Gemeindeseelsorge - Wolfgang Drechsel - E-Book

Gemeindeseelsorge E-Book

Wolfgang Drechsel

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Beschreibung

Gemeindeseelsorge ist ein zentrales Thema kirchlicher Arbeit. Zugleich aber wird sie kaum wahrgenommen. Sowohl in der Seelsorgetheorie wie auch im Bewusstseins der konkreten Gemeindepraxis fristet sie eher eine Art Aschenbrödel-Dasein. Anliegen dieses Buches ist es, hier eine Lücke zu schließen und erstmals einen Gesamtentwurf zur Seelsorge in der Gemeinde im Blick auf Theorie und Praxis vorzulegen. Von der Frage nach den Gründen der bisherigen Nichtbeachtung her wird ein Verstehensmodell für die Gemeindeseelsorge entworfen und in seinen Konsequenzen für eine Praxis entfaltet, die so eine neue Würdigung erfahren kann. So ist dieses Buch nicht nur für die Seelsorgetheorie, sondern auch für alle Interessierten aus der Gemeindepraxis von besonderem Interesse.

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GEMEINDESEELSORGE

Wolfgang Drechsel

GEMEINDESEELSORGE

Dr. theol. Wolfgang Drechsel, Jahrgang 1951, ist Professor für Praktische Theologie mit dem Schwerpunkt Seelsorge in Heidelberg. Von 1983 bis 2004 war er Krankenhausseelsorger an einem Klinikum in München. Er ist pastoralpsychologischer Berater, Supervisor, Lehrsupervisor der Deutschen Gesellschaft für Pastoralpsychologie (Sektion T).

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

2. Auflage 2016

© 2015 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH · Leipzig

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Cover: Zacharias Bähring, Leipzig

Satz: Makena Plangrafik, Leipzig

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2018

ISBN 978-3-374-04950-9

www.eva-leipzig.de

VORWORT

Was ist Gemeindeseelsorge? Was gehört alles zu ihr und was geschieht da?

Wer sich darauf einlässt, die Situation der Gemeindeseelsorge »mitten im Leben« näher zu betrachten, der wird überrascht sein. Nicht allein im Blick darauf, was dabei an Fülle und Vielfalt sichtbar wird, sondern im Besonderen auch darüber, wie diese Gemeindeseelsorge von außen zumeist wahrgenommen wird: wenn überhaupt, dann bestenfalls als eine Randerscheinung von geringer Bedeutung. Da liegt der Vergleich mit dem Aschenbrödel aus Grimms Märchen nahe: Ein Stiefkind der Seelsorgetheorie, eingebunden in eine Fülle alltäglicher Arbeit, die viel Kraft kostet und doch in ihrer Selbstverständlichkeit kaum zur Kenntnis genommen wird, eben unansehnlich und nicht selten eher belächelt – aus der Außenperspektive.

Ein ausgesprochen umfassender Bereich kirchlicher Seelsorge fällt aus der allgemeinen und sonderlich auch aus der seelsorgetheoretischen Wahrnehmung heraus, obwohl Seelsorge auch im Kontext von Gemeinde ausgesprochen positiv besetzt ist und zum »Eigentlichen« kirchlicher Arbeit gerechnet wird. Anlass genug, sich einmal genauer mit den Hintergründen dieser auch die Gegenwart prägenden Situation zu befassen und die Frage zu stellen, was das Spezifische der Gemeindeseelsorge ist.

Wie lässt sich das »Seelsorgliche« verstehen, wenn die Begegnungen im Kontext der Gemeindesituation nicht auf einzelne »tiefgehende Gespräche« reduziert werden können, sondern in einem Feld anzusiedeln sind, das eine außerordentliche Bandbreite aufweist – eingebettet in das Zusammenleben im Alltag: Zwischen alltäglicher Unterhaltung, die gerne mit dem »Oberflächlichen« identifiziert wird, und hochdramatischen, nicht selten aber auch zufälligen und durch die Umstände oft schwierigen Begegnungen, in denen die Krisenhaftigkeit und Brüchigkeit der Situation »mitten im Leben« aufscheint. Solchen und ähnlichen Fragen gilt das Interesse dieses Buches, und zwar im Blick auf eine seelsorgetheoretische Grundlegung von Gemeindeseelsorge als kontextgebundener Seelsorge, im Blick auf eine Annäherung an die einzelnen Formen, in denen Seelsorge in der Gemeinde vorkommt, und im Blick auf die spezifischen Themen in Theorie und Praxis, die eine solche Seelsorge unter den Bedingungen des alltäglichen Zusammenlebens prägen. Eingebunden in das Bemühen um eine Wahrnehmung dessen, was gerne übersehen wird, und in eine Würdigung dessen, was immer schon geschieht.

Die Reflexion der praktischen Vollzüge von Gemeindeseelsorge, die in diesem Buch zum Ausdruck kommt, wäre nicht möglich gewesen ohne all diejenigen, die mich im Laufe der letzten Jahre an ihrer konkreten Praxis Anteil haben ließen: All die Vikarinnen und Vikare, Pfarrerinnen und Pfarrer, Diakoninnen und Diakone sowie auch all die Ehrenamtlichen, die in Ausbildung, Supervisionen, Fallbesprechungen usw. ihre Praxiserfahrungen eingebracht haben und auch freundlicherweise konkrete Beispiele und Protokolle bzw. Protokollauszüge für dieses Buch zur Verfügung gestellt haben. Ihnen gilt mein besonderer Dank – und ihnen sei dieses Buch gewidmet.

Mein weiterer Dank gilt denen, die die Arbeit an diesem Buch begleitet haben und in Gesprächen und begleitender Lektüre mit einer Fülle an kritischen und konstruktiven Anregungen an seinem Entstehungsprozess mitgearbeitet haben. Exemplarisch seien benannt: Heike Springhart, Dagmar Kreitzscheck, Sabine Kast-Streib, Detlev Spitzbart, Tobias Jammerthal und meine Frau Evelyn Drechsel.

Ferner gilt mein Dank Herrn Daniel Kunz, für die langwierige und mühsame Arbeit an der Endgestalt des Textes, immer verbunden mit weiterführenden Impulsen und Anregungen, Frau Lydia Mehra für das Korrekturlesen sowie der Evangelischen Verlagsanstalt Leipzig, insbesondere Frau Weidhas, die in Sorgfalt und Umsicht die Herausgabe dieses Buches begleitet hat.

Ganz herzlich gedankt sei der Evangelischen Landeskirche in Baden für die Gewährung eines Druckkostenzuschusses.

So hoffe ich, dass dieses Buch nicht nur seinen Beitrag leistet, das Thema »Gemeindeseelsorge« in ein klareres Licht zu rücken, sondern dass es auch für Interessierte aus der Praxis selbst zur Anregung wird, die eigene Seelsorge in der Gemeinde deutlicher wahrzunehmen und zu würdigen.

