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Ihr Kind hat mitten im Supermarkt einen Wutanfall? Ihre Fünftklässlerin schmollt auf der Bank, statt mit den anderen Kindern zu spielen? Haben Kinder die Absicht, ihren Eltern andauernd das Leben schwerzumachen? Nein - hier zeigt sich nur, dass sich das Gehirn Ihrer Kinder noch entwickelt! In diesem richtungsweisenden praktischen Buch enträtseln der Neuropsychologe Daniel Siegel und die Erziehungsexpertin Tina Payne Bryson die emotionalen Zusammenbrüche und ausweglosen Situationen im Leben mit Kindern. Für jeden verständlich, erklären sie die neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Prägung und Entwicklung des kindlichen Gehirns. Durch die Anwendung dieser Erkenntnisse auf das tägliche Leben mit Kindern können Sie Wutausbrüche, Streit oder Ängste zu einer Gelegenheit machen, um die Integration des Gehirns Ihres Kindes zu unterstützen und wirkliches Wachstum zu ermöglichen. Stimmen zum Buch: "Jeder, der für Kinder sorgt oder der ein Kind liebt, sollte dieses Buch lesen." Daniel Goleman
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Seitenzahl: 287
Veröffentlichungsjahr: 2019
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Daniel J. Siegel
& Tina Payne Bryson
Achtsame Kommunikation mit Kindern
Daniel J. Siegel& Tina Payne Bryson
Achtsame Kommunikation mit Kindern
Zwölf revolutionäre Strategien aus der Hirnforschung für die gesunde Entwicklung Ihres Kindes
Übersetzt von Mike Kauschke
© 2011 by Mind Your Brain, Inc., and Bryson Creative Productions, Inc.
© 2013 der deutschen Ausgabe: Arbor Verlag GmbH, Freiburg
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel:
The whole-brain child: 12 revolutionary strategies to nurture your child’s developing mind
Alle Rechte vorbehalten
E-Book 2019
© 2013 der Coverabbildung: Misa Erder
© 2013 der im Buch verwendeten Illustrationen: Tuesday Mourning
Lektorat: Richard Reschika
Hergestellt von mediengenossen.de
E-Book-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim, www.brocom.de
www.arbor-verlag.de
ISBN E-Book: 978-3-86781-272-6
Die Ratschläge zur Selbstbehandlung in diesem Buch sind von den Autoren und vom Verlag sorgfältig erwogen und geprüft worden. Dennoch kann eine Garantie nicht übernommen werden. Sie brauchen psychotherapeutische Hilfe, wenn Sie sich durch die Übungen von Emotionen und Erinnerungen überwältigt fühlen. Bei ernsthafteren und/oder länger anhaltenden Beschwerden sollten Sie auf jeden Fall einen Arzt oder einen Heilpraktiker Ihres Vertrauens zu Rate ziehen. Eine Haftung der Autoren und des Verlages für Personen-, Sach- und Vermögensschäden ist ausgeschlossen.
INHALT
Einleitung
1 Erziehung mit einem Verständnis des Gehirns
2 Zwei Gehirne sind besser als eines
Die Integration der linken und rechten Hirnhälfte
3 Die Treppe des Geistes bauen
Das obere und untere Gehirn integrieren
4 Tötet die Schmetterlinge!
Die Integration der Erinnerung als Weg zu Wachstum und Heilung
5 Die vereinigten Zustände des Ich
Die vielen Teile des Selbst integrieren
6 Die Ich-Wir-Verbindung
Das Selbst und andere Menschen integrieren
Schlussbemerkung
Kühlschranknotiz
Die Altersstufen und Entwicklungsphasen eines integrierten Gehirns
Danksagungen
Über die Autoren
EINLEITUNG
Überleben und Entfalten
Sie kennen diese Tage bestimmt: Zu wenig Schlaf, die schmutzigen Fußballschuhe auf dem frisch gesäuberten Boden, die Erdnussbutter an der neuen Jacke, die Knete in der Tastatur Ihres Computers und die endlosen Wiederholungen von „Sie hat angefangen!“ bringen Sie dazu, die Minuten zu zählen, bis Ihre Kinder endlich im Bett sind. An diesen Tagen, wenn Sie etwas zum hundertsten Mal erklären müssen, scheint das Beste, worauf Sie hoffen können, nur noch eines zu sein: die Situation irgendwie zu überstehen.
Aber wenn es um Ihre Kinder geht, geht es nicht nur um das reine Überstehen solcher Situationen – Sie haben wesentlich höhere Ziele. Sicher wollen Sie diese schwierigen Situationen mit den Wutanfällen im Restaurant überstehen. Aber ob Sie nun der Vater oder die Mutter oder eine andere enge Bezugsperson im Leben des Kindes sind, Ihr Ziel besteht darin, Kinder so ins Leben zu begleiten, dass sie sich entfalten können. Sie möchten, dass Ihre Kinder sinnvolle Beziehungen erfahren, fürsorglich und mitfühlend sind, gute Leistungen in der Schule erreichen, sich verwirklichen, verantwortungsvoll sind und gesundes Selbstvertrauen entwickeln.
Überleben. Entfalten.
Im Laufe der Jahre haben wir Tausende von Eltern getroffen. Wenn wir sie fragten, was ihnen am wichtigsten wäre, standen Varianten dieser beiden Ziele immer ganz oben auf der Liste. Sie wollen schwierige Momente im Leben mit Kindern überstehen und sie wollen, dass sich ihre Kinder und ihre Familie entwickeln. Wir sind selbst Eltern und das sind auch unsere Ziele.
