Gemeinsam allein - Sabrina Chachulski - E-Book

Gemeinsam allein E-Book

Sabrina Chachulski

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Beschreibung

Nathan ist einsam. Um diesem Gefühl zu entfliehen, hat er oberflächliche Beziehungen. Unverhofft beginnt er dann eine intensive Liebschaft – und später Ehe - mit Conny, mit der er versucht, ein neues Leben aufzubauen. Nach der Geburt von zwei Kindern werden jedoch aus kleinen Auseinandersetzungen zwischen ihnen unüberbrückbare Differenzen; eine Affäre bringt schließlich die Scheidung. Nathan bleibt infolgedessen haltlos zurück, während Conny ihr Leben neu organisiert. Dazu gehört das Kindermädchen Johanna, die schnell zu einer steten Gesprächspartnerin für ihn wird. Als er sich in sie verliebt, ist er glücklich, doch leider führt diese Liebe zu Problemen, die auch von Johanna selbst ausgelöst werden. Der Roman ergründet das Thema Einsamkeit und wie diese unsere Beziehungen beeinflussen.

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Gemeinsam alleinSabrina Chachulski

I

Ich saß unter einem Baum im Garten unserer Doppelhaushälfte. Es war ein warmer Tag an einem Wochenende von so unzähligen. Meine Brüder Frank und Alexander spielten mit ihren Autos. Meine Schwester Isabelle war noch ein Baby und saß auf dem Schoss meiner Mutter. Mein Vater arbeitete in der Ferne. Ich saß abseits. Ich hatte von meinem Buch aufgeblickt und das Treiben beobachtet. Es war ein konstantes Bild meiner Kindheit. Ich lebte unter ihnen, aber ich lebte nicht mit ihnen. Und das machte mich früh einsam. Es hatte lange gedauert, bis ich mir diesen Satz eingestanden hatte. Viele Jahre hatte ich ihn verdrängt. Es lief auch verdammt gut. Doch als mein Leben auseinanderbrach, wurde es immer deutlicher, wie sehr ich darunter litt. Ungewollt musste ich ihn mir eingestehen. Mehr als 40 Jahre musste ich dafür leben. Als Kind habe ich nie verstanden, was der Unterschied zwischen allein und einsam ist. Ich war nicht allein - in einer Familie mit zwei Elternteilen, drei Geschwistern und einem viel zu kleinen Haus konnte man nicht allein sein. Hieß das auch, dass ich nicht einsam war? Was bedeutet Einsamkeit? Ist es die Steigerung von Alleinsein oder hat es gar damit sein nichts zu tun? Jahrelang dachte ich darüber nach, es ließ mir keine Ruhe. Und dann traf es mich, ich verstand es: ich war einsam, weil ich innerlich allein war.Es kann uns alle treffen: wir können von Menschen umgeben sein, die uns nicht allein lassen, aber es hat keinen Einfluss darauf, wie man sich innerlich fühlt. Wenn man Glück hat, leben die Menschen um einen herum auch im Herzen weiter; wenn man Pech hat, ändern sie nichts an der eigenen Gemütsstimmung. Niemand lebte in mir. Für meine Eltern war ich nur ein Sohn, der sie nicht zufrieden stellen konnte, für meine Geschwister war ich der nervige Bruder. In der Schule war ich meist ein Mitläufer. Wahre Freunde hatte ich nie. Ich fühlte mich innerlich ungeliebt, unverstanden, leer. Diesen Gefühlen konnte ich lange keinen Namen geben. Stattdessen versuchte ich alles, um es zu ändern, um die Leere in mir zu füllen. Ich versuchte immer wieder zu gefallen, ich versuchte zu lachen und zu leben, doch es änderte sich nichts. Ich strebte und arbeitete, um es nicht fühlen zu müssen, doch auch so änderte sich nichts. Die Leere nagte in mir, schüchterte mich ein, ließ mich verzweifeln. Beruflich feierte ich große Erfolge, ich kaufte ein Haus, heiratete und bekam Kinder. Doch sie blieb. Und irgendwann hatte ich die Leere in Einsamkeit umgetauft, denn das war es. Ich war einsam. Ich weiß nicht, ob ich ein Wunschkind war. Vielleicht war ich nur ein Kind der sozialen Verpflichtung, damals in den 1970er Jahren, als eine Familie einen anderen Wert hatte als heute. Mein Vater war Schreinermeister. Er war ein großgewachsener Mann, der fast an die 1,90m ging und ein breites Kreuz hatte. Auf frühen Fotos erkennt man einen aufrechten, stolzen Mann. Je älter er wurde, desto mehr verließ ihn diese Figur. Er stand an der Spitze eines Familienbetriebes mit nicht mehr als 20 Angestellten. Meist stellten sie nur Sonderaufträge her. Aber ich hatte mich nie damit weiter auseinandergesetzt; das Handwerk interessierte mich nicht. Und deshalb war ich darin nicht begabt. Das machte meinen Vater ungehalten.„Wie kann mein ältester Sohn, ein Mann, nichts vom Handwerk verstehen?“, entfuhr ihm mehr als nur ein Mal.Mein Vater sprach gerne und stolz von seinem kleinen Betrieb, weshalb er ihn weitervererben wollte. Er selbst verbrachte viel Zeit dort, arbeitete lange und hart, auch, um zumindest die finanziellen Ausgaben - beruflich wie privat - mit den Einnahmen auszugleichen. Doch an seinen ältesten Sohn hatte er seinen Stolz nicht geben können. Nach seinem Tod ging der Betrieb an meinen Bruder.Durch mein fehlendes Interesse am Handwerk gab es zwischen uns keine Überschneidungen im Leben. Mein Vater verstand nicht, dass meine Freude darin bestand, in Büchern zu lesen und nur in Gedanken etwas herzustellen. In frühen Jahren hatte ich gerne kleine Geschichten erfunden und Comics gezeichnet. Es war nichts Besonderes, das Werk eines Kindes. Das ließ mich mein Vater spüren, in dem er keine Geschichten las, die ich ihm vorsetzte. Er sah nur auf die Blätter, sagte ein halbherziges „Schön. Jetzt lass mich in Ruhe fernsehen“ und setzte sich dann mit einer Flasche Bier vor den Bildschirm. Ich zeigte ihm daraufhin nichts mehr von meinen Arbeiten. Er konnte es nicht verstehen, hatte kein Interesse daran und ich gab es auf, eine Bestätigung von ihm dafür zu suchen. Es brauchte eine Weile, bis ich es verstand. Doch am Ende war es besser zu schweigen, als immer wieder verletzt zu werden. Meine Mutter war eine andere Person. Sie war eine Hausfrau und meist mit uns Kindern allein zu Hause. Das bedeutete bei drei Söhnen und einer Tochter viel Arbeit. Sie war oft erschöpft, aber selten unglücklich.„Es ist Gottes Werk, in dem jeder seinen Platz im Leben hat“, sagte sie stets; meine Mutter war sehr religiös. Sie war es auch, die uns ein Leben im katholischen Glauben vorlebte. Das beinhaltete den Besuch der Kirche am Sonntag, Kommunion für alle und sogar ein Tischgebet vor dem Essen. Wenn wir ins Bett gingen, erinnerte sie uns gerne daran, das Abendgebet nicht zu vergessen. Ich würde meine Mutter nicht als streng bezeichnen. Sie glaubte, die größere Strafe wäre es, sich vor Gott rechtfertigen zu müssen. Da ich nicht an einen Gott wie ihren glaubte, konnte ich mir viele Freiheiten erlauben, ich konnte beispielsweise die Kekse aus dem Schrank stehlen, sie essen, ohne Angst vor Gottes Blick zu haben oder einer Strafe meiner Mutter.Bis heute habe ich den Weg nicht zu Gott gefunden. Wahrlich glaube ich, dass es etwas geben muss, doch ich glaube nicht, dass es einen Einfluss auf mein Leben hat. Ich treffe die Entscheidungen und kein Gott kann mir dabei helfen, mich schützen oder strafen.