Heidelberg, im Herbst 2014

Wolfgang Drechsel

INHALT

EINLEITUNG: GEMEINDESEELSORGE ZWISCHEN ANSPRUCH UND WIRKLICHKEIT

1. SEELSORGE IN DER GEMEINDE – EINE ANNÄHERUNG

2. MONOPOLISIERTE ODER KONTEXTUELLE SEELSORGETHEORIE?

3. THEOLOGISCHE UND SEELSORGEBEZOGENE GRUNDUNTERSCHEIDUNGEN IM KONTEXT GEMEINDE

3.1 Auf der Metaebene: Die Unterscheidung zwischen der Theologie als konzeptionellem Hintergrund und der Praxis der Seelsorge

3.2 Auf der inhaltlich-strukturellen Ebene: Die Unterscheidung zwischen koinonia bzw. ecclesia und Parochie

3.3 Auf der inhaltlich-seelsorgebezogenen Ebene: Die Unterscheidung zwischen Seelsorge »in der Gemeinde« und Seelsorge »im Auftrag der Gemeinde«

4. GRUNDLAGEN EINER SEELSORGE IM KONTEXT DES ALLTAGS

4.1 Seelsorgebesuch und Seelsorgegespräch – eine Annäherung über Fragen der Krankenhausseelsorge

4.2 Theologische Fragen im Hintergrund der Vorstellung vom »tiefgehenden Gespräch«

4.3 Von der Rechtfertigung zum Kontext – seelsorgebezogene Basiselemente im Vorfeld einer Frage nach der Gemeindeseelsorge

4.4 Die (parochiale) Gemeindesituation als Kontext von Seelsorge

5. WAS IST SEELSORGE IN DER GEMEINDE? EINE ERSTE KLÄRUNG

6. SEELSORGLICHE BEGEGNUNGSFORMEN IN DER GEMEINDE

6.1 Seelsorgliche Begegnungen und Gespräche in der Komm-Struktur (Aktivität bei den Gesprächspartnern)

6.1.1 Vom Zufall bis zum Überfall – Seelsorge bei Gelegenheit

6.1.2 Exkurs: Seelsorge bei Gelegenheit – kommentiertes Protokoll

6.1.3 Das angefragte Gespräch – Seelsorge in Lebens- und Glaubensfragen

6.2 Seelsorgliche Begegnungen in der Geh-Struktur (Aktivität beim Seelsorger, der Seelsorgerin)

6.2.1 Das Zugehen auf die Gemeindeglieder als Ansprechen im wohlwollenden Interesse

6.2.2 Der Hausbesuch – Grundlegendes zu einem zentralen Element der Gemeindeseelsorge

6.2.2.1 Der allgemeine Hausbesuch als Kennenlernen-Wollen
6.2.2.2 Exkurs: Das Erzählen aus dem Leben (Protokolle)
6.2.2.3 Der Hausbesuch als Zuwendung zu Menschen in spezifischen bzw. schwierigen Lebenssituationen
6.2.2.4 Die klassischen Kasualbesuche – Seelsorge aus Anlass der großen Lebensübergänge bzw. -schwellen
6.2.2.5 »Kleine Kasualien« – exemplarisch im Blick auf den Geburstagsbesuch
6.2.2.6 Exkurs: Der Geburstagsbesuch (Protokoll)

7. GRUNDPERSPEKTIVEN DER GEMEINDESEELSORGE IM BLICK AUF THEORIE UND PRAXIS

7.1 Zu Gast sein

7.2 Wahrnehmung und Haltung

7.3 Seelsorge mitten im Leben – konzeptionelle Überlegungen

7.4 Die strukturellen Paradoxien der Frage nach der Professionalität

7.4.1 Personale Präsenz und seelsorgliche Unmittelbarkeit

7.4.2 Professionalität unter den Bedingungen des Nicht-Professionellen

7.4.3 Seelsorgliche Professionalität im Glaubensbezug

7.4.4 Exkurs: Amt und Ehren-Amt

7.5 Seelsorgliche Präsenz in Reden und Handeln

7.5.1 Wahrnehmen dessen, was der Seelsorgepartner anbietet

7.5.2 Personale Präsenz und Selbsterfahrung

7.5.3 Rollenpräsenz

7.5.4 Flexibilität und Spontaneität

7.5.5 Gesprächsführung unter den Bedingungen des Gastseins

7.5.6 Die Vielfalt schwieriger Begegnungen

7.5.7 Empathie und Fremdheit

7.6 Die Frage nach dem Umgang mit dem Glauben

7.6.1 Exkurs: Glaubensthema und Seelsorgepraxis in der poimenischen Diskussion

7.6.2 Im Kontext der Gemeindeseelsorge

7.6.3 Exkurs: Biblisches ins Gespräch bringen (Protokoll)

7.7 Seelsorge am Seelsorger, an der Seelsorgerin

SCHLUSSBEMERKUNG

LITERATURVERZEICHNIS

EINLEITUNG: GEMEINDESEELSORGE ZWISCHEN ANSPRUCH UND WIRKLICHKEIT

Ein Gemeindepfarrer in der Supervision: »Irgendwie ist das im Augenblick permanent der gleiche Trott. Ich arbeite täglich mein Pensum ab – und ich mache wirklich viel, das ist keine Frage – aber wozu denn überhaupt? Das ist alles Routine und kostet richtig viel Kraft, aber das Eigentliche, für das ich mal angetreten bin, das kommt nicht mehr vor. Für Seelsorge zum Beispiel, da hab ich überhaupt keine Zeit.«

Auf den Vorschlag »Schauen wir uns doch einfach einmal genauer an, was Sie z.B. in den letzten drei Tagen so alles gemacht haben?«, beginnt der Pfarrer die einzelnen Aktivitäten aufzuzählen, vom Religionsunterricht, über Sitzungen wie Bauausschuss oder gemeinsamer Vorbereitung der Konfirmandenfreizeit, bis hin zu einer Beerdigung und einer Besprechung mit dem Hausmeister. Punkt für Punkt benennt er sachlich die Tätigkeiten, so wie sie im Terminkalender stehen.

Die zunächst einmal nur an einer genaueren inhaltlichen Füllung interessierte Nachfrage »Was war denn zwischen diesen Terminen, auf dem Weg von dem einen zum anderen?«, bewirkt eine Veränderung in der Atmosphäre: Der Pfarrer beginnt zu erzählen. Wie er nach einer Sitzung noch mit verschiedenen Leuten geredet hat, um was es da alles gegangen ist, von verschiedensten Begegnungen auf der Straße – und das alles zwischen nur zwei Terminen. Das Erzählen wirkt sehr lebendig, der Pfarrer beteiligt. »Ach ja, und dann hab ich auch noch Frau N. getroffen. Die hat mir von der Erkrankung ihres Mannes erzählt. Und dann, weil ich grad noch ein bisschen Zeit hatte, hab ich bei dem auch noch vorbeigeschaut.« Er stutzt: »Das hab ich ja vorhin alles gar nicht mitgerechnet. Das ist mir überhaupt nicht aufgefallen.«

Dieses Stutzen ist der Anlass, mit dem Pfarrer all diese kleinen Zwischensituationen über einen längeren Zeitraum genauer anzuschauen, im Sinne einer »Entselbstverständlichung« des alltäglich Gewohnten und im Blick auf die Fülle und Dichte an Leben, die sich in all diesen kleinen Begegnungen artikuliert. Damit verbunden stellt sich immer wieder die Frage, was es denn so schwer macht, gerade diese, zwar kleinräumige, aber zugleich ausgesprochen intensive Begegnungsvielfalt überhaupt wahrzunehmen und in ihrer eigenen Qualität wertzuschätzen. Und so taucht zwischendrin zumindest der Gedanke auf, ob hier nicht etwas von dem »Eigentlichen« geschieht, das er selbst nur noch im Modus des Verlustes hatte wahrnehmen können.

