Handbuch der Interpersonellen Neurobiologie - Daniel Siegel - E-Book

Handbuch der Interpersonellen Neurobiologie E-Book

Daniel Siegel

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Beschreibung

Was genau ist eigentlich der menschliche Geist? Und was führt zu einem gesunden Geist? Wie entsteht unser Bewusstsein und wodurch wissen wir etwas über das Leben? Und, was vielleicht am wichtigsten ist: Welche Verbindung besteht zwischen dem Geist, dem Gehirn und unseren Beziehungen? Psychologen, Sprachwissenschaftler, Neurowissenschaftler, Philosophen und viele andere haben die Natur des mentalen Lebens erforscht, doch bisher gibt es keinen interdisziplinären Ansatz, um diese Grundfragen wirklich zu beantworten oder gar eine Definition des Geistes zu formulieren. Daniel Siegel verbindet in seinem Buch viele Wissensbereiche, die zeigen, wie der Geist wirkt. Dazu nutzt er ein Format, das die natürliche Form des Lernens im Gehirn widerspiegelt: Sie können dieses Handbuch auf jeder Seite aufschlagen und einen "Eingangspunkt" finden, durch den Sie auf Ihre Weise das Netz des integrierten Wissens erforschen können. Siegel erklärt uns die komplexen Grundlagen der Interpersonellen Neurobiologie und erläutert uns die persönlichen und beruflichen Anwendungen dieses faszinierenden neuen Ansatzes, um einen gesunden Geist, ein integriertes Gehirn und gute Beziehungen zu entwickeln.

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Daniel Siegel

Handbuch der Interpersonellen Neurobiologie

Ein umfassender Leitfaden zum Verständnis der Funktion von Gehirn und Geist

Übersetzt von Mike Kauschke

Für Alex

© 2012 Mind Your Brain, Inc.

© 2014 der deutschen Ausgabe: Arbor Verlag GmbH Freiburg by arrangement with W.W. Norton & Company, Inc., New York Die Originalausgabe erschien unter dem Titel:

Pocket Guide to Interpersonal Neurobiology. An Integrative Handbook of the Mind

Alle Rechte vorbehalten

E-Book 2020

1. Auflage 2020

Lektorat: Anne Nordmann, Georg Hehn

Hergestellt von mediengenossen.de

E-Book-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim, www.brocom.de

www.arbor-verlag.de

ISBN E-Book 978-3-86781-337-2

Inhalt

Reflexionen und Danksagungen

Einleitung

1 Geist

2 Beziehungen

3 Gehirn und Körper

4 Das Dreieck des Wohlbefindens

5 Gewahrsein

6 Achtsames Gewahrsein

7 Aufmerksamkeit

8 Neuroplastizität

9 SNAG: „Neuronen, die zusammen aktiviert sind, vernetzen sich“

10 Das Gehirn in der Handfläche

11 Rückenmark und Lamina I

12 Hirnstamm

13 Der limbische Bereich

14 Cortex

15 Das Gehirn als System

16 Integration

17 Kreativität, Gesundheit und der Fluss der Integration

18 Beziehungen und integrative Kommunikation

19 Die Neurobiologie des Wir

20 Bindung

21 Die Bindungskategorien

22 Mindsight

23 Einstimmung

24 Wiederverbindung nach einem Bruch

25 Einkehrzeit und Übungen des achtsamen Gewahrseins

26 Das Bewusstseinsrad

27 Die mittleren präfrontalen Funktionen

28 Energie- und Informationsfluss

29 Die Möglichkeitsebene

30 Erinnerung

31 Narrative

32 Emotion

33 Toleranzfenster und Reaktionsflexibilität

34 Interpersonelle Einstimmung formt die Selbstregulation

35 Geisteszustände

36 Mentale Prozesse: Modi und Stimmungen, Aktivitäten und Repräsentationen

37 Mentales Wohlbefinden und das Menü des gesunden Geistes

38 Ungesund-Sein und Krankheit

39 Trauma und Heilung verstehen

40 Die Bedeutung des Wohlbefindens

41 Integrationsbereiche

42 Vom Ich zum Wir: Synapse, Gesellschaft und erweitertes Selbst

43 Innere Bildung

Abbildungen

Kommentierter Index

Knotenpunkt-Netzwerk

Zum Autor

Reflexionen und Danksagungen

Vielen Dank, dass Sie mich auf dieser Reise in die Natur des Geistes begleiten! Die Zusammenstellung der Beiträge dieses Handbuchs, die das Wissen zum Ausdruck bringen, das der Interpersonellen Neurobiologie zugrunde liegt, war eine aufregende Herausforderung. Ich hoffe, dass Ihnen diese Erforschung von Geist, Gehirn und Beziehungen in Ihrem beruflichen und persönlichen Leben von Nutzen sein wird. Es ist zutiefst erfüllend, Mitbegründer und Teil einer Gemeinschaft von Menschen zu sein, die Integration und Wohlbefinden in unserer Welt fördern wollen. Ob wir uns persönlich bei unseren monatlichen Seminaren oder auf der jährlichen Konferenz für Interpersonelle Neurobiologie (IPNB) an der University of California in Los Angeles (UCLA) treffen oder ob wir online in unserer globalen Mindsight-Gemeinschaft verbunden sind –, Teil dieser Arbeit zu sein, deren Anliegen es ist, mehr Mitgefühl und Güte in die Welt zu bringen, ist ein großes Privileg.