“Meine Mutter konnte ich ebenso wie meinen Vater nicht glücklich machen. Zumindest kann ich mich nicht erinnern, es jemals getan zu haben. Nur an das Gegenteil. Anfangs war es verpflichtend für mich, als einer ihre Kinder, im Chor der Kirchengemeinde zu singen, da sie die Leiterin des Kinderchors war. Als ich anfing, nicht mehr mitzusingen und mich mit den anderen regelmäßig, um die besten Plätze zu raufen, wurde sie von Seiten der anderen Mütter gedrängt, mich aus dem Chor zu nehmen. Unwillig gab sie sich geschlagen. Um mich musikalisch weiterhin zu fördern, musste ich deshalb das Gitarre spielen erlernen – natürlich im Einzelunterricht, um meine gewalttätige Ader nicht mehr herauszufordern. Erst freute es mich. Obgleich ich nämlich eine Freude am Singen und der Musik hatte (die ich mein Leben lang nicht verlor), gefiel mir der Kirchenchor mit seinen trostlosen und eintönigen Liedern nicht. Auch konnte ich so den anderen Kindern, die ich nicht mochte, entkommen. Doch die Gitarre verlor nach nur wenigen Monaten ihren Reiz. Fortan weigerte ich mich, dieses Instrument zu lernen. Meine verzweifelte Mutter gab mich daraufhin endgültig auf. Ich war neun Jahre alt.Es traf mich hart, als ich es realisierte. Bis zu diesem Zeitpunkt taten meine Eltern nämlich alles, um mich als den perfekten Sohn einer perfekten Familie darzustellen und zu erziehen. Zu jeden Kirchenbesuch wurde ich, wie auch meine Geschwister, sehr fein angezogen. Schon mit sechs Jahren musste ich wöchentlich zum Sonntag in einem gebügelten Hemd herumlaufen und mir wurde sehr deutlich gemacht, dass ich darin nicht spielen durfte. Ebenfalls durfte ich nicht laut werden, Widerworte geben oder auf eine andere Weise negativ auffallen. Der wöchentliche Kirchenbesuch war sehr anstrengend. Während ich still und höflich versuchte, auf die bekannten Gesichter einzugehen, erzählten meine Eltern gerne von dem geordneten Leben in unserer Familie. Die Kinder seien brav und wohlerzogen, es sei immer ruhig beim Tischgebet und die Kinder stritten sich nicht. Auch in der Schule seien sie gut gestartet. Ich hörte diese Lügen ebenfalls wöchentlich und ich fragte mich, ob meine Eltern vielleicht noch eine andere Familie hatten, da sie definitiv nicht von meinen Geschwistern und mir sprechen konnten. Interessant war auch, dass selbst mein Vater, so viel er auch unter der Woche arbeitete und abends nur noch seine Ruhe wollte, zu einem geselligen, redseligen Gentleman wurde, wenn wir sonntags das Kirchengelände betraten. Er war wie ausgewechselt.Ich kann mich an vieles der ersten Jahre meines Lebens nicht erinnern. Besonders nicht, dass ich eigentlich in Passau geboren wurde und dort etwa drei Jahre lang lebte. Meine ersten Erinnerungen kommen aus Krefeld, wohin wir danach zogen, weil mein Vater glaubte, die Lage sei dort besser für Handwerker und er sich durch Bekannte und Verwandte - er selbst war in Krefeld geboren - mehr Aufträge erhoffte. Meine Mutter, damals schon schwanger mit meinem Bruder Alexander, freute sich auch sehr, in ihre Heimat zurückzukehren. Sie war in der Nachbarstadt, Düsseldorf, aufgewachsen. Ob es ebenfalls ein Grund gewesen war, dass wir dorthin zogen, erfuhr ich nie. Meine Eltern erzählten wenig über die Einzelheiten meiner Kindheit; sie hätten gerade nicht den Kopf dafür oder sie erinnerten sich nicht, waren meist die Antworten auf meine Fragen in frühen Jahren, bis ich schließlich aufhörte zu fragen. Was mir blieb, sind die teils bayrischen Wurzeln. Ohne weitere Erklärungen liebte ich die bayrische Lebenskultur, mit ihrem Dialekt, den Lieder, den Trachten, das Essen. Das Oktoberfest war eine Veranstaltung, die ich besonders als Erwachsener jährlich besuchte und dazu gerne meine Lederhosen trug. Den Schritt, dorthin zu ziehen, unternahm ich trotzdem nie. Ich fühlte mich ebenso am Niederrhein heimisch. Vielleicht blieb ich auch, weil ich Angst hatte, dass Bayern seine Magie verlieren würde, wenn ich es täglich um mich hätte. Und später hatte ich meine eigene Familie am Niederrhein, die sich sehr mit ihrer Heimat identifizierte und sie nicht verlassen wollte, sodass ein Umzug noch unwahrscheinlicher wurde.An den Umzug als Kind kann ich mich wenig erinnern. Weder das Kofferpacken oder die Fahrt in die neue Heimat ist mir in Erinnerung geblieben. Nur die Umstände, wie ich ankam, sind geblieben, denn es war der Geburtstag meiner Großmutter mütterlicherseits. Es sollte eine besondere Überraschung werden, da meine Mutter ihre einzige Tochter und ich entsprechend ihr bis dahin einziges Enkelkind war. Diese wusste nicht, dass wir zu diesem kommen würden. Alles war genau geplant mit meinem Großvater: er würde noch vor seiner Frau aufstehen und meine Eltern und mich unbemerkt ins Haus lassen. Wenn er seine Frau dann zum Frühstück rufen würde, hätten wir uns schon passend in der Küche platziert, um sie zu überraschen. Speziell für diesen Tag hatte meine Mutter mir einen neuen Anzug mit einer weinroten Krawatte angezogen und dann auf dem Küchentisch abgestellt, neben der Vase mit den Blumen. Ich betrachtete den wunderschönen Blumenstrauß, den meine Mutter ebenfalls für den Tag besorgt hatte. Und dann warteten wir. In meiner Erinnerung dauerte es lange, viel länger, als es vermutlich war. Heute erinnere ich mich nur daran, dass ich sehr ungeduldig wurde. „Mama, wann kommt sie denn endlich?“, quengelte ich ungeduldig.„Shhh“, machte sie ermahnend und sah mich mit strengem Blick an. „Sei leise oder du verdirbst uns die Überraschung.“„Papa?“ In meinem Frust wandte ich mich an meinen Vater, aber auch er fuhr mich erbost an: „Nathan, du hast deine Mutter gehört. Keiner mag jemanden, der dauernd quengelt, besonders nicht zu einem Geburtstag.“ Ich atmete genervt aus und versuchte, mich weiterhin in Geduld zu üben, bis sie schließlich kam.„Alles Gute zum Geburtstag!“, riefen wir aus. Großmutter war so überrascht, dass sie in der Tür stehen blieb und sich nicht weiterbewegte. Sie hielt sich nur die Hand vor dem Mund und hatte nasse Augen vor Freude. „Was...oh, meine liebe Tochter... Mit euch habe ich erst morgen gerechnet.“ „Das wissen wir doch“, antwortete meine Mutter. „Es sollte eine Überraschung sein.“ „Die ist euch wirklich gelungen.“ Auch ich freute mich so sehr über die Überraschung. Das Warten hatte sich gelohnt. Nun wollte ich zu meiner Großmutter rennen und sie umarmen. Ich sprang aufgeregt vom Tisch und wollte gerade loslaufen, als ich es klirren hörte. Ich sah hinter mich und erblickte die Blumen meiner Mutter auf dem Boden, schwimmend in Wasser und Splittern der Vase. „Nathan!“, rief mein Vater entsetzt aus. „Was hast du nur getan?“Ich blickte schuldbewusst zu ihm. „Ich...aber ich...“ Ich brachte keine richtigen Worte heraus.„Die schöne Vase, Nathan“, meinte meine Mutter enttäuscht. „Weißt du eigentlich, wie teuer sie war. Ich hatte sie extra für deine Großmutter besorgt und du machst sie gleich kaputt.“ „Mama...es...“ Ich wollte weinen. Es war keine Absicht gewesen.Meine Mutter kam mir zuvor: „Wehe, du fängst jetzt an zu weinen.“Ich verstummte und verfiel in eine Starre. „Großmutter sollte weinen, weil du ihren Geburtstag versaust“, erklärte mein Vater mit strengem Unterton. „Willst du dich nicht mal entschuldigen?“, fiel nun auch mein Großvater ein, „so ein verzogener Bengel!“ Meine Mutter fischte indes die Blumen aus der Wasserpfütze am Boden. „Setz dich an den Tisch. Wir müssen deinetwegen erst einmal wieder für Ordnung sorgen“, forderte sie mich streng auf. Mit gesenktem Kopf wollte ich mich setzen. „Aber Nathan“, schrie meine Mutter nochmals auf, „nicht durch die Glassplitter.“ Ich machte einen großen Bogen und setzte mich, so wie es mir gesagt wurde. Dann sah ich meiner Mutter zu, wie sie mein Unglück bereinigte, meinem Vater, der sich bei meinen Großeltern für mein Verhalten entschuldigte, und ich fühlte mich schlecht.„Nathan“, sprach mich mein Vater wieder an, „du kannst auch mal etwas sagen.“ Ich sah beschämt zu meiner Großmutter. „Es tut mir leid“, sagte ich leise. Das tat es tatsächlich, denn ich liebte sie so sehr und wollte gewiss nicht, ihr den Geburtstag ruinieren. „Mach es nie wieder“, mahnte mich meine Großmutter. „Du bist hier nur Gast.