Wenngleich es keine Frage ist, dass im Hintergrund dieser Supervisionssituation Individualität und Persönlichkeit des Pfarrers eine wesentliche Rolle spielen, so kann diese Szene doch als repräsentatives Beispiel für ein ausgesprochen weit verbreitetes Phänomen dienen: Auf der einen Seite ist die Seelsorge auf einer grundlegenden Ebene des Selbstverständnisses von Pfarrerinnen und Pfarrern, wie überhaupt von haupt- und ehrenamtlich Mitarbeitenden in der Kirche, ausgesprochen hoch besetzt und wird zum »Eigentlichen« der eigenen Arbeit gerechnet.1 Auf der anderen Seite ist sie zumeist mit einer sehr konkreten Vorstellung verbunden, die – dem gängigen Sprachgebrauch gemäß – auf ein »tiefgehendes Einzelgespräch« hinausläuft: Ein Gespräch, am besten vom Gegenüber erbeten, im Amtszimmer des Pfarrers, eingebettet in ein geregeltes Setting, mit viel Zeit und ausgerichtet auf das Heben, Bearbeiten und Lösen der Lebensfragen von Gemeindegliedern, wegen derer sie den Pfarrer aufgesucht haben. Doch solche Gesprächsgelegenheiten sind im pfarrerlichen Berufsalltag in der Gemeinde eher selten. Nicht allein, dass die explizite Nachfrage nach solchen Seelsorgegesprächen – bei allen lokalen und mit der Persönlichkeit des Pfarrers verbundenen Unterschieden – eher als gering eingeschätzt werden kann, die ganz normale Routine der Gemeindearbeit lässt auch nur wenig, sonderlich zeitlichen, Spielraum, solche Situationen zu suchen.

Ganz abgesehen von dem hohen Frustrationspotential, das durch eine solche Spannung zwischen dem eigenen Anspruch und seiner bestenfalls seltenen Realisierbarkeit entsteht, hat die Fixierung auf das »tiefgehende Gespräch« als gängigem und allgemeingültigem Bild von Seelsorge eine weitere Schattenseite: In ihrem Idealisierungscharakter verwehrt diese prägende Vorstellung den Blick auf eine Vielfalt von seelsorglichen Begegnungen und Situationen, die den Gemeindealltag grundieren.2 Seien es all die ungeplanten und alltäglichen Begegnungen an der Kirchentür, nach Veranstaltungen oder auf der Straße, wie sie in der Formulierung »Seelsorge bei Gelegenheit« zusammengefasst sind; seien es die bewusst gesuchten Begegnungen und Gespräche, wie z.B. der Hausbesuch im Sinne eines »Ich möchte Sie gerne näher kennenlernen« oder der Geburtstagsbesuch, der nicht selten in der Eigendynamik einer Festgesellschaft kaum Gelegenheit bietet, mit dem Jubilar persönlich zu reden. Sie alle passen nur schwer ins Schema der allgemeinen Vorstellung von Seelsorge. Infolgedessen werden sie eher selten überhaupt wahrgenommen, und wenn das geschieht, bedarf es – wie es exemplarisch im Umgang mit dem Haus- oder dem Geburtstagsbesuch zum Ausdruck kommt – oft eines mühsamen Prozesses des Uminterpretierens, um wenigstens Ansätze für ein »tiefgehendes Gespräch« zu finden und das Ganze als Seelsorge identifizieren zu können. Solche Begegnungen aber als Ausdruck des »Eigentlichen« zu sehen und wertzuschätzen, als Ausdruck dessen, »wofür man als Pfarrer einmal angetreten ist«, eben als Seelsorge, hat in der kirchlichen Praxis ausgesprochenen Seltenheitswert. Es kommt – schlicht gesprochen – kaum vor.

Lässt sich so auf der Ebene der Ortsgemeindepraxis von einer Art Skotomisierung des Seelsorgefeldes, von einer durch ein normatives Seelsorgeideal geprägten Ausblendung weiter Bereiche seelsorglicher Möglichkeiten sprechen, so wiederholt sich diese Struktur auf der Ebene der poimenischen Theoriebildung: Dies zeigt sich bereits bei der Untersuchung einzelner Themenbereiche der Gemeindeseelsorge wie Hausbesuch, Geburtstagsbesuch usw. Sie finden einen bestenfalls rudimentär zu nennenden literarischen Niederschlag.3 Es zeigt sich aber vor allem darin, dass es keine umfassenden Gesamtdarstellungen zum Thema Gemeindeseelsorge gibt.

Selbstverständlich kann man darauf hinweisen, dass die Gemeindeseelsorge in den neueren Lehrbüchern benannt und punktuell gestreift wird. Ebenso zeigt sich ein Traditionsstrang in der Seelsorgeliteratur, der das Thema »Gemeinde« mit einer theologischen und spezifisch ekklesiologischen Konnotation ganz in den Vordergrund stellt. Dabei ist aber gerade dieses theologische Interesse der Grund dafür, dass hier der Blick auf die konkrete, amtsbezogene und parochial orientierte Seelsorgepraxis eher in den Hintergrund tritt.4

Insgesamt lässt sich festhalten, dass im Sinne einer seelsorgetheoretischen Grundlegung und einer darauf basierenden Praxistheorie die Gemeindeseelsorge kein Thema poimenischer Theoriebildung ist.5 Das bedeutet, dass gerade derjenige Bereich kirchlicher Seelsorgepraxis, der die weiteste Verbreitung hat und den kirchlichen Alltag grundiert, kaum Resonanz in der Seelsorgetheorie findet und dort bestenfalls stiefmütterlich behandelt wird. Da die in dieser tendenziellen Nichtbeachtung implizierte Abwertung nicht nur für die unmittelbare Gegenwart gilt, sondern die gesamte poimenische Theoriebildung der letzten fünfzig Jahre kennzeichnet, mag es nicht verwundern, dass das Bewusstsein der heutigen Generation von Gemeindepfarrern, deren Seelsorgelernen durch diese Theoriebildung und ihre Normativität geprägt ist, über weite Strecken als Spiegelung bzw. Ausdruck solcher Nichtwahrnehmung der poimenischen Theorie angesehen werden kann, so denn die Einzelnen nicht durch die eigene Praxis eines anderen belehrt werden. In der eingangs beschriebenen Empfindung, nicht zu dem zu kommen, »wozu ich eigentlich einmal angetreten bin«, findet dieses Problem schließlich seinen unmittelbaren Ausdruck und wird somit auch pastoraltheologisch relevant.

So stellen sich Fragen: Könnte es sein, dass die Gemeindeseelsorge einer anderen Perspektive und Wertigkeit bedarf, als es die gängige Hintergrundtheorie vorgibt? Könnte es sein, dass das, was bislang eher beiläufig als pfarrerliche Seelsorgepraxis in der Gemeinde benannt und beschrieben worden ist, ohne zum »Eigentlichen der Seelsorge« gerechnet zu werden, eine ganz eigene Bedeutung hat? Könnte es sein, dass das Wahrnehmen der spezifisch seelsorglichen Dimension auch im Kleinräumigen, Alltäglichen und oft auch banal Anmutenden eine erweiterte Sicht auf das Faktische eröffnet, die sehr viel mehr mit dem »Eigentlichen« des pfarrerlichen Auftrags zu tun hat, als bislang unterstellt?

Im Rahmen einer ersten Annäherung an eine Antwort soll diesen Fragen im Folgenden nachgegangen werden. Dabei erscheint es sinnvoll, nach einem kurzen Überblick über das, was unter dem Begriff der Gemeindeseelsorge versammelt ist, einen Blick auf die Gründe der bisherigen Skotomisierung und der damit verbundenen Abwertung der Gemeindeseelsorge zu werfen. Anschließend sollen aus theologischer Perspektive einige Grundthemen entfaltet werden, die mit Seelsorge, Gemeinde und Amt verbunden sind, um so eine Basis für eine »Seelsorge in der Gemeinde« zu finden. Da Seelsorgetheorie immer auch Theorie von Seelsorgepraxis ist und nicht ohne den Blick auf diese konkrete Praxis auskommen kann, soll darauf aufbauend der Versuch unternommen werden, die Vielfalt seelsorglicher Begegnungen in der Gemeinde zu beschreiben und ihre seelsorgliche Qualität zu heben. Erst auf diesem Hintergrund kann schließlich die Frage nach der Gemeindeseelsorge eine Antwort finden und in ihren Grundthemen dargestellt werden.