In unseren besseren, ruhigeren und klügeren Momenten ist uns die geistige Entwicklung der Kinder wichtig. Wir wollen ihre Gefühle des Staunens unterstützen und ihnen helfen, in allen Aspekten des Lebens ihr volles Potential zu entfalten. Aber in den hektischen, gestressten Momenten, in denen wir den Kleinsten in den Kindersitz bekommen müssen, um es noch zum Fußballspiel des Ältesten zu schaffen, ist manchmal alles, worauf wir hoffen können, dass wir nicht plötzlich zu hören bekommen (oder selbst sagen): „Du bist so gemein!“
Nehmen Sie sich einen Moment Zeit und fragen Sie sich selbst: Was will ich wirklich für meine Kinder? Welche Eigenschaften sollen sie entwickeln und ins Erwachsensein mitnehmen? Wahrscheinlich möchten Sie, dass sie glücklich, unabhängig und erfolgreich sind. Sie möchten, dass Ihre Kinder erfüllende Beziehungen erfahren und ein sinnvolles Leben führen. Nun denken Sie einmal darüber nach, wie viel Zeit Sie verwenden, um bei Ihren Kindern absichtsvoll diese Eigenschaften zu entwickeln. Wenn Sie wie die meisten Eltern sind, machen Sie sich Sorgen, dass Sie zu viel Zeit damit verbringen, einfach nur den nächsten Tag (und manchmal die nächsten fünf Minuten) zu überstehen. Sie denken vielleicht, dass Sie nicht genug Zeit haben, um Erfahrungen zu ermöglichen, die es Ihren Kindern erlauben, sich zu entfalten – sowohl heute als auch in der Zukunft.
Sie vergleichen sich möglicherweise sogar selbst mit einer vermeintlich perfekten Mutter oder einem perfekten Vater, der oder die nie damit zu tun hat, bestimmte Situationen zu überstehen, und scheinbar jede wache Minute damit verbringt, sich um die Entfaltung der Kinder zu kümmern. Sie wissen schon: der Vorsitzende des Elternrates, der seinen Kindern biologisch ausgewogene Mahlzeiten kocht und ihnen gleichzeitig in lateinischer Sprache etwas über die Wichtigkeit der Hilfe für andere Menschen vorliest und die Kinder dann im Hybrid-Auto zum Kunstmuseum chauffiert, mit klassischer Musik und Lavendel-Aromatherapie, die durch die Klimaanlage strömt. Niemand von uns kommt an solch einen Super-Vater oder an solch eine Super-Mutter heran. Besonders dann nicht, wenn wir das Gefühl haben, dass wir einen Großteil unserer Zeit im Überlebensmodus verbringen, in dem wir dann am Ende der Geburtstagsparty nur noch mit hochrotem Kopf und weit aufgerissenen Augen rufen können: „Wenn du weiter über diesen Pfeil und Bogen diskutierst, dann bekommt hier niemand Geschenke!“
Wenn sich das für Sie irgendwie bekannt anhört, dann haben wir hier gute Nachrichten für Sie: Die Momente, die Sie nur überstehen wollen, sind in Wirklichkeit Gelegenheiten, um Ihr Kind in seiner Entfaltung zu unterstützen. Manchmal haben Sie vielleicht das Gefühl, dass die liebevollen, wichtigen Momente (wie ein bedeutungsvolles Gespräch über Mitgefühl oder einen guten Charakter) von den Herausforderungen der Erziehung getrennt sind (wie der nächste Kampf um die Hausaufgaben oder der Umgang mit einer neuen Katastrophe). Aber sie sind überhaupt nicht getrennt. Wenn Ihr Kind respektlos ist, wenn Sie zu einem Termin mit der Schulleitung gebeten werden, wenn Sie auf der Wand Buntstift-Kritzeleien sehen: Dann sind das ohne Frage Überlebensmomente. Aber gleichzeitig sind es Gelegenheiten – sogar Geschenke –, denn ein Überlebensmoment ist auch ein Entfaltungsmoment, eine kostbare Gelegenheit, mit unseren Kindern zu wachsen.
Denken Sie beispielsweise an eine Situation, die sie normalerweise einfach nur überstehen wollen. Vielleicht wenn Ihre Kinder zum dritten Mal in drei Minuten miteinander streiten. (Gar nicht so abwegig, oder?) Statt den Streit zu unterbrechen und die kämpfenden Geschwister in ihre Zimmer zu schicken, können Sie die Auseinandersetzung als eine Gelegenheit nutzen, um den Kindern etwas zu vermitteln: über aufmerksames Zuhören und die Beachtung einer anderen Sichtweise; über die klare und respektvolle Kommunikation der eigenen Wünsche; über Kompromisse, Opfer bringen, Verhandeln und Vergebung. Wir wissen, dass man sich das in der Hitze des Moments nur schwer vorstellen kann. Aber wenn Sie nur ein wenig über die emotionalen Bedürfnisse und mentalen Zustände Ihres Kindes wissen, können Sie zu diesem positiven Ergebnis kommen – selbst ohne eine Eingreiftruppe der Vereinten Nationen.
Es ist nichts falsch daran, wenn Sie Ihre Kinder bei einem Streit voneinander trennen. Das ist eine gute Überlebenstechnik und in bestimmten Situationen ist es vielleicht die beste Lösung. Aber oft können wir mehr erreichen, als nur den Konflikt und den Lärm zu beenden. Wir können die Erfahrung so transformieren, dass sich nicht nur das Gehirn des Kindes entwickelt, sondern auch seine Beziehungsfähigkeit und sein Charakter. Mit der Zeit werden die Geschwister wachsen und geschickter im Umgang mit Konflikten ohne die elterliche Aufsicht werden. Das ist nur eine der Möglichkeiten, wie Sie ihnen bei ihrer Entfaltung helfen können.