“ Schweigend saß ich am Küchentisch. Ich kann mich bis heute nicht erinnern, ob ich danach noch etwas sagte oder wie der Rest des Geburtstages verlief. Mir fehlen die Einzelheiten; ich kann mich nicht an das Aussehen meiner Eltern erinnern - damals, als sie noch jung waren - oder an die Farben der Blumen in der Vase. Das, was geblieben ist, sind die Blicke meiner Eltern und Großeltern sowie das Gefühl des ganzen Tages. Ich fühlte mich ungeliebt in meiner eigenen Familie. Denn ich war nur „Gast“.Dieses Gefühl durchzog meine gesamte Kindheit. Besonders als meine Geschwister zu uns in die Familie kamen. Zuerst wurde unsere Familie einige Monate später durch die Geburt von meinem Bruder Alexander vergrößert (deshalb glaube ich mich an einen Bauch bei meiner Mutter zu erinnern, als wir auf dem Geburtstag meiner Großmutter waren). Und er wurde zu dem Sohn, den alle liebten. Meine Großmutter vergötterte ihn, vielleicht weil er nach ihr, Alexandra, benannt wurde und wir nun nur einige Straßen von ihr entfernt wohnten. Wir verbrachten in den nächsten Jahren viel Zeit bei ihr, bis irgendwann mein Großvater starb und meine Großmutter ins Seniorenheim kam. Die Geburt meines ersten Bruders entwickelte sich für mich zu einem Kampf ums Überleben. Selbstverständlich wurde ich gut ernährt und angemessen eingekleidet. Doch ein Kind braucht mehr als nur das leibliche Wohl und das forderte ich ein: Ich wollte – und wahrlich brauchte - Zuwendung. Diese bekam ich weniger, weil das Baby nun die ganze Aufmerksamkeit auf sich zog. Meine Mutter erklärte, er wäre als Baby so viel ruhiger als ich in seinem Alter, durfte ich mir oft genug anhören. Zudem lasse er sie und den Vater schon mit wenigen Monaten die Nächte durchschlafen und sei so pflegeleicht.Auch bekamen wir dauerhaft Besuch, gerade so, als wäre meine Mutter die erste und einzige Frau, die je ein Kind bekommen hätte. Er strahlte bei jedem Besuch und war das Thema, über das sich alle unterhielten. Mich überforderte es. All die Menschen, Gerüche, Geräusche. Es war so schrecklich, dass ich floh. Als vierjähriges Kind gab es leider nicht viele Orte, die mir dazu einfielen. Ich lief deshalb in mein Zimmer und versteckte mich unter meinem Bett. Dort fand mich mein Vater später und beschwerte sich, dass ich so unhöflich zu unseren Gästen war. Es wären nicht meine Gäste, ich hätte sie nicht eingeladen, dachte ich mir. Er zog mich aus meinem Versteck und platzierte mich wieder beim Besuch, weil man das von mir erwartete. Was ich wollte, interessierte nicht. Ich erhielt oft nur Aufmerksamkeit, wenn ich störte und das Leben durcheinanderbrachte. Ich weiß noch, dass ich mich im Kindergarten übergeben hatte und meine Mutter in strömenden Regen aufbrechen musste, um mich abzuholen. „Alexander war gerade eingeschlafen. Aber wegen dir musste ich ihn anziehen, sodass er wieder aufwachte“, wütete meine Mutter. Es regte sie sehr auf und sie ließ es mich jede Minute spüren, die wir vom Kindergarten nach Hause gingen. Zuhause legte sie dann zuerst meinen Bruder wieder zum Schlafen, während ich in mein Bett kroch. Als sie später nach mir sah, schlief ich schon. Auch das machte sie wütend, da ich mit nassen und dreckigen Schuhen durchs Haus gegangen war. Ungehalten weckte sie mich wieder auf und zog mir meine Kleider und Schuhe aus. Mir ging es schlecht und ich wollte nur meinen Schmerz hinausweinen. Doch ich hatte schon gelernt, dass es nichts brachte. Mein Bruder und seine bloße Anwesenheit machte mich oft wütend, auch wenn ich das nicht laut sagen konnte oder durfte. Ich drückte es anders aus, in dem es mein Ziel wurde, meinen Eltern zu beweisen, dass er genauso niederträchtig war wie ich. Ich verteilte beispielsweise das Babypuder vom Wickeltisch auf dem Boden. Dann petzte ich es meinen Eltern. Diese durchschauten aber das Spiel. „Du willst uns sagen, dass das Alexander war?“, fragte meine Mutter zweifelnd. „Wie soll er denn die Dose vom Tisch geholt haben, geschweige denn auf bekommen haben? Deinen kleinen Bruder für so etwas verantwortlich machen - was bist du grausam!“ Sie holte Alexander aus dem Durcheinander und gab mir einen Lappen. „Mach die Schweinerei sauber.“ Sie glaubte mir nicht. Natürlich hatte ich gelogen, aber trotzdem traf es mich sehr, dass sie keinen Moment an meine Unschuld glaubte, sondern nur an die meines Bruders. Da das nicht funktionierte, versuchte ich, Alexander unattraktiv für meine Eltern zu machen. Mittags, als sie glaubten, dass ich meinen Mittagsschlaf hielt, ging ich zu meinem Bruder. Ich stieg in sein Bett, während er schlief, und malte mit Filzstiften wild auf seinem Gesicht. Auch schnitt ich ihm die Haare, um ihm eine unschöne Frisur zu geben. Es gefiel ihm beides nicht und er fing an zu weinen. Mich störte die Lautstärke, aber ich folgte einem Ziel. Deshalb machte ich weiter, bis meine Mutter ins Zimmer kam. Als sie mich im Bett neben meinen Bruder und mit einer Schere sah, schrie sie auf und rannte zu uns. Sie holte ihn aus seinem Bett. Mir nahm sie die Schere mit einem tödlich wirkenden Blick ab. „Nathan, in Gottes Namen, was machst du?“Alexander schrie und sie versuchte ihn zu beruhigen, während sie mich weiterhin ausschimpfte: „Du hättest deinem Bruder wehtun können. Was hast du dir dabei gedacht? Und was soll das mit den Stiften? Du kannst genug malen, da musst du das nicht auf deinen Bruder.“ Ich fühlte keine Schuld in mir, ich tat das richtige. Erst als mich mein Vater später strafte, fühlte ich mich schlecht. Wegen der Strafe, nicht wegen meiner Tat. Er züchtigte mich noch mit Schlägen. Mir zeigte es aber, dass ich keinen Erfolg hatte. Alexander blieb das Lieblingskind meiner Eltern. Und das änderte sich nicht in den Jahren. Alexander konnte schneller sprechen, konnte schneller laufen als ich. Er hatte nicht meine blonden Haare, sondern das schöne, dunkle Haar seiner Eltern. Er war geduldig und wohlerzogen. Alexander wurde nur dann unwichtig, als sich weitere Kinder ankündigten. Im Sommer meiner Einschulung kam Frank zur Welt.Mit Frank wurde es nicht wie mit Alexander. Ich war weder eifersüchtig auf ihn noch gab es Anlass für ungute Gefühle. Ich hatte gelernt, mit den Gefühlen umzugehen. Deshalb störte es mich wenig, als Frank zu meiner Einschulung mehr Aufmerksamkeit und Geschenke bekam als ich. Meine Familie hatte nämlich eine große Feier, mit der sie beides feierte, veranstaltet, obgleich der Anlass um meine Person die unwichtigere wurde. Mir störte es nicht, denn es gab mir Zeit, mich zu erholen. Nach dem Tag in der Schule und mit den vielen Verwandten suchte ich nur nach Ruhe. Ich entfloh wieder in mein Versteck unter dem Bett. Dieses Mal fand mein Vater mich erst gegen Ende, als ich mich verabschieden sollte; ich war dort eingeschlafen. Viel häufiger störte mich meine neue Rolle als großer Bruder. Immer wieder musste ich für meine Brüder als gutes Beispiel voran gehen. „Pass auf deine Brüder auf“, forderte meine Mutter. „So benimmt sich kein großer Bruder. Stell dir vor, die Kleinen machen es dir nach“, warnte mein Vater. Ich wollte kein großer Bruder sein, ich wollte nicht aufpassen müssen, ich wollte einfach nur gerne Kind sein und in Ruhe gelassen werden. Aber am meisten wollte ich Nathan sein. Mit der Zeit entwickelte sich eine eigene Dynamik in unserer Familie, in der jeder seine Rolle hatte. Alexander war der Handwerker. Er konnte mit Holz umgehen, als wäre er schon mit Schleifpapier und Nägeln auf die Welt gekommen. Mit unserem Vater, dem Handwerker, sprach er am Tisch entsprechend viel. Samstags verbrachten sie gerne in einem Baugeschäft, suchten nach einem passenden Holz, um irgendetwas herzustellen. An einem dieser Tage war ich dabei. Für mich war es unverständlich. Alles war Holz, ob nun dick oder dünn, beige oder braun. Ich merkte keinen Unterschied. Zwar gab ich zwischendurch meinen Vater oder meinem Bruder recht bei einer Diskussion, doch an sich sprachen sie eine andere Sprache. Ihre Wochenenden trugen auch schnell Früchte: unsere Küche und das Wohnzimmer zeugte mit Holzbilderrahmen, Buchstütze und Ähnlichem, vom talentierten Sohn. Mein Vater zeigte jedem Besuch das Schaffen von Alexanders Handwerkskunst voller Stolz. Er war auch der Bruder, der Vaters Betrieb nach dessen Tod übernahm. Frank war handwerklich ebenso unbegabt wie ich. Er konnte mit keinen Werken glänzen. Dafür hatte er das „Mundwerk“. So wurde es tatsächlich genannt. Er war nicht besonders geistreich, dafür aber altklug. Er hatte immer das letzte Wort, konnte in Windeseile die Stimmung aufheitern, in dem er einen lustigen Spruch brachte, oder parodierte Verwandte, Bekannte, Nachbarn oder berühmte Persönlichkeiten. Man konnte ihn nicht übersehen, selbst wenn man es wollte. Schon als Kind war er sehr vorlaut. „Ich war mit Frank allein unterwegs. Der Bus war so überfüllt. Und dann hat der Kleine, keine vier Jahre alt, einfach so durch den Bus gerufen, jemand soll für mich aufstehen, weil ich doch eine alte Dame bin. Alle schauten zu uns und die Hälfte ist tatsächlich aufgestanden. Was für ein guter Junge! Er hat das Herz am rechten Fleck.