1Analoges wiederholt sich auf der Ebene der Gemeinde selbst. So ist die »Fähigkeit zur Seelsorge« fast durchgehend ein zentrales Element von Pfarrstellenausschreibungen. Vgl. dazu die instruktive Beispielszene einer Stellenbesetzungsberatung bei JÜRGEN ZIEMER, Andere im Blick (2013), 55f, die in dem Satz kulminiert: »Seelsorge ist ganz wichtig!« Dabei zeigt sich hier aber auch deutlich die andere Seite dieser Hochschätzung, die darin zum Ausdruck kommt, dass eigentlich keiner so recht weiß, was Seelsorge eigentlich ist.

2In diesem Zusammenhang liegt der Gedanke einer »Alltagsseelsorge« nahe. Allerdings soll im Rahmen der vorliegenden Ausführungen diesem Begriff, der seine Prägung durch die spezifische Interpretation Hauschildts erhalten hat, mit einer gewissen Zurückhaltung begegnet werden: Hauschildts Interesse gilt primär einer Seelsorge als gesprächsbezogener Alltagskompetenz. Der Seelsorger und sein Gegenüber stehen dabei im Sinne des Priestertums aller Gläubigen auf einer gemeinsamen Ebene. Dies grundiert und prägt – in Abgrenzung zu einer professionellen Seelsorge, als kerygmatischer oder therapeutischer Seelsorge – seinen Gedanken der Alltagsseelsorge (vgl. EBERHARD HAUSCHILDT, Alltagsseelsorge [1996], 388ff und 400ff). Demgegenüber spielt – wie noch im Detail zu zeigen sein wird – in der Gemeindeseelsorge das Amt des Seelsorgers, »im Auftrag der Gemeinde« und die damit verbundene Professionalität auch im alltagsbezogenen Gespräch eine entscheidende Rolle. Unmittelbar sichtbar wird dies in den »zufälligen« Begegnungen der »Seelsorge bei Gelegenheit«, die gerade dadurch charakterisiert sind, dass der Pfarrer als Amtsperson wahrgenommen und angesprochen wird. Um eine Vermischung dieser grundlegenden Differenz zu vermeiden, soll im Folgenden auf den spezifisch konnotierten Begriff der Alltagsseelsorge verzichtet werden.

3Eine Ausnahme dürften im Kontext des neueren Interesses an den Kasualien die Kasualbesuche darstellen, sonderlich im Kontext von Beerdigung und anschließender Trauerbegleitung, die gewissermaßen den Bezugspunkt zur oben genannten Vorstellung vom »tiefgehenden« Gespräch im Sinne einer begleitenden und beratenden Seelsorge darstellen (vgl. z.B. als »Klassiker« aus der Zeit der Seelsorgebewegung HANS-JOACHIM THILO, Beratende Seelsorge (31986); seither ist dieses Thema immer wieder bearbeitet worden). Demgegenüber finden sich Arbeiten zum klassischen Hausbesuch oder speziell zum Geburtstagsbesuch ausgesprochen selten, und dann zumeist in Texten der 1970er und 1980er Jahre mit ihrer entsprechenden Prägung. Dabei weisen bereits die Veröffentlichungsorgane wie das Deutsche Pfarrerblatt auf ein primäres Interesse an Praxisbeschreibung und Anwendungsorientierung hin (vgl. exemplarisch WOLFGANG MÜLLER, Der Hausbesuch des Pfarrers [1981], 113–116, oder WOLFGANG SCHULZ, Geburtstagsbesuche des Pfarrers – seelsorgerliche Gelegenheit oder Verlegenheit, in: LThK 12 [1988], 18–26). Als seltene Ausnahmen dürften EBERHARD HAUSCHILD, Alltagsseelsorge (1996), und EIKE KOHLER, Mit Absicht rhetorisch (2006), mit ihrer Reflexion auf Theorie und konkrete Praxis anzusehen sein.

4Exemplarisch seien benannt: RUDOLF BOHREN, Gemeinde und Seelsorge (1979), 129–142; HOLGER ESCHMANN, Theologie der Seelsorge (22002); EIKE KOHLER, Mit Absicht rhetorisch (2006), oder MICHAEL HERBST, beziehungsweise (2012). Auf den theologischen Hintergrund dieses Traditionsstranges im Verhältnis zur Praxistheorie parochial orientierter Gemeindesseelsorge soll im Folgenden noch näher eingegangen werden.

5Um nur noch zwei weitere Beispiele zu benennen: In dem von WILFRIED ENGEMANN herausgegebenen Handbuch der Seelsorge. Grundlagen und Profile, Leipzig 2007 wird das Thema Gemeinde mit dem Aufsatz von EIKE KOHLER, Gemeinde als Ort der Begegnung und des Gesprächs, 474–492 unter dem Titel »Ressourcen der Seelsorge« verhandelt, während MICHAEL HERBST in seinem beinahe enzyklopädisch anmutenden Buch »beziehungsweise« (2012) das Gemeindethema zwar theologisch verhandelt (vgl. S. 217ff), aber in seinem weit gespannten II. Hauptteil zu den Praxisfeldern der Seelsorge in keiner Weise auf das Thema »Seelsorge in der Gemeinde« eingeht.

1 SEELSORGE IN DER GEMEINDE – EINE ANNÄHERUNG

Blicken wir also auf das, was im kirchlichen Sprachgebrauch unter »Gemeindeseelsorge« verstanden wird.1 Dazu kann vorab festgehalten werden: Es handelt sich hier um ein ausgesprochen breites Feld von vielfältigen Begegnungsformen. Diese sind nur schwer kompatibel mit dem, was man sich im Allgemeinen unter Seelsorge vorstellt, ja sie stellen sich dazu gewissermaßen quer. So sind z.B. die klassischen Formen einer im weitesten Sinne als »beratend« verstandenen Seelsorge mit einem klaren Kontrakt und strukturiertem Setting, bei dem der Seelsorgepartner etwas anschauen, bearbeiten, klären will, in der Gemeinde eher selten. Demgegenüber ist der größte Teil der faktischen Vollzüge durch das Gemeindeleben mitten im Alltag vorgegeben – im Blick auf sein (all-)tägliches Geschehen, aber auch im Blick auf die sich innerhalb derselben immer wieder zeigenden Irritationen und Grenzen dieses Alltäglichen. Grundsätzlich lässt sich dabei unterscheiden zwischen nicht geplanten seelsorglichen Begegnungen und solchen, in denen der Seelsorger, die Seelsorgerin bewusst Menschen in seiner Gemeinde sucht und aufsucht, und ihnen mit einer seelsorglichen Haltung begegnet. Das beinhaltet im Einzelnen:

1. Ein großer Teil dessen, was im gemeindlichen Kontext zur Seelsorge gerechnet wird, hat den grundlegenden Charakter des Zufälligen, wie er in den Begriffen »Seelsorge am Gartenzaun« oder »Seelsorge bei Gelegenheit« zum Ausdruck kommt. Dies lässt sich mit dem Zitat einer Pfarrerin zusammenfassen: »So richtige Seelsorge in meinem Amtszimmer, bei der jemand mit mir einen Termin ausgemacht hat, das kommt kaum vor. Meine Seelsorge findet vor allem auf der Straße oder am Rande von Veranstaltungen statt.« Bereits auf dieser Ebene können zwei Perspektiven unterschieden werden:

1.1 Als Erstes ist die unendliche Vielzahl an Möglichkeiten zu benennen, bei denen der Pfarrer oder die in ihrer seelsorglichen Funktion bekannte Ehrenamtliche auf jemanden zugeht, ihn grüßt und fragt, wie es ihm geht. Dabei kann die Frage nach der augenblicklichen Befindlichkeit allgemein gehalten sein oder sich auch auf spezifische Situationen beziehen, die aufgrund einer gemeinsamen Vorgeschichte schon bekannt sind. Dies kann am Rande von Veranstaltungen, auf der Straße oder auch in Situationen geschehen, in denen die Seelsorgerin quasi privat unterwegs ist, wie z.B. beim Einkaufen. Die mehr oder weniger zufällige Begegnung bestimmt den Ort des Gesprächsangebots bzw. Gesprächs. Inhaltlich können sich – wenn die Frage »Wie geht es Ihnen?« ernst gemeint ist und das Gegenüber das auch so wahrnimmt – sehr unterschiedliche Situationen ergeben. Der größte Teil solcher Gespräche dürfte auf einer allgemeinen und eher unverbindlichen Ebene bleiben, z.B. wie es so geht und was gerade ansteht. Ein wesentlicher Teil der übrigen Begegnung dürfte mit den alltäglichen Irritationen des Alltags zu tun haben, z.B. »mein Mann hat so viel zu tun, dass die ganzen Sorgen um die Kinder bei mir bleiben«, oder »seit unser Sohn in der Pubertät ist, bringt er richtig schlechte Noten mit heim«. Allerdings kann und muss immer auch damit gerechnet werden, dass auf die Frage »Wie geht es Ihnen?« mitten im Alltag Gesprächssituationen entstehen, die die Seelsorgerin aus dem eigenen Alltag herausreißen und von ihr als »hammerhart« empfunden werden: »Ach, Sie wissen es noch nicht: Meine Frau und ich haben uns letzte Woche getrennt«, oder »meine Mutter ist ganz plötzlich gestorben«. Situationen, die dann, in der Wahrnehmung der realen und »zufälligen« Bedingungen des Settings (wie z.B. auf der Straße oder beim Verabschieden nach einer Sitzung) plötzlich eine hohe Anforderung an den Seelsorger bezüglich eigener Betroffenheit und einer entsprechenden Gesprächskompetenz stellen.

1.2 Eine Steigerung erfährt dieses Überraschungsmoment in Alltagsbegegnungen, in welchen der (haupt- oder ehrenamtliche) Seelsorger über seine gemeindliche Funktion (sein Amt) identifiziert und in dieser Funktion angesprochen, ja manchmal richtiggehend überfallen wird – ohne Rücksicht auf die augenblickliche Befindlichkeit und das konkrete persönliche Interesse. Sei es beim privaten Spaziergang, sei es in öffentlichen Verkehrsmitteln, im Freibad oder über den Gartenzaun: Immer können eher »banale« Bedürfnisse nach Kommunikation und Plaudern eine Rolle spielen, nicht selten steht aber auch das Interesse im Vordergrund, etwas Ungeklärtes oder Belastendes endlich einmal zum Thema zu machen, »an den Mann zu bringen«, häufig in einer eher diffusen Form (»Haben Sie mal fünf Minuten Zeit für mich?«). Gerade bei solchen Gelegenheiten können wirklich gravierende und heftige Lebensthemen derart plötzlich präsent sein (»unser Sohn hat sich gestern das Leben genommen«), dass sie den Alltag des Seelsorgers zerbrechen, ihm zuerst einmal die Luft nehmen, und ihm dann eine ausgesprochen hohe situative und seelsorgliche Kompetenz abverlangen.

All diese seelsorglichen Begegnungen (seien sie auf der Ebene alltäglicher Unterhaltung angesiedelt, seien sie Irritationen oder als gewaltsam erfahrene Einbrüche in dieses Alltägliche) müssen als Elemente des Alltags des Gemeindeseelsorgers, der Gemeindeseelsorgerin angesehen werden: Sie sind nicht planbar, sie sind keine expliziten Elemente der Organisierbarkeit des Pfarramtes, wie sie in Form eines Terminkalenders ihren exemplarischen Ausdruck findet. Sie müssen als Ausdruck der ganz normalen »Zwischensituationen« angesehen werden, als Ausdruck der Gleichzeitigkeit von Leben und Arbeiten in der Gemeinde. »Seelsorge bei Gelegenheit« geschieht im Alltäglich-Gewohnten; sie ist eine Form der Widerfahrnis auf Grund von Präsenz, Offenheit und Interesse, sowie der Erkennbarkeit als Pfarrer, Seelsorgerin. In ihrer Bedeutung lassen sie sich aber nicht auf die kurze Begegnung reduzieren. Es ist immer damit zu rechnen, dass man sich im Kontext der Gemeinde wiedertrifft. Und dieses Wiedertreffen wird durch das geprägt sein, was in der »Seelsorge bei Gelegenheit« geschehen ist.

Gerade die Nicht-Kompatibilität dieser Form der Seelsorge mit den üblichen Organisationsmodi der Gemeindearbeit – verbunden mit einer gewissermaßen selbstverständlichen »Normalität« – dürfte ein nicht zu unterschätzendes Element ihrer Nicht-Beachtung sein.2 Im Sinne der kaum thematisierten Selbstverständlichkeiten des pastoralen Alltags unterfüttert sie die im nächsten Abschnitt noch genauer zu betrachtende Grundsatzfrage, ob es sich hier im Blick auf die Situationsbezogenheit wie auch auf die größtenteils alltäglichen Inhalte eigentlich um »richtige Seelsorge« handelt.

Dazu ein Beispiel aus der Praxis: Im Kontext seiner kleinstädtischen Gemeinde begegnet Pfarrer N. beim Einkaufen im nahe gelegenen Supermarkt regelmäßig einem Mann aus der Nachbarschaft. Zu diesem bestehen sonst keine kirchlichen Kontakte. Meist plaudern sie ein wenig. Eines Tages fällt dem Pfarrer auf, dass die selbstverständliche Kontinuität dieser Begegnungen unterbrochen ist. Mehrfach hat er besagten Mann nicht mehr getroffen. Er will sich gerade aufmachen, einmal nachzufragen, was denn sei, da erreicht ihn ein Anruf der Ehefrau dieses Mannes, dass dieser ganz plötzlich verstorben sei. Die Frau bittet Pfarrer N. eindringlich, die Beerdigung doch persönlich zu übernehmen: »Wissen Sie, das war ein besonderer Wunsch meines Mannes, das hat er ein paar Mal gesagt: Wenn ich mal sterbe, dann möchte ich von Pfarrer N. beerdigt werden, denn das ist einer, mit dem hab ich immer über alles reden können, was mir wichtig war.« Und erst aus der Perspektive dieses Satzes wird Pfarrer N. im Rückblick bewusst, dass sich in ihren Begegnungen und in der Kontinuität ihrer Gespräche beim Einkaufen anscheinend mehr ereignet hat, als er selbst wahrgenommen hatte. Etwas, das für diesen Mann anscheinend so wichtig war, dass es für ihn selbst über seinen Tod hinaus Bedeutung hatte: »Mit dem habe ich immer über alles reden können, was mir wichtig war.«

2. Gegenüber all diesen unendlich vielfältigen, ungeplanten Begegnungen im Kontext der unmittelbaren Gemeindepraxis (mit der Bandbreite von alltäglich-banal bis höchstdramatisch) gibt es natürlich auch Formen der Seelsorge, die als geplante und bewusst initiierte Elemente der Gemeindepraxis durchaus im offiziellen Terminkalender ihren Ort haben können. Sieht man dabei einmal von den bereits benannten, sicher nicht den Normalfall des Gemeindelebens repräsentierenden, terminlich fixierten Besuchen in der Sprechstunde des Pfarrers, der Pfarrerin ab,3 so handelt es sich hier vor allem um seelsorgliche Begegnungen in der Geh-Struktur, die ihren exemplarischen Ausdruck in den verschiedenen Formen des Hausbesuchs finden. Diese können nach den Anlässen unterschieden werden, denen sie geschuldet sind: Von einem allgemeinen Hausbesuch im Sinne von »Ich möchte Sie einmal (näher) kennenlernen«, über die Besuche »aus Anlass einer spezifischen persönlichen oder familiären Situation« (wie z.B. Krankenbesuch, Besuch in Krisensituationen, Kasualbesuch) bis hin zum Geburtstagsbesuch, bei dem es zuerst einmal um Gratulation und Überbringen der Segenswünsche der Gemeinde geht.

