Gemeinsam leben, gemeinsam wachsen - Daniel Siegel - E-Book

Gemeinsam leben, gemeinsam wachsen E-Book

Daniel Siegel

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Beschreibung

Wie funktionieren Erinnerungen, Gefühle und Kommunikation im Geflecht unserer alltäglichen Beziehungen? Und wie können sie zu einer liebevollen und sicheren Beziehung zu unseren Kindern beitragen? Unter Bezug auf neueste Forschungsergebnisse aus Hirn- und Beziehungsforschung erläutern Daniel Siegel und Mary Hartzell, wie sich zwischenmenschliche Beziehungen direkt auf die Entwicklung des menschlichen Gehirns auswirken. Feinfühlig skizziert das Autorenduo hierbei den Kern der Beziehung zwischen Eltern und Kind, indem sie den Blick auf die familiäre Interaktion Schicht um Schicht von den oftmals unangemessenen und eingeschliffenen Erziehungspraktiken befreien. Gemeinsam leben, gemeinsam wachsen ist aus einer Reihe von Seminaren erwachsen, die Daniel Siegels Forschungsarbeit mit Mary Hartzells Erfahrungen aus der Beratung von Eltern und Erziehern verknüpfen. Entstanden ist so ein sehr praxisnahes Buch, das vor allem Eltern helfen kann, ihr eigenes Verhalten in größerer Tiefe zu verstehen.

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Daniel J. Siegel & Mary Hartzell

Gemeinsam leben, gemeinsam wachsen

Für unsere Kinder:

Für die Freude und die Weisheit, die sie in unser Leben bringen,

und in tiefer Dankbarkeit für unsere Eltern:

Für das kostbare Geschenk des Lebens

und für alles, was wir von ihnen gelernt haben

1.  Auflage 2020

Copyright © 2003 by Daniel J. Siegel und Mary Hartzell

Copyright der deutschen Ausgabe: Arbor Verlag, Freiamt, 2004.

Published by arrangement with Jeremy P. Tarcher,

a member of Penguin Group (USA) Inc.

First published in the United States under the title

Parenting from the Inside Out by Daniel J. Siegel and Mary Hartzell

Lektorat: Eva Bachmann

E-Book-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim, www.brocom.de

Alle Rechte vorbehalten

E-Book 2020

www.arbor-verlag.de

ISBN E-Book: 978-3-86781-335-8

Inhalt

Einführung

Kapitel 1: Wie wir uns erinnern

Kapitel 2: Wie wir die Realität wahrnehmen

Kapitel 3: Wie wir fühlen

Kapitel 4: Wie wir kommunizieren

Kapitel 5: Wie wir uns binden

Kapitel 6: Wie wir unser Leben verstehen

Kapitel 7: Wie wir uns zusammennehmen oder zusammenbrechen

Kapitel 8: Wie wir uns trennen und wieder verbinden

Kapitel 9: Wie wir die Geistsicht entwickeln

Einige Gedanken zum Abschluss

Dank

Weiterführende Literatur

Einführung

Erziehung von innen heraus

Die Art und Weise, wie man die Erfahrungen seiner Kindheit verarbeitet, hat tief greifende Auswirkungen auf die Erziehung der eigenen Kinder. In diesem Buch untersuchen wir, wie sich Selbstkenntnis auf unsere Vorstellungen von unserer Rolle als Eltern auswirkt. Wenn wir uns selbst besser verstehen, hilft uns das, eine bessere und freudvollere Beziehung zu unseren Kindern aufzubauen.

Indem wir an uns wachsen und uns selbst besser verstehen, bieten wir unseren Kindern ein Maß an emotionalem Wohlbefinden und Sicherheit, auf dessen Grundlage sie sich gut entwickeln können. Untersuchungen über die Entwicklung von Kindern haben gezeigt, dass die Qualität einer Eltern-Kind-Bindung sehr stark davon abhängt, wie gut Eltern ihre eigenen frühen Lebenserfahrungen verarbeitet haben. Entgegen einer weit verbreiteten Annahme bestimmen frühe Erfahrungen nicht zwingend unser Schicksal. Wenn man eine schwierige Kindheit hatte und sich mit diesen Erfahrungen auseinander gesetzt hat, muss man nicht zwangsläufig die gleiche problematische Beziehung mit seinen eigenen Kindern nachbilden. Es ist jedoch wissenschaftlich erwiesen, dass sich die Geschichte ohne Selbstkenntnis wahrscheinlich wiederholen wird, da Familien negative Beziehungsmuster von Generation zu Generation weitergeben. Dieses Buch soll dabei helfen, die Vergangenheit und Gegenwart unseres Lebens besser zu verstehen, indem wir uns bewusst machen, wie unsere Kindheit unser Leben beeinflusst und wie sie sich auf unsere Rolle als Eltern auswirkt.

Wenn wir Eltern werden, erhalten wir die wunderbare Gelegenheit, uns selbst weiterzuentwickeln, denn wir erleben erneut eine innige Eltern-Kind-Beziehung, dieses Mal jedoch in einer anderen Rolle. Immer wieder sagen Eltern: „Ich hätte nie gedacht, dass ich meinen Kindern all die Dinge antun oder sagen würde, die mich selbst als Kind verletzt haben. Und doch ertappe ich mich dabei.“ Sie fühlen sich vielleicht in wiederkehrenden, unproduktiven Verhaltensmustern gefangen, die in keiner Weise zu der liebevollen und fördernden Beziehung beitragen, welche sie sich zu Beginn ihrer Elternrolle ausgemalt haben. Wenn sie ihre Lebenserfahrungen verarbeiten, können Eltern sich von den Mustern der Vergangenheit befreien, die sie in der Gegenwart gefangen halten.

Über die Autoren

Die Autoren lassen ihre unterschiedlichen beruflichen Erfahrungen aus ihrer Arbeit mit Eltern und Kindern in dieses Buch einfließen. Daniel Siegel ist Kinderpsychologe und Mary Hartzell Erzieherin. Beide sind selbst Eltern: Daniel Siegel hat schulpflichtige Kinder, Mary Hartzells Kinder sind erwachsen und haben bereits eigene Kinder.

Mary Hartzell leitet einen Kindergarten und arbeitet seit über dreißig Jahren als Erzieherin mit Kindern und Familien. Sie arbeitet mit Kindern, Eltern und Lehrern und berät Eltern individuell. Sie konnte am Leben vieler Familien teilhaben und dabei viel über die Freuden und Frustrationen lernen, welche mit dieser manchmal entmutigenden Aufgabe des Elternseins einhergehen. Bei der Ausarbeitung ihrer Kurse für Eltern fand Mary Hartzell heraus, dass Eltern, die ihre Kindheitserfahrungen aufarbeiten konnten, beim Umgang mit ihren eigenen Kindern eine bessere Auswahl der Mittel hatten.

Mary Hartzell und Daniel Siegel begegneten sich, als seine Tochter den Kindergarten besuchte, den Mary Hartzell leitete. In dieser Einrichtung wird ein Ansatz verfolgt, der die emotionalen Erfahrungen von Kindern in jeder Hinsicht respektiert und die Würde und Kreativität von Kindern, Eltern und Erziehern unterstützt. Zu jener Zeit hielt Daniel Siegel im Rahmen der Elternbildung an ebendiesem Kindergarten einige Vorträge über Gehirnentwicklung. Als Mary und Dan klar wurde, dass ihre Erziehungsansätze in der gleichen Richtung verliefen, beschlossen sie, gemeinsam ein Seminar auszuarbeiten, das beide Gesichtspunkte integrierte.

Dans Interesse an der Entwicklungsforschung und seine Arbeit als Kinderpsychologe eröffneten eine andere, ergänzende Perspektive. Seit mehr als zehn Jahren arbeitet er daran, durch eine Synthese zahlreicher wissenschaftlicher Disziplinen eine umfassende Basis für die Entwicklungsforschung zu schaffen, auf der man zu einem besseren Verständnis von Geist, Gehirn und menschlichen Beziehungen gelangen kann. Diese interdisziplinäre Annäherung wurde in den USA unter dem Namen „interpersonelle Neurobiologie“ bekannt und nach und nach zum Bestandteil einer Reihe berufsbezogener Fortbildungsprogramme für geistige und emotionale Gesundheit. Als sein Buch über die Entwicklung des Geistes mit dem Titel The Developing Mind. Toward a Neurobiology of Interpersonal Experience 1999 in den USA erschien, gaben Mary und Dan bereits ihre ersten Kurse. Das begeisterte Echo der Eltern inspirierte sie dazu, gemeinsam dieses Buch zu erarbeiten. Viele der Eltern bemerkten während der Seminare, wie sehr ihnen diese Ideen dabei halfen, sich selbst besser zu verstehen und eine sinnerfüllte Beziehung zu ihren Kindern aufzubauen. „Warum schreiben Sie nicht gemeinsam ein Buch, so dass auch andere an dieser spannenden Kombination von Wissenschaft und Weisheit – und der Energie – teilhaben können, die Sie in dieses Seminar eingebracht haben?“, drängten zahlreiche Eltern.

Die Vorstellung, diesen Ansatz mit anderen zu teilen, ist sehr aufregend. Möge dieses Buch auf unterhaltsame und verständliche Weise einige dieser praktischen Gedanken über die Kunst und die Wissenschaft davon vermitteln, wie man Beziehungen und Selbsterkenntnis kultivieren kann. Die Autoren hoffen, dass dieses Buch Eltern und Kindern dazu verhelfen wird, jeden Tag mehr Freude aneinander zu haben.

Beziehungen knüpfen und sich selbst verstehen

Die Art und Weise, wie wir mit unseren Kindern kommunizieren, beeinflusst in großem Maße ihre Entwicklung. Unsere Fähigkeit zu einer einfühlsamen und wechselseitigen Kommunikation trägt dazu bei, dass ein Kind sich sicher fühlt, und dieses Vertrauen in sichere Bindungen hilft Kindern in vielen Bereichen ihres Lebens. Wie sehr wir unseren Kindern durch wirksame Kommunikation ein Gefühl der Sicherheit vermitteln können, hängt in hohem Maße davon ab, wie gut wir unsere eigenen frühen Erlebnisse verarbeitet haben. Indem wir unser Leben verstehen, verstehen und integrieren wir unsere eigenen Kindheitserfahrungen, positive wie negative, und akzeptieren sie als Teil unserer fortlaufenden Lebensgeschichte. Wir können nicht ändern, was uns als Kind widerfahren ist, wohl aber unsere Sichtweise dieser Erlebnisse.

Um anders über unser Leben denken zu können, müssen wir uns unsere heutigen Erfahrungen mitsamt all unseren Gefühlen und Wahrnehmungen bewusst machen, und wir müssen verstehen, wie sich Ereignisse aus unserer Vergangenheit auf unsere Gegenwart auswirken. Wenn wir wissen, wie sich unsere Erinnerungen formen und wie wir zu unserem Bild von uns selbst als Teil der Welt, in der wir leben, gelangen, können wir besser verstehen, welchen Einfluss unsere Vergangenheit noch immer auf unser Leben ausübt. Wie hilft das unseren Kindern? Wenn wir uns aus den Fesseln unserer Vergangenheit lösen, können wir genau die spontanen und verbindenden Beziehungen zu unseren Kindern aufbauen, die sie benötigen, um zu gedeihen. Je besser wir unsere eigenen emotionalen Erfahrungen verstehen, desto besser können wir uns auf unsere Kinder einstellen und ihr Selbstverständnis und ihre gesunde Entwicklung unterstützen.

Ohne Aufarbeitung wiederholt sich die Geschichte häufig, und Eltern laufen Gefahr, ungute Verhaltensmuster aus ihrer eigenen Vergangenheit an ihre Kinder weiterzugeben. Wenn wir unser eigenes Leben verstehen, kann uns das aus der sonst sehr wahrscheinlich entstehenden Situation befreien, dass wir unseren Kindern das Gleiche antun, was uns in unserer Vergangenheit widerfahren ist. Studien haben deutlich gezeigt, dass die Bindung unserer Kinder an uns von all dem beeinflusst wird, was uns in unserer Jugend geschah, wenn wir diese Erfahrungen nicht aufarbeiten. Indem wir unser eigenes Leben verstehen, verstehen wir auch uns selbst besser und gelangen zu einem stimmigen Bild von unseren Gefühlen, von unserer Sichtweise und von unserem Austausch mit unseren Kindern.

Natürlich wird die Persönlichkeitsentwicklung jedes Kindes durch eine Vielzahl von Faktoren beeinflusst, unter anderem durch Veranlagung, Temperament, körperliche Gesundheit und Erfahrung. Eltern-Kind-Beziehungen sind eine wichtige Quelle früher Erfahrungen, die einen direkten Einfluss darauf haben, wie sich die gerade entstehende Persönlichkeit eines Kindes formt. Emotionale Intelligenz, Selbstwertgefühl und kognitive und soziale Fähigkeiten basieren auf dieser frühen Bindungsbeziehung. Wie Eltern über ihr eigenes Leben nachgedacht haben, wirkt sich unmittelbar auf die Art dieser Beziehung aus.

Selbst wenn wir gelernt haben, uns selbst gut zu verstehen, werden unsere Kinder doch ihren eigenen Weg durchs Leben gehen. Auch wenn wir ihnen durch unsere Selbsterkenntnis eine sichere Grundlage bieten mögen, so können wir in unserer Rolle als Eltern die Entwicklung unserer Kinder lediglich unterstützen, ein Ergebnis garantieren können wir nicht. Untersuchungen liefern jedoch Anhaltspunkte dafür, dass Kinder mit einer positiven Beziehung flexibler mit den Herausforderungen des Daseins umgehen können. Um eine positive Beziehung zu unseren Kindern aufzubauen, müssen wir für unser eigenes Wachstum und für unsere Entwicklung offen sein.

Durch Reflexion können wir zu einem stimmigeren Bild unserer eigenen Lebensgeschichte gelangen und unsere Beziehung zu unseren Kindern verbessern. Es gibt keine „perfekte“ Kindheit, und manche von uns mussten mehr Herausforderungen begegnen als andere. Doch selbst Menschen mit einer überaus schwierigen Vergangenheit können diese aufarbeiten und eine sinnvolle und bereichernde Beziehung zu ihren Kindern erlangen. Das spannende Ergebnis einiger Untersuchungen zeigt, dass auch Eltern, die selbst keine „guten“ Eltern oder sogar eine traumatische Kindheit hatten, ihr Leben aufarbeiten und gesunde Beziehungen eingehen können. Für unsere Kinder ist nicht so wichtig, was uns in unserer Vergangenheit widerfahren ist, sondern vielmehr, wie wir damit umgehen. Und wir haben ein Leben lang die Gelegenheit, uns zu verändern und zu entwickeln.

Über dieses Buch

Dieses Buch ist keine Gebrauchsanleitung für Erziehung, sondern ein Wegweiser zu uns selbst. Wir werden neue Erkenntnisse über das Leben mit Kindern auskundschaften, indem wir untersuchen, wie wir uns erinnern, wie wir wahrnehmen, fühlen, kommunizieren, uns binden, Bedeutung erfahren, uns trennen und wieder verbinden, und mit unseren Kindern über die Natur ihrer inneren Erfahrungen nachdenken. Wir werden die neuere Forschung hinsichtlich Eltern-Kind-Beziehungen erkunden und dabei neue Erkenntnisse über die Hirnforschung einbeziehen. Indem wir wissenschaftliche Erkenntnisse über unser Erleben und unsere Bindungen untersuchen, erhalten wir eine neue Perspektive, die uns helfen kann, uns selbst, unsere Kinder und unsere Beziehungen zueinander besser zu verstehen.

Die „Übungen von innen heraus“ am Ende jedes Kapitels können dazu verwendet werden, neue Möglichkeiten für unser inneres Selbstverständnis und unseren Austausch mit anderen zu erforschen. Die Überlegungen, zu welchen diese Übungen Anlass geben, haben vielen Eltern geholfen, aktuelle und vergangene Erlebnisse besser zu verstehen, und sie befähigt, ihr Verhältnis zu ihren Kindern zu verbessern.

Wenn Sie Ihre Er fahrungen aus diesen Übungen niederschreiben, kann Sie das zu einem intensiveren Nachdenken und zu einem besseren Selbstverständnis führen. Das Schreiben kann Ihnen dabei helfen, den Kopf von den Verstrickungen der Vergangenheit frei zu bekommen. Tragen Sie in Ihr Tagebuch ein, was immer Sie möchten: Zeichnungen, Überlegungen, Beschreibungen, Geschichten … Manche mögen überhaupt nichts aufschreiben, sondern reflektieren lieber in Ruhe für sich oder sprechen mit einem Freund oder einer Freundin. Andere schreiben gern jeden Tag in ein Tagebuch oder immer dann, wenn ein Erlebnis oder ein Gefühl sie dazu bewegt. Tun Sie das, wonach Ihnen ist. Der Wert der Übungen erschließt sich durch eine offene Einstellung und sorgfältiges Nachdenken.

Die Abschnitte „Im Licht der Wissenschaft“ am Ende jedes Kapitels bieten dem interessierten Leser zusätzliche Informationen über Forschungsergebnisse zum Leben mit Kindern. Diese Abschnitte sind nicht essentiell notwendig, um dieses Buch zu verstehen und damit arbeiten zu können. Sie enthalten weiterführende, leicht verständlich aufbereitete Informationen, die einen tieferen Einblick in die wissenschaftlichen Grundlagen dieses Buches geben, und wir hoffen, dass Sie diese als nützlich und zum Nachdenken anregend empfinden. Jeder dieser Abschnitte bezieht sich zwar auf das jeweils aktuelle Kapitel, sie sind jedoch vom Haupttext unabhängig und können auch jeder für sich gelesen werden. Alle wissenschaftlichen Abschnitte zusammen verschaffen eine interdisziplinäre Sicht auf jene Aspekte der Forschung, die für das Leben mit Kindern wichtig sind.

Unter Wissenschaftlern gibt es die Redewendung, dass „der Zufall den vorbereiteten Geist begünstigt“. Kenntnisse über Entwicklungsforschung und menschliches Erleben können Sie darauf vorbereiten, ein tieferes Verständnis von Ihrem eigenen und dem emotionalen Leben Ihrer Kinder zu entwickeln. Ganz gleich, ob Sie die wissenschaftlichen Abschnitte direkt nach jedem Kapitel lesen oder sich lieber erst nach Abschluss des gesamten zentralen Textes näher damit befassen – wir hoffen, dass Sie einfach Ihren eigenen bevorzugten Lernstil berücksichtigen.

Über Erziehung

Dieses Buch wird Sie ermutigen, sich dem Thema Erziehung auf der Basis von Grundprinzipien inneren Verstehens und zwischenmenschlicher Beziehungen anzunähern. Die Eckpunkte für diesen Ansatz einer Eltern-Kind-Beziehung sind Achtsamkeit, lebenslanges Lernen, flexibles Verhalten, Einsicht in die Funktionsweise unseres Geistes und freudvolles Leben.

Achtsam sein

Achtsamkeit ist das Herzstück jeder bereichernden Beziehung. Wenn wir achtsam sind, leben wir im Hier und Jetzt, sind uns unserer eigenen Gedanken und Gefühle bewusst und gleichzeitig offen für diejenigen unserer Kinder. Wenn wir in uns selbst klar und aufmerksam sein können, sind wir fähig, unsere Aufmerksamkeit anderen zu widmen und die individuellen Erfahrungen jedes Einzelnen zu respektieren. Zwei Personen sehen die gleichen Dinge niemals genau gleich. Achtsamkeit respektiert die Einzigartigkeit eines jeden Menschen uns sein Recht auf Selbstbestimmung.

Wenn wir als Eltern völlig präsent sind, wenn wir achtsam sind, dann befähigt dies unsere Kinder, sich selbst in diesem Moment ganz zu erleben. Kinder lernen durch die Art und Weise, wie wir mit ihnen kommunizieren, etwas über sich selbst. Wenn wir mit der Vergangenheit beschäftigt sind oder uns Sorgen um die Zukunft machen, dann sind wir zwar physisch bei ihnen, aber geistig abwesend. Kinder benötigen unsere ungeteilte Aufmerksamkeit nicht rund um die Uhr, wohl aber bei Interaktionen, die unsere Bindung zu ihnen betreffen. Als Eltern achtsam zu sein heißt absichtsvoll handeln. Sie wählen Ihr Verhalten bewusst und haben dabei stets das Wohlergehen Ihrer Kinder im Sinn. Kinder nehmen dies sehr leicht wahr und blühen auf, wenn sie einen absichtsvollen Austausch mit ihren Eltern erleben. In ihrer emotionalen Bindung zu uns entwickeln Kinder dabei ein tieferes Verständnis ihrer selbst sowie die Fähigkeit, Beziehungen einzugehen.

Lebenslanges Lernen

Ihre Kinder bieten Ihnen die Möglichkeit, sich zu entwickeln, und fordern Sie dazu heraus, sich mit unerledigten Angelegenheiten Ihrer eigenen Kindheit zu befassen. Wenn Sie diese Herausforderung als Last empfinden, kann das Leben mit Kindern zu einer lästigen Pflicht werden. Wenn Sie hingegen versuchen, diese Momente als Chance zu begreifen, dann können Sie wachsen und sich weiterentwickeln. Mit der Bereitschaft, ein ganzes Leben lang dazuzulernen, können Sie sich dieser „Entdeckungsreise Erziehung“ mit großer Offenheit nähern.

Der Geist entwickelt sich ein Leben lang weiter. Er wird durch die Aktivität des Gehirns hervorgebracht, so dass die Erkenntnisse der Hirnforschung dazu beitragen können, dass wir uns selbst besser verstehen. Neuere Ergebnisse in den Neurowissenschaften lassen den Schluss zu, dass das Gehirn ein Leben lang sowohl neue Verbindungen und möglicherweise sogar neue Nervenzellen, Neurone, bildet. Die Verbindungen zwischen den Neuronen bestimmen, wie geistige Prozesse hervorgebracht werden. Erfahrungen führen zu neuralen Verbindungen im Gehirn. Daher formen Erfahrungen das Gehirn. Zwischenmenschliche Beziehungen und das Nachdenken über uns Selbst fördern die stetige Entwicklung des Geistes: Als Eltern haben wir die Chance, unaufhörlich zu lernen, indem wir unsere Erfahrungen aus immer wieder neuen Blickwinkeln betrachten. Und wir können bei unseren Kindern eine offene Geisteshaltung unterstützen, indem wir ihre Neugier wach halten und sie bei ihrer immer weiter führenden Erkundung der Welt begleiten. Die komplexen und oft herausfordernden Interaktionen im Leben mit Kindern schaffen uns immer wieder die Gelegenheit, dass unsere Kinder und wir selbst wachsen und uns entwickeln.

Flexibles Verhalten

Sich flexibel verhalten zu können ist eine der größten Herausforderungen für Eltern. Flexibles Verhalten ist die geistige Fähigkeit, eine Vielzahl mentaler Prozesse, beispielsweise Impulse, Ideen und Gefühle, zu sichten und wohlüberlegt zu handeln. Anstatt einfach automatisch auf eine Situation zu reagieren, kann jeder Einzelne abwägen und eine angemessene Handlungsweise bewusst auswählen. Flexible Handlungen sind das Gegenteil einer reflexartigen Handlung. Dazu gehört, dass man Bedürfnisse zurückstellen und impulsives Verhalten zügeln kann. Diese Fähigkeit ist ein Grundstein für emotionale Reife und mitfühlende Beziehungen.

Unter bestimmten Umständen kann unsere Flexibilität gestört sein. Wenn wir müde, hungrig, frustriert, enttäuscht oder wütend sind, können wir vielleicht nicht mehr nachdenken und sind in der freien Wahl unseres Verhaltens eingeschränkt. Wir können ganz von unseren Gefühlen mitgerissen werden und die Übersicht verlieren. In solchen Momenten können wir nicht mehr klar denken und laufen sehr stark Gefahr, überzogen zu reagieren und unseren Kindern Leid zu verursachen.

Kinder fordern uns dazu heraus, flexibel und emotional ausgeglichen zu bleiben. Es ist bisweilen schwierig, Flexibilität und die Bedeutung von Strukturen im Leben eines Kindes richtig auszubalancieren. Eltern können lernen, dieses Gleichgewicht herzustellen und Flexibilität bei ihren Kindern fördern, indem sie selbst im Umgang mit anderen beweglich bleiben. Wenn wir flexibel sind, haben wir die Wahl, wie wir uns verhalten und welchen erzieherischen Ansatz und welche Wertvorstellungen wir unterstützen. Wir können agieren anstatt nur zu reagieren. Mit dieser Flexibilität können wir etliche Emotionen im Zaum halten und, nachdem wir den Standpunkt unseres Gegenübers in Betracht gezogen haben, überlegen, wie wir darauf antworten. Wenn Eltern flexibel auf ihre Kinder eingehen können, ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass auch ihre Kinder Flexibilität entwickeln.

Die Einsicht in die Funktionsweise unseres Geistes

Die Fähigkeit, unsere eigenen geistigen Prozesse und die anderer wahrzunehmen, bezeichnen wir als mindsight, als „Sicht des Geistes“ oder „Einsicht in die Funktionsweise unseres Geistes“. Unser Geist erschafft Abbildungen, so genannte Repräsentationen, von Objekten und Ideen. So können wir zum Beispiel das Bild einer Blume oder eines Hundes in unserem Geist visualisieren, obwohl in unserem Kopf nicht wirklich eine Pflanze oder ein Hund existiert, nur ein neural konstruiertes Symbol, das Informationen über das jeweilige Objekt enthält. Die Geistsicht stützt sich auf dessen Fähigkeit, mentale Bilder seiner selbst zu erschaffen. Diese Fähigkeit erlaubt es uns, unser Augenmerk auf unsere eigenen Gedanken, Gefühle, Wahrnehmungen, Empfindungen, Erinnerungen, Überzeugungen, Einstellungen und Absichten und auf die anderer zu richten. Dies sind die Grundelemente des Geistes, die wir wahrnehmen und verwenden können, um unsere Kinder und uns selbst zu verstehen.

Eltern reagieren auf das Verhalten ihrer Kinder oft, indem sie sich auf den oberflächlichen Eindruck der Erfahrung konzentrieren, und nicht auf die tiefere Ebene des Geistes. Manchmal schauen wir wohl nur auf das Verhalten anderer und nehmen nur die Art und Weise wahr, wie Menschen handeln, ohne die inneren Abläufe zu sehen, die diese Handlungen herbeiführen. Es gibt jedoch eine tiefere Ebene hinter dem Verhalten, die Wurzel unserer Motive und Handlungen. Diese tiefere Ebene ist der Geist. Die Einsicht in die Funktionsweise unseres Geistes erlaubt es uns, unser Augenmerk auf mehr als nur die Oberfläche unserer Erfahrungen zu richten. Eltern, die sich im Umgang mit ihren Kindern auf die geistige Ebene konzentrieren, fördern die Entwicklung von emotionalem Verständnis und Mitgefühl. Mit Kindern über ihre Gedanken, Erinnerungen und Gefühle zu sprechen gibt ihnen wichtige zwischenmenschliche Erfahrungen, die sie benötigen, um sich selbst zu verstehen und ihre sozialen Fähigkeiten zu entwickeln.

Mit der Einsicht in die Funktionsweise unseres Geistes können Eltern durch die wahrgenommenen Hauptsignale hindurch den Geist ihrer Kinder „sehen“. Verbale Informationen, die Worte, die Menschen verwenden, sind nur ein Teil davon, wie wir zum Verständnis anderer gelangen. Nonverbale Mitteilungen wie Blickkontakt, Gesichtsausdruck, Tonfall, Gestik und Körperhaltung sowie die zeitliche Abstimmung und die Intensität einer Erwiderung sind ebenso außerordentlich wichtige Elemente der Kommunikation. Diese nonverbalen Signale können direkter ausdrücken, was in uns vorgeht, als unsere Worte es vermögen. Offenheit gegenüber nonverbaler Kommunikation hilft uns dabei, unsere Kinder besser zu verstehen, und erlaubt es uns, ihre Sichtweise in Betracht zu ziehen und mitfühlend auf sie einzugehen.

Freudvolles Leben

Freude an Ihrem Kind zu haben und Anteilnahme an dem Abenteuer zu entdecken, was es heißt lebendig zu sein, ein Mensch in einer wunderbaren Welt zu sein, ist für die Entwicklung eines positiven kindlichen Selbstverständnisses von grundlegender Bedeutung. Wenn wir uns selbst und unseren Kindern respektvoll und mitfühlend begegnen, gewinnen wir oft eine neue Perspektive, die unsere Freude am gemeinsamen Leben bereichern kann. Sich an die Erfahrungen des täglichen Lebens zu erinnern und darüber nachzudenken, bewirkt ein tiefes Gefühl von Verbundenheit und Verständnis.

Eltern können der Aufforderung ihrer Kinder, die Schönheiten und die freudigen Beziehungen des Lebens jeden Tag aufs Neue zu schätzen, folgen und sozusagen freudig einen Gang herunterschalten. Wenn Eltern sich in ihrem geschäftigen Leben unter Druck gesetzt fühlen, mag es ihnen oft anstrengend erscheinen, bei der Verwaltung von Familienterminen alle Einzelheiten im Auge zu behalten. Aber man muss Kinder genießen und schätzen, nicht verwalten. Wir konzentrieren uns häufig auf die Probleme des Lebens anstatt auf die Gelegenheiten, uns zu freuen und etwas zu lernen. Wenn wir zu sehr damit beschäftigt sind, etwas für unsere Kinder zu tun, vergessen wir darüber, wie wichtig es ist, einfach mit ihnen zusammen zu sein. Wir können uns einfach daran erfreuen, mit unseren Kindern die wundervolle Erfahrung zu teilen, zusammen zu wachsen. Im Mittelpunkt einer bereichernden Eltern-Kind-Beziehung steht das Lernen, wie man an der Freude des Lebens teilnimmt.

Wenn wir Eltern werden, sehen wir uns oft als Lehrer unserer Kinder, aber wir entdecken bald, dass unsere Kinder genauso unsere Lehrer sind. Durch diese innige Beziehung gewinnen unsere Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eine neue Bedeutung, indem wir Erfahrungen miteinander teilen und Erinnerungen schaffen, die unser gemeinsames Leben sehr bereichern. Wir hoffen, dass Ihnen dieses Buch dabei nützt, als Person und als Mutter oder Vater zu wachsen und sich zu entwickeln, so dass Sie die fortdauernde Beziehung zu Ihren Kindern Ihr Leben lang vertiefen können.

Kapitel 1

Wie wir uns erinnern

Unsere Erfahrungen bestimmen, wer wir sind

Einleitung

Wenn wir Eltern werden, bringen wir Themen aus unserer Vergangenheit mit, die beeinflussen, wie wir unsere Kinder sehen und wie wir mit ihnen umgehen. Erlebnisse, die wir nicht vollständig verarbeitet haben, können ungelöste Themen oder unerledigte Angelegenheiten zum Vorschein bringen, die sich auf unser Verhalten gegenüber unseren Kindern auswirken und in einer Eltern-Kind-Beziehung sehr leicht zum Tragen kommen. Wenn dies geschieht, reagieren wir häufig sehr emotional oder impulsiv und unsere Wahrnehmung nach außen oder innen ist verzerrt. Diese extremen Geisteszustände lassen uns nicht mehr klar denken und machen uns unflexibel. Sie beeinträchtigen unseren Umgang mit und unsere Beziehung zu unseren Kindern. Dann verhalten wir uns nicht mehr wie die Eltern, die wir eigentlich sein wollen, und können uns oft nur noch darüber wundern, warum die Elternrolle manchmal das „Schlimmste in uns zum Vorschein bringt“. In unserer Vergangenheit verwurzelte Themen schlagen auf unsere heutige Realität durch und wirken sich unmittelbar darauf aus, wie wir unsere Kinder erleben und mit ihnen umgehen, auch wenn wir uns der Ursachen dafür nicht bewusst sind.

Wir bringen unser emotionales Gepäck in unsere Elternrolle mit, und es lässt sich nicht vorhersagen, wie dies sich auf unser Verhältnis zu unseren Kindern auswirken wird. Unerledigtes oder nicht verarbeitete traumatische Erlebnisse oder Verluste drehen sich um wichtige Themen aus unserer Vergangenheit, die sich aus wiederholten schwierigen oder emotional bedeutenden Erlebnissen in unseren ersten Lebensjahren herleiten. Diese Angelegenheiten können uns auch in der Gegenwart weiterhin belasten, insbesondere, wenn wir nie darüber nachgedacht und sie niemals in unser Selbstbild integriert haben. Wenn Ihre Mutter zum Beispiel oft, ohne sich zu verabschieden, das Haus verlassen hätte, weil sie Ihr Weinen nicht ertragen konnte, so hätten Sie, vor allem wenn es um mögliche Abschiede geht, kein Vertrauen mehr zu ihr. Sie wären verunsichert. Wenn sie fort war, hätten Sie das Haus nach ihr durchsucht und wären aufgeregt gewesen, weil sie nicht da war. Die Situation wäre noch schlimmer gewesen, wenn die Person, die auf Sie aufpasste, darauf bestand, dass Sie nicht weinten. Sie wären nicht nur aufgebracht gewesen und hätten sich um Ihre Mutter betrogen gefühlt, sondern Sie hätten auch Ihre emotionale Anspannung nicht verarbeiten können, weil niemand da war, bei dem Sie Gehör und Trost fanden, der sich auf Sie einstimmte und Ihnen das Gefühl gab, verbunden und verstanden zu sein. Mit einer solchen Vergangenheit wären Trennungserlebnisse für Sie als Mutter oder Vater ein Thema, das eine ganze Reihe emotionaler Reaktionen auslösen könnte. Plötzlich könnte Ihr eigenes Empfinden von Verlassenheit auftauchen und Ihnen beim Abschied von Ihrem Kind ein ungutes Gefühl geben. Dieses Unwohlsein würde vom Kind wahrgenommen, würde es verunsichern und zusätzlich belasten, wodurch wiederum Ihr eigenes ungutes Gefühl angesichts der Trennung noch verstärkt würde. Dadurch würde in einer Kettenreaktion eine Lawine von Gefühlen ausgelöst, die Ihre eigenen Kindheitserfahrungen widerspiegelt. Ohne weiteres Reflektieren und einen Prozess der Selbsterkenntnis würde dieser Ablauf in der Gegenwart jedoch als ganz „normal“ empfunden, da eine Trennung immer schwierig ist. Selbsterkenntnis kann den Weg zur Lösung dieser unerledigten Themen ebnen.

Unerledigtes wirkt sich häufig auf uns als Eltern aus und verursacht uns und unseren Kindern unnötige Frustrationen und Konflikte. Hier ein Beispiel über Marys Erfahrungen als Mutter und als Kind.

Schuhe kaufen

Als Mutter entdeckte ich verschiedene unerledigte Angelegenheiten aus meiner eigenen Kindheit, die mein Verhältnis zu meinen Kindern beeinträchtigten und uns daran hinderten, bestimmte Erlebnisse zu genießen. Schuhe kaufen war ein solcher Punkt. Ich bemerkte, dass ich mit Entsetzen verfolgte, wie sich die Tennisschuhe meiner beiden Söhne immer mehr abnutzten und somit der Zeitpunkt näher rückte, an dem ich mit ihnen ins Schuhgeschäft musste. Sie liebten es, neue Schuhe zu bekommen, und sahen diesem Ausflug, wie die meisten Kinder, voller Vorfreude entgegen. Hier boten sich alle Möglichkeiten für ein erfreuliches Erlebnis, da sich Kinder normalerweise gern neue Schuhe aussuchen; aber es kam immer anders.

Meine Söhne suchten sich Schuhe aus, die ihnen gefielen, wozu ich sie mit Worten ermutigte. Obwohl sie von ihrer Auswahl begeistert waren, verdarb ich es ihnen dann, indem ich die Farbe, den Preis, die Schuhgröße oder irgendetwas Greifbares, an dem ich meine Kritik festmachen konnte, in Zweifel zog. Die Begeisterung über ihre Wahl verblasste und machte einer entgegenkommenden Haltung Platz: „Nehmen wir einfach, was dir gefällt, Mama.“ Unentschlossen wägte ich die Vorteile verschiedener Schuhe gegeneinander ab und nach vielem Hin und Her verließen wir das Geschäft mit unseren Einkäufen. Wir waren alle erschöpft. Die Vorfreude auf die neuen Schuhe wurde unter den unerfreulichen Erinnerungen an dieses Erlebnis begraben.

Ich wollte mich nicht so verhalten, und doch wiederholte ich diesen Ablauf viele Male, wobei ich mich häufig bei meinen Kindern entschuldigte, wenn wir aus dem Geschäft kamen. Für mich endete dies immer in einem Wechselbad der Gefühle. „Wegen einem Paar Schuhe“ haderte ich mit mir. „Wie lächerlich.“ Warum wiederholte ich immer wieder ein Muster, das ich doch ändern wollte?

Eines Tages, nach einem weiteren enttäuschenden Einkauf, fragte mich mein sechsjähriger Sohn offenbar ziemlich ernüchtert: „Hast du als Kind nicht gern neue Schuhe bekommen?“ Ein überwältigendes „Nein“ flutete durch meinen Körper, als ich mich an meine eigenen frustrierenden Kindheitserlebnisse beim Schuhkauf erinnerte.

Ich war eines von neun Kindern. Meine Mutter ging, angesichts der Menge an Schuhen, die sie kaufen musste, immer nur zu Ausverkäufen, und zwar vorzugsweise zu großen. Die Läden waren brechend voll und die Preise entsprachen ihren Vorstellungen. Ich ging niemals allein mit meiner Mutter zum Einkaufen, denn es benötigten immer drei oder vier von uns gleichzeitig neue Schuhe. Im Ausverkaufsgetümmel suchte ich mit gemischten Gefühlen nach meinem nächsten Paar Schuhen. Ich wusste, dass ich kaum bekommen würde, was ich wollte. Ich hatte unglücklicherweise eine absolute Durchschnittsgröße, so dass die Auswahl beim Ausverkauf nur noch sehr klein war, und ich verliebte mich normalerweise immer in ein nicht reduziertes neues Modell. Das meine Mutter diese Wahl ablehnte, war so gut wie sicher.

Dann war da meine ältere Schwester, die einen „besonderen“, schmalen Fuß hatte und sich aussuchen konnte, was sie wollte, da ihre Schuhgröße sowieso nur selten im Ausverkauf war. Ich war wütend und fühlte mich vernachlässigt, aber ich hörte immer nur, dass ich dankbar sein sollte, dass es so einfach war, etwas Passendes für mich zu finden. Wenn meine Mutter uns endlich alle ausgestattet hatte, war sie bereits sehr erschöpft und gereizt. Ihre Unsicherheit, Entscheidungen zu treffen, und ihr Widerstreben, Geld auszugeben, traten deutlich zutage, und ich war besorgt über ihr Verhalten. Ich versank in einem Meer von Gefühlen und wollte nur noch nach Hause und den ganzen Einkauf hinter mir lassen. Was ein Abenteuer hätte sein können – nämlich mir selbst etwas auszusuchen –, war verdorben.

Und hier stand ich nun, Jahre später, mit einer Vorstellung vom Schuhkauf im Kopf, womit ich meinen Kindern die gleiche Anspannung vermittelte, die ich als Kind gefühlt hatte. Meine Mutter war zu beschäftigt damit, uns und unsere Einkäufe ins Auto zu bringen, als dass sie mir im Schuhgeschäft zugehört oder meinen Kummer auch nur wahrgenommen hätte. All das rief mir die Frage meines Sohnes ins Bewusstsein, und so konnte ich mich an meine frühen Erlebnisse und Sorgen erinnern, die nun mein Verhalten gegenüber meinen Kindern beeinträchtigten und mich daran hinderten, dies zu einer angenehmen Erfahrung zu machen. Es war nicht die jetzige Schuhkaufsituation, die mein Verhalten beeinflusste, sondern es waren die vielen Schuhkaufsituationen der Vergangenheit. Ich reagierte auf eine unerledigte Angelegenheit.

Ungelöste Themen sind den unerledigten Angelegenheiten ähnlich, aber sie sind extremer und bringen unser inneres Erleben und unsere zwischenmenschlichen Beziehungen viel stärker durcheinander. Ganz und gar überwältigende Erfahrungen, die möglicherweise mit Hilflosigkeit, Verzweiflung, Verlust, Schrecken und vielleicht Betrug einhergehen, sind häufig die Wurzel des Übels. Wir können als Beispiel erneut das Thema Trennung heranziehen, diesmal jedoch unter extremeren Bedingungen. Wenn die Mutter eines Kindes sich für einen längeren Zeitraum wegen Depressionen in einer Klinik aufhält und das Kind von einer Betreuungsperson zur nächsten gereicht wird, dann erfährt dieses Kind ein starkes Gefühl von Verlust und Verzweiflung. Trennungen werden möglicherweise immer wieder Anlass zur Sorge sein und die Fähigkeit des Kindes beeinträchtigen, sich später als Erwachsener auf eine gesunde Weise vom eigenen Kind zu verabschieden. Als Mutter hat sie vielleicht auch Schwierigkeiten, den Kontakt zu ihrem Kind herzustellen, da ihre eigene Bindung abrupt unterbrochen wurde und sie keine Unterstützung erhielt. Wenn das Kind später selbst Mutter wird und nie die Gelegenheit hatte, diese Ereignisse zu verarbeiten und die erschreckenden frühen Erlebnisse zu verstehen, werden sich wohl immer wieder Erinnerungen an Gefühle, Verhaltensweisen, Wahrnehmungen und körperliche Erlebnisse in ihr Leben drängen. Diese unerledigten Angelegenheiten können die Eltern-Kind-Beziehung grundlegend beeinträchtigen.

Als Eltern neigen wir besonders unter Stress dazu, auf der Grundlage früherer Erlebnisse zu reagieren. Hier eine Geschichte über ein Thema der Vergangenheit, das Dan sich wieder bewusst machte, kurz nachdem er Vater geworden war.

Hör auf zu weinen!

Ich fühlte mich immer sehr seltsam, wenn mein Sohn als Baby weinte und sich nicht trösten ließ. Ich war überrascht, dass ich vor Angst und Schrecken in Panik verfiel. Anstatt Ruhe, Geduld und Einsicht auszustrahlen, wurde ich ängstlich und ungeduldig.

Ich versuchte in mich zu gehen, um diese Gefühle zu verstehen. Ich dachte darüber nach, ob man mich in meiner frühen Kindheit vielleicht lange hatte weinen lassen. Ich konnte mich dessen nicht direkt entsinnen, aber ich wusste, dass der normale Vorgang der kindlichen Amnesie mich daran hindern würde, mir eine so frühe Erfahrung in Form einer zugänglichen autobiografischen Erinnerung ins Bewusstsein zu rufen. Ich fand keine andere plausible Erklärung für diese Panik.

Ich versuchte es mit einer Geschichte: „Ja, ich muss mich als Kind davor gefürchtet haben zu weinen. Ich musste mich wohl an das Gefühl, verlassen zu sein, anpassen. Wenn mein Sohn nun weint, werden meine Ängste reaktiviert und ich erlebe die damit verbundene Panik.“ Ich dachte lange und intensiv darüber nach. Ich hatte nicht das Gefühl, dass die Geschichte stimmte. Keine Bilder. Keine Empfindungen. Keine Gefühle. Keine Verhaltensimpulse. Mit anderen Worten: Diese Geschichte weckte keine nonverbalen Erinnerungen. Die Erklärung änderte zudem in keiner Weise meine Panik. Ich dachte, dass dies nicht zwangsläufig heißen musste, das sie nicht stimmte – sie war nur am jetzigen Punkt auf meinem Weg zum Verstehen keine Hilfe.

Eines Tages war ich gerade bei meinem Sohn, als er anfing zu weinen. Ich fühlte mich hilflos und unfähig, ihn zu trösten, und mich überkam das panische Gefühl, fliehen zu müssen. Dann tauchte in meinem Geist ein Bild auf, das meinen Kopf ganz auszufüllen schien. Die Panik verdichtete sich nun um einen zentralen Punkt. Dann formte sich vor meinem inneren Auge ein Bild, das mit meiner äußeren Wahrnehmung konkurrierte. Ich beschreibe dies nun als innerlich und als äußerlich, aber zu diesem Zeitpunkt waren beide sehr nah beieinander: wie doppelt belichtete Bilder auf einem Videoband. Ich schloss meine Augen. Die äußere Sicht verschwand und das innere Bild wurde klar.

Ich sah ein Kind, das schreiend auf einem Untersuchungstisch lag, mit einem Ausdruck von Entsetzen auf dem vor Schrecken verzerrten, geröteten Gesicht. Mein Kollege aus meiner Pflichtassistentenzeit auf der Kinderstation hielt das Kind auf dem Tisch fest. Ich hatte die Schreie zu ignorieren. Ich konnte den Raum erkennen. Es war das Behandlungszimmer der Kinderstation des Krankenhauses. Dorthin brachten wir die Kinder, denen Blut abgenommen werden musste. Es war mitten in der Nacht, und wir hatten Bereitschaft, und man hatte uns geweckt, damit wir herausfanden, warum dieser kleine Junge Fieber hatte. Er glühte förmlich, und wir mussten ihm Blut abnehmen, um eine Infektion ausschließen zu können.

Die Kinder am UCLA Medical Center waren, wie in jeder Universitätsklinik, sehr krank. Viele von ihnen waren schon oft und lange im Krankenhaus gewesen, was ihre Angst aber keineswegs verringerte. Sie wurde im Gegenteil durch die ständigen Blutabnahmen nur noch größer, und dabei wurden auch noch die Venen zerstört. Mein Kollege und ich mussten jede Nacht im Bereitschaftsdienst Blut abnehmen. Nun war ich mit der Abnahme an der Reihe.

Wenn die Armvenen eines Kindes so vernarbt sind, dass man kein Blut mehr abnehmen kann, muss man eine andere Vene finden. Manchmal mussten wir es wieder und wieder an verschiedenen Stellen versuchen. Wir wechselten uns beim Spritzen und Kindfesthalten ab. Wir mussten Ohren und Herz verschließen. Wir mussten den Blick von den angstvollen Gesichtern der Kinder abwenden, durften ihre Tränen nicht fühlen, die uns über die Hände rannen, und die Schreie nicht hören, die uns in den Ohren widerhallten.

Aber jetzt konnte ich diese Schreie hören. Es kam kein Blut. Ich musste eine andere Stelle finden. „Nur noch ein Mal“, sagte ich zu dem Kind, das mich nicht hören konnte. Und wenn es mich hören konnte, so verstand es mich nicht. Es fieberte und war krank, war verängstigt, schlug um sich, schrie und ließ sich nicht beruhigen.

Ich öffnete die Augen. Ich schwitzte. Meine Hände zitterten. Mein sechs Monate alter Sohn weinte noch immer. Und ich weinte ebenfalls.

Ich war erschüttert von diesem überfallartigen Rückblick. Ich hatte nicht oft an diese lange zurückliegende Pflichtassistenz auf der Kinderstation gedacht, hielt sie als ein „gutes Jahr“ im Gedächtnis und war froh, als es vorüber war. In den Tagen nach dem Rückblick dachte ich viel über diese Eindrücke nach. Ich sprach mit ein paar guten Freunden und Kollegen über meine Erfahrung. Immer wenn ich begann, über die Nächte im Bereitschaftsdienst zu sprechen, hatte ich ein flaues Gefühl im Magen. Meine Hände schmerzten und mir war, als würde ich eine Erkältung bekommen. Wenn die Bilder kamen, fühlte ich Angst und Verzweiflung und war von den Szenen mit den kleinen Kindern überwältigt. Ich versank in der Erinnerung: „Ich darf das Kind nicht ansehen, ich muss die Blutprobe nehmen.“ Ich versuchte sowohl in meiner Erinnerung als auch im Gespräch mit meinen Freunden, den Blick abzuwenden. Ich schämte mich und fühlte mich schlecht, den Kindern Schmerzen zugefügt zu haben. Ich erinnerte mich daran, dass ich jedes Mal, wenn nachts das Rufsignal ertönte, ein Gefühl der Panik unterdrücken musste. Es war keine Zeit, darüber zu sprechen, wie große Schmerzen die Kinder hatten oder wie sehr sie uns fürchteten. Es gab keine Gelegenheit, darüber nachzudenken, wie überwältigt und angsterfüllt wir waren. Wir mussten weitermachen; hätten wir ein Pause eingelegt, um nachzudenken, dann hätten wir es nicht ertragen können, fortzufahren.

Warum kam dieses Jahre zurückliegende „Trauma“ nicht schon früher, vor der Geburt meines Sohnes, in Form einer plötzlichen Rückblende, von Gefühlen, Verhaltensweisen oder Empfindungen zum Vorschein? Die Suche nach einer Antwort wirft Fragen nach dem Abruf von Gedächtnisinhalten und der einzigartigen Konfiguration ungelöster traumatischer Erinnerungen auf. Verschiedene Faktoren machen es wahrscheinlicher, dass eine Erinnerung abgerufen wird. Dies sind unter anderem die mit der Erinnerung verknüpften Assoziationen, das Thema oder der Kern der Erfahrung, der Lebensabschnitt der Person, die sich erinnert, der zwischenmenschliche Kontext und die geistige Verfassung des Einzelnen zur Zeit des Speicherns und des Abrufens.

Ich bin der Jüngste in der Familie und vor der Geburt meines Sohnes gab es in meinem Leben keine kleinen Kinder. Daher hatte ich nach meiner Assistenzzeit auf der Kinderstation nie Kontakt zu untröstlich weinenden Kindern. Als ich mich dann schließlich in der Gegenwart eines hartnäckig weinenden Kindes befand, reagierte ich darauf mit einem Gefühl von Panik. Diese Panik kann als eine nonverbale emotionale Erinnerung angesehen werden, die durch den Umstand hervorgerufen wurde, dass ein weinendes Kind bei mir war. Sobald mich die Panik überfiel, suchte der Erinnerungsprozess in meinem Geist zunächst nach einer autobiografischen Erinnerung, jedoch ohne etwas zu finden. Zu dieser Zeit gab es keine thematisch erzählende Erinnerung, in welche das Jahr auf der Kinderstation hätte eingewoben werden können. Das Jahr war als „Spaß und vorbei“ abgelegt und ich dachte nicht bewusst darüber nach. Dann kam die Rückblende.

Oft gibt es einen Grund dafür, dass traumatische Erfahrungen nicht so verarbeitet werden, dass man später jederzeit problemlos auf sie zugreifen kann. Während des Traumas kann eine überlebensnotwendige Anpassung darin bestehen, die Aufmerksamkeit von den schrecklichen Aspekten eines Erlebnisses abzuwenden. Übermäßiger Stress und Hormonausschüttungen während des Traumas können außerdem direkt die Funktionen der Teile des Gehirns beeinträchtigen, die für das Speichern autobiografischer Erinnerungen erforderlich sind. Nach dem Trauma plagt uns die Erinnerung an diese Details, die nur in nonverbaler Form abgelegt sind, mit großer Wahrscheinlichkeit mit zutiefst beunruhigenden Gefühlen.

Mein Mitgefühl mit den entsetzten Kindern im Krankenhaus war erdrückend. Das Jahr war so intensiv, die Arbeit so anstrengend, die Anzahl der Patienten so groß, die Fluktuation so hoch und der Grad der Erkrankungen so schwer, dass sich meine Kraft, damit fertig zu werden, dem Ende zuneigte. Ich fühlte mich zutiefst beschämt und schuldig, weil ich den Kindern Schmerzen und Angst verursachte. Als die Assistenzzeit vorüber war, hätte ich ja sagen können: „In Ordnung, jetzt werde ich versuchen, mich an all die Schmerzen, die ich diesen schwer kranken Kindern zufügen musste, zu erinnern.“ Stattdessen dachte ich nicht weiter über das Jahr auf der Kinderstation nach und setzte mein Studium mit dem Thema „Trauma“ fort.

Als Assistenten versuchten wir das überwältigende Bewusstsein, dass die Patienten sich als passiv, hilflos und verletzlich erlebten, zu verdrängen, indem wir uns als aktive, fähige und unverletzliche medizinische Kräfte sahen. Die Verletzlichkeit der Kinder wurde zu einer Bedrohung für unsere aktive, wenn auch unbewusste, Anstrengung, unsere eigenen Gefühle von Verletzlichkeit und Hilflosigkeit zu leugnen. Im Rückblick wurde die Verletzlichkeit der Kinder zu unserem Feind. Oftmals konnten wir nur wenig tun, um ihre verheerenden Krankheiten zu heilen, und unsere Unfähigkeit, ihnen zu helfen, kam zu unserem überwältigenden Gefühl von Traurigkeit und Verzweiflung noch hinzu.

In diesem unerbittlichen und schlaflosen Jahr bekämpften wir Krankheiten, bekämpften die existenzielle Realität von Tod und Verzweiflung. Wir mussten die Hilflosigkeit so weit es ging aus unserem Geist verbannen, oder wir wären einfach zusammengebrochen. Die Verletzlichkeit wurde das Ziel unseres Zorns auf das Verbrechen der Krankheit, die wir nicht besiegen konnten.

Diese unerledigte Angelegenheit zeigte sich mir in der Rolle als verletzlicher Vater meines ersten Kindes. Ich reagierte mit Scham und intensiven Gefühlen auf das Weinen und die Verletzlichkeit meines Sohnes – empfand sie als nahezu unerträglich – und auf meine eigene Hilflosigkeit, ihn zu trösten. Glücklicherweise konnte ich in einem schmerzhaften Prozess der Selbsterkenntnis durchschauen, dass dies etwas mit einer unerledigten Angelegenheit in mir selbst zu tun hatte und kein Fehler meines Sohnes war. Und aufgrund dieser Erfahrung kann ich sehr gut nachvollziehen, wie das als unerträglich empfundene Gefühl der Hilflosigkeit Eltern dazu bringen kann, in ihrem Verhalten gerade auf diese Hilflosigkeit bei Kindern abzuzielen und sie deswegen anzugreifen. Selbst mit Liebe und den besten Absichten können in uns immer noch alte Abwehrmechanismen wirken, die Verhaltensweisen und Erfahrungen unserer Kinder für uns unerträglich machen. Dies mag die Ursache für ein „ambivalentes Elternverhalten“ sein. Wenn Kinder in uns dieses unsägliche Gefühl hervorrufen, das wir nicht bewusst empfinden und sinnvoll in unser Leben integrieren können, laufen wir Gefahr, es auch in unseren Kindern nicht tolerieren zu können. Diese Intoleranz kann uns für die Gefühle unserer Kinder blind machen oder uns diese einfach ignorieren lassen. Dadurch empfinden die Kinder sie als unwirklich und werden von ihrer eigenen Gefühlswelt abgeschnitten. Unsere Intoleranz lässt uns manchmal auch energischer reagieren, zum Beispiel ungeduldig, verärgert oder sogar mit einem direkten, wenn auch nur unbewusst beabsichtigten Angriff auf die Hilflosigkeit und Verletzlichkeit des Kindes. Das arglose Kind wird zum Empfänger feindseliger Reaktionen, die mit seinem inneren Identitätsgefühl verwoben werden und seine Fähigkeit, diese Emotionen in sich selbst zu tolerieren, unmittelbar beeinträchtigen.

Wenn wir Unerledigtes oder Ungelöstes mit uns herumtragen, ist es unbedingt erforderlich, dass wir uns die Zeit nehmen, innezuhalten und unseren emotionalen Reaktionen gegenüber unseren Kindern nachzuspüren. Wenn wir uns selbst verstehen, geben wir unseren Kindern die Gelegenheit, ihr eigenes Gefühl von Lebendigkeit zu entwickeln, und die Freiheit, ihre eigene Gefühlswelt ohne Einschränkungen und Ängste zu erleben.

Unterschiedliche Arten des Gedächtnisses

Warum tragen wir Unerledigtes oder Ungelöstes mit uns herum? Warum beeinflussen vergangene Erlebnisse unsere Gegenwart? Wie wirkt sich Erfahrung eigentlich auf unseren Geist aus? Warum beeinflussen vergangene Ereignisse weiterhin unsere gegenwärtige Wahrnehmung und bestimmen mit, wie wir unsere Zukunft gestalten?

Die Gedächtnisforschung liefert aufregende Antworten auf diese grundlegenden Fragen. Vom Beginn unseres Lebens an können unsere Gehirne mit der Verknüpfung ihrer Grundbausteine, der Nervenzellen, auf Erlebnisse reagieren. Diese Verknüpfungen bilden die Gehirnstruktur und man hält sie für eine sehr wirkungsvolle Methode des Gehirns, sich an Erfahrungen zu erinnern. Die Gehirnstrukturen formen die Gehirnfunktionen. Die Funktionen wiederum bringen den Geist hervor. Zwar bestimmen auch genetische Informationen grundlegende Aspekte unserer Gehirnanatomie, aber unsere Erfahrungen erschaffen die einzigartigen Verknüpfungen und formen die individuelle Grundstruktur jedes Gehirns. Auf diese Weise formen unsere Erfahrungen unmittelbar die Struktur unseres Gehirns und bringen so den Geist hervor, durch den wir uns definieren.

Das Gedächtnis ist das Verfahren, mit dem das Gehirn auf Erlebnisse reagiert und neue Verknüpfungen herstellt. Die zwei Arten von Gedächtnis lassen sich durch die zwei Methoden beschreiben, wie Verknüpfungen hauptsächlich erzeugt werden: implizit und explizit. Für das implizite Gedächtnis werden bestimmte Schaltkreise im Gehirn angelegt, die für das Erzeugen von Emotionen, für Verhaltensreaktionen, Wahrnehmungen und wahrscheinlich die Verschlüsselung körperlicher Empfindungen zuständig sind. Es ist ein frühes, nonverbales Gedächtnis, das von der Geburt bis zum Lebensende verfügbar ist. Ein weiterer wichtiger Aspekt des impliziten Gedächtnisses sind die so genannten mentalen Modelle. Durch mentale Modelle erzeugt unser Geist Verallgemeinerungen wiederholter Erfahrungen. Wenn sich zum Beispiel ein Baby getröstet und geborgen fühlt, wenn die Mutter auf seinen Kummer antwortet, wird es diese Erfahrung verallgemeinern, so dass ihm die Anwesenheit der Mutter ein Gefühl von Wohlbefinden und Sicherheit vermittelt. Wenn es zukünftig über irgendetwas bekümmert ist, wird das mentale Modell seiner Beziehung zu seiner Mutter aktiviert und es wendet sich Trost suchend an seine Mutter. Unsere Bindungsbeziehungen beeinflussen, wie wir andere und uns selbst wahrnehmen. Durch wiederholte Erfahrungen mit unseren Bindungspersonen erzeugt unser Geist mentale Modelle, die unsere Vorstellungen über andere und uns selbst betreffen. In dem oben angeführten Beispiel erlebt das Kind seine Mutter als sicher und aufgeschlossen und sich selbst als fähig, etwas in seiner Umwelt zu bewirken und die Erfüllung seiner Bedürfnisse herbeizuführen. Diese Modelle erzeugen einen Filter, durch den wir unsere Wahrnehmungen nach bestimmten Mustern kanalisieren und unsere Reaktionen auf die Welt gestalten. Durch diese Filtermodelle entwickeln wir charakteristische Sichtweisen und Seinsarten.

Das faszinierende an impliziten Erinnerungen ist, dass sie ohne die innere Empfindung des „Sicherinnerns“ abgerufen werden. Der Einzelne ist sich nicht einmal bewusst, dass das innere Erlebnis durch etwas aus der Vergangenheit erzeugt wird. So können Gefühle, Verhaltensweisen, körperliche Empfindungen, Auslegungen von Wahrnehmungen und die verzerrende Wirkung bestimmter unbewusster mentaler Modelle unsere momentanen Erfahrungen sowohl in Bezug auf unsere Wahrnehmungen als auch auf unser Verhalten beeinflussen, ohne dass wir uns im Geringsten bewusst sind, dass unsere Vergangenheit gerade Einfluss auf uns nimmt. Erstaunlicherweise kann unser Gehirn implizite Erinnerungen ohne den Weg über unsere bewusste Aufmerksamkeit verschlüsseln. Das bedeutet, dass Elemente in unser implizites Gedächtnis Eingang finden können, ohne dass wir ihnen jemals bewusst unsere Aufmerksamkeit gewidmet haben müssen.

Nach unserem ersten Geburtstag wird in einem Gehirnbereich, dem so genannten Hippocampus, ein weiterer Schaltkreis angelegt, der die zweite zentrale Erinnerungsform, das explizite Gedächtnis, ins Leben ruft. Es hat zwei Bestandteile: das semantische Gedächtnis, das Fakten verarbeitet, und ungefähr ab einem Alter von anderthalb Jahren zur Verfügung steht, und das episodische oder autobiografische Gedächtnis, das sich irgendwann in dem Zeitraum um den zweiten Geburtstag zu entwickeln beginnt. Die Zeit, bevor das autobiografische Gedächtnis verfügbar ist, wird Kindheitsamnesie genannt und ist ein universelles Entwicklungsphänomen, das in allen Kulturen beobachtet werden kann; es hat nichts mit traumatischen Erlebnissen zu tun, sondern ergibt sich offenbar aus der Tatsache, dass bestimmte Gehirnstrukturen noch nicht ausgebildet sind. Im Gegensatz zum impliziten Gedächtnis gehen explizite Erinnerungen mit einem inneren Gefühl des Sicherinnerns einher. Beide Arten des expliziten Gedächtnisses bedürfen der bewussten Aufmerksamkeit für das Einspeichern von Eindrücken.

Einzigartig am autobiografischen Gedächtnis ist, dass es ein Gefühl von Selbst und Zeit beinhaltet. Voraussetzung für diese Art der Erinnerung ist die ausreichende Reife eines Gehirnteils, die um den zweiten Geburtstag herum erreicht wird. Dieser Teil des Gehirns wird präfrontaler Kortex oder Stirnlappen genannt, da er sich ganz vorn am vordersten Teil der obersten Gehirnschicht, dem Neokortex, befindet. Der präfrontale Kortex ist für eine ganze Reihe von Prozessen außerordentlich wichtig, unter anderem für das autobiografische Gedächtnis, für Selbsterkenntnis, flexibles Verhalten, Geistsicht und die Regulierung von Emotionen. All diese Prozesse werden durch Bindungen geformt. Die Entwicklung des präfrontalen Kortex scheint tief greifend durch zwischenmenschliche Erfahrungen beeinflusst zu werden. Darum hinterlassen unsere frühen Beziehungen einen so großen Eindruck in unserem Leben. Dieser wichtige, integrative Teil des Gehirns kann sich jedoch ein Leben lang weiter entwickeln, so dass uns die Möglichkeit, zu wachsen und uns zu verändern, immer erhalten bleibt.

Abb. 1: Darstellung des menschlichen Gehirns von der Mitte aus zur rechten Seite gesehen, mit einigen Schlüsselstrukturen des Gedächtnisses: u. a. Amygdala (Verarbeitung impliziter emotionaler Erinnerungen), der Hippocampus (explizite Gedächtnisarten), und orbitofrontaler Kortex (explizites autobiografisches Gedächtnis). Kohärente Lebensgeschichten, wie sie im nächsten Kapitel beschrieben werden, könnten auf die Integration von Informationen aus beiden Gehirnhälften über den Hippocampus angewiesen sein.

* Der schattierte Bereich zeigt, wo sich der Hippocampus auf der anderen Seite des Stammhirns in dieser Darstellung befinden würde. Die emotionsverarbeitende Amygdala liegt am Kopf des Hippocampus. Beide Strukturen sind Teil des medialen Temporallappens, der genau an den Seiten dieser Sicht entlang der Mittellinie liegt.

Klärung finden

Mit unserem neu gewonnenen Verständnis darüber, wie das Gehirn Gedächtnisinhalte speichert, können wir uns nun ansehen, wie sich unerledigte Angelegenheiten lösen lassen. Im Fall von Dan hatte das Formulieren einer sinnvollen Geschichte über eine Kindheitsamnesie keinerlei emotionale Auswirkungen und konnte sein Erleben nicht verändern. Es mag in dieser frühen Phase seines Lebens Erfahrungen gegeben haben, die für ihn nicht explizit verfügbar waren, aber möglicherweise implizit die emotionale Intensität seines Assistenzjahres beeinflusst haben. Ohne weiteres Nachdenken hätten seine Panik und Verärgerung weiterhin seinen Erziehungsstil dominieren können und ihn so daran gehindert, seinen Sohn in seinem Kummer wirksam zu begleiten. Unbewusst hätte er sich womöglich durch Verletzlichkeit und Hilflosigkeit bedroht gefühlt. Ein solcher innerer, unreflektierter emotionaler Vorgang hätte zum Leitbild in der Organisation seiner Beziehungen werden können. Als Ergebnis hätte Dan seinen Sohn hinsichtlich dessen ganz normaler Abhängigkeit entmutigt und ihn zu verfrühter Selbständigkeit gedrängt. Rational hätte Dan aus diesen Erlebnissen die Einstellung abgeleitet, dass „Kinder, die sich nicht beruhigen und zu viel weinen“, als verzogen und bedürftig anzusehen sind. Ohne weiteres Nachdenken hätte er seine unerledigte Angelegenheit ignoriert und sich weiter über seinen Sohn geärgert.

Tabelle 1: Arten des Gedächtnisses

Implizites Gedächtnis

• Bereits bei der Geburt vorhanden

• Kein Gefühl des sich Erinnerns, wenn Erinnerungen abgerufen werden

• Umfasst Erinnerungen bezüglich Verhalten, Emotionen, Wahrnehmungen und möglicherweise körperliche Empfindungen

• Beinhaltet mentale Modelle

• Zum Einspeichern ist keine bewusste Aufmerksamkeit nötig

• Umfasst nicht den Hippocampus

Explizites Gedächtnis

• Entwickelt sich im zweiten Lebensjahr und darüber hinaus

• Gefühl des Sicherinnerns, bei Abruf

• Autobiografisch: mit Gefühl von Selbst und Zweck verbunden

• Umfasst das semantische (Fakten-) und episodische (autobiografische) Gedächtnis

• Erfordert bewusste Aufmerksamkeit

• Umfasst den Hippocampus

• Autobiografisch: Schließt auch den präfrontalen Kortex mit ein

Elterliche Ambivalenz hat viele Formen, oft basiert oft auf unerledigten Angelegenheiten. Eltern können sich in einem Wechselbad widerstreitender Gefühle befinden, die ihre Fähigkeit, ihren Kindern gegenüber offen und liebevoll zu sein, beeinträchtigen. Die starren Verteidigungsstrukturen, die wir in unserer Kindheit und darüber hinaus aufgebaut haben, können uns lähmen, wenn wir unserer neuen Rolle, uns auf konsistente und klare Weise um unsere Kinder zu kümmern, gerecht werden wollen. Ganz normale Aspekte der Erlebniswelt unserer Kinder – wie ihre Emotionalität, ihre Hilflosigkeit und Verletzlichkeit und ihre Abhängigkeit von uns – können bedrohlich wirken und uns unerträglich werden.

Dan führt seine Geschichte fort: Obwohl ich meinem Sohn in Momenten des Kummers beistehen wollte, erzeugte meine eigene Ambivalenz einen Widerspruch zwischen meiner gewünschten Reaktion und meinem tatsächlichen Verhalten. Anstatt aufgeschlossen und tröstend zu wirken, war ich eine Quelle der Ungeduld und Verärgerung. Als ich mir das erst einmal bewusst gemacht hatte, konnte ich auch etwas dagegen unternehmen.