“ Diese Geschichte erzählte meine Großmutter oft; nach ihrem Tod tat es meine Mutter, wenn Frank wieder etwas zu vorlaut war. Er habe ein gutes Herz, entschuldigten alle Franks „Mundwerk“. In den Jahren änderte sich das wenig. Nur wurde er gegenüber seinen Geschwistern oder Gleichaltrigen versauter. Er konnte jeden Spruch so auslegen, dass es sexistisch wurde und alle lachten. Ich empfand es als aufgesetzt und mochte diese Art oft nicht, vielleicht auch, weil ich stets introvertierter war als er.Meine Schwester Isabelle, die acht Jahre jünger war als ich, hatte kein besonderes Interesse oder eine besondere Persönlichkeit wie meine Brüder, aber trotzdem hatte sie ebenfalls die ganze Aufmerksamkeit der Familie: sie war das Nesthäkchen und vor allem war sie DIE Tochter. Meine Mutter umsorgte sie wie eine kleine Prinzessin. Isabelle wurde auch so gekleidet und konnte in den Augen meiner Mutter nie etwas falsch machen. Sie sei ein Mädchen oder sie sei die jüngste, war die Entschuldigung meiner Mutter für ein unangebrachtes Verhalten meiner Schwester. Ich kann mich nicht erinnern, dass sie jemals Ärger bekommen hatte. Woran ich mich sehr viel stärker erinnere, ist, dass sie es auch wusste auszunutzen, als sie es verstanden hatte. Als Jugendliche war sie verwöhnt und arrogant, wenn ich zuhause war; zu diesem Zeitpunkt wohnte ich schon nicht mehr zuhause. Später verschwand sie meist mit meiner Mutter in einem Bündnis unter Frauen in den Hintergrund und sie tratschten über alle und jeden. Zu meiner Familie hatte ich stets ein sehr zwiegespaltenes Verhältnis. Einerseits war sie meine Familie. Sie ließ mich nicht allein, denn ich war immer ein Teil von ihnen, ganz im Sinne des Christentums, in der wir alle ein Teil von Gottes Herde waren. Das war wahrscheinlich auch der einzige Grund, weshalb ich die Religiosität meiner Mutter akzeptieren konnte: sie schloss mich nicht aus. Wenn ich von Klassenkameraden ausgelacht wurde oder die Nachbarskinder nicht mit mir spielen wollten, konnte ich nach Hause gehen und hatte Menschen um mich herum. Ich schätzte mich glücklich, nicht allein zu sein. Meine Familie war nicht perfekt, sie ignorierte mich oft und sah auf mir herunter, aber sie ließ mich nicht allein. Man kann sich seine Familie nicht aussuchen. Andererseits fühlte ich mich von meiner Familie unverstanden. Mich interessierten Bücher und Filme, aber meine Familie konnte sich nicht dafür begeistern, wenn ich über den Ausgang eines Filmes philosophierte oder ihn mit der Buchvorlage verglich. Mit Sprachen konnte ich sie ebenfalls nicht begeistern. Wozu solle es nützen, französisch zu sprechen, wenn man dort nicht wohne? Oder Latein, wenn man es nicht sprechen könne? Das bekam ich oft zu hören. Meine ungewöhnlichen Interessen und meine Persönlichkeit fielen durch eine Art Netz, das sonst mich in der Familie gehalten hätte. Und deshalb fühlte ich mich jeden Tag mehr verstoßen und ausgegrenzt. Als meine Mutter mich mit neun Jahren aufgegeben hatte, war es der Anfang gewesen. Die Schulzeit begann. Ich weiß nicht, ob ich mich damals freute, zur Schule gehen zu können. Da ich 13 Jahre zur Schule ging und weiß, wie ungern ich oft ging, glaube ich nicht, dass ich es tat. Die Grundschule war groß mit zu viel Lärm und Kinder. Und da ich generell lieber in Ruhe gelassen werden wollte, fiel es mir schwer, Freunde zu finden. Im Laufe der Jahre musste ich hier mit einer großen Ambivalenz leben: einerseits fühlte ich mich allein und unverstanden und sehnte mich nach einem wahren Freund, andererseits fühlte ich mich so bedrängt von der Welt, dass ich nicht in der Lage war, nach einem zu suchen, oder offen auf andere zuzugehen. Da ich allen aus dem Weg ging, war ich anfangs auch keiner, der mit Mitschülern Probleme hatte. Ich wurde nicht direkt übersehen, aber ich war niemand, den man beim Wählen der Fußballmannschaft unter den Ersten aufrief. Gleichzeitig war ich schlank, sodass ich noch vor den komplett unsportlichen und/oder übergewichtigen Kindern kam. Bei der Partnerarbeit konnte ich funktionieren, aber sobald wir fertig waren, wandte sich mein Partner an seine Freunde; mit mir konnte er nicht reden. Die Lehrer konnten es auch nicht. Ich war zu still. Niemals hatte ich mich freiwillig gemeldet, um etwas im Unterricht zu sagen. Engagierte Lehrer versuchten es und riefen mich trotz allem auf, doch es blieb ohne weitere Erfolge. Zum Ende des Halbjahres lud der Klassenlehrer immer zum Elterngespräch. Ich war anwesend, während der Lehrer meiner Mutter versuchte begreiflich zu machen, dass ihr Sohn sich mündlich nicht beteiligte und es in späteren Jahren zu Problemen führen könnte. „Frau Hoffmann, Ihr Sohn sollte lernen, mehr aus sich herauszukommen und etwas zu riskieren; schließlich wissen alle, dass er nicht dumm ist, da er ein eifriger Leser und Schüler ist“, erklärte mein Lehrer. Meine Mutter nahm die Worte gesittet auf und versprach, mit mir zu reden und zu versuchen, es zu fördern. Geredet hat sie mit mir, und auch mein Vater, aber es waren Anklagen, warum ich so unfähig sei, in der Schule nicht ordentlich mitzuarbeiten. Ich ließ es über mich ergehen, doch es berührte mich wenig. Sechs Monate war ich für meine Eltern oft Luft und plötzlich meinten sie, über mich ein Urteil zu bilden; das konnte ich nicht verstehen und deshalb reagierte ich nicht auf sie. Nachdem ich nicht mehr im Kinderchor war, hatte meine Mutter die Gespräche nach den Elternsprechnachmittagen mit meinen Lehrern ebenfalls unterlassen. Das verdeutlichte mir nur noch mehr, wie gleichgültig ich ihnen geworden war. Am deutlichsten zeigten sich die Gefühle meiner Eltern an einem Nachmittag. Wir waren zu einem Großonkel aufs Land gefahren. An seinen Namen kann ich mich nicht mehr erinnern - Alfred, vielleicht aber auch Albert. Er war ein Mitglied der Familie, mit dem wir in der Regel keinen Kontakt hatten und über den nicht geredet wurde. Er war ein alter Mann, der allein auf einem Hof lebte. Eine Frau hatte er nie gehabt und Kinder entsprechend ebenso wenig. Warum wir die lange Fahrt auf uns nahmen, um ihn zu besuchen, wusste ich damals nicht und heute auch nicht.Es war eine lange Fahrt, zumindest in meiner Erinnerung. Natürlich könnten sie mich täuschen, weil damals ich acht Jahre alt war und noch kein ausgereiftes Zeitgefühl hatte. Außerdem konnte sich jede Fahrt lange anfühlen, wenn man in ein kleines Auto gesperrt wird mit Mutter, Vater, zwei Brüdern und einem Baby. Es muss ein später Frühlingstag gewesen sein, vielleicht auch schon Sommer. Immer wieder quälte sich die Sonne durch die Wolken, die ab und an grau wurden. Geregnet hat es den ganzen Tag nicht. Der Wind war milde. Nachdem wir eine lange Zeit gefahren waren, kamen wir endlich an. Es war im wahrsten Sinne des Wortes ein Haus im Nirgendwo. Und es war sehr klein und brüchig; dem Dach fehlten ein paar Ziegel und die weißen Wände waren verwittert. Als Kind hatte ich nicht darauf geachtet, aber als Erwachsener kommen diese Beschreibungen. Damals war es für mich nur ein