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April 1933: Die Nationalsozialisten unter dem Führer Adolf Hitler sind seit knapp drei Monaten an der Macht. Der 19-jährige Herbert Frahm, der seit seiner Schulzeit aktiv im linkspolitischen Bereich tätig ist, begibt sich vorsichtshalber ins Exil nach Norwegen. Dort nimmt er unter dem Kampfnamen Willy Brandt den Widerstand gegen die deutsche Regierung auf. Aber auch das Exil ist nicht lange sicher und birgt seine Herausforderungen, besonders für einen engagierten Jungpolitiker.
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Seitenzahl: 149
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Brandt alias Frahm Ein Lesedrama über die frühen Einflüsse und Aktivitätendes späteren Bundeskanzlers Willy Brandt
CoverGestaltung: Sabrina ChachulskiFoto: Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung, 6/FOTA119331Anmerkung: das Foto stammt aus dem Nachlass Willy Brandts; wer es aufgenommen hat, ist unbekannt
Inhalt
VorwortDas Drama-Personenverzeichnis-Erster Akt-Zweiter Akt-Dritter Akt-Vierter Akt-Fünfter Akt-AnmerkungenEpilogZeittafelNachwort
Vorwort
Willy Brandt ist einer der größten Staatsmänner des 20. Jahrhunderts. Der sozialdemokratische Politiker hat maßgeblich die Nachkriegszeit im geteilten Deutschland geprägt und war ab den 1960er Jahren für eine neue „Ostpolitik” verantwortlich. Er sorgte für eine Entspannungspolitik im Kalten Krieg und wurde auch deshalb 1971 mit dem Friedensnobelpreis gewürdigt. Außerdem konnte er so einige Jahre vor seinem Tod 1992 noch die Wiedervereinigung Deutschlands miterleben.Fällt der Name Willy Brandt in einer Diskussion, wird meist dieses Bild gezeichnet; er ist für diesen Abschnitt in der deutschen Geschichte bekannt. Obgleich das nicht zu Unrecht geschieht, bekommen die ersten 30 Jahre seines Lebens dagegen kaum Beachtung. Diese halte ich jedoch für ebenso herausragend. Als Jugendlicher und junger Mann engagierte er sich gegen das Erstarken der Nationalsozialisten in der Weimarer Republik, ging mit deren Machtergreifung 1933 in den Widerstand und mit nur 19 Jahren ins Exil, um ihnen nicht in die Hände zu fallen und Opfer zu werden. Mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs und der Besetzung seines Exils flüchtete er erneut, um abermals seine politischen Tätigkeiten und seinen Widerstand nicht aufzugeben. Erst mit dem Kriegsende – mit 31 Jahren - kehrte er seine ursprüngliche Heimat Deutschland zurück und wurde zu dem Politiker, den wir heute kennen.Wie Sie sehen, ist es bemerkenswert, wie viel Mut Willy Brandt schon in jungen Jahren bewies, und ich empfinde es als Schande, dass über diese Zeit zu wenig erzählt wird. Dieser Ungerechtigkeit möchte ich mich hier annehmen und habe deshalb dieses Lesedrama geschrieben, das Sie nun in den Händen halten. Neben diesen Schilderungen lasse ich auch die familiären und zwischenmenschlichen Beziehungen seines Lebens nicht unerwähnt, da diese ebenso interessant sind und mir ebenso oft zu kurz kommen.Vor dem Lesen gibt es noch einige Bemerkungen, die ich hier vorausschicke, um dieses Buch und seinen Inhalt besser zu verstehen:Zum einen möchte ich betonen, dass, obwohl viele Personen tatsächlich gelebt und die Ereignisse so stattgefunden haben, alle Gespräche frei erfunden bleiben; es ist ein fiktives Werk ist. Und trotz umfangreicher Recherche vor und während des Schreibens gibt es keine Gewähr.Zum anderen muss gesagt sein, dass in Willy Brandts Familie überwiegend plattdeutsch gesprochen wurde; hochdeutsch lernte dieser erst mit