In den letzten zwei Jahrzehnten hatte ich das Glück, den wunderbaren Dialog fördern zu dürfen, durch den eine gemeinsame Grundlage für eine tiefe und respektvolle Begegnung von Wissenschaft und Subjektivität geschaffen wurde. Unsere interdisziplinäre Gemeinschaft wächst weiter, und ich bin vielen Menschen sehr dankbar, dass sie Teil dieses neu entstehenden innovativen Ansatzes des Verstehens des Geistes und der Förderung mentaler Gesundheit in der Welt sind.

Das Mindsight Institute bietet der Interpersonellen Neurobiologie ein wunderbares Zuhause, einen Ort, wo sie wachsen und sich entwickeln konnte. Caroline Welch nimmt in unserer Arbeit eine wichtige Stellung ein, sie hat das Institut so organisiert, dass es eine neue Ebene des Einflusses in der Welt erreichen konnte. Eric Bergemann, Tina Bryson, Erica Ellis und Aubrey Siegel, allesamt Fachleute im Bereich der mentalen Gesundheit, arbeiten seit der Entstehung des Instituts darin mit. Stephanie Hamilton und Whitney Stambler unterstützen regelmäßig unsere vielen Programme, die in der Nähe und weltweit stattfinden. Die vielen Mitglieder der Global Association for Interpersonal Neurobiology Studies (MindGAINS.org) sind eine ständige Quelle der Inspiration und Ermutigung. Bonnie Goldstein und Marion Solomon vom Lifespan Institute waren eine unschätzbare Unterstützung bei der Entwicklung der jährlichen Interpersonal Neurobiology Conference, die in Zusammenarbeit mit der UCLA veranstaltet wird. Deborah Malmud, die Vizepräsidentin und Leiterin von Norton Professional Books, war mir eine große Hilfe beim Aufbau der Buchreihe Norton Series on Interpersonal Neurobiology. Sie weiß viel darüber, was das Forschungsfeld der mentalen Gesundheit weiterbringen kann. Es war mir eine Freude und Ehre gleichermaßen, für die Entwicklung dieser Buchreihe während des letzten Jahrzehnts mit ihr zusammenzuarbeiten. Vanni Kannan, der stellvertretende Leiter des Lektorats bei Norton Professional Books, war ebenfalls eine große Unterstützung. Ich möchte zudem Allan Schore danken, der in den letzten Jahren als Lektor an dieser Buchreihe mitgewirkt hat.

Während der Entstehung dieses Buchs haben Lee Freedman, Laura Hubber, Lynn Kutler, Sally Maslansky, Adit Shah, Aubrey Siegel und Caroline Welch unschätzbare Anmerkungen zum Manuskript gegeben. Die Autoren der Buchreihe Norton Interpersonal Neurobiology Bonnie Badenoch, Lou Cozolino, Pat Ogden, Steve Porges und Ed Tronick waren so freundlich, sich die Zeit zu nehmen, um den kommentierten Index durchzusehen und mir hilfreiche Vorschläge zu unterbreiten. Ich danke jedem einzelnen von ihnen für seine Hingabe an diese Arbeit und für diese ungewöhnliche Art und Weise, wie wir in unserem Forschungsfeld Wissen vermitteln. Die wunderbaren Zeichnungen in diesem Buch schließlich sind das Ergebnis der gemeinsamen künstlerischen Arbeit von David G. Moore (die Zeichnungen des Hand-Modells und des Gehirns in den Abbildungen D-1, 2 und 3) und Madeleine W. Siegel, alias MAWS, und ihres Unternehmens.

Der Ansatz dieses Leitfadens besteht darin, auf nicht-lineare Weise ein umfassendes Handbuch über den Geist zusammenzustellen, damit Sie als Leser diese „Wissenssphäre“ zu ihrer eigenen machen können. Die in diesem Buch enthaltenen Diskussionen der Konzepte und wissenschaftlichen Prinzipien, der Forschungsergebnisse und Tatsachen waren nur durch die harte und sorgfältige Arbeit eines großen Spektrums von Forschern aus über einem Dutzend von Wissenschaftsdisziplinen möglich. Wie in der Einleitung beschrieben, können die Hinweise auf tausende von Studien in den vielen anderen Büchern aus der Reihe Norton Interpersonal Neurobiology und in der zweiten Auflage von The Developing Mind (in deutscher Übersetzung erschienen als Wie wir werden, die wir sind) gefunden werden.

Hier möchte ich auch die Beiträge der Wissenschaftler würdigen, auf deren Schultern wir in der Interpersonellen Neurobiologie stehen. Ihre Arbeit schafft die Grundlagen für uns, um eine interdisziplinäre Sicht des Geistes, des Gehirns und der Beziehungen zu entwickeln. Dadurch können wir versuchen, neue Wege zu finden, um den Geist zu definieren und mehr Wohlbefinden in die Welt zu bringen. Die Entdeckung universeller Prinzipien, übergreifend über viele Wissenschaftsbereiche, ist eine spannende Herausforderung im Kern dieses Ansatzes. Dabei können wir die Übereinstimmungen entdecken, die entstehen, wenn normalerweise unabhängige Forschungsgebiete zusammen untersucht werden. Ich hoffe, Sie werden zu dem Schluss kommen, dass diese Anstrengung Früchte getragen hat. Auch hoffe ich, dass Sie und all die anderen Menschen in den vielen Bereichen Ihres Lebens von unseren gemeinsamen Anstrengungen profitieren werden.