Der große Vorteil dieses Ansatzes von „Überleben und Entfalten“ besteht darin, dass wir uns keine besondere Zeit reservieren müssen, um unsere Kindern bei ihrer Entfaltung zu unterstützen. Wir können alle Interaktionen mit ihnen – die stressvollen, die wütenden und auch die wunderbaren, kostbaren – als Möglichkeiten nutzen, um ihnen zu helfen, verantwortungsvolle, fürsorgliche, eigenständige Menschen zu werden. Und darum geht es in diesem Buch: Wir können diese Momente des Alltags mit unseren Kindern nutzen, um ihnen zu helfen, ihr wahres Potential zu entfalten. Die folgenden Seiten bieten ein Gegenmittel zu Erziehungsweisen und wissenschaftlichen Ansätzen, die Leistung und Perfektion um jeden Preis betonen. Wir fokussieren uns in diesem Buch vielmehr auf Wege, wie Sie Ihren Kindern helfen können, sie selbst zu sein, mit Leichtigkeit in der Welt zu leben und mehr Resilienz und Stärke zu entwickeln. Und wie macht man das? Wir haben eine einfache Antwort darauf: Wir müssen einige Grundlagen des kindlichen Gehirns verstehen, das wir beim Wachsen und in seiner Entwicklung unterstützen wollen. Darum geht es in Achtsame Kommunikation mit Kindern.
Zum Gebrauch dieses Buches
Ob Sie nun eine Mutter oder ein Vater, eine Großmutter oder ein Großvater, ein Lehrer, ein Therapeut oder eine andere wichtige Bezugsperson im Leben eines Kindes sind – für Sie haben wir dieses Buch geschrieben. Wir nutzen im Verlaufe des Buches das Wort Eltern, aber wir meinen jeden, der die wichtige Arbeit der Begleitung, Unterstützung und Pflege unserer Kinder annimmt. Es ist unser Ziel, Ihnen zu zeigen, wie Sie die alltäglichen Interaktionen als Möglichkeiten nutzen können, damit Sie und die Kinder, um die Sie sich kümmern, schwierige Situationen überstehen und sich entfalten. Obwohl vieles in diesem Buch auch erfolgreich auf Jugendliche angewendet werden kann – in der Tat planen wir schon ein weiteres Buch, das genau diesen Zweck erfüllt –, fokussiert sich dieses Buch auf die Phase von der Geburt bis zum zwölften Lebensjahr und beschäftigt sich vor allem mit Kleinkindern, Schulkindern und Kindern vor dem Teenageralter.
Auf den nun folgenden Seiten eröffnen wir Ihnen eine integrierte Sicht auf das Gehirn und geben Ihnen eine Vielzahl von Strategien an die Hand, um Ihren Kindern zu helfen, glücklicher, gesünder und mehr sie selbst zu sein. Das erste Kapitel beschreibt die Grundlagen unter Berücksichtigung der Hirnforschung und bietet eine Einführung in das einfache, aber wirkungsvolle Konzept, das den Kern der ganzheitlichen Entwicklung des Gehirns bildet: Integration. Das zweite Kapitel fokussiert sich darauf, dem Kind zu helfen, die linke und rechte Gehirnhälfte ausgeglichen zu entwickeln, damit es sowohl mit seinem logischen als auch mit seinem emotionalen Selbst verbunden ist. Das dritte Kapitel betont die Bedeutung der Verbindung zwischen dem instinkthaften „unteren Gehirn“ und dem denkenden „oberen Gehirn“, das für die Entscheidungsfindung, die persönlichen Einsichten sowie für Empathie und Moral zuständig ist. Das vierte Kapitel zeigt, wie wir unseren Kindern helfen können, mit schmerzhaften Momenten in der Vergangenheit umzugehen, indem wir sanft, bewusst und absichtsvoll darauf eingehen. Das fünfte Kapitel vermittelt Ihnen Wege, wie Sie Ihrem Kind beibringen können, dass es die Fähigkeit hat, innezuhalten und über den Zustand seines eigenen Geistes zu reflektieren. Dadurch haben Ihre Kinder die Möglichkeit, Entscheidungen zu treffen, die einen Einfluss darauf haben, wie sie sich fühlen und wie sie auf ihre Welt reagieren. Das sechste Kapitel zeigt Wege auf, wie Sie Ihre Kinder etwas über das Glück und die Erfüllung lehren können, die aus der Verbundenheit mit anderen entstehen, wobei sie gleichzeitig ihre einzigartige Identität aufrechterhalten.
Durch ein klares Verstehen dieser verschiedenen Aspekte eines integrierten Gehirns werden Sie das Leben mit Kindern in einem völlig neuen Licht sehen. Als Eltern sind wir so geprägt, dass wir unsere Kinder vor jeder Verletzung und jedem Schmerz schützen wollen, aber letztendlich können wir das nicht. Sie werden hinfallen, sie werden emotional verletzt werden und sie werden Angst haben, traurig und wütend sein. In der Tat sind es oft diese schwierigen Erfahrungen, durch die sie wachsen können und etwas über die Welt lernen. Statt unsere Kinder vor den unvermeidlichen Schwierigkeiten des Lebens zu schützen, können wir ihnen helfen, diese Erfahrungen in ihr Verstehen der Welt zu integrieren und daraus zu lernen. Ob unsere Kinder in ihrem jungen Leben einen Sinn finden, hängt nicht nur von den Dingen ab, die ihnen begegnen, sondern auch davon, wie ihre Eltern, Lehrer und andere Bezugspersonen auf sie reagieren.