dem Schuleintritt. Trotz meiner Bemühungen, diesen Aspekt mit einzubauen (vor allem im ersten Akt), habe ich es nicht geschafft, ihn für mich literarisch schön einzubauen. Deshalb sind die Dialoge dieser Charaktere in hochdeutsch geschrieben.Auch zum Aufbau möchte ich einige kurze Bemerkungen vorausschicken:Am Ende des Lesedramas habe ich eine Liste mit Anmerkungen eingefügt. Wo ich es für das Verständnis wichtig empfand und/oder eine Information für interessant hielt, habe ich sie markiert und im Anschluss erklärt. Zudem gibt es einen Epilog mit Biografien von besonderen Persönlichkeiten, die im Lesedrama -meist häufiger- genannt werden. Diese habe ich mit einem Sternchen markiert. Zum Schluss finden Sie dann noch eine Zeittafel Willy Brandts, um ein Verständnis dieses Lesedramas im Zusammenhang seiner gesamten Biografie zu bekommen.Mit diesem Wissen wünsche ich Ihnen nun viel Vergnügen beim Lesen.Sabrina Chachulski(Februar 2021)
Das Drama
Personenverzeichnis Herbert Frahm, später Willy Brandt Ludwig Frahm mit Ehepartnerin Dorothea, genannt Dora, sowie dessen Chef Oskar Schweichler Martha Frahm mit Ehepartner Emil Gertrud Meyer, genannt Trudel Carlota Thorkildsen mit Tochter Rut Bergaust, geborene Hansen Alva und Gunnar Myrdal mit Töchtern Vera und Bruno Kreisky mehrere nationale, wie internationale Genossen und Kameraden einige Mitschüler einige Lehrer ein paar Polizisten ein bekannter Schriftsteller
Erster Akt
Szene 1Dezember 1918. Lübeck, in einer Wohnung. Ludwig Frahm* sitzt mit seiner Tochter Martha* und seinem Enkel Herbert kurz nach dem Abendessen zusammen am Essenstisch.MARTHA FRAHMsteht aufUnd nun der Nachtisch...HERBERT FRAHMfreut sichEs gibt etwas zum Nachtisch, Mama?MARTHA FRAHM Natürlich. Es passiert nicht jeden Tag, dass mein Sohn fünf Jahre alt wird.Martha Frahm stellt einen Kuchen auf den Tisch und streicht ihm dann über den Kopf.LUDWIG FRAHMzu Martha FrahmVerwöhn ihn nicht zu sehr, Liebes.MARTHA FRAHMsetzt sichNormalerweise gebe ich dir recht, doch dieses Jahr gibt es so vieles zu feiern, und nicht nur sein Geburtstag. Der Krieg ist endlich aus und du bist wieder zurück bei uns. Ich bin mit meinen liebsten Männern vereint.LUDWIG FRAHM Da wir von 'Männern' reden - hat sich der Vater des Jungen gemeldet?MARTHA FRAHMschneidet den Kuchen anNein. Aber ich möchte es nicht.LUDWIG FRAHM Ob du es willst oder nicht, ist unwichtig. Ein wenig für den Unterhalt könnte er sorgen.MARTHA FRAHM Das tut er.LUDWIG FRAHM Nur ab und an, mein Liebes. Und davon könnt ihr nicht leben.MARTHA FRAHMverteilt den KuchenIch schaffe auch ohne seine finanzielle Unterstützung, genauso wie den Rest der Erziehung von Herbert.LUDWIG FRAHM Das glaube ich dir, denn schließlich habe ich dich zu einer starken Frau erzogen. Wenn du jedoch den ganzen Tag arbeitest, wer kümmert sich um den Jungen?MARTHA FRAHM Das habe ich dir schon gesagt: meine Nachbarin kümmert sich gerne um Herbert und bald wird er in die Schule gehen können.LUDWIG FRAHMschüttelt den KopfTatsächlich hast du mir das an die Front geschrieben. Es war eine gute Lösung; sie ist eine gutherzige Frau. Aber das war es nur für eine gewisse Zeit, denn geistig wird er durch sie weder gefordert noch gefördert.MARTHA FRAHM Herbert ist erst fünf Jahre alt!HERBERT FRAHMzu Martha FrahmDarf ich den Kuchen jetzt essen, Mama?MARTHA FRAHMnickt,zu Herbert FrahmIch hoffe, dass er dir schmeckt...Herbert Frahm beginnt, den Kuchen zu essen.LUDWIG FRAHM Herbert braucht einen Mann, der ihm die Werte unseres Volkes beibringt. Und wenn sein Vater...MARTHA