Bereits an dieser Stelle kann festgehalten werden, dass auch diese bewusst initiierten Seelsorgebesuche nicht selten mit einer gewissen Ambivalenz behaftet sind: Aus der Perspektive des gemeindebezogenen Terminkalenders wirken solche Besuche nicht selten als Hemmnis, wenn nicht gar als kontraindiziert. Sofern es sich nicht um Kasualbesuche handelt, die ihre Fortsetzung in gottesdienstlichen Handlungen finden, kosten solche Besuche relativ viel Zeit, ohne dass von vornherein ein öffentlich sichtbares und effektives Ergebnis erwartet werden kann. Nicht zufällig stehen im Kontext eines begrenzten Zeitbudgets solche Besuche ganz oben auf einer möglichen Streichliste bzw. finden, wenn nicht feste Besuchszeiten von vornherein eingeplant sind, gar nicht erst Eingang in die Organisierbarkeit der Gemeindearbeit und verbleiben so häufig auf der Ebene des »Zwischendrin«, wenn sich eine Gelegenheit ergibt.

Diese Grundsituation wird normativ unterfüttert, indem sich auch hier die im Kontext der »Seelsorge bei Gelegenheit« schon angedeuteten inhaltlichen Fragen nach der seelsorglichen Qualität stellen. Bei allen Besuchen ist der Seelsorger, die Seelsorgerin zuerst einmal Gast, was nicht nur dem gängigen Erleben, in der eigenen Gemeinde der Gastgeber zu sein, zuwiderläuft, sondern auch in seelsorglicher Perspektive nicht folgenlos bleibt: Im Gegensatz zur Vorstellung einer Seelsorge im Amtszimmer, bei der ein Gemeindeglied kommt und etwas erzählen, klären, bearbeiten will, bedeutet dies zuerst einmal eine Abhängigkeit von alledem, was der oder die Gastgeber anbieten, auch auf der Ebene der Inhalte bzw. der Themen, über die geredet wird. Auch hier ist zuerst einmal mit einem »Sich-Unterhalten« im Kontext des Alltäglichen zu rechnen. Insofern stehen im allgemeinen kirchlichen Bewusstsein vor allem diejenigen Besuche »als Seelsorge« im Vordergrund, bei denen allein vom Anlass her mit einem »seelsorglichen Gespräch« gerechnet werden kann, wie z.B. Trauerbesuche nach der Beerdigung, Krankenbesuche oder Besuche in Krisensituationen. Demgegenüber treten »allgemeine Hausbesuche«, bei denen der Gaststatus des Seelsorgers offensichtlich ist, und bei denen nicht selten gänzlich offen bleibt, ob überhaupt ein »Gespräch« geführt werden kann, oft in den Hintergrund des pfarrerlichen Interesses. Zugleich kann auch damit gerechnet werden, dass speziell der Geburtstagsbesuch, mit seiner Reduktion der seelsorglichen Rolle auf die des gratulierenden kirchlichen Repräsentanten, und zumeist verbunden mit wenig Möglichkeiten zum Einzelgespräch inmitten einer Festgesellschaft, zu den weniger beliebten Besuchsformen gehören dürfte.4

Sind damit, im Sinne einer ersten eher beschreibenden Einführung, die wesentlichen Elemente benannt, die im kirchlichen Sprachgebrauch zur Seelsorge in der Gemeinde gerechnet werden, so lässt sich festhalten: Entlang der von Christoph Schneider-Harpprecht im Seelsorgekontext eingeführten Kategorien »des Reinen und des Vermischten«, zeigt sich an diesen Formen der Seelsorge exemplarisch, dass in der Gemeinde aus seelsorglicher Perspektive das »Vermischte« im Vordergrund steht, während die »Reinheit« der Vorstellung, was Seelsorge sei, deutlich in den Hintergrund tritt. Aus diesem Grund erscheint es sinnvoll, sich im Folgenden zuerst genauer der Vorstellung zuzuwenden, was im Allgemeinen als »reine Seelsorge« gilt, und inwiefern diese Vorstellung in der eingangs benannten Skotomisierung »Seelsorge in der Gemeinde« zum Ausdruck kommt.

1Im folgenden Abschnitt gilt das Interesse zuerst einmal einer annähernden Beschreibung verschiedener Seelsorgefelder in der Gemeindepraxis, verbunden mit einigen eher praxisorientierten Fragestellungen. Die spezifisch seelsorgebezogenen Hintergründe sollen dann im nächsten Abschnitt genauer diskutiert werden, während auf die einzelnen seelsorglichen Begegnungsformen im Detail in Kapitel 6 eingegangen wird.

2Dieser Aspekt dürfte auch in unserem Eingangsbeispiel eine nicht unbeträchtliche Rolle spielen.

3Selbstverständlich gibt es auch hier individuelle Ausnahmen, vor allem wenn die Pfarrerin, der Pfarrer sich in dieser Hinsicht einen »seelsorglichen Ruf« erarbeitet haben, auf Grund dessen die festgelegten Sprechstunden voll sind. Auch in solchen Fällen steht allerdings nicht selten zuerst einmal ein eher unverfängliches Thema im Vordergrund, das dann im Sinne einer persönlichen Fragestellung modifiziert wird: Ein Pfarrer hat mit einer Ehrenamtlichen einen Termin ausgemacht, die mit der ehrenamtlichen Arbeit aufhören will. Mitten im Gespräch verändert sich die Atmosphäre und die Frau beginnt von ihren Eheschwierigkeiten zu erzählen, die den »eigentlichen« Grund beinhalten für ihren Rückzug aus dem Gemeindeleben.

4Nach SIEGFRIED DREHER, Geburtstagsbesuche bei Jubilaren (1982), 158, kann die pfarrerliche Einschätzung des Geburtstagsbesuchs bis hin zu »starker innerer Ablehnung« gehen. Vgl. dazu auch DANIEL DETTLING, Der pastorale Geburtstagsbesuch (2012), 4: »Zwischen der Reflexion und der Wertschätzung des pastoralen Geburtstagsbesuchs bei den Seelsorgern auf der einen und den Jubilaren und Jubilarinnen auf der anderen Seite ist eine Divergenz zu verzeichnen. Während in den (wenigen) Aufsätzen, die sich pastoraltheologisch und poimenisch mit dem Geburtstagsbesuch als Anlass für einen Hausbesuch auseinandersetzen, der Tenor vorherrscht, dass er für den Seelsorger eine unliebsame Pflicht darstellt, ist der eigene Geburtstag für das betreffende Gemeindeglied von nicht zu unterschätzender Bedeutung.«

2 MONOPOLISIERTE ODER KONTEXTUELLE SEELSORGETHEORIE?

Die Ausblendung und die darin implizierte Abwertung der Gemeindeseelsorge aus der seelsorgetheoretischen wie auch, in ihrer Folge, der seelsorgepraktischen Wahrnehmung können als indirekter Ausdruck, gewissermaßen als Schattenseite der gängigen Sicht von dem gesehen werden, was Seelsorge sein soll. Zugleich deutet die Breite der realen Skotomisierung darauf hin, wie selbstverständlich hier eine spezifische Vorstellung von Seelsorge als Summa, Regel und Richtschnur zugrunde liegt, von der her gemessen wird, und die die Wahrnehmung auf den verschiedensten Ebenen von Theorie und Praxis gestaltet.