unbekanntes Haus und das allein machte mir keine Freude. Ich hatte Probleme, mit anderen Orten oder Erwachsenen umzugehen. Mein Vater scheuchte mich normalerweise vor, befahl mir ein Lächeln und eine Begrüßung. Er wollte, dass ich jeden offen begrüßte. Doch mir war es unangenehm und immer peinlich. Selbst neue Kinder beäugte ich nur lange. Wenn sie nicht auf mich zugingen, ging ich es auch nicht auf sie zu. Das war ebenfalls ein Grund, dass ich als Kind keine wirklichen Freunde hatte. Spielkameraden, Mitschüler, Nachbarn, aber keinen, den ich wirklich als Freund bezeichnen konnte. Dass mein Großonkel im Grunde genommen ein Teil der Familie war, änderte nichts an meinem Verhalten. Er war eine unbekannte Person für mich und danach beurteilte ich ihn. Mein Vater schubste mich wieder vorwärts und sagte, ich solle ihm die Hand schütteln und mich für die Einladung bedanken. Ich tat, wie mir geheißen, doch sehr widerwillig. Mein Großonkel war ein kleiner Mann, der schon gebeugt an einem Stock ging. Seine wenigen Haare hatte er sich über den Kopf gekämmt und er hatte einen leichten, weißen Schnurrbart. Er lächelte mich an, als ich ihm meine Hand entgegenstreckte, und dabei sah ich, dass ihm ein paar Zähne fehlten. Seine Hand war trocken, schwach und fühlte sich an wie ein schrumpeliger Apfel. Seine Haut sah auch ein wenig so aus, nur waren überall auch große, braune Flecke. Das Alter kam ihm nicht gut. Wie alt er war, kann ich nicht sagen. Damals glaubte ich, dass er bestimmt schon um die 100 Jahre alt sein musste, weil er so alt aussah, sich so anfühlte und auch so roch. Der Geruch war auch das, was mich am meisten bei ihm und dem Haus anwiderte. Überall war der Geruch des Todes, das alte Menschen ausstrahlten. Keine Blumen, kein Feldgeruch, keine Windzüge, sondern nur alte, abgestandene Luft. Dann drückte er meinen Brüdern und mir eine kleine Tüte Gummibärchen in die Hand. Sie allein gab mir kurz die Hoffnung, dass es vielleicht etwas besser werden könnte, aber meine Mutter verbot mir, sie sofort zu essen. Getrübt packte ich sie in meine Hosentasche und vergaß sie schnell. Der Besuch war langweilig. Wir saßen am Wohnzimmertisch. Die Erwachsenen unterhielten sich, während meine Brüder und ich unauffällig nach den Keksen griffen, die vor uns auf dem Tisch standen, und sie aßen. Sie schmeckten trocken, aber es ging auch nicht darum. Es war ein Spiel. Nach einer Weile erlaubten meine Eltern uns, nach draußen zu gehen, um zu spielen. „Aber nicht weiter als der Zaun“, ermahnte mich unsere Mutter, „und pass auf deine Brüder auf.“ Ein Zaun aus alten Holzlatten ging ein Mal rund ums Haus und gab uns wenige Möglichkeiten, um zu spielen. Glücklicherweise hatte Alexander seine Murmeln dabei. Damit spielten wir zuerst. Danach liefen wir wild umher, rauften uns ein wenig und kämpften mit Ästen, von denen wir so taten als wären sie Schwerter. Als meine Mutter wieder zu uns herauskam, hoffte ich, dass sie uns sagen würde, wir führen nach Hause, wo ich mit meinen Büchern und in meinem Zimmer in Ruhe den Nachmittag verbringen könnte. „Kommt rein, es gibt Essen.“ Genervt drehte ich mich zu meinen Brüdern und sammelte die Murmeln ein, um mit ihnen ins Haus zu gehen. Das Essen lief nicht besser. Es gab Kochwurst mit Kartoffeln, die viel zu lange gekocht waren und fade schmeckten, und einen Brei, in dem unerkennbares Gemüse püriert war. Er schmeckte bitter und eklig. Im Grunde genommen schmeckte nur die Wurst, zumindest der Teil, der nicht durch den Gemüsebrei durchzogen war. Ich aß ein wenig, aber es war grauenhaft. „Iss deinen Teller auf“, befahl mein Vater. „Aber es schmeckt mir nicht“, erwiderte ich und legte meine Gabel ab. „Es wird gegessen, was den Tisch kommt“, befahl er daraufhin. „Aber...“ Ich wollte es nicht essen.„Nichts aber. Sei kein undankbarer Gast.“ Sein Blick bei diesen Worten offenbarte mir, dass ich keine Wahl hatte. Deshalb nickte ich, nahm mir wieder meine Gabel und würgte den Rest herunter. Danach trank ich mein Glas in einem Zug aus, um den ekelhaften Geschmack loszuwerden.Auch wenn der Vormittag und das Mittagessen schon langweilig waren, wurde es danach noch schlimmer: ich sollte einen Mittagsschlaf machen. Aber weder war ich müde noch wollte ich hier schlafen. Ich sollte mich in ein Bett im Erdgeschoss legen. Man konnte sehen, dass in diesem Bett schon lange keiner mehr geschlafen hatte. Das Bett war hart und roch genauso wie mein Großonkel. Lange hielt ich es in diesem Bett aus und ging zu den Erwachsenen. „Mama, ich kann nicht schlafen“, versuchte ich es bei meiner Mutter.Sie sah mich mit großen Augen an. Ich glaubte, sie beleidigt zu haben. „Das kann ich nicht ändern. Deine Geschwister schlafen, also kannst du nicht mit ihnen spielen.“ „Darf ich allein rausgehen?“ Alles war mir lieber als in dem Bett liegen zu müssen. „Meinetwegen“, antwortete sie genervt, „aber bleib in der Nähe. Und nicht weiter als bis zum Zaun.“Ich war glücklich über die Freiheit. Draußen atmete ich die frische und freie Luft mehrmals tief ein. Kein Erwachsener, kein Bruder, der mich nerven würde, keine Schwester, die schrie. Mit einem Stock lief ich am Zaun entlang und achtete nur auf das Geräusch, das er dabei machte. Hinter ihm war ein großes Weizenfeld sichtbar. Nach einer Weile setzte ich mich darauf und versuchte, mit einem Grashalm zu pfeifen. Es gelang mir nicht und ich ließ den Halm im Wind davonfliegen. Ich blickte hinaus aufs Feld. In der Ferne erkannte ich einen Wald. Dabei erkannte ich auch ein Tier. Von weitem sah es aus wie ein Hase. Kurzentschlossen und unüberlegt sprang ich vom Zaun und ging durch das Weizenfeld zu diesem Wald. Das Tier, das ich glaubte zu sehen, war nirgends mehr zu sehen. Erst als ich schon im Wald stand, wurde mir bewusst, dass ich mich nicht an die Anordnung meiner Mutter gehalten hatte. Doch es war mir nicht wichtig. Wer sollte schon kontrollieren, wo ich spiele? Meine Eltern waren im Gespräch mit meinem Großonkel und meine Geschwister schliefen. In der nächsten Stunde würde keiner herauskommen, um nach mir zu sehen. Deshalb ging ich auf mein eigenes Abenteuer.Ich lief durch den Wald und entdeckte viele neue Dinge. An den Büschen wuchsen rote Beeren, die ich nicht kannte. Die Sträucher hatten spitze Blätter, die mich piksten. Die Bäume waren viel höher als die, die bei uns in der Straße standen. Ab und an schwirrten unbekannte Insekten an mir vorbei und landeten in der Nähe. Ich schlich mich an und versuchte, sie auf die Hand zu nehmen. Spätestens mit meinem Schatten erschreckten sich die kleinen Tiere aber und flogen wieder davon. Dann erblickte ich einen kleinen Bach. Ich folgte ihm, bis er zu einem kleinen Fluss und schließlich zu einem kleinen See angewachsen war. Dort warf ich Blätter, Äste und Steine hinein. Ich drehte mich um und überlegte, was ich noch hineinwerfen könnte. Dabei erblickte ich auf einem Hügel einen Busch mit gelben Blüten und pinkfarbenen Beeren. Schnell lief ich dorthin. Noch bevor ich da war, spürte ich, wie der Boden unter mir nachließ. Innerhalb von wenigen Sekunden fiel ich, rutschte ich. Erschrocken hatte ich meine Augen geschlossen und wartete, bis es wieder still war. Als ich mich nicht mehr bewegte und um mich wieder alles ruhig war, machte ich vorsichtig die Augen wieder auf. Erst jetzt erkannte ich, dass ich in ein Loch gefallen war. Wie groß es war, kann ich heute nicht sagen. Damals kam es mir sehr klein, aber auch sehr tief vor. Ich konnte meine Arme nicht ausbreiten, ohne dass ich an die Wände stieß. Nach oben konnte ich dagegen nicht greifen, weil ich zu tief unten war. Es fehlte nicht sehr viel, um aus dem Loch klettern zu können. Mit ausgestreckten Armen und durch einfaches Springen kam ich fast bis zur Oberfläche. Es sollte leicht sein, mich wieder aus dem Loch zu befreien, dachte ich mir.Ich war mir sicher gewesen, dass ich schnell aus dem Loch herauskommen würde, doch ich irrte mich trotzdem. Meine Sprünge blieben immer zu schlecht. Auch konnte ich mich nirgends festhalten, um an der Wand hochzuklettern. Es gab nichts, auf das ich mich stellen konnte. Nachdem mir nach vielen Versuchen keine weitere Lösung einfiel, begann ich, nach Hilfe zu rufen. Bisher war ich immer in der Stadt gewesen, in dem viele Kinder in der Nähe waren oder auch andere Erwachsene, die mir halfen, wenn ich hingefallen war oder Probleme hatte, einen Baum wieder herunterzuklettern. Deshalb hatte ich instinktiv darauf vertraut. Erst als nach langem Rufen ich noch immer keine Schritte hören oder einen anderen Menschen sehen konnte, fing ich an, meine Lage zu überdenken. Ich war im Nirgendwo. Keinen Menschen hatte ich hier gesehen außer meinen Großonkel. Und dieser war mit meinen Eltern und mit meinen Geschwistern in seinem Haus, das in weiter Ferne stand. Meinen Eltern würde meine Abwesenheit nicht auffallen, außer man würde sie darauf hinweisen. Aber es gab niemanden, der das hätte tun können. Zudem hatte ich mich nicht an ihre Anweisung gehalten und war weiter als den Zaun gegangen. Ich wusste nicht, wo ich war, und meine Familie würde lange brauchen, bis es ihnen auffallen würde, dass ich weg war, und selbst dann hätten sie ebenfalls keine Ahnung, wohin ich gelaufen war. Ich war komplett allein. Hatte ich am Anfang noch große Hoffnung gehabt, schnell aus dem Loch klettern zu können und wieder zurück zu sein, bevor meine Eltern meine Abwesenheit und meinen Regelverstoß bemerken würden, begann ich nun immer mehr zu verzweifeln. Niemals würde es meinen Eltern auffallen, dass ich fehle. Oder sie würden es bemerken, doch sie würden nicht nach mir suchen. Diese Gedanken beschäftigten mich. Ich hatte nicht auf sie gehört - das war meine Strafe. Wie lange würde es dann dauern, bis mich irgendjemand entdeckt? In dem Moment zog eine dunkle Wolke über die Sonne. Würde ich über Nacht hierbleiben müssen? Ich bekam Angst. Und was wäre, wenn ich Durst bekäme? Ich müsse doch etwas trinken. Oder vielleicht etwas essen. Ich setzte mich auf den Boden und zog meine Beine an. Dann begann ich zu weinen. Ich wollte hier raus, ich wollte zurück. Was sollte ich tun? Eine Todesangst überkam mich.In dem Moment knisterte es in meiner Hose. Die Tüte Gummibären. Ich würde überleben können, weil ich etwas zu essen hatte. Schnell holte ich sie aus meiner Tasche und riss sie auf. Gerade als ich alle auf einmal essen wollte, fiel mir ein, dass ich sie mir lieber einteilen sollte. Schließlich wusste ich nicht, wie lange ich davon überleben müsste und am sinnvollsten war es, sie so lange wie möglich aufzubewahren. Deshalb nahm ich die Gummibärchen und stellte sie aufrecht vor mir auf einen kleinen Ast auf: ein grüner, ein gelber, zwei rote und drei orangefarbene. Ich hatte keinen weißen. Ich zählte sie immer wieder. Dann gab ich ihnen Namen, um mich zu unterhalten, so wie ich es auch mit meinen Kuscheltieren tat, wenn niemand in der Nähe war. Der grüne Gummibär wurde der Anführer, weil er die dunkelste Farbe hatte. Die orangefarbenen waren die Kinder. Isabelle, Frank, Alexander. Ich war der gelbe, mich aß ich zuerst; den Blick konnte ich nicht ertragen. Es war meine Schuld gewesen, dass ich ins Loch gefallen war und nun hier ohne meine Eltern saß. Die roten Gummibärchen taufte ich „Mama“ und „Papa“ und entschuldigte mich bei ihnen. Immer und immer wieder, in der Hoffnung, sie würden es irgendwie an meine echten Eltern weitertragen. Sonst würden sie mich nicht suchen, weil ich ein schlechtes Kind war. Doch sie taten es nicht, es passierte nichts. Deshalb aß ich auch sie und verlor komplett die Hoffnung auf Rettung. Wie lange ich im Loch saß, kann ich nicht sagen. Irgendwann weinte ich nur noch. Die anderen Gummibärchen aß ich nicht. Sie sollten bei mir bleiben, damit ich nicht allein sein würde, denn das wollte nicht mehr sein. Ich flehte sie an, sie mögen mir helfen, doch sie taten nichts. Deshalb nahm ich den grünen Gummibären und warf ihn aus dem Loch. Er war ein schlechter Anführer. Gerade als ich ihn weggeworfen hatte, sah ich, wie ein Hund von oben ins Loch sah. Er hatte eine braune Schnauze und ein weißes Gesicht. Ich konnte nicht erkenne, wie groß er war und die Rasse konnte ich ebenfalls nicht benennen, weil ich mich nicht damit auskannte. Stumm sah ich ihn an. Plötzlich fing er an zu bellen. Es war laut und es machte mir Angst. Noch bevor ich meine Hände auf die Ohren legte, schaute auch ein Mann ins Loch. Er war sehr schlank, hatte graues Haar und einen grünen Filzhut auf. „Oh du armer“, meinte er nur, „wie bist du denn in diese Lage geraten?“„Ich komme hier nicht raus“, schluchzte ich. „Ich hole dich da raus, keine Angst“, sprach er sanft zu mir. Der Mann warf einen Strick hinein und ich sollte daran hochklettern, während er gleichzeitig versuchte, mich hochzuziehen. Es dauerte nur einige Minuten und ich stand wieder oben. Statt mich zu bedanken, lief ich weg. Ich hatte Angst vor dem Mann, vor dem Hund, vor weiteren Löchern vor allem. Das Einzige, was ich wollte, war meine Eltern und meine Geschwister. Schnell suchte ich den See, den Fluss, den Bach, das Weizenfeld und schließlich kletterte ich wieder über den Zaun, der am Haus meines Großonkels stand. Dort lief ich schnell zu meinen Eltern in die Küche.„Nathan Hoffmann!“ Ich wusste, dass Ärger drohte, wenn meine Mutter mich bei meinem ganzen Namen nannte. „Wir haben dir gesagt, du sollst nicht weiter als den Zaun gehen“, fuhr sie mich an, noch bevor ich etwas gesagt hatte. „Was verstehst du daran nicht?“Ich sah sie mit großen Augen an. „Du hast auf deine Mutter zu hören“, schimpfte meine Vater. „Zu meiner Zeit hat man Jungen Benehmen mit dem Gürtel gelehrt, wenn sie, ohne etwas zu sagen Stunden weg waren“, erklärte mein Großonkel. Ich bekam Angst. Würde er mich schlagen wollen? „Du wirst jetzt drinnen bleiben und über deine Taten nachdenken. Und kein Nachtisch für dich heute beim Abendbrot“, erklärte meine Mutter.Ich setzte mich geschlagen und reumütig an den Tisch. Keiner hatte sich Sorgen gemacht. Am schlimmsten fand ich die Vorstellung, dass ich tatsächlich stundenlang in diesem Loch gesessen haben musste und trotzdem keiner mich gesucht hatte. Alexander kam zu mir. „Spielst du mit mir?“, fragte er. „Nein, Alexander, dein Bruder darf nicht spielen“, entschied mein Vater. „Er hat genug gespielt, als er draußen war.“ Mein Bruder sah mich traurig an und ging wieder.„Nathan, geh ins Schlafzimmer. Ich will dich hier nicht sehen“, erklärte er schließlich erbost. Mit gesenktem Kopf verließ ich die Küche und ging in das Zimmer, aus dem ich anfangs versucht hatte zu fliehen. Kurze Zeit später fuhren wir wieder nach Hause. „Willst du ein paar Gummibärchen?“, fragte Alexander und hielt zwei rote vor mein Gesicht. „Ich möchte keine“, antwortete ich. Und das habe ich nie wieder. Die Vorfälle im Kinderchor und bei meinem Großonkel hatten mich sehr unglücklich gemacht und ich begann nachzudenken. Warum konnte man mich nicht lieben? Warum konnte ich nicht wie meine Familie sein? Warum konnte ich meine Eltern nicht zufrieden stellen? Warum konnte ich nicht wie meine Geschwister oder Mitschüler sein? Warum konnte ich nicht so sein wie alle anderen und endlich dazu gehören? Ich wollte nicht abseitsstehen. Nachdem mir bewusst wurde, wie allein mich mein eigenes Verhalten machte, versuchte ich, mich zu ändern und der Junge zu werden, den man mögen und lieben kann. Zuerst malte ich mir aus, dass ein schulischer Erfolg, eine Akzeptanz meiner Mitschüler und Lehrer, auch meine Eltern dazu bringen würde, mich wieder zu lieben. Das Lob von Mitmenschen aufgrund eines vorbildlichen Verhaltens ihres Kindes bedeutete ihnen immer am meisten. Doch schon allein, wenn ich daran dachte, mich im Unterricht freiwillig zu melden, wurde mir schlecht. Alle würden mich anstarren, weil ich etwas sagen wollte, weil ich es nie getan hatte. Und ich müsste es dann noch laut vortragen. Deshalb plante ich es. Zuhause übte ich vor dem Spiegel die Antworten der Hausaufgabe. Jede Bewegung von mir analysierte ich, ob sie richtig ist. Es sollte nicht verkrampft wirken und so natürlich wie bei den anderen. Ich schrieb mir ins Heft schlagfertige Antworten, wenn jemand auf meinen Wortbeitrag blöd reagiert. Am Ende scheiterte es immer. Ich konnte es nicht und schwieg bei der Hausaufgabenkontrolle. Mein Lehrer forderte mich unvorbereitet im späteren Verlauf des Unterrichts auf, etwas vorzutragen und ich las viel zu leise die Antwort der Aufgabe 2b vor. Ab der weiterführenden Schule wollte ich eine Veränderung. Mir war bewusst, dass ich diese sein musste, und ich entschied mich, einen komplett neuen Jungen aus mir zu machen: extrovertiert mit vielen Freunden. Ich kopierte das Verhalten von anderen, stimmte den allgemeinen Meinungen der anderen zu und sprach möglichst wenig über mein wahres Ich. Die wenigen Mitschüler, die mich schon kannten, versuchte ich zu ignorieren. In den ersten Wochen funktionierte es sehr gut, obwohl es mich anstrengte. Aber wie alles Gute musste auch das enden; und ich war selbst wieder der Schuldige. Nur wenige Wochen nach dem Beginn des Schuljahres unternahmen wir einen Klassenausflug in die Niederlande. Wir besuchten ein Museumsdorf, das das Leben um 1900 darstellte. Wir lernten einige alltägliche Berufe von damals kennen und andere Tätigkeiten, die damals üblich waren. Im dem nachgebildeten Schulgebäude lernten wir die Buchstaben eines veralteten Alphabets. Am Ende besuchten wir einen Krämerladen, in denen wir uns ein Souvenir kaufen durften. Alte Schreibfedern oder Holzspielzeuge waren sehr beliebt. Ich aber verliebte mich sofort in einen Stoffbären. Sein hellbraunes Fell war rauer als bei modernen Exemplaren, aber er sah ebenso niedlich aus. Daneben hatte er noch eine rote Schleife um den Hals. Wie selbstverständlich kaufte ich ihn mir, denn er passte zu meinen anderen Teddybären in meinem Zimmer. Seit ich ein paar Jahre zuvor Winnie Puuh gelesen hatte, sammelte ich Stoffbären, bezeichnete sie als meine Freunde und hoffte wahrscheinlich unbewusst, dass sie lebendig werden könnten wie der Bär im Buch. Mit dem voranschreitenden Alter wusste ich es besser, aber die Magie von ihnen verloren sie trotzdem nicht. „Oh, seht mal, Klein Nathan kauft sich noch ein Kuscheltier“, neckte mich Robert, einer der Jungen, mit dem ich in den letzten Wochen viel Zeit verbracht hatte, „sonst kann das kleine Baby nicht einschlafen.“ Er imitierte das Weinen eines kleinen Kinder.Entsetzt sah ich zu ihm; er machte sich über mich lustig, obwohl ich ihm nie einen Anlass dafür gegeben hatte. Ich hatte sogar geglaubt, dass ich in Robert einen Freund gefunden hatte. Doch es interessierte ihn nicht und auch die anderen nicht. Alle lachten mit ihm über mich. Auch als ich log, dass ich ihn für meine kleine Schwester besorgte, hörte es nicht auf.Die Heimfahrt blickte ich auf meinen Bären. Er blieb ruhig, hatte weiterhin ein mildes Lächeln im Gesicht und machte mir Mut: wenn er nach all den Schikanen gegen ihn noch gutmütig sein kann, werde ich es auch können. Mit seiner Hilfe konnte ich daraufhin die anderen ausblenden und ich fühlte mich besser. Und mit seinem Schweigen war er ein besserer Freund als all die Kinder um mich herum. Zuhause bekam er deshalb einen besonderen Platz in meinem Zimmer und in meinem Herzen. In der Schule zog ich mich ab dem nächsten Tag wieder zurück. Ich dachte, dass es mir wie in der Grundschule weiterhin gelingen würde, mich in den Hintergrund zu schieben. Kein Freund, aber auch kein Feind, wurde meine Lebensweisheit in der Zeit. Doch etwas änderte sich. Und diese Veränderung wurde durch Lukas eingeleitet. Er kam von einer anderen Schule und wurde gleich am ersten Tag neben mich gesetzt. Er war unausstehlich. Wie er auf das Gymnasium kommen konnte, war mir unbegreiflich. Er schrieb dauerhaft bei mir ab, weil er nicht wusste, wie er die Aufgaben lösen sollte. Wenn ich sie verdeckte, pikste er mich mit seinem Stift in die Seite, erst ein Mal, dann zwei Mal, so lange, bis ich nachgab. Teilweise hätte er wahrscheinlich die Aufgaben allein lösen können, weil er zumindest ausreichende Noten in den Arbeiten schrieb. Da er aber die ganze Zeit mit seinen anderen Tischnachbarn redete oder einfach den Unterricht störte, kam er nicht dazu, die Aufgaben zu lösen. In einer kleinen Pause holte ich meine Brotdose heraus. Ich hatte noch zwei kleine Muffins von Alexanders Geburtstagsfeier am Tag zuvor. Als Lukas sie sah, fragte er mich gleich, ob er einen haben dürfte. „Nein“, antwortete ich kalt. „Komm schon, sei nicht so egoistisch. Du hast doch zwei“, versuchte er es dennoch. Ich schüttelte den Kopf. Lukas ärgerte mich ständig und ich wollte ihn nicht dafür belohnen. Dieser nahm die Antwort nicht an. Stattdessen griff er sich einfach einen Muffin. Mit großen Augen sah ich zu ihm. Er hatte ein hämisches Grinsen auf den Lippen. Dann machte er das Papier ab und steckte den ganzen Muffin in den Mund. „Danke nochmal“, sagte er mit vollem Mund, obwohl ich nur die Vokale akustisch verstand. Diese Frechheit machte mich wütend. Vielleicht hätte ich zu einem Lehrer gehen sollen, doch mit fast 11 Jahren geht man nicht mehr petzen. Vielleicht hätte ich es auch auf sich beruhen lassen sollen. Aber an dem Tag tat ich es nicht. In einer Kurzschlussreaktion schlug ich ihm mit einem kräftigen Hieb meinen Ellenbogen in den Magen. Es war gänzlich unüberlegt, denn ich wollte, dass mich meine Eltern liebten und meine Mutter hatte schon Schwierigkeiten dabeigehabt, einen gewaltbereiten Sohn im Chor zu haben. Sie sollte sich nicht noch ein weiteres Mal meinetwegen rechtfertigen müssen. Aber diese Gedanken siegten nicht. Lukas war so überrascht, spuckte die letzten Teile des Muffins auf den Tisch und krümmte sich vor Schmerzen. „Bist du verrückt geworden?“, quetschte er aus den Lippen. „Du hast meinen Muffin gegessen“, sagte ich kalt und packte meine Brotdose wieder weg. Dann sah ich stur nach vorne und wartete, dass der Lehrer die nächste Stunde begann. Es hatte sich gut angefühlt. Endlich konnte ich es ihm heimzahlen. Wer sagt, Gewalt sei keine Lösung, hatte es noch nie ausprobiert. Es war befreiend, eine Genugtuung. Ich war nicht mehr ein ständiger Niemand oder gar ein Opfer. Und das fühlte sich besser an als der Muffin. Dieses Gefühl führte zu einer schnellen Sucht. Sobald mir etwas nicht gefiel, gab es einen Schlag oder einen Tritt. Da ich bis zu dem Zeitpunkt in der Schule immer der ruhige Nathan war, erzielte es eine große Überraschung für alle, und es brauchte nicht lange, bis ich regelmäßig austeilte. Sobald ich meinen Willen nicht bekam, griff ich zur Gewalt.Es dauerte einige Wochen, bis es zum ersten Mal ausartete. Ein Mitschüler meinte mich zu ärgern und ich schlug mit dem Ellenbogen aus. Nur war der Junge nicht ganz auf meiner Höhe, sodass ich nicht den Magen, sondern seine Nase traf und dieser Nasenbluten bekam. Eine Lehrerin erfuhr davon und als Nächstes saß ich mit meiner Mutter und der Lehrerin in einem Büro. Diese war fassungslos, als sie von ihrem wieder gewalttätig gewordenen Sohn hörte. Sie hatte gedacht, dass der Ausschluss aus dem Kinderchor die einzige Schande und der einzige Ausbruch von Gewalt blieb. Ich entschuldigte mich halbherzig, denn mir war nicht bewusst, was der Fehler gewesen sein sollte. Der Junge hatte angefangen und hatte seine Strafe bekommen. Ein wenig war es sogar Freude, dass meine Mutter zum ersten Mal meinetwegen zur Schule kommen und zu ihrem Sohn stehen musste. Plötzlich war ich wieder ihr Sohn und nicht nur das vierte Kind. Mein Vater nahm sich das Erlebnis wenig zu Herzen.„Jungen raufen“, meinte er. „Vielleicht steckt mehr in ihm als ein stiller Nichtsnutz.“ Diese noch recht wohlwollende Meinung meines Vaters änderte sich erst, als meine Mutter vermehrt Beschwerden und Einladungen in die Schule bekam, in dem es um mein gewaltbereites Verhalten ging. Meine Eltern wollten mich fortan strafen, gaben mir Stubenarrest oder kein Taschengeld für Wochen. Aber bewirkt hatte das nichts. Ich machte weiter. Es änderte sich erst ein paar Jahre später, als Mädchen ein Thema wurden. Mädchen mochten keine Schläger, sondern gutaussehende Jungen. Und da ich auch ein Mädchen haben wollte, besserte ich mich und wich dem Ärger stumm aus. Wenn mich etwas ärgerte, lief ich nach Hause. So schnell ich konnte, suchte ich zuhause oder später auch anderenorts Möglichkeiten, auf ein Kissen zu schlagen oder gegen meinen Tornister zu treten. So bekam ich die Gewalt in mir unter Kontrolle.Und ich lernte zu laufen. Je häufiger ich nach Hause lief, desto schneller wurde ich. Es tat mir gut. Nach einiger Zeit war das Bedürfnis, mich zu schlagen weniger. Meine ganze Kraft setzte ich in den Laufsport. Eher zufällig wurde ich so immer besser. Meine negativen Gefühle kontrollierten mein Handeln immer weniger. Beim Laufen wurde ich komplett frei und dachte nicht mehr an die Schule oder an meine Familie. Es war nur die Regelmäßigkeit der Schritte, die Natur oder die Häuser, an denen ich vorbeilief. Je mehr ich mich darauf konzentrierte, desto länger konnte ich laufen und desto erschöpfter war ich am Ende des Tages. Ich hatte keinen Muskelkater, sondern es war eine pure Erschöpfung, alles gegeben zu haben, bei jedem einzelnen Lauf. Abends schlief ich sofort ein und ich musste nicht mehr denken. Mein Leben drehte sich nur noch um Schule und Sport.Im Sportunterricht wurde ich der beste Ausdauersportler. Bei den folgenden Bundesjugendspielen war ich der beste der Klasse und der drittbeste des Jahrgangs. Ein Sportlehrer empfahl mir auch Krafttraining, um meine Muskeln zu stärken. Mein Körper wurde gut trainiert und zeigte immer mehr den Körperbau eines Mannes. Sogar leichte Bauchmuskeln konnte ich schon mit 15 Jahren vorweisen. Damit sicherte ich mir auch einen guten Platz bei den Mädchen, die ich nun beeindrucken konnte. Nicoletta war meine erste. Sie war erst 15 Jahre alt, aber hatte die Figur einer 18jährigen, zumindest wenn es um den oberen Teil ihres Körpers ging. Ich kannte keinen Jungen, der nicht von ihr schwärmte oder gar ihr Freund sein wollte. Doch sie war schon vergeben. Fernando aus der Klasse über uns. Beide liebten es zu provozieren. Nicoletta trug so oft es ging enge Oberteile, die ihren Busen stark betonte oder zum Sommer möglichst bauchfrei und kurze Röcke. Fernando zog sie gerne in den Pausen an sich, küsste sie innig mit Zunge und glitt mit seinen Händen an ihren Hintern oder unter ihrem Oberteil. Er grinste zu uns, als er wieder von ihr ließ. In der Mitte des Schuljahrs trennten sich beide. Es hieß, dass sie sich von ihm getrennt hatte, weil er niemals Zeit für sie gehabt hatte. Keiner konnte das verstehen. Nun wollte sie ihm zeigen, dass sie andere Optionen hatte und nicht bereit war, nur auf ihm zu warten. Wir alle waren bereit, um für Nicoletta zu kämpfen. Aber sie entschied sich für den Jungen, den sie wollte, und zum ersten Mal wurde ich ausgewählt. Doch es wurde mir sehr schnell deutlich, dass ich nur der beste Mann war, um Fernando eifersüchtig zu machen. Im Benimm-Kurs, als wir auch einen Walzer lernen musste, griff sie mich und tanzte so eng an mir, dass ich ihren schon 18jähreígen Busen an meiner Brust spürte.„Mach mit und ich belohne dich später“, flüsterte sie in mein Ohr. Sie überflutete mich mit ihren Händen und auch ich schmiegte mich an sie. Ich presste mich so nah an sie, dass der Lehrer uns mehrmals darauf hinweisen musste, ordentlich Walzer zu tanzen und nicht Dirty Dancing nachzuahmen. In der Pause danach stellte sie sich sichtbar für alle, besonders Fernando, auf und ließ ihre Zunge in meinem Mund tanzen. Meine Hand führte sie unter ihr Oberteil und an ihre Brust. Auch ihre Hand spürte ich an der richtigen Stelle an meiner Hose. Das ließ ich gerne geschehen und machte, was ich mir nachts gerne vorgestellt hatte. Meine eigentliche Belohnung kam aber nach der Schule, als sie mich zu sich nahm. „Lass uns Fernando zeigen, dass wir ihn nicht brauchen“, meinte sie zu mir, als sie sich vor mich auszog. Mich erregte der Anblick schon sehr und ich erstarrte. Sie zog mich aus und entblößte meinen Steifen. Dann warf sie mich rücklings auf ihr Bett und begann mich zu reiten. War ich erst unsicher, was ich zu tun hatte, begann ich nach kurzer Zeit zu übernehmen. Es fühlte sich so gut an. Ihr Stöhnen ermutigte mich, meine Geschwindigkeit zu erhöhen. Sie krallte sich an mich, als sie kam. Auch ich kam in einer nie zuvor gekannten Intensität. Ob sie noch Jungfrau war, konnte ich nicht sagen, aber ich war es danach nicht mehr. „Deine Ausdauer macht sich bezahlt“, meinte sie, als sie keuchend auf mir lag. Am Tag darauf erklärte mir Nicoletta: „Wenn du mein Freund sein willst, müssen wir etwas an dir ändern. So kann man dich nicht vorführen.“ Daraufhin kam sie zu mir, untersuchte meinen Schrank nach passender Kleidung. Sie zeigte mir Hosen, die ich zu tragen hatte, wenn ich sie traf, oder Oberteile, die meine „Qualitäten“ betonten. Schnell verstand ich, dass sie sich auf alles bezog, was mich körperlich attraktiv und Fernando eifersüchtig machen könnte, weil ich ihm zumindest durch den Sport körperlich überlegen war. Das wusste Nicoletta auszunutzen. Von meinem ersparten Taschengeld besorgten wir auch noch einige andere Kleidungsstücke, die gefielen. „Du musst jeden in der Schule zeigen, dass du der Beste bist. Jungen sollen so wie du sein wollen; Mädchen sollen dich begehren“, erklärte sie mir. Ich ließ mir das alles gefallen, denn ich wollte begehrt werden. Und jedes Mal, wenn ich das richtige trug oder mich nach ihrer Vorstellung wie ein richtiger Freund verhielt, wurde ich mit Sex belohnt. Sex war eine weitere Tätigkeit, in der ich gut wurde. Sie trieb es gerne mit mir und ich gerne mit ihr. An einem Abend hatten wir sogar an einem See in der Nähe Sex. Alle beneideten mich. Neben dem Sport war das der wichtigste Teil meines Lebens geworden. Nicoletta zeigte mir, wie ich mich zu kleiden hatte und zu benehmen und dafür hatte ich eine Freundin, die süchtig nach mir war und mich regelmäßig in Ekstase brachte. Wirkliche Gespräche hatten wir nie. Es war auch nicht wichtig, denn im Grunde genommen suchte ich nicht die Begierde oder die Zweisamkeit, sondern lediglich das Gefühl, nicht mehr unsichtbar zu sein; und das tat ich, als ich ihr fester Freund wurde. Einige Zeit später machte sie mit mir Schluss, um wieder zu Fernando zurückzukehren. Aber durch die Beziehung zu ihr hatte ich gelernt, mich anzupassen und wurde für jedes andere Mädchen attraktiv. Ich konnte mir eines aussuchen und ich nahm mir immer das, welches meine körperlichen Bedürfnisse am meisten entsprach. Die größten Erfolge feierte ich, wenn ich eine Jungfrau im Bett hatte. Keiner der Beziehungen hielt besonders lange, da ich kein Freund des Alltags war, denn ich auch das von Nicoletta gelernt: eine Beziehung brauchte nicht viel, um zu funktionieren und im Wesentlichen ging es nur darum, sich gegenseitig zumindest körperlich zu befriedigen. Die Mädchen, die nach mehr suchten, trennten sich von mir und verschwanden aus meinem Leben. Ich trauerte den Beziehungen keine Tränen nach; es gab immer wieder ein neues Mädchen, das den Platz neben mir gerne einnahm. Allein war ich nie, ebenso war ich immer beschäftigt – was wollte ich mehr?