Daher war eines unserer wichtigsten Ziele, Achtsame Kommunikation mit Kindern so nutzbringend wie möglich zu gestalten, indem wir Ihnen diese spezifischen Methoden an die Hand geben, um das Leben mit Kindern einfacher zu machen und die Beziehungen zu Ihren Kindern mit Sinn zu erfüllen. Das ist einer der Gründe dafür, dass sich ungefähr die Hälfte jedes Kapitels mit Empfehlungen – „Was Sie tun können“ – beschäftigt. Darin machen wir praktische Vorschläge und geben Beispiele, wie Sie die wissenschaftlichen Konzepte, die in dem betreffenden Kapitel vorgestellt wurden, anwenden können.
Am Ende jedes Kapitels finden Sie auch zwei Abschnitte, die Ihnen helfen können, Ihr neues Wissen schnell einzusetzen. Die erste dieser Rubriken heißt „Kinder mit einem integrierten Gehirn“, die Ihnen helfen soll, Ihren Kindern die Grundlagen dessen zu vermitteln, was wir in dem betreffenden Kapitel eingeführt haben. Es mag sich merkwürdig anhören, mit kleinen Kindern über das Gehirn sprechen zu wollen. Immerhin ist es ja Hirnforschung. Aber wir haben gemerkt, dass selbst kleine Kinder – selbst mit vier oder fünf Jahren – wirklich einige wichtige Grundlagen über die Funktionsweise des Gehirns verstehen können. Und dadurch verstehen sie auch sich selbst und ihr Verhalten sowie ihre Gefühle in neuer und einsichtsvoller Weise. Dieses Wissen kann für das Kind sehr wirkungsvoll sein, aber auch für die Eltern, die so leben und lieben wollen, dass auch sie sich damit wohlfühlen. Wir haben die Rubrik „Kinder mit einem integrierten Gehirn“ auf eine Art und Weise geschrieben, dass sie für Kinder im Schulalter verständlich ist. Sie können die Informationen aber auch anpassen, wenn Sie die Texte laut vorlesen, damit sie der Entwicklungsstufe Ihres Kindes entsprechen.
Die andere Rubrik am Ende jedes Kapitels nennen wir „Uns selbst integrieren“. Der größte Teil des Buches fokussiert sich auf das innere Erleben Ihres Kindes und die Beziehung zwischen Ihnen und Ihrem Kind. Aber in dieser Rubrik werden wir Ihnen helfen, die Konzepte jedes Kapitels in Ihrem eigenen Leben und in Ihren Beziehungen anzuwenden. Während der Entwicklung des Kindes ist sein Gehirn wie ein Spiegel des Gehirns der Eltern. Mit anderen Worten, die Entwicklung und das Wachstum der Eltern – oder deren Ausbleiben – hat eine Wirkung auf das Gehirn des Kindes. Wenn die Eltern aufmerksamer und emotional gesünder werden, profitieren ihre Kinder davon und bewegen sich ebenfalls in Richtung Gesundheit und Wohlbefinden. Das bedeutet, dass die Integration und Kultivierung Ihres eigenen Gehirns eines der liebevollsten und großzügigsten Geschenke ist, das Sie Ihren Kindern machen können.
Ein weiteres Werkzeug, das Sie hoffentlich hilfreich finden werden, ist das Diagramm „Altersstufen und Entwicklungsphasen“ am Ende des Buches, in dem wir eine einfache Zusammenfassung bieten, wie die Ideen des Buches passend zum Alter Ihres Kindes angewendet werden können. Jedes Kapitel des Buches ist so gestaltet, dass Sie die darin enthaltenen Ideen sofort in die Praxis umsetzen können. Im Verlauf jedes Kapitels finden Sie viele Empfehlungen, die verschiedene Altersstufen und Entwicklungsphasen des Kindes berücksichtigen. Um es den Eltern zu erleichtern, wird dieser letzte Abschnitt die Empfehlungen des Buches nach Altersstufen und Entwicklungsphasen ordnen. Wenn Sie zum Beispiel die Mutter eines Kleinkindes sind, können Sie schnell einen Hinweis dazu finden, was Sie tun können, um die Integration der linken und rechten Hirnhälfte bei Ihrem Kind zu unterstützen. Und im Laufe der Entwicklung Ihres Kindes können Sie in jeder Altersstufe wieder zum Buch zurückkehren und eine Liste mit Empfehlungen finden, die für die neue Entwicklungsphase Ihres Kindes relevant sind.
Vor dem Abschnitt „Altersstufen und Entwicklungsphasen“ finden Sie eine „Kühlschrankliste“, die die wichtigsten Ideen des Buches hervorhebt. Sie können diese Liste kopieren und sie an den Kühlschrank hängen, damit Sie und jeder, der Ihre Kinder liebt – Eltern, Babysitter, Großeltern usw. –, zusammenarbeiten können, um für das umfassende Wohlergehen Ihrer Kinder zu sorgen.
Sie werden hoffentlich bemerken, dass wir das Buch so zu gestalten versucht haben, dass es für Sie leicht verständlich und gut lesbar ist. Als Wissenschaftler liegt uns viel an Präzision und Richtigkeit; als Eltern ist uns das praktische Verstehen wichtig. Und wir haben mit dieser Spannung gerungen und sorgfältig überlegt, wie wir Ihnen die aktuellsten und wichtigsten Informationen klar, nützlich und praktikabel vermitteln können. Obwohl das Buch sicher auf wissenschaftlichen Erkenntnissen basiert, werden Sie nicht den Eindruck haben, Sie wären in einer wissenschaftlichen Vorlesung gelandet oder würden einen akademischen Text studieren. Ja, es geht um Hirnforschung und wir fühlen uns zutiefst dazu verpflichtet, dem treu zu bleiben, was Forschung und Wissenschaft zeigen. Aber wir vermitteln diese Informationen in einer Art und Weise, die Sie einlädt, statt Sie vor den Kopf zu stoßen. Wir haben beide unsere wissenschaftliche Karriere damit verbracht, wichtiges Wissen über die Erforschung des Gehirns so zusammenzufassen, dass Eltern es verstehen und es in den alltäglichen Interaktionen mit ihren Kindern sofort anwenden können. Lassen Sie sich also von diesem ganzen „Hirnzeugs“ nicht ablenken. Wir denken, es wird faszinierend für Sie sein. Die meisten grundlegenden Informationen sind tatsächlich ziemlich leicht verständlich und gut anwendbar.