FRAHMunterbricht, aufgebrachtLass seinen Vater aus dieser Diskussion! Er ist ein Niemand aus Hamburg und er möchte weder mit mir noch mit Herbert etwas zu tun haben! Es ist besser für uns, wenn wir keinen Kontakt zu ihm haben!LUDWIG FRAHMnach kurzer Pause, zu Martha FrahmMeine Liebe, ich wollte dich nicht verärgern. Mir geht es nur um Herbert. Soll er denn leben, ohne zu wissen, was um ihn herum passiert? Wie soll er etwas von unserer politischen Lage erfahren?MARTHA FRAHMruhigIch gebe mein Bestes. Er war in der sozialdemokratischen Krabbelgruppe und auch sonst erziehe ich ihn in den Werten der Partei.LUDWIG FRAHMzweifelndUnd wann passiert das, wenn du sechs Tage in der Woche arbeitest?!MARTHA FRAHM Es geht schon...LUDWIG FRAHM Nein.Martha Frahm sieht stumm zu ihmAb sofort werde ich mich um den Jungen kümmern, während du arbeitest. Ich werde ihm zu verstehen geben, was es bedeutet, aus der Arbeiterklasse zu kommen und trotzdem stolz auf seine Herkunft zu sein. Die sozialdemokratischen Werte, die ich dich gelehrt habe, werde ich ihm ebenfalls beibringen. So wird er ein aufrechter Mann werden.MARTHA FRAHMerstauntDu möchtest dich um Herbert kümmern?LUDWIG FRAHMnicktAls wäre er mein eigener Sohn.MARTHA FRAHMdenkt kurz nachMir soll es recht sein, wenn er bei der Familie ist statt bei Bekannten. Morgen gebe ich der Nachbarin Bescheid, dass Herbert nicht mehr zu ihr kommt.LUDWIG FRAHMklopft Herbert Frahm auf den RückenAus dir wird ein strammer Junge.Herbert Frahm verschluckt sich ein wenig am Kuchen und sieht hoch, sagt nicht.MARTHA FRAHMzeigt auf den Teller vor Ludwig FrahmUnd nun komm, iss endlich. Herbert hat schon aufgegessen.HERBERT FRAHMzu Martha FrahmMama, darf ich noch ein weiteres Stück Kuchen.Ludwig Frahm und Martha Frahm lachen auf.MARTHA FRAHM Aber sicher, mein Liebling.gibt ihm ein weiteres KuchenstückLUDWIG FRAHMzu Martha FrahmHunger hat er schon genug; nun wird er noch den Verstand bekommen.Beide fangen ebenfalls an, den Kuchen zu essen.Später.Martha Frahm kommt in die Wohnküche und fängt an, abzuwaschen. Ludwig Frahm sitzt am Tisch und raucht.LUDWIG FRAHM Schläft Herbert endlich?MARTHA FRAHM Ja, er ist eingeschlafen. Seine Bauchschmerzen haben nachgelassen. Es war wohl zu viel Kuchen für ihn.wechselt das ThemaMöchtest du dich wirklich um ihn kümmern, während ich arbeite? Er ist noch so jung.LUDWIG FRAHM Keine Sorge, mein Kindchen. Mit ihm werde ich fertig. Und um alles andere wird sich Dora kümmern.MARTHA FRAHM Du meinst Dorothea?LUDWIG FRAHMnicktIch werde sie heiraten.MARTHA FRAHMtraurigMutter ist noch nicht lange tot.LUDWIG FRAHM Es sind schon fast fünf Jahre und ich brauche eine Frau an meiner Seite.MARTHA FRAHM Ich verstehe es schon...LUDWIG FRAHM Aber du vermisst sie immer noch. Ich kann es dir nicht verdenken. Sie war eine sehr liebevolle Frau. Sonst hätte ich sie nicht geheiratet, obwohl sie dich damals mit in die Ehe brachte und du nicht meins warst. Doch ist das Vergangenheit, Martha. Ich möchte nun optimistisch nach vorne sehen, vor allem für Herbert. Er soll eine gute Zukunft haben.Martha Frahm nicktIch werde schlafen gehen. Gute Nacht.MARTHA FRAHM Schlaf gut.Szene 2April 1920. Lübeck, in der Wohnung von Ludwig Frahm. Nach der Einschulung von Herbert Frahm sitzt dieser bei seiner Mutter, seinem Großvater und dessen Frau Dorothea.DOROTHEAzu HerbertFrahmUnd wie gefiel dir dein erster Schultag?HERBERT FRAHM Es war ziemlich aufregend. Nur manchmal war es oft schwer, alle zu verstehen, gerade so, als würden sie eine andere Sprache sprechen.LUDWIG FRAHMzu HerbertFrahmSie