Einleitung

„Wenn wir reisen, sind wir alle Fremde. Ob wir in ein anderes Land reisen oder unsere eigene Stadt oder unser eigenes Land erforschen, oft kommen wir in Gebiete, die so unbekannt sind, dass unser Bezugsrahmen nicht mehr angemessen ist. Wir brauchen Orientierung. Nicht nur um Angriffe und Gefahren zu vermeiden, sondern auch, um unsere Erfahrungen reicher, tiefer und freudvoller zu machen.“ So beginnt das Vorwort von Travellers’ Tales, das ich in einem alten Buchladen am Ufer der Seine in den Händen halte. Ich war in Paris, auf der Suche nach einem Ort in Frankreich für einen Think Tank, den wir für eine internationale Gruppe von Wissenschaftlern aus Asien, Europa und den USA veranstalten wollten. In dem Think Tank sollte es um die Erforschung des Geistes und der mentalen Gesundheit gehen. In diesem Laden, dem ältesten englischen Buchladen in dieser pulsierenden Hauptstadt, bereitete ich mich darauf vor, für Sie ein Handbuch der Interpersonellen Neurobiologie zu schreiben (ein Forschungsgebiet, das wir manchmal mit den Buchstaben IPNB abkürzen).

Ich war auf einer vierwöchigen Reise, die mich von Kalifornien aus ostwärts geführt hatte. Unterwegs hatte ich in Colorado und New York gelehrt, mich in Paris mit einem Philosophen/Physiker/Arzt getroffen und dabei nach einem zentralen, gut erreichbaren Ort, an dem sich Wissenschaftler aus aller Welt treffen können, gesucht. Inmitten all dessen fand ich nun das Buch Travellers’ Tales von O’Reilly, Habegger und O’Reilly, das in einer Perspektive geschrieben ist, die wir alle einnehmen sollten – etwa während unserer Reise mehr „Spaß“ zu haben:

„Es gibt vielleicht keine Stadt, die erhebender auf den menschlichen Geist wirkt [als Paris]. Dieser Ort ermöglicht es Ihnen, die Dimensionen Ihres Selbst oder die Dimensionen eines geliebten Menschen zu erfahren – ein Ort zum gehen und reden, an dem man über das Leben diskutieren und die Ereignisse der menschlichen Geschichte kontemplieren kann, die sich auf diesen Straßen, an den Ufern dieses Flusses, ereignet haben.

So sehr die Stadt des Lichtes auch von Tradition und Kultur geprägt sein mag, so hat sie doch Millionen von Menschen das Geschenk der strahlenden Gegenwärtigkeit gemacht. Eine Erfahrung oder einen Moment, in dem alles Leben verdichtet ist, über den man noch Jahre danach nachdenken wird. Paris ist ein Ort, an dem wir uns besonders lebendig fühlen, und die Stadt ist hier und jetzt für Sie da. Sie wartet darauf, dass Sie ihre Schätze entdecken und sie zu Ihren eigenen machen.“1

So lassen Sie uns unsere Reise in die Interpersonelle Neurobiologie in dieser Stadt beginnen … Ich hoffe, wir werden auf eine Weise reisen, die für den Geist erhebend sein wird, während Sie dazu eingeladen sind, sich selbst und andere besser zu verstehen. Wir werden die weitreichenden Erkenntnisse vieler Forschungsgebiete erläutern, die versuchen, die Natur der inneren und äußeren Wirklichkeiten zu verstehen. Zugleich werden wir tief in die Einsichten des gegenwärtigen Moments eintauchen.

Ein kurzer historischer und konzeptueller Hintergrund

Viele Forschungsgebiete haben die Natur des mentalen Lebens untersucht – von der Psychologie bis zur Philosophie, von der Literatur bis zur Linguistik. Nie aber wurde ein gemeinsamer Rahmen geschaffen, in dem all diese wichtigen Perspektiven wertgeschätzt und integriert werden können, ein Rahmen, in dem Menschen auf der Suche nach kollektiver Weisheit Antworten auf die Grundfragen des Lebens finden können. Diese Suche hat unsere Spezies jahrhundertelang umgetrieben. Was ist der Sinn des Lebens? Warum sind wir hier? Warum wissen wir überhaupt etwas? Warum können wir uns unserer selbst bewusst sein? Was ist ein Gedanke oder ein Gefühl? Was ist der Geist? Was macht den Geist gesund oder krank? Und in unserer modernen Welt können wir sogar fragen: Was ist die Verbindung zwischen dem Geist, dem Gehirn und unseren Beziehungen, die wir miteinander und mit diesem Planeten teilen, auf dem wir alle leben?

Als Schüler in der Highschool und später als Student am College haben mich diese menschlichen Grundfragen sehr fasziniert. Tagsüber studierte ich Biochemie und erforschte den Stoffwechsel der Fische und abends arbeitete ich bei einer Notfallhotline für Selbstmordgefährdete. Schon damals hatte ich die Sehnsucht, einen Weg zu finden, um die Kraft der objektiven Wissenschaft mit der zentralen Bedeutung unseres subjektiven inneren Lebens zu verbinden. Im Labor untersuchte ich die Moleküle, die es Lachsen ermöglichen, sich sicher vom Frischwasser ins Salzwasser zu begeben. Konnte dieses Phänomen mit der ebenso wichtigen Tatsache in Verbindung stehen, dass die Art und Weise, wie wir in einer Krise mit einem anderen Menschen kommunizieren, Leben oder Tod bedeuten kann? Meine ärztliche Ausbildung hatte ich mit der Neugier begonnen, die wechselseitigen Verbindungen zwischen der Wissenschaft und der Subjektivität zu erforschen – die verschiedenen Wege, wie wir die Wirklichkeiten unseres Lebens erkennen können. Dabei stellte ich fest, dass die verschiedenen Teilbereiche der Medizin, die bestimmte Systeme des Körpers untersuchen, nicht gut miteinander kommunizierten. Eine Internistin konnte beispielsweise die Organe des Körpers sehr genau kennen, doch sie kommunizierte nicht gut mit dem Chirurgen, der einem Eingriff an ihrem Patienten vornehmen sollte. Ein Kinderarzt konnte einem Kind helfen, aber ihm wurde nicht beigebracht, auf welche Weise die psychische Erkrankung eines Elternteiles die Entwicklung des Kindes negativ beeinflusst haben könnte. Auch während meines eigenen Studiums behandelten viele unsere ansonsten guten Lehrer ihre Patienten so, als ob sie kein Zentrum der inneren Erfahrung hätten – keinen subjektiven inneren Kern, den wir unser mentales oder psychisches Leben nennen können. Es war so, als wären wir nur ein Gefäß, das chemische Substanzen und Körperorgane enthält, aber ohne ein Selbst, ohne einen Geist ist. Ich ließ mein Studium ruhen und verbrachte ein Jahr mit Reisen und einer inneren Suche. Als ich mich dann entschloss, meine medizinische Ausbildung fortzusetzen, dachte ich zum ersten Mal darüber nach, mich der Psychiatrie zu widmen.