Vielen Dank, dass Sie uns auf dieser Reise begleiten, bei der Sie zu einem umfassenderen Verständnis finden werden, wie Sie Ihren Kindern wirklich helfen können, glücklicher, gesünder und vollkommen sie selbst zu sein. Mit dem Wissen über das Gehirn können Sie besser auswählen, was Sie Ihre Kinder lehren, und wie und warum Sie auf sie reagieren. Dann können Sie viel mehr, als nur die Kindheit Ihrer Kinder zu überstehen. Wenn Sie Ihrem Kind immer wieder Erfahrungen ermöglichen, ein integriertes Gehirn zu entwickeln, dann werden Sie mit weniger alltäglichen Erziehungskrisen zu tun haben. Zudem wird Ihnen das Verständnis der Integration auch ein tieferes Wissen über Ihr Kind eröffnen und Sie können effektiver auf schwierige Situationen reagieren und selbständig eine Grundlage für ein Leben in Liebe und Glück fördern. Als Folge dessen wird sich nicht nur Ihr Kind entfalten – jetzt und auf dem Weg zum Erwachsenwerden –, sondern auch Sie und Ihre ganze Familie werden davon profitieren.
Bitte besuchen Sie uns auf unserer (englischsprachigen) Webseite und berichten Sie uns von Ihren Erfahrungen mit Achtsame Kommunikation mit Kindern. Wir freuen uns, von Ihnen zu hören.
Dan und Tina
www.WholeBrainChild.com
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Erziehung mit einemVerständnis des Gehirns
Eltern sind oft Experten in Bezug auf den Körper ihrer Kinder. Sie wissen, dass eine Körpertemperatur über 38° C Fieber ist. Eltern wissen, dass man eine Wunde reinigen muss, damit keine Infektion entsteht. Sie wissen, welches Essen die Kinder so „aufdreht“, dass sie kaum schlafen können.
Aber selbst die fürsorglichsten, kultiviertesten Eltern haben oft kaum ein grundlegendes Wissen über das Gehirn ihres Kindes. Ist das nicht erstaunlich? Besonders dann, wenn wir die zentrale Rolle des Gehirns bedenken, die es in so gut wie jedem Bereich des kindlichen Lebens spielt, der den Eltern ein Anliegen ist: Ausgeglichenheit, Disziplin, Entscheidungsfindung, Selbstwahrnehmung, Schule, Beziehungen usw. In der Tat bestimmt das Gehirn in großem Maße, wer wir sind und was wir tun. Und weil das Gehirn in großem Ausmaß von den Erfahrungen beeinflusst wird, die wir als Eltern ermöglichen, können wir die innere Stärke, die Resilienz und das Selbstbewusstsein eines Kindes fördern, wenn wir wissen, wie sich das Gehirn als Reaktion auf unsere Erziehung verändert.
Wir möchten Sie also in die Perspektive des integrierten Gehirns einführen. Wir möchten Ihnen einige grundlegende Konzepte über das Gehirn vermitteln und Ihnen helfen, Ihr neues Wissen anzuwenden, so dass es das Leben mit Ihren Kindern erleichtert und mit Sinn erfüllt. Wir sagen nicht, dass dieser Ansatz des integrierten Gehirns Sie von allen Frustrationen der Erziehung befreien wird. Aber indem Sie einige einfache Grundlagen über die Gehirnfunktion verstehen lernen, werden Sie in der Lage sein, Ihr Kind besser zu verstehen, effektiver auf schwierige Situationen zu antworten, und die Basis für soziale, emotionale und mentale Gesundheit bilden. Was Sie als Eltern tun, ist wichtig – und wir geben Ihnen klare, wissenschaftliche Konzepte, die Ihnen helfen werden, eine tiefe Beziehung mit Ihrem Kind zu entwickeln, die sein Gehirn positiv formen kann und ihm die beste Ausgangsbasis für ein gesundes und glückliches Leben gibt.
Wir möchten Ihnen eine Geschichte erzählen, die zeigt, wie nützlich diese Informationen für Eltern sein können.
Eea Woo Woo
Marianna erhielt eines Tages einen Anruf bei ihrer Arbeitsstelle. Ihr wurde mitgeteilt, dass ihr zweijähriger Sohn Marco und dessen Babysitterin einen Autounfall hatten. Marco ging es gut, aber die Babysitterin, die das Auto gefahren hatte, war in einem Krankenwagen ins Krankenhaus gebracht worden.
Marianna war Direktorin an einer Grundschule und eilte sofort an den Unfallort, wo ihr gesagt wurde, dass die Babysitterin beim Fahren einen epileptischen Anfall erlitten hatte. Marianna sah, wie ein Feuerwehrmann erfolglos versuchte, Ihren Kleinen zu beruhigen. Sie nahm Marco in ihre Arme, tröstete ihn und er beruhigte sich sofort.
Sobald er aufgehört hatte zu weinen, erzählte Marco seiner Mutter, was geschehen war. Mit der Sprache eines Zweijährigen, die nur seine Eltern und die Babysitterin verstanden, wiederholte Marco immer wieder: „Eea Woo Woo.“ Eea ist sein Wort für „Sophia“, der Name seiner geliebten Babysitterin, und „Woo Woo“ bezieht sich auf seine Version der Sirenen eines Feuerwehrautos (oder in diesem Fall eines Krankenwagens). Mit der ständigen Wiederholung von „Eea Woo Woo“ fokussierte sich Marco auf das Detail der Geschichte, das für ihn am wichtigsten war: Sophia war ihm weggenommen worden.