sprechen nur Hochdeutsch, kein Plattdeutsch wie wir. Daran wirst du dich gewöhnen müssen.HERBERT FRAHMnickt, zu LudwigFrahmUnd ich habe viele, neue Kinder kennen gelernt.DOROTHEAverwundert, zu HerbertFrahmHast du keinen deiner Freunde gesehen?HERBERT FRAHMtraurigNein. Sie sind alle auf einer anderen Schule.Martha Frahm horcht auf, schweigt jedoch.LUDWIG FRAHMzu Herbert FrahmMach dir keine Sorgen; du wirst in der Schule schnell andere Freunde finden.HERBERT FRAHM Das mache ich nicht, Papa1.LUDWIG FRAHMverwundertPapa?HERBERT FRAHM Darf ich dich so nicht nennen?LUDWIG FRAHM Wenn du es möchtest, darfst du es gerne, mein Sohn.lächelt und streicht ihm liebevoll über den KopfMARTHA FRAHMzu ihrem SohnMöchtest du nicht sehen, was in deiner Schultüte ist?HERBERT FRAHMglücklichMeine Schultüte! Natürlich. Ich habe sie fast vergessen.geht abDOROTHEA Ich sehe mal nach, ob ich ihm helfen kann.folgt ihmMARTHA FRAHM Glaubst du immer noch, dass es die beste Idee gewesen ist, Herbert auf die „Lübecker Knabenschule“ zu schicken? Er ist nur an Plattdeutsch gewöhnt und soll nun so plötzlich auf Hochdeutsch lernen. Und hast du gesehen, wie traurig er war, dass seine Freunde nicht bei ihm waren?LUDWIG FRAHM Das ist lächerlich. Herbert muss sowieso hochdeutsch lernen, um voran zu kommen.MARTHA FRAHM Und was ist mit seinen Freunden?LUDWIG FRAHM Er wird darüber hinweg kommen und neue finden, so wie ich es gesagt habe.MARTHA FRAHM Keiner der Nachbarskinder geht auf diese Schule. Sie sind alle auf der näher gelegenen Volksschule.LUDWIG FRAHM Eine gemeine Volksschule? Für Herbert? Er ist viel zu klug und gerissen dafür. Er hat ein großes, schulisches Potenzial.MARTHA FRAHM Du siehst in ihm viel zu oft schon einen Akademiker. Doch er ist hier zuhause - in der Arbeiterschicht.LUDWIG FRAHM Und dort soll er bleiben? So wie wir, die für jede Mark so hart arbeiten und uns trotzdem kaum unterhalten können? Verstehe mich nicht falsch: er soll immer wissen, woher er kommt. Vielleicht kann er dennoch mehr erreichen als wir.MARTHA FRAHM Ich meine nur, dass er sich besser hocharbeiten kann als schon so viel Druck mit sechs Jahren zu bekommen, nur weil sein Großvater glaubt, es sei das Beste für ihn.LUDWIG FRAHM Mir ist gleich, was du glaubst.MARTHA FRAHMfassungslosWie bitte?LUDWIG FRAHM Das Kind wächst bei mir auf.MARTHA FRAHM Ich muss arbeiten...LUDWIG FRAHM Das weiß ich.MARTHA FRAHM Dann rede nicht so herablassend. Ich versuche so gut es geht, ihm eine Mutter zu sein und ihm eine gute Erziehung zukommen zu lassen.LUDWIG FRAHMzweifelndWann?MARTHA FRAHM Was meinst du damit?LUDWIG FRAHM Seit Dora und ich ihn letztes Jahr zu uns genommen haben und er bei uns wohnt, siehst du ihn sowieso nur noch für wenige Stunden ein oder zwei Mal pro Woche. Ich sorge die meiste Zeit für ihn und seine geistige Entwicklung. Deshalb bin ich mir sicher, die richtige Wahl getroffen zu haben, als ich ihn auf der „Knabenschule“ angemeldet habe. Oder möchtest du den Jungen wieder zu dir nehmen?MARTHA FRAHMnach einer PauseNein. Ich mache mir nur Sorgen, dass er es nicht schaffen könnte.LUDWIG FRAHM Ich mache mir ebenfalls Sorgen. Aber nur um seine Zukunft, wenn er nicht richtig gefördert wird. Alles andere wird er schon schaffen.MARTHA FRAHMnicktDu hast recht.LUDWIG FRAHMberuhigendGlaub mir, Herbert wird es dort besser gehen als unter seines Gleichen in der Volksschule.Und was hältst du davon, dass wir nun zu ihm gehen? Es ist sein Tag und wir sollten hier nicht nur über ihn reden, sondern auch bei ihm sein.MARTHA FRAHM Das ist in Ordnung.