Damals, in den frühen 1980er Jahren, befand sich der Bereich der Medizin, der sich mit psychischen Krankheiten befasste, im Krieg mit sich selbst. Aufgrund der historisch begründeten Unstimmigkeiten zwischen den Allgemeinärzten, den Psychiatern, die vor allem mit Medikamenten behandelten, und den Psychoanalytikern, stand das ganze Forschungsgebiet unter starker Spannung. Als Student lernte ich diese verschiedenen Lager kennen und war erstaunt, wie wenig Zusammenarbeit oder Respekt es zwischen ihnen gab. Ich wählte dann stattdessen die Kinderheilkunde als Spezialgebiet, musste aber schnell feststellen, dass meine Begeisterung für Themen, die sich auf das Leben des Geistes bezogen, ungebrochen war, und begann daher schließlich – trotz der vielen Spannungen und Unstimmigkeiten, die in diesem Forschungsgebiet herrschten, – mit der Ausbildung zum Psychiater. Zum Ende meiner klinischen Ausbildung – erst in der Behandlung von Erwachsenen und später auch in der von Kindern und Jugendlichen – war ich unzufrieden über das, was ich lernte – oder genauer gesagt, über das, was ich nicht lernte. Ich hatte das Gefühl, dass wir die Diagnose und Behandlung von Störungen beigebracht bekamen, aber dass wenig darüber gesprochen wurde, was Gesundheit schafft oder was Gesundheit eigentlich ist. Das war damals der allgemeine Stand der Ausbildung, nicht nur in der Psychiatrie, sondern auch in den anderen Fachbereichen der Psychologie und mentalen Gesundheit.

Um mehr über gesunde Entwicklung zu lernen, bewarb ich mich um ein Forschungsstipendium beim National Institute of Mental Health, wo ich die Natur des Narrativs, der Erinnerung und der Kommunikation in Familien untersuchte. Ich wollte herausfinden, ob es eine Möglichkeit gab, die Zusammenarbeit und Synthese zwischen einer großen Breite von Wissensansätzen über unser Menschsein zu unterstützen und sich dem anzunähern, was Menschsein eigentlich bedeutet.

Damals, in den frühen 1990er, verstärkte die Forschung im Bereich der Psychiatrie ihren Fokus auf die „biologische Grundlage“ psychiatrischer Störungen wie Schizophrenie und manisch-depressiver Störung. Dies wurde möglich durch die neuen Erkenntnisse in Bezug auf Korrelationen zwischen atypischen Hirnfunktionen und mentalen Störungen. Es waren wichtige Anstrengungen, um Erkrankungen mit effektiven Behandlungsmethoden, wie dem Einsatz von Medikamenten, zu lindern. Die farbigen Hirnscans, die durch neue technologische Entwicklungen wie die Positronen-Emissions-Tomographie (PET) oder die funktionale Magnetresonanztomographie (fMRI) möglich wurden, waren ein faszinierender Anblick. Doch schon damals war es wichtig, nicht zu vergessen, dass diese kraftvollen Einsichten in ihrem nuancierten Kontext betrachtet werden müssen – und das ist auch heute noch der Fall. Veränderungen der Blutverteilung im Gehirn – oder metabolische Veränderungen, die mit diesen Veränderungen einhergehen – können gemessen werden. Als Wissenschaftler sind wir von numerischen Messgrößen abhängig, um unser Interessengebiet zu erforschen. Aber Aussagen, dass wir durch diese Scans dem Geist bei der Arbeit zusehen könnten, sind wohl eine enthusiastische Übertreibung. Ist denn die Veränderung des Blutzuflusses wirklich eine Messgröße des Geistes? Was genau ist der Geist? Ist der Geist nichts weiter als die Aktivität des Gehirns?

Nach meinen Vorträgen werde ich oft von Wissenschaftler angesprochen, die mir erklären, dass die Antwort auf die letzte Frage ganz klar „Ja“ laute und dass alles andere „die Wissenschaft rückgängig mache“. Aber ich erwidere diesen Wissenschaftlern immer wieder, dass die Antwort komplexer ist als die einfache Aussage „der Geist entspricht der Hirnaktivität“ – und diese Aussage möchte ich hier auch mit Ihnen untersuchen. Wie wir sehen werden, hält eine unvoreingenommene Herangehensweise an diese grundlegende Frage einige wirkungsvolle Einsichten in die innere Natur der subjektiven Erfahrung bereit. Die Antworten auf diese eine Frage – Was ist der Geist? – führen zu heftigeren Diskussionen als jede andere Frage, der ich nachgegangen bin. Der „integrative“ Teil des vorliegenden Buches bezieht sich auf die vielen Ebenen von differenzierten Elementen, die miteinander verbunden sind: Wir werden eine ganze Reihe von unterschiedlichen Wissenschaften in einem Bezugsrahmen zusammenbringen. Wir werden nichtwissenschaftliche Untersuchungen der Realität, die auf der direkten Erfahrung beruhen, mit unseren Ausführungen über die Wissenschaft verbinden. Und wir werden sogar die Möglichkeiten untersuchen, wie Sie als Leser ein „umfassender integriertes“ mentales Lebens für sich selbst und andere schaffen können. Daher die vielen Bedeutungsebenen dieses „integrativen Leitfadens“.