In einer solchen Situation wären viele von uns versucht, Marco zu versichern, dass mit Sophia alles in Ordnung sei, um sich dann sofort auf etwas anderes zu fokussieren und das Kind abzulenken: „Lass uns ein Eis essen!“ In den folgenden Tagen würden viele Eltern den Unfall nicht ansprechen, um das Kind nicht zu beunruhigen. Das Problem bei dem Ansatz „Lass uns ein Eis essen!“ ist, dass das Kind im Unklaren darüber gelassen wird, was eigentlich passiert ist und warum es geschehen ist. Es ist immer noch voller intensiver und furchterregender Emotionen, aber ihm wird nicht erlaubt (oder geholfen), damit effektiv umzugehen.
Marianna beging diesen Fehler nicht. Sie hatte Tinas Kurs für Eltern besucht und wendete ihr neues Wissen sogleich an. An diesem Abend und in der kommenden Woche brachten Marcos Gedanken ihn immer wieder zu dem Autounfall zurück und Marianna half ihm, die Geschichte immer wieder zu erzählen. Sie sagte zum Beispiel: „Ja, du und Sophia, ihr hattet einen Autounfall, nicht wahr?“ Dann streckte Marco seine Arme aus und schüttelte sie, um Sophias Anfall nachzumachen. Und Marianna sagte: „Ja, Sophia hatte einen Anfall und hat sich geschüttelt und das Auto hatte einen Unfall, nicht wahr?“ Marcos Reaktion darauf war natürlich das bekannte „Eea Woo Woo“, worauf Marianna antwortete, „Genau, die Woo Woo kam und hat Sophia zum Arzt gebracht. Aber nun geht es ihr schon viel besser. Weißt du noch, wir haben sie gestern besucht? Ihr geht es schon wieder richtig gut, nicht wahr?“
Weil Marco seine Geschichte immer wieder erzählen konnte, half ihm Marianna, das Geschehene zu verstehen, damit er auch emotional damit umgehen konnte. Weil sie wusste, wie wichtig es ist, ihrem Sohn zu helfen, die angstauslösende Erfahrung zu verarbeiten, gab sie ihm die Gelegenheit, das Geschehene immer wieder zu erzählen. Dadurch konnte er seine Angst verarbeiten und seinen Alltag in einer gesunden und ausgeglichenen Weise weiterführen. In den nächsten Tagen sprach Marco immer weniger über den Unfall, bis er zu einer weiteren Lebenserfahrung – allerdings zu einer wichtigen Erfahrung – geworden war.
Auf den nächsten Seiten werden Sie Einzelheiten darüber erfahren, warum Marianna so reagierte und warum es sowohl auf praktischer als auch auf neurologischer Ebene für ihren Sohn hilfreich war. Sie werden Ihr neues Wissen über das Gehirn in vielerlei Hinsicht anwenden können. Es wird Ihnen helfen, Ihr Kind zu verstehen und dieser Beziehung einen tieferen Sinn zu geben.
Den Kern von Mariannas Reaktion – wie des vorliegenden Buches insgesamt – bildet das Konzept der Integration. Ein klares Verständnis von Integration wird Ihnen die Kraft geben, Ihr Denken in Bezug auf die Erziehung Ihrer Kinder vollkommen zu transformieren. Sie werden mehr Freude mit Ihren Kindern erfahren und sie besser auf ein emotional reiches und erfüllendes Leben vorbereiten.
Was ist Integration und warum ist sie wichtig?
Viele von uns denken nicht über die Tatsache nach, dass unser Gehirn viele verschiedene Teile mit verschiedenen Aufgaben hat. Wir haben zum Beispiel eine linke Hirnhälfte, durch die wir logisch denken und Gedanken zu Sätzen organisieren können, und wir haben eine rechte Hirnhälfte, durch die wir Emotionen erleben und nonverbale Zeichen lesen können. Wir haben auch ein „Reptiliengehirn“, durch das wir instinktiv handeln und sekundenschnelle Überlebensentscheidungen treffen können. Und wir haben ein „Säugetiergehirn“, das uns Verbindungen und Beziehungen aufbauen lässt. Ein weiterer Teil unseres Gehirns hat die Aufgabe sich mit Erinnerungen zu beschäftigen, ein anderer Teil trifft ethisch-moralische Entscheidungen. Es ist fast so, als hätte unser Gehirn multiple Persönlichkeiten – einige sind rational, einige sind irrational; einige sind empfänglich, die anderen reaktiv. Kein Wunder, dass wir in verschiedenen Momenten wie ein ganz anderer Mensch wirken können!
Der Schlüssel zur Entfaltung besteht darin, diesen Teilen zu helfen, gut zusammenzuarbeiten – sie also zu integrieren. Integration nutzt die verschiedenen Teile des Gehirns und unterstützt sie in der Zusammenarbeit als ein Ganzes. Vergleichbar der Funktionsweise des Körpers, der verschiedene Organe besitzt, die unterschiedliche Aufgaben erfüllen: Die Lunge atmet Luft, das Herz pumpt Blut, der Bauch verdaut Nahrung. Damit der Körper gesund ist, müssen all diese Organe integriert sein. Mit anderen Worten, sie müssen alle ihre individuelle Aufgabe erfüllen und gleichzeitig als Ganzes zusammenarbeiten. Und das ist, einfach gesagt, Integration: verschiedene Elemente miteinander zu verbinden, um ein gut funktionierendes Ganzes zu schaffen. Wie bei der gesunden Funktionsweise des Körpers kann unser Gehirn nur dann auf höchstem Niveau arbeiten, wenn die verschiedenen Teile koordiniert und ausgeglichen zusammenarbeiten. Das ist genau die Aufgabe von Integration: Sie koordiniert die getrennten Bereiche des Gehirns, verbindet sie miteinander und gleicht sie aus. Wir können schnell erkennen, wenn unsere Kinder nicht integriert sind – sie werden von ihren Emotionen überwältigt, konfus und chaotisch. Sie können nicht ruhig und angemessen auf die momentane Situation reagieren. Wutausbrüche, Trotzanfälle, Aggression wie die meisten herausfordernden Erfahrungen der Erziehung – und des Lebens – sind das Ergebnis eines Mangels an Integration, der auch als Desintegration oder Auflösung bekannt ist.
