr der Wert „1.000 Schilling“ steht. Ich gehe also am nächsten Tag zur Bank und ein Angestellter erklärt mir, dass dies ein Goldtausender sei, der einen momentanen Wert von 3.500 Schilling habe. Ich lasse mir das Geld dafür gleich geben und habe an diesem Nachmittag mit den 1.000, die ich noch verdient hatte, zusammen 4.500 Schilling!

Natürlich versuche ich auch, Alternativen zu finden um nicht auf der Straße aufzutreten. In meiner Nachbarschaft im 19. Bezirk befindet sich ein bürgerliches Gasthaus, bei welchem ich noch nie zuvor gewesen bin. Ich trete ja zu dieser Zeit mit allerlei Krimskrams auf und bin in dieser Stadt wirklich ein bunter Vogel. Ich bin also ziemlich nervös als ich beschließe, in diesem Lokal mein Glück zu versuchen. Als ich den großen Saal betrete, möchte ich am liebsten gleich wieder umkehren. Ich nehme also allen Mut zusammen und singe vor den verwunderten Leuten drei Lieder und sammele dann mit dem Hut ab. Und siehe da, ich werde wider Erwarten gut belohnt.

Dann reise ich zum Karneval nach Venedig, der Stadt der Commedia dell’Arte, und bleibe dort die ganzen zehn Tage. Kurz nachdem ich dort das erste Mal in der Altstadt aufgetreten bin, werde ich von jungen VenezianerInnen zu einem Fest eingeladen, freunde mich mit ihnen an und kann die restliche Zeit in ihrer WG ganz im Zentrum wohnen. Einer von ihnen ist der Eigentümer und stammt aus einer Familie, welche seit Generationen Ruder für die Gondolas herstellt. Er nimmt mich auch zu einem weiteren privaten Fest mit, von denen es während des Karnevals nicht wenige gibt, denn die VenezianerInnen versuchen so, den Massen an TouristInnen zu entkommen. Dort ist auch ein Opernsänger aus Rom, der spontan einen Auftritt mit mehreren DarstellerInnen für den nächsten Tag organisiert und mich als One-Man-Band dabeihaben will. So treffen wir uns am Hafen bei regnerischem Wetter und fahren gemeinsam mit einem Boot auf eine der Inseln. Während der Fahrt wird unser improvisiertes Stück auf die Schnelle besprochen. Dort angekommen, gehen wir zu einer großen Bühne auf einem weitläufigen Platz und nicht viel später erfolgt unsere experimentelle Darbietung vor einem äußerst spärlichen, oder besser gesagt keinem Publikum. Die absurde Stimmung wird damit abgerundet, dass wir alle gleich danach in einer entheiligten Kirche vor der Kälte Unterschlupf suchen und dort einige Stunden bis zum Eintreffen der nächsten Fähre mit Obdachlosen und Huren warten müssen. In der nächsten Nacht werde ich gegen drei Uhr in der Frühe Zeuge eines seltsamen Treibens auf der Rialtobrücke. Es sind nur noch vereinzelt Menschen auf den Straßen, als ich dort vier Personen mit schwarzem Frack, Zylinder und einer augapfelförmigen Kopfmaske entdecke. Sie vollführen schräge Bewegungen und tanzen befremdlich zu einer für mich ebenso ungewöhnlichen Musik, die aus einem Ghettoblaster kommt. Dieser wird von einem weiteren Akteur in einem braunen Anzug getragen, der im Gesicht goldfarben geschminkt ist. Als ich ihn frage wer sie sind, was sie darstellen und vor allem von wem die Musik sei, reagiert er ähnlich geheimnisvoll und schweigt. Fasziniert beobachte ich ihre Performance und gebe nicht auf, ihn mehrmals darauf anzusprechen bis er mir erklärt, dass sie ArchitekturstudentInnen aus Mailand sind und dass der Sound sowie die Ideen zu den Kostümen von der Band The Residents stammen. Seitdem nimmt diese kalifornische Gruppe, die ich bis dahin nicht kannte, einen wichtigen Platz in meinem Fundus kunstgeschichtlichen Materials ein. Vor allem die letzten Tage verlaufen wie ein surrealistischer Film und sind ein wahres Abenteuer. Die antiken Gebäude, Gassen und Plätze dienen als Kulisse für eine Art dionysischen Ausnahmezustand.