Ich lade Sie ein, vollkommen präsent zu sein, wenn Sie sich in dieses Buch vertiefen. Ich werde auch hier sein, wir werden uns also zusammen auf eine Reise begeben. Eventuell werden sich am Ende mehr Fragen ergeben haben, als wir konkrete, endgültige Antworten geben konnten, aber vielleicht ist genau das die Natur des Geistes: die Schaffung von Möglichkeit, statt der Konstruktion von Begrenzung. In einer unvoreingenommenen Betrachtung der Tatsachen werden wir möglicherweise genau zu dieser Erkenntnis kommen.

Nun möchte ich aber zu unserer Hintergrundgeschichte zurückkehren. Als ich gebeten wurde, zum Beginn des Jahrzehnts des Gehirns das Ausbildungsprogramm in der Kinder- und Erwachsenenpsychiatrie am UCLA zu leiten, lud ich etwa vierzig Wissenschaftler aus über einem Dutzend verschiedener akademischer Abteilungen in eine Studiengruppe ein, in der wir uns einer einfachen Frage widmeten: Was ist die Verbindung zwischen dem Geist und dem Gehirn? In dieser Gruppe gab es Wissenschaftler aus folgenden Disziplinen: Anthropologie, Molekularbiologie, Kognitionswissenschaft, Pädagogik, Genetik, Linguistik, Neurowissenschaft, Neurochirurgie, Physik, Psychologie, Psychiatrie, Mathematik, Computerwissenschaft und Soziologie. Es war eine Zusammenkunft von Professoren, Studenten, Klinikern und Forschern. Als Moderator der Gruppe fand ich die ersten Treffen der Gruppe faszinierend, sie bereiteten mir aber auch Kopfzerbrechen, weil die Gruppe keinen Konsens darüber finden konnte, was der Geist ist. Das Gehirn war der einfache Teil unserer Frage: Es ist ein Organ des Körpers, das über das erweiterte Nervensystem, das sich vom Kopf bis zu den Füßen erstreckt, auf komplizierte Weise mit dem ganzen Körper verbunden ist. Immer, wenn wir in diesem Buch über das „Gehirn“ sprechen, meinen wir genau genommen das weit verteilte Netz von Neuronen, das wir als „Nervensystem“ bezeichnen.

Aber was ist der Geist? Jede der verschiedenen Disziplinen hatte eine ganze Reihe von Erklärungen, um diesen wichtigen Teil des menschlichen Lebens in Worte zu fassen. Ein Anthropologe sagte, dass der Geist dasjenige sei, was über Generationen hinweg geteilt wird. Ein Neurowissenschaftler erklärte, dass der Geist einfach die Aktivität des Gehirns sei. Ein Psychologe war der Ansicht, dass der Geist aus Gedanken und Gefühlen bestehe und sowohl unser Bewusstsein und die subjektive Natur unseres inneren Lebens umfasst, als auch die Ausdrucksformen des Geistes, die sich in unserem Verhalten zeigen. Derartige Beschreibungen ermöglichten es diesen ernsthaften und sorgfältigen Forschern, die Arbeit in ihren eigenen Disziplinen weiterzuführen. Aber sie halfen uns nicht dabei, in unserer interdisziplinären Gruppe eine gemeinsame Grundlage zu finden. Viele Bücher, die das Wort „Geist“ im Titel haben, beschreiben den Geist (Gedanken und Gefühle, ein „Selbst-Konzept“, ein „undeutlicher Begriff“ usw.) aber sie definieren nicht, was der Geist oder auch nur ein Teil des Geistes in Wirklichkeit „ist“. In unserer Gruppe schaukelte sich dieses Fehlen einer Definition zu einer so destruktiven Spannung zwischen den verschiedenen Mitgliedern auf, dass ich schon befürchtete, die Gruppe würde sich nach nur wenigen Treffen wieder auflösen.

In Zeiten, in denen uns derlei Sorgen umtreiben, können Gewässer eine beruhigende Quelle der Inspiration sein. Deshalb machte ich einen Spaziergang am Meer (so wie ich an der Seine in Paris entlanggelaufen war, als ich mich darauf vorbereitete, dieses Handbuch zu schreiben), und dabei kam mir der Gedanke, dass diese verschiedenen Beschreibungen der Natur des Geistes eine gemeinsame Grundlage finden könnten, wenn wir zumindest eine Arbeitsdefinition des Geistes hätten. Ich lege nicht allzu viel Wert auf Definitionen, aber manchmal kann uns die genaue Klärung eines Begriffes dazu inspirieren, tiefere und universell gültige Bedeutungen zu finden, die in den verschiedenen Beschreibungen verborgen sind. Am Ufer des Pazifiks beobachtete ich, wie die Wellen auf dem Sandstrand heranrollten und sich wieder zurückzogen. Da kam mir die Idee, dass jede der verschiedenen Disziplinen in ihrer Beschreibung den Fluss von etwas durch die Zeit hindurch meint. Der Aspekt der Wirklichkeit, der sich im Laufe der Zeit verändert, ist der Fluss eines wichtigen Bereiches unseres Lebens: Energie.