Es liegt nahe, das, was umgangssprachlich gerne als das »tiefgehende Gespräch« benannt wird, als direkten Ausdruck einer im weitesten Sinne auf Beratung und Entwicklungsförderung ausgerichteten Seelsorge zu sehen, in deren Hintergrund der Begriff der »Therapie« eine richtungsweisende Rolle spielt.1 Seit ihrem Ursprung im Kontext der empirischen Wende der Praktischen Theologie als Seelsorgebewegung – nicht zufällig wird dieselbe auch als »beratende Seelsorge« bezeichnet – hat sich diese damals grundlegend neue und in ihrer Praktikabilität und Gegenwartsgemäßheit ausgesprochen wichtige therapeutische Perspektive in Theorie und Praxis der Seelsorge etabliert. In ihrer Langzeitwirkung prägt sie – bei allen Modifikationen im Einzelnen – auch die Gegenwart im Sinne einer normativen Basisvorstellung.

Bereits ein kurzer Blick auf die Geschichte der Seelsorgetheorie zeigt, dass im Kontext einer im weitesten Sinne auf Beratung ausgerichteten Seelsorge das alltäglich und manchmal auch banal anmutende dessen, was umgangssprachlich auch weiterhin als Gemeindeseelsorge bezeichnet wird, nicht selten als unangemessen wahrgenommen wird, als einer »wirklichen Seelsorge« nicht zugehörig oder im Sinne einer entsprechenden Seelsorgeintention gar als kontraindiziert. So konstatiert Thilo bereits 1970 in seinem Buch zur beratenden Seelsorge, das später in mehreren Auflagen große Verbreitung gefunden und ganze Generationen von Seelsorgerinnen und Seelsorgern geprägt hat, mit Blick auf den Hausbesuch in der Gemeinde, dieser sei zwar unaufgebbar, aber es sei festzuhalten, »daß er seine sehr deutlichen Grenzen hat und die Motivationen bei Besucher und Besuchten beim Hausbesuch nur in seltenen Fällen einem beratenden Gespräch förderlich sein werden«. Mit der Begründung, dass die Besuchten sich unter diesen Rahmenbedingungen zumeist hinter ihrem Heimvorteil verschanzen und sich nicht auf ihre Probleme und Lebensfragen einlassen würden, hält er fest: »Gerade die häufig spontan geäußerte Freude, die Fülle der angebotenen materiellen Genüsse müssen als Abwehrmechanismen gegen diesen Besuch gewertet werden.« So kann der Hausbesuch bestenfalls im Vorfeld einer möglichen Seelsorge angesiedelt werden, während die »beste Voraussetzung für ein Gespräch seelsorgerlicher Beratung das Gespräch im Sprechzimmer des Beraters« bietet.2

Nun mag dieses Beispiel aus heutiger Perspektive vielleicht in seiner inhaltlichen Bestimmung überholt sein. Die im Widerstandsbegriff sich artikulierende tiefenpsychologische Ausrichtung gilt über weite Strecken als abgelöst durch Ressourcen- bzw. Lösungsorientierung. Strukturell aber ist eine letztlich therapeutisch grundierte Ausrichtung gängiger und selbstverständlicher Hintergrund der Seelsorge geblieben. Und mit dieser Intention lassen sich alltägliche Begegnungen oder Geburtstagsbesuche nur schwer vermitteln.3

So artikuliert sich die Einstellung zur Gemeindeseelsorge aus seelsorgetheoretischer Perspektive auch in der Gegenwart primär im Modus der Nichtwahrnehmung und latenten Ablehnung. Und selbst an den seltenen Punkten, wo sie durchaus wertschätzend wahrgenommen wird, erhält sie zumeist eine Position im propädeutischen bzw. symbolischen Vorfeld der Seelsorge: »Zwar ist ein Hausbesuch keine geregelte Beratungsangelegenheit: das Gespräch bleibt häufig oberflächlich, wie E. Hauschildt in seiner Untersuchung zur Alltagsseelsorge gezeigt hat. […] – trotzdem kann so ein Besuch einen wichtigen symbolischen Charakter haben.«4 Trotz allem Wohlwollen, das in diesem Zitat zum Ausdruck kommt, spielt hier derjenige Begriff eine zentrale Rolle, der selbst wiederum einen repräsentativen Stellenwert in der Wahrnehmung von Gemeindeseelsorge als Ganzer innehat, gewissermaßen als Gegenpol zum üblichen und in der Umgangssprache selbst wiederum symbolischen »tiefgehenden Gespräch«: Das »Oberflächliche«, hier noch zusätzlich begründet im Verweis auf die empirische Untersuchung von Hauschildt. Die Tragweite und Bedeutung dieses Oberflächlichen wird so noch einmal mit einem wissenschaftlichen Hintergrund versehen und quasi objektiv festgeschrieben.

Lässt sich mit den hier vorgestellten exemplarischen Themen und Positionen ein im weitesten Sinne gängiger und selbstverständlicher Trend charakterisieren, so ist es doch nötig, die Perspektive zu wechseln im Blick auf das, was im Allgemeinen als »Gemeindeseelsorge« bezeichnet wird, dessen Zugehörigkeit zur Seelsorge aber dennoch einer Ausblendung und damit verbundenen Abwertung anheimfällt. Es gilt, das Selbstverständliche zu entselbstverständlichen. Dies soll im Folgenden in einigen ersten Schritten geschehen:

1. Im Sinne einer noch allgemeinen Sichtweise kann zunächst festgehalten werden, dass die Unterscheidung von Oberfläche und Tiefe kein Kriterium sein kann, von dem her eine normative Entscheidung über eine Zugehörigkeit zur Seelsorge getroffen wird. Nicht nur in Hermeneutik und Exegese hat der Blick auf das, was da ist, die Suche nach dem »Eigentlichen« hinter dem Text abgelöst. Auch die für das gegenwärtige Verständnis von Seelsorge so bedeutsamen Psychotherapien bieten hier durchaus entsprechende Sichtweisen. Wenn z.B. die neuere psychoanalytische Traumdeutung nicht auf das Ergründen von »hinter« dem Traum liegenden Bedeutungen ausgerichtet ist, sondern sich auf das gegenwärtige Beziehungsgeschehen zwischen Traumerzähler und Analytiker bezieht,5 oder auch, wenn der systemisch-therapeutische Blick, gerade in der Abgrenzung zur »Tiefenpsychologie«, sich wahr- und ernstnehmend auf das richtet, was gerade präsentiert wird, und sei es noch so banal, so beinhaltet dies, dass das konkrete Geschehen im Hier und Jetzt als bedeutungsvoll wahrgenommen wird. Selbst, wenn diese Beispiele durch ihre differenten Interessen und Kontexte sicher nicht auf die Unterscheidung zwischen »Oberfläche und Tiefe« in der Seelsorge übertragbar sind, können sie doch Anstoß sein, diese zuerst einmal in Frage zu stellen, indem sie die Aufmerksamkeit auf das konkrete Geschehen lenken, das gerade da ist, ohne von vornherein eine Wertung vorzunehmen.