Wir wollen unseren Kindern helfen, integrierter zu werden, damit sie ihr ganzes Gehirn in einer koordinierten Weise nutzen können. Wir wollen zum Beispiel, dass sie horizontal integriert sind, damit die Logik der linken Hirnhälfte gut mit der Emotion der rechten Gehirnhälfte zusammenarbeiten kann. Wichtig ist auch, dass sie vertikal integriert sind, damit die höheren, weiter entwickelten Teile des Gehirns, durch die sie ihr Handeln überdenken können, gut mit den unteren Teilen zusammenarbeiten, denen es eher um Instinkt, Bauchgefühle und um das Überleben geht.
Die Art und Weise, wie Integration geschieht, ist faszinierend und etwas, dessen sich die meisten Menschen nicht bewusst sind. In den vergangenen Jahren haben Wissenschaftler bildgebende Verfahren zur Untersuchung des Gehirns entwickelt, durch die die Forscher das Gehirn in einer Weise untersuchen konnten, wie es nie zuvor möglich war. Diese neue Technologie hat viel von dem bestätigt, was wir bisher über das Gehirn angenommen haben. Aber eine der Überraschungen, die die Grundlagen der Neurowissenschaft erschüttert hat, ist die Entdeckung, dass das Gehirn in der Tat „plastisch“ oder formbar ist. Das bedeutet, dass sich das Gehirn im Laufe unseres Lebens physisch verändert, nicht nur in der Kindheit, wie bisher angenommen wurde.
Was formt unser Gehirn? Erfahrung. Selbst noch im hohen Alter verändern unsere Erfahrungen tatsächlich die physische Struktur des Gehirns. Wenn wir durch eine Erfahrung gehen, werden unsere Hirnzellen – auch Neuronen genannt – aktiv und „gezündet“. Das Gehirn enthält hundert Milliarden Neuronen. Jedes davon hat ungefähr zehntausend Verbindungen zu anderen Neuronen. Die Art und Weise, wie bestimmte Kreisläufe im Gehirn aktiviert werden, bestimmt die Natur unserer mentalen Aktivität, die vom Wahrnehmen von Bildern oder Klängen bis zum abstrakten Denken und vernünftigen Abwägen reicht. Wenn Neuronen zusammen aktiviert werden, dann wachsen zwischen ihnen neue Verbindungen. Mit der Zeit führen die Verbindungen, die von der Aktivierung herrühren, zu einer „neuen Vernetzung“ des Gehirns. Das sind sehr aufregende Neuigkeiten. Sie bedeuten, dass wir nicht dem ausgeliefert sind, wie unser Gehirn heute funktioniert – wir können es tatsächlich neu vernetzen, damit wir gesünder und glücklicher leben können. Das trifft nicht nur für Kinder und Heranwachsende zu, sondern für jeden von uns während der gesamten Lebensspanne.
In jedem Moment wird das Gehirn Ihres Kindes neu vernetzt und die Erfahrungen, die Sie ihm ermöglichen, werden in großem Ausmaß die Struktur seines Gehirns bestimmen. Sie müssen sich deshalb aber keinen Druck machen. Es gibt keinen Grund zur Sorge. Die Natur hat es so angelegt, dass sich die grundlegende Architektur des Gehirns entwickeln wird, wenn wir ausreichend Nahrung, Schlaf und Stimulation bekommen. Natürlich spielen auch die Gene eine große Rolle dabei, was für Menschen wir werden, vor allem in Bezug auf unser Temperament. Aber Erkenntnisse aus verschiedenen Bereichen der Entwicklungspsychologie legen nahe, dass alles, was uns begegnet – die Musik, die wir hören; die Menschen, die wir lieben; die Bücher, die wir lesen; die Disziplin, die wir erlernen; die Emotionen, die wir fühlen –, eine tiefe Wirkung auf die Entwicklung unseres Gehirns hat. Mit anderen Worten, ergänzend zur grundlegenden Architektur des Gehirns und unseres angeborenen Temperaments können Eltern noch viel tun, um den Kindern die Erfahrungen zu ermöglichen, die ihnen helfen, ein widerstandsfähiges, gut integriertes Gehirn zu entwickeln. Dieses Buch wird Ihnen zeigen, wie Sie alltägliche Erfahrungen nutzen können, um das Gehirn Ihres Kindes im Prozess zunehmender Integration zu unterstützen.
Kinder, deren Eltern mit ihnen über ihre Erfahrungen sprechen, haben in der Regel einen besseren Zugang zu den Erinnerungen an diese Erfahrungen. Eltern, die mit ihren Kindern über die Gefühle der Kinder sprechen, ziehen Kinder auf, die emotionale Intelligenz entwickeln und ihre eigenen Gefühle und die Gefühle anderer Menschen umfassender verstehen können. Schüchterne Kinder, deren Eltern ihre Kinder zum Entdecken der Welt ermutigen, neigen dazu, ihre verhaltensbedingte Schüchternheit zu überwinden. Kinder hingegen, die allzu sehr beschützt werden oder ohne Unterstützung Angst auslösenden Erfahrungen ausgesetzt werden, behalten oft ihre Schüchternheit bei.