Obwohl auch Physiker uneins darüber sind, was Energie ist, scheint es doch einen Konsens darüber zu geben, dass „Energie die Fähigkeit ist, etwas zu tun“. Energie zeigt sich in verschiedenen Formen, zum Beispiel Lichtenergie, Elektrizität, Bewegungsenergie, Hitze und im Falle der neuronalen Aktivierung als elektrochemische Kraft. Wenn wir versuchen, uns den Energiefluss vorzustellen, dann ist es vielleicht hilfreich, wenn wir mit dem Bild der Elektrizität beginnen, in dem sich Elektronen entlang eines Drahtes bewegen. Aber ein Energiefluss zeigt sich auch, wenn Hitze von einem Objekt auf ein anderes übertragen wird. Oder Klangwellen bewegen sich durch die Luft, und eine Stimme, die hier spricht, erreicht das Ohr eines Menschen dort drüben. Energie ist auch im Spiel, wenn die Photonen, die von diesen geschriebenen Symbolen namens Worte abprallen, in Ihre Augen gelangen. Energie ist ein realer Aspekt der physischen Welt, in der wir leben.

Doch obwohl wir in unserem mentalen Leben viele Energieflüsse finden, ist der Geist mehr als ein Überträger von Energie, der mit einem elektrischen Draht vergleichbar wäre. Von Natur aus ist das subjektive innere Leben, das wir als unsere „mentale Welt“ bezeichnen, voll von vielen wunderbaren und auch erschreckenden Dingen: Wir können Gefühle der Ekstase, der Freude, des Enthusiasmus, der Erfüllung, des Stolzes, des Glücks und der Klarheit erfahren. Zudem können wir die subjektive Erfahrung von Trauer, Verlust, Angst, Wut, Bedrohung und Schrecken machen. Erinnerungen an freudvolle Momente oder furchterregende Geschehnisse aus der Vergangenheit können vor unserem geistigen Auge als Bilder wieder aufleben. Und durch unsere Vorstellungskraft können wir sogar gänzlich neue Bilder erschaffen. Wie wir wissen, ist unser mentales Leben voll von inneren Erfahrungen wie Gefühlen, Gedanken, Bildern, Erinnerungen, Hoffnungen, Meinungen, Absichten, Überzeugungen und Träumen. Diese und viele andere Prozesse sind die Aktivitäten des Geistes.Zudem erleben wir die Erfahrung des Wissens, die subjektive Wahrnehmung, uns dieser verschiedenen Aktivitäten des Geistes bewusst zu sein, von den Körperempfindungen bis hin zu den Konzepten. Aber was sind diese Prozesse wirklich? Was ist die Erfahrung des Wissens innerhalb des Gewahrseins? Gibt es jenseits von Beschreibungen der Natur der subjektiven Erfahrung und des Bewusstseins auch eine Möglichkeit, um zu definieren, was der „Geist“ wirklich ist?

Eine philosophische und wissenschaftliche Haltung dazu, die oft eingenommen wird, lautet, dass wir es einfach nicht wirklich wissen. Es gäbe noch so viel, das es herauszufinden gelte, sagen uns richtigerweise viele Akademiker, dass es besser sei, wenn wir uns nicht durch die Grenzen einer Definition einschränkten. Wir könnten auch der Haltung folgen, die viele Vertreter der wichtigen Disziplinen vertreten, die besagt, dass der Geist überhaupt nicht definiert werden sollte. Der Geist wird dort praktisch als Synonym für das Unbekannte gebraucht – ein Begriff, der etwas bezeichnet, das wir noch nicht verstehen und vielleicht auch nie vollkommen verstehen werden. Vielleicht ist das der Grund, warum so viele Forschungsfelder, die sich mit dem „Geist“ beschäftigen, ihn nicht definieren. Einige Philosophen haben zu mir gesagt, wir würden unser Verständnis dieser wichtigen Dimension des Menschseins begrenzen, wenn wir den Schritt zu einer Definition des Geistes gingen. „Tun Sie es nicht“, rieten sie mir. Und einige Wissenschaftler meinen, dass es nicht einmal möglich wäre, weil wir nicht wissen, was genau der Geist eigentlich ist.

Doch als Lehrer, die in unseren Schülern einen starken und resilienten Geist heranbilden wollen, tappen wir im Dunkeln, wenn wir den Begrifft „Geist“ nicht definieren. Als Eltern sind wir ohne eine Arbeitsdefinition des Geistes als Ausgangspunkt sehr beschränkt, wenn wir uns bemühen, unsere Kinder in der Entwicklung eines gesunden und flexiblen Geistes zu unterstützen. Und für diejenigen von uns, die als Psychologen und Psychiater arbeiten – als Therapeuten des Geistes –, stellt sich noch eine weitere Frage: Können wir überhaupt berechtigterweise sagen, dass es in unserem Forschungsgebiet um den gesunden Geist geht, wenn wir uns noch nicht einmal bemüht haben, eine Arbeitsdefinition davon zu finden, was das eigentlich bedeutet? Das schien mir nicht ganz stimmig zu sein. In diesem Buch werden wir untersuchen, was vielleicht getan werden kann, um der klinischen Arbeit, der Organisationsberatung, der Praxis der Reflexion, der Pädagogik, der Kindererziehung und anderen Bereichen, in denen es um die Kultivierung eines gesunden Geistes geht, einen Ausgangspunkt zu geben.

Seinerzeit am Strand des Pazifiks hatte ich den Eindruck, dass das Fehlen einer klaren Definition (und sei es nur eine Arbeitsdefinition) des Geistes den Zusammenhalt und Erfolg unserer interdisziplinären Gruppe bedrohte. Das Ringen um einen Ausgangspunkt, wodurch eine „Arbeitsdefinition“ entstehen konnte, die mit dem übereinstimmte, was die Teilnehmer als ihren Fokus auf bestimmte mentale Funktionen beschrieben, schien wichtig, um unsere Diskussionen fruchtbar zu machen.