2. Der daraus resultierende Blick auf die konkrete Situation der Gemeindeseelsorge – sei sie nun eine oberflächliche Begegnung oder ein tiefgehendes Gespräch – eröffnet dann aber auch Spielräume, um genauer nach dem konzeptionellen Hintergrund zu fragen, der die bisherige Bedeutungszuschreibung und Wertigkeit im Sinne der Frage »Was ist eigentlich richtige Seelsorge?« strukturiert. Hier kann – wie oben bereits angedeutet – festgehalten werden, dass im allgemeinen poimenischen Bewusstsein nach wie vor das therapeutische Paradigma eine zentrale Rolle spielt. Das psychotherapeutische Paradigma, das primär auf ein gelingendes Beziehungsgeschehen mit einem letztlich heilsamen, heilenden, also therapeutisch fördernden Charakter im Kontext unterschiedlicher, tendenziell schwieriger Lebenslagen ausgerichtet ist, ist im Seelsorgebereich sogar auf besondere Weise normativ aufgeladen. Es hat das vorausgegangene kerygmatische »Zum-Heil-Kommen des Sünders« unmittelbar beerbt, was auf hochexemplarische Weise in der gängigen seelsorgebezogenen Rede von »Heil und Heilung« zum Ausdruck kommt. Eine derartige Ausrichtung bedarf eines mehr oder weniger tiefgehenden Gesprächs, mit welchen Begriffen auch immer dieses beschrieben wird, sei es beratend, lösungs- oder ressourcenorientiert, sei es als Hilfe zu Selbsthilfe, oder als Lebens- bzw. Glaubenshilfe. Dies beinhaltet: Ein jegliches therapeutisches Interesse ist orientiert an der Aufhebung von Alltag. Es geht immer um eine Ausgangssituation, die den Alltag mehr oder weniger irritiert, stört, unterbricht. Diese soll aufgehoben werden, auf eine (neue) Möglichkeit des Lebenkönnens (in einem veränderten Alltag) hin.6 Die Folge war, dass in der Praxis von Seelsorgegesprächen, wenn es in diesen um Alltägliches ging, nicht selten mühsam nach der entsprechenden »Alltagsunterbrechung« gesucht wurde – sei es als Problem, sei es als existenzielle Frage o. ä. –, um so eine Selbstrechtfertigung zu haben, auch wirkliche Seelsorge zu treiben. Der Alltag selbst wird nicht zum Thema.7 Dies spiegelt sich auf hochexemplarische Weise darin, dass über lange Zeit das Krankenhaus in seiner alltagsunterbrechenden, existenziell anrührenden Krisenhaftigkeit als repräsentativer Ort für das Seelsorgelernen im Sinne eigener Praxiserfahrung galt. Über weite Strecken ist dies auch heute noch der Fall, in dem Sinne, dass im Krankenhaus exemplarisch für alle Seelsorgebereiche gelernt wird – und eben nicht in der Gemeinde.

Auf struktureller Ebene heißt das: Es ist keine Frage, dass dieses Grundmodell von Seelsorge sinnvoll und von außerordentlichem Gewicht ist. Doch die Monopolisierung8 dieses Modells, im Sinne einer letztlich Normativität setzenden Dominanz als alleiniges Deutungsmuster für das seelsorgliche Selbstverständnis, führt zur Ausgrenzung sonderlich derjenigen faktisch-kirchlichen Seelsorgebereiche, die primär als Begegnungen im Alltäglichen verstanden werden müssen, exemplarisch im Bereich der Altenseelsorge wie auch im Besonderen in der Gemeindeseelsorge.9

Diese Feststellung aber zieht in ihrer Konsequenz die Notwendigkeit nach sich, auch die Frage »Was ist Seelsorge?« aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Nicht von einer spezifischen Gesamtkonzeption her, die quasi auf alle Bereiche appliziert wird, sondern zuerst einmal von den jeweiligen Kontexten her, in denen Seelsorge geschieht.10 Erst vom konkreten Kontext her kann dann die Frage gestellt werden, was darin das Seelsorgliche ist. Die so entstehende Pluralisierung in Form von unterschiedlichen kontextbezogenen »Seelsorgen« entlässt allerdings aufs Neue die Frage aus sich, was diese – im Sinne einer umfassenden Einheit – zusammenhält. Dies führt zu einem weiteren Thema, das durch die Monopolisierung des therapeutischen Paradigmas eher in den Hintergrund geraten ist: Die Frage, ob nicht die Theologie so etwas wie die Letztbegründung der Seelsorge leisten kann und muss? Wenn auch die damit verbundene Gesamtperspektive an diesem Ort nicht verhandelt werden kann, soll im Folgenden den Fragen nach dem Kontext, wie auch der Theologie im Blick auf die unmittelbare Praxis der Seelsorge im Rahmen der Gemeinde genauer nachgegangen werden. Dann kann ein erstes Gesamtbild ihrer Möglichkeiten entworfen werden, allerdings nicht ohne vorher abzuklären, von was eigentlich die Rede ist, wenn der Begriff »Gemeinde« im seelsorglichen Kontext seine Verwendung findet.

1Zur Bedeutung der darin implizierten und auch durch den gesellschaftlichen Kontext gespeisten Hintergrundnormativiät der Mythen von »Entwicklung und Wachstum«, »Problemlösung und Integration« wie auch von »Heil und Heilung« vgl. WOLFGANG DRECHSEL, Das Schweigen der Hirten? (2005), 50–54.

2Alle Zitate: HANS-JOACHIM THILO, Beratende Seelsorge (31986), 65. Dabei sei zumindest darauf hingewiesen, dass der »Gaststatus« des Seelsorgers beim Hausbesuch strukturell die »Machtposition« des Beraters, die gegeben ist durch den Heimvorteil, das selbst gestaltete Setting und den Willen des »Klienten«, etwas zu ändern, grundsätzlich unterläuft. Eine Machtposition, die auch in allen neueren Betonungen des alleinigen Ausgerichtetseins auf die Autonomie des Gegenübers nicht aufgehoben ist.

3Auf unmittelbare Weise artikulieren sich die Auswirkungen dieser Perspektive in der gängigen Praxis vieler Pfarrerinnen und Pfarrer, Geburtstagsbesuche einige Tage nach dem »Festtag« zu machen, um so nicht in der Festversammlung unterzugehen, sondern den Jubilar zu einem wirklichen Einzelgespräch zur Verfügung zu haben. Dabei ist es keine Frage, dass eine solche Besuchspraxis durchaus sinnvoll sein kann, sie dürfte allerdings in vielen Fällen primär negativ konnotiert sein: Die Identifikation von Seelsorge mit einem »tiefgehenden Gespräch« verwehrt die Wahrnehmung möglicher anderer (seelsorglicher) Sichtweisen auf den Besuch am Geburtstag selbst. So kommt z.B. der »kasuelle Charakter des Besuches« am Festtag – mit all seinen seelsorglichen Implikationen – nicht in den Blick. Vgl. dazu auch SIEGFRIED DREHER, Geburtstagsbesuche bei Jubilaren (1982), 169.

4MICHAEL KLESSMANN, Seelsorge (2008), 348.

5HARTMUT RAGUSE, Der Raum des Textes (1994), 150.

6Dabei hat das Modell von Seelsorge als besonderes (Beziehungs-)Geschehen, das auf die Aufhebung von Störungen des Lebens- und Glaubensalltags ausgerichtet ist und sich in der Wiederherstellung desselben überflüssig macht, noch viel weiter reichende historische Wurzeln. Vgl. z.B. FRIEDRICH DANIEL ERNST SCHLEIERMACHER, Kurze Darstellung (1811; 41977), 144ff.

7In dieser Hinsicht lässt sich Hauschildts Alltagsseelsorge als ein umfassender Versuch lesen, gegenüber der hohen kerygmatischen und therapeutischen Seelsorge das Thema Seelsorge auch in der unmittelbar alltäglichen Lebens- und Sprachwelt zu verorten und zu positionieren. Vgl. exemplarisch EBERHARD HAUSCHILDT, Alltagsseelsorge (1999), 8f.

8Dies gilt sonderlich für den protestantisch-kirchlichen Bereich, während in der katholischen Kirche ein grundsätzlich anderes Modell von Seelsorge den selbstverständlichen Sprachgebrauch prägt: Im Begriff der Pastoral wird Seelsorge zuerst einmal mit allen Formen der kirchlichen Arbeit identifiziert, als z.