Szene 3
Juni 1923. Lübeck, auf der Straße vor einer Bäckerei. Der neunjährige Herbert Frahm sieht von außen hinein, ein gleichaltriger Junge mit Ball kommt vorbei.
JUNGEruftHerbert! HERBERT FRAHM Moin, Albert. ALBERT Was machst du da? HERBERT FRAHM Nichts. Ich sehe mir nur an, was ich mir kaufen würde, wenn ich das Geld hätte. Ein schönes, weiches Brot vielleicht. Oder sogar ein paar Kekse. ALBERTsieht auch in die BäckereiIch würde lieber einen Kuchen haben wollen. zeigt auf einen KuchenSiehst du den da?zeigt auf eine TorteOder die Torte mit Sahne. HERBERT FRAHM Ich sollte lieber gehen. Bei dem Anblick bekomme ich nur noch mehr Hunger. ALBERT Kannst du nichts zuhause essen? HERBERT FRAHM Nein. Papa arbeitet doch nicht und wir haben deshalb nicht viel zu essen. Es ist mir verboten, neben den Mahlzeiten zu essen. Er sagt, wir müssen durch schwere Zeiten. ALBERT Bei uns ist das ähnlich. Willst du dann mit mir spielen? Hier, ich habe den Ball dabei, von dem ich in der Schule gesprochen habe.Albert präsentiert Herbert Frahm seinen Ball.
HERBERT FRAHMbegeistertSuper.
Herbert Frahm möchte den Ball an sich nehmen, aber er lässt ihn aus Versehen fallen. Der Ball rollt davon, vor die Füße eines Mannes, der gerade aus der Bäckerei kommt und fast über diesen stolpert.
HERBERT FRAHM Entschuldigung. ALBERT Mir auch.nimmt den Ball und rennt weg MANNlächeltDein Freund ist schnell. Dabei ist gar nichts passiert. Warte mal, bist du nicht der Frahm-Junge? HERBERT FRAHM Ja, das bin ich. Herbert Frahm. Woher wissen Sie, wer ich bin? MANN Erkennst du mich nicht mehr? Ich bin der Chef von deinem Großvater, Oskar Schweichler. Auf der letzten Weihnachtsfeier hast du ihn begleitet und wir haben uns sogar unterhalten. HERBERT FRAHM Jetzt erinnere ich mich. Doch er arbeitet nicht mehr für Sie. OSKAR SCHWEICHLERbetontMomentan nicht. Er befindet sich lediglich im Streik.HERBERT FRAHM Was bedeutet das?OSKAR SCHWEICHLER Streik bedeutet, wenn Arbeiter nicht arbeiten, um ihre eigenen Interessen durchzusetzen. Dein Großvater und seine Freunde meinen, sie hätten mehr Geld verdient.HERBERT FRAHM Ist es denn nicht richtig, wenn sie mehr Geld haben möchten? Mein Großvater sagt immer, dass das Geld nicht einmal für unser Essen reicht.OSKAR SCHWEICHLER Das tut mir leid, aber ich kann ihm nicht mehr geben.HERBERT FRAHM Warum nicht?OSKAR SCHWEICHLER Weil ich sonst selbst kein Geld mehr verdiene. Und ich habe auch meine eigene Familie.HERBERT FRAHMbetrübtDas stimmt schon.OSKAR SCHWEICHLERwechselt das ThemaWas machst du eigentlich hier? HERBERT FRAHM Ich sehe mir nur an, was ich kaufen möchte. OSKAR SCHWEICHLER Da gibt es in der Tat sehr viel. HERBERT FRAHM Ich habe so einen großen Hunger.OSKAR SCHWEICHLERnachdenklichWas würdest du sagen, wenn ich dir Brot kaufen würde? Ein kleines Geschenk sozusagen.HERBERT FRAHMerfreutDas wäre großartig. OSKAR SCHWEICHLER Na dann, komm!