Wenn man darüber nachdachte, was jede der verschiedenen Disziplinen als mentales Leben beschrieb, schien der Geist etwas mit der Regulierung eines Flusses zu tun zu haben, der nicht nur aus Energie besteht, sondern aus bestimmten Mustern von Energieflüssen, die wir als „Information“ bezeichnen. Eine Information steht für etwas anderes als sich selbst. Eine Information ist ein symbolisches Energieflussmuster, ein Muster, das etwas bedeutet. Wenn ich zum Beispiel „Eiffelturm“ schreibe, dann sehen Sie vermutlich vor Ihrem geistigen Auge (was immer das sein mag) ein Bild der Eisenkonstruktion in Paris. Diese Formen des geschriebenen Wortes oder die Klänge des gesprochenen Wortes sind nicht der Turm selbst – sie stehen für den Turm. Der Turm wiederum ist der Turm selbst. Symbole des Turmes können in Ihrem, nun ja, Geist als Information existieren – in Ihrer subjektiven Erfahrung in diesem Moment. Sie stehen möglicherweise nicht nur für die architektonische Struktur, sondern vielleicht auch für Ihre erste Reise nach Paris, als Sie verliebt waren, sich unabhängig fühlten oder Heimweh hatten. Für mich war es der Moment in einer Beziehung zu einem Freund, in dem wir beide einige Meinungsverschiedenheiten zu klären hatten, weil wir uns uneins waren, wohin wir auf unserer Reise durch Europa als nächstes fahren sollten. Dennoch ist der Turm selbst immer noch der Turm. Ich schaue den Fluss entlang und kann ihn sehen, aber meine Wahrnehmung des Turmes ist nicht der Turm selbst. Und die Information des Turmes kann für jeden von uns ziemlich unterschiedlich sein. Unser Geist ist voller Informationen – symbolischer Bedeutungen, die aus Energieflussmustern entstehen, die für viele damit verbundene Dinge stehen. In der Tat ruft die Information selbst, wie wir noch sehen werden, einen Fluss vieler weiterer Informationen hervor. In uns entstehen so Kaskaden von Bedeutung, die jeden von uns einzigartig machen und jeden Moment zu einer einmaligen Erfahrung werden lassen.

Aber es gibt noch einen wichtigen Aspekt des Geistes, der darüber hinausgeht, lediglich die Bewegung von Information in uns zu sein. Ihr Erlebnis, jetzt in diesem Moment den Eiffelturm vor Ihrem geistigen Auge zu sehen, kommt nicht nur aus Ihnen selbst. Ich habe den Namen des Turmes geschrieben und Ihr mentales Leben hat das Bild geschaffen. Wie ist das möglich? Wie alle Eltern, Anthropologen oder Soziologen wissen, leben wir nicht in Isolation voneinander. Unser mentales Leben gründet auf unseren Beziehungen. Die Interaktionen zwischen uns formen unsere mentale Welt. Dennoch wird Ihnen jeder Neurowissenschaftler sagen, dass der Geist durch die Aktivitätsmuster im Gehirn geformt wird. Wie können wir nun also dieses scheinbare Paradox versöhnen, das besagt, dass der Geist zugleich verkörpert und relational ist? Sollte etwas wie „der Geist“ nicht an einem Ort lokalisiert sein, aus einer Quelle kommen und von einem Menschen besessen werden? Das ist die Frage, der wir uns bei der Erhellung der Natur des Geistes zuwenden werden. Dabei können wir feststellen, dass der Geist zugleich in einem inneren physiologischen Kontext verkörpert und in einem äußeren relationalen Kontext eingebettet ist. Die grundlegende Natur des Geistes ist verkörpert und eingebettet.

Aus den tiefsinnigen Gesprächen in unserer interdisziplinären Gruppe bildete sich Respekt für die einzigartigen Wege, wie voneinander getrennte wissenschaftliche Forschungsunternehmungen die Natur der Wirklichkeit untersuchen. Aus diesem Prozess stammt die Idee für das Forschungsgebiet der Interpersonellen Neurobiologie. Sie entstand als eine Form der Verknüpfung von einer großen Bandbreite an wissenschaftlichen Disziplinen, die sich mit der Natur des Geistes und der mentalen Gesundheit beschäftigen. Damals hatte ich den Eindruck – und das ist immer noch meine Ansicht –, dass die Formulierung einer Sicht der Wirklichkeit, die auf den Erkenntnissen aller Wissenschaftszweige gründet, eine feste Grundlage geben könnte, um die Natur unseres Lebens zu verstehen. Als ich die folgende Definition anbot, fand jedes Mitglied der Gruppe, dass sie mit seinen individuellen Perspektiven vereinbar war:

„Ein Kernaspekt des Geistes kann als verkörperter und relationaler Prozess definiert werden, der den Fluss von Energie und Information reguliert.“

Mit dieser Definition fanden wir einen gemeinsamen konzeptuellen Raum, in dem wir tief in unser grundlegendes Thema eintauchen konnten: Was ist die Verbindung zwischen dem Geist und dem Gehirn? Durch die Arbeit mit dieser Definition hatte die Gruppe eine gemeinsame Grundlage, auf der Kommunikation möglich wurde, und unsere Treffen setzten sich über viereinhalb Jahre fort. Seitdem hat es viele wissenschaftliche Erkenntnisse gegeben und die Interpersonelle Neurobiologie als eine Verständnisform des Geistes und unseres menschlichen Lebens ist in vielerlei Hinsicht gewachsen. Im Jahre 1999 erschien die erste Auflage meines Buches The Developing Mind (in deutscher Übersetzung erschienen als Wie wir werden, die wir sind), darin wurde dieser Ansatz als eine interdisziplinäre Verständnisform des Geistes und der mentalen Gesundheit vorgeschlagen. Wir haben nicht nur versucht, eine Arbeitsdefinition des Geistes zu formulieren, sondern auch Hinweise dazu gegeben, was ein „gesunder Geist“ sein könnte. Zwölf Jahre später wurden in der zweiten Auflage des Buches über zweitausend neue wissenschaftliche Quellen gesammelt, um diesen grundlegenden Ansatz zu bestätigen oder zu widerlegen. Ich hatte das Privileg, im letzten Jahr mit fünfzehn Forschungspraktikanten zu arbeiten, deren Aufgabe es war, zu beweisen, dass „die Interpersonelle Neurobiologie und The Developing Mind fehlerhaft sind“. Unter dieser Vorgabe brachten sie die Quellen auf den neuesten Stand und prüften, welche Aussagen im Buch verändert werden mussten. Oft fanden sie heraus, dass Aussagen wie „Die Wissenschaft hat noch nicht bewiesen, dass dies wahr ist“ nun verändert werden konnten, weil es neue Nachweise für viele der ursprünglichen Hypothesen gab. Somit wird auch das Schreiben dieses Handbuchs befeuert von diesem ansteckendem Ehrgeiz, die essentielle konzeptionelle Struktur sowie Annahmen der Interpersonellen Neurobiologie, die vor über zwölf Jahren formuliert wurden, durch etablierte, wissenschaftliche empirische Forschung zu bestätigen.

Im letzten Jahrzehnt haben wir dieses Forschungsgebiet auch durch die Gründung der Buchreihe „Norton Series on Interpersonal Neurobiology“ weitergeführt – die Reihe, in der auch das vorliegende Buch im englischen Original erschienen ist. Zunächst war ich der verantwortliche Lektor für diese Buchreihe und habe in dieser Rolle fünfzehn Buchprojekte betreut. Ich freue mich, dass ich diese Rolle an Allan Schore übergeben konnte, der heute als verantwortlicher Lektor die Arbeit weiterführt und noch eine Vielzahl von Büchern für diese berufsbegleitende Edition zusammenstellen wird. In den letzten fünf Jahren ist zudem die gemeinnützige Organisation GAINS (Global Association for Interpersonal Neurobiology Studies, MindGAINS.org) entstanden, um die Arbeit von Fachleuten zu unterstützen, die dieses Modell in verschiedenen Gebieten anwenden möchten. Dazu gehören die Bereiche der Psychotherapie, Pädagogik, Organisationsentwicklung, kontemplativen Praxis, Kindererziehung und der Religion. Durch die Erkenntnisse der Autoren von Büchern dieser Reihe konnte den Fachleuten in verschiedenen Bereichen das Verständnis dieser neuen interdisziplinären Denkweise über unser Leben und die Natur der Gesundheit vermittelt werden.

In diesen Anfangsjahren hatte ich den Eindruck, dass ein gemeinsamer Ort notwendig ist, an dem verschiedene Verständnisweisen respektvoll zum Ausdruck kommen können – und diese Überzeugung hat sich im Laufe der Zeit noch verstärkt. Deshalb ist es notwendig, die Interpersonelle Neurobiologie „disziplinneutral“ zu halten. Auf diese Weise können wir dieses Forschungsgebiet so fördern, dass darin das breite Spektrum von Ansätzen integriert werden kann, das wir Menschen geschaffen haben, um die Natur der Wirklichkeit zu verstehen. Die Wissenschaft ist unser Ausgangspunkt, sie ist aber nicht das Ende unserer Untersuchungen. Sorgsam konzipierte Forschung ist ein wunderbares Werkzeug, wenn sie mit der Perspektive angewandt wird, dass sie nicht das Ein und Alles unserer Wissensmöglichkeiten darstellt. Viele Aspekte des Lebens können wir nicht in quantitativen Begriffen messen; die realen Facetten des Menschseins lassen sich häufig nur schwer in den vorgegebenen statistischen Analysen erfassen, die wir in Fachzeitschriften publizieren. Wenn wir über den Geist sprechen, werden andere Erkenntniswege wichtig, solche, die über unsere subjektive Erfahrung funktionieren: innere Reflexion und Kontemplation, poetische Ausdrucksformen, Musik und künstlerisches Schaffen. Und das, obwohl sie nicht auf Zahlen in einer Tabelle reduziert werden können und auch nicht feinsäuberlich in einer Grafik darstellbar sind. Vielleicht werden sie in Zukunft messbar sein, vielleicht aber auch nicht. Das Entscheidende dabei ist Folgendes: Etwas kann real sein, auch wenn es jetzt und in Zukunft nicht numerisch erfasst werden kann. Nichtsdestotrotz bleibt die Wissenschaft, obwohl sie oft von sorgsamer Messung abhängig ist, ein grundlegendes Element dieser interdisziplinären Arbeit.

Ein Grund, weshalb ein wissenschaftlich begründeter Ansatz wie der der Interpersonellen Neurobiologie hilfreich ist, besteht darin, dass wir dadurch Voraussagen darüber machen können, was Forschungen in der Zukunft aufzeigen werden. Als wir das Buch The Developing Mind auf den neuesten Stand brachten, erhielten wir neue Unterstützung für diesen Ansatz. Denn viele unserer Vorhersagen – die auf der Synthese wissenschaftlicher Erkenntnisse aus verschiedenen