Es gibt ein ganzes Forschungsfeld innerhalb der Wissenschaft von der Entwicklung des Kindes und der Bindungstheorie, das diese Sichtweise unterstützt – und die neuen Erkenntnisse im Bereich der Neuroplastizität untermauern diese Perspektive: Eltern können das Wachstum des Gehirns ihrer Kinder durch die Erfahrungen, die sie ihnen ermöglichen, direkt beeinflussen. Das Ausmaß der Zeit, die Kinder vor einem Bildschirm verbringen – mit Videospielen, Fernsehen oder mit Smartphones – wird das Gehirn in bestimmter Art und Weise vernetzen. Pädagogische Aktivitäten, Sport und Musik werden es in anderer Weise vernetzen. Und Zeit mit der Familie und Freunden zu verbringen und etwas über Beziehungen zu lernen, besonders im direkten Kontakt, wird das Gehirn in wieder einer anderen Art und Weise vernetzen. Alles, was uns widerfährt, hat eine Wirkung auf die Entwicklung des Gehirns.
Um diesen Prozess von Vernetzung und Neuvernetzung geht es bei der Integration: Wir ermöglichen unseren Kindern Erfahrungen, um Verbindungen zwischen verschiedenen Teilen des Gehirns zu schaffen. Wenn diese Teile zusammenarbeiten, schaffen und erhalten sie die integrativen Fasern, die verschiedene Teile des Gehirns miteinander verbinden. Als Folge dessen werden sie stärker verbunden und können noch harmonischer zusammenarbeiten. So wie eine Sängerin in einem Chor ihre einzigartige Stimme harmonisch einbringen kann, ist ein integriertes Gehirn in der Lage, viel mehr zu erreichen, als es deren einzelne Teile allein tun könnten.
Das möchten wir für jedes unserer Kinder tun: seinem Gehirn helfen, sich zu integrieren, damit es seine mentalen Fähigkeiten voll ausschöpfen kann. Genau das hat Marianna für Marco getan. Als sie ihm half, die Geschichte immer wieder zu erzählen („Eea Woo Woo“), entschärfte sie die beängstigenden und traumatischen Emotionen in seiner rechten Hirnhälfte, damit sie ihn nicht beherrschen. Sie führte Details der Fakten an und förderte die Logik seiner linken Hirnhälfte – die sich im Alter von zwei Jahren erst zu entwickeln beginnt –, so dass er mit dem Unfall in einer für ihn sinnvollen Art und Weise umgehen konnte.
Wenn ihm seine Mutter nicht geholfen hätte, die Geschichte zu erzählen und zu verstehen, wären Marcos Ängste ungelöst geblieben und hätten sich in anderer Weise bemerkbar machen können. Er hätte vielleicht eine Phobie in Verbindung mit dem Autofahren entwickelt oder hätte Angst, von seinen Eltern getrennt zu sein, oder seine rechte Hirnhälfte hätte sich in anderer Art und Weise unkontrolliert ausgedrückt, was zu häufigen Wutausbrüchen hätte führen können. Aber weil Marianna zusammen mit Marco die Geschichte erzählte, half sie ihm, seine Aufmerksamkeit sowohl auf die konkreten Einzelheiten des Unfalls als auch auf seine Emotionen zu richten. Dadurch konnte er die linke und rechte Hirnhälfte zusammen nutzen und tatsächlich ihre Verbindung verstärken. (Wir beschreiben dieses Konzept im 2. Kapitel noch ausführlicher.) Dank einer besseren Integration konnte er wieder ein sich normal entwickelnder Zweijähriger sein, statt sich auf die Angst und das Leid, die er erfahren hatte, zu fixieren.
Betrachten wir ein weiteres Beispiel. Gibt es heute, da Sie und Ihre Geschwister erwachsen sind, immer noch Streit darüber, wer den Knopf am Fahrstuhl drückt? Natürlich nicht. (Hoffen wir zumindest.) Aber zanken und kämpfen Ihre Kinder um solche Dinge? Wenn es typische Kinder sind, dann ja.
Der Grund für diesen Unterschied bringt uns zurück zum Gehirn und zur Integration. Rivalitäten zwischen Geschwistern haben genau die gleichen Ursachen, wie so viele Schwierigkeiten im Leben mit Kindern – Wutausbrüche, Ungehorsam, Kämpfe um Hausaufgaben, Probleme mit der Disziplin usw. Wie wir in den nächsten Kapiteln noch näher ausführen werden, sind diese alltäglichen Herausforderungen das Resultat eines Mangels an Integration im Gehirn Ihres Kindes. Und es gibt einen einfachen Grund dafür, dass das kindliche Gehirn nicht immer zur Integration fähig ist: Es hatte nicht die Zeit, sich zu entwickeln. In der Tat hat es noch einen weiten Weg vor sich, denn das Gehirn eines Menschen wird erst mit Mitte zwanzig als voll entwickelt angesehen.
Das sind die schlechten Neuigkeiten: Wir müssen auf die Entwicklung des Gehirns unseres Kindes warten. Das stimmt. Ganz gleich, wie genial Ihr Kind im Vorschulalter Ihrer Meinung nach ist, es hat einfach nicht das Gehirn eines Zehnjährigen und das wird auch für einige Jahre so bleiben. Die Geschwindigkeit der Reifung des Gehirns wird zum Großteil durch unsere Gene bestimmt. Aber das Ausmaß der Integration können wir mit der Art und Weise wie wir auf unsere Kinder alltäglich eingehen beeinflussen.
Die gute Nachricht ist, dass Sie durch die Nutzung alltäglicher Momente beeinflussen können, wie gut sich das Gehirn Ihres Kindes in Richtung Integration entwickelt.