Herbert Frahmund Oskar Schweichler gehen in die Bäckerei und kaufen zwei Laibe Brot.
HERBERT FRAHM Vielen Dank! OSKAR SCHWEICHLER Das ist doch kein Problem. Nun, geh nach Hause. Und grüß deinen Großvater von mir.HERBERT FRAHM Das werde ich tun. Tschüss.
Herbert Frahm rennt mit dem Brot nach Hause. Er betritt die Wohnung und geht in die Küche. Sein Großvater Ludwig Frahm repariert einen Küchenschrank und singt dabei das Arbeiterlied ‚Brüder zur Sonne, zur Freiheit‘. Herbert Frahm sieht ihn an, sagt nichts.
LUDWIG FRAHMerblickt Herbert Frahm,erfreutHerbert! Du hast mich überrascht.sieht das Brot, ernstWo hast du das her? Hast du es etwa gestohlen? HERBERT FRAHM Nein, nein. Das ist von Herrn Schweichler. Er lässt dich grüßen.LUDWIG FRAHMsetzt sich auf einen StuhlDu hast das Brot von Herrn Schweichler, meinem Chef?HERBERT FRAHM Ja. Ich habe ihn zufällig getroffen. Als ich ihm sagte, dass ich Hunger habe, hat er mir das Brot gekauft und geschenkt.Ludwig Frahm winkt seinen Enkel zu sich. Dieser geht zu ihm. Als er vor seinem Großvater steht, legt dieser seine Hände auf dessen Schultern und sieht ihn tief in die Augen.LUDWIG FRAHM Herbert, du musst mir nun mal genau zuhören.Herbert Frahm nicktIch bin im Streik. Weißt du, was das bedeutet?HERBERT FRAHM Herr Schweichler sagte, es bedeutet, dass du mehr Geld von ihm möchtest. Und das kann er dir nicht geben, weil er selbst das Geld braucht.LUDWIG FRAHM Das ist sehr einseitig gedacht. Natürlich braucht er das Geld: um noch reicher zu werden. Wir brauchen es zum Überleben!HERBERT FRAHM Das ist nicht nett.LUDWIG FRAHM Es ist nicht nur ‚nicht nett‘, sondern ungerecht. Meine Freunde und ich arbeiten hart und wollen dann genug Geld haben, um nicht hungern zu müssen. Wir alle haben Familien zu ernähren. Außerdem wollen wir bessere Arbeitsbedingungen.HERBERT FRAHM Was heißt das?LUDWIG FRAHM Das heißt, dass wir nicht mehr bis zur Erschöpfung arbeiten wollen, sondern zwischen unseren Fahrten mit dem Lastwagen häufiger Pausen machen können.HERBERT FRAHM Und deshalb arbeitet ihr momentan nicht?LUDWIG FRAHM So ist es. Herr Schweichler kann sich nun entscheiden: entweder er gibt uns, was wir wollen, oder wir arbeiten nicht mehr für ihn. HERBERT FRAHM Aber vielleicht könnte er es ohne euch machen. Oder er findet jemand anderes, um die Arbeit zu machen.LUDWIG FRAHM Das darf er nicht, Herbert. Gesetzlich dürfen Arbeiter streiken, um ihre Interessen durchzusetzen. Zudem wird er es nicht tun. Die Arbeit ist sehr anstrengend und viel zu viel für nur eine Person. Und andere werden nicht für ihn arbeiten wollen, wenn er nicht gut zahlt und auf die Interessen seiner Arbeiter eingeht.HERBERT FRAHM Also wird er dir bald wieder Geld geben? Und mehr Pausen?LUDWIG FRAHM Das wird sich bald zeigen.HERBERT FRAHM Und währenddessen können wir das Brot essen?LUDWIG FRAHM Nein. Das wirst du zurück bringen.HERBERT FRAHM Was? Warum? Können wir es nicht behalten? Ich habe so einen Hunger. Und es war ein Geschenk.LUDWIG FRAHM Ein streikender Arbeiter nimmt kein Geschenk von seinem Chef an, denn momentan ist er der Feind und wir lassen uns vom ihm nicht bestechen. Wir sind keine Bettler, die man mit Almosen abspeist. Wir wollen unser Recht, keine Geschenke. Also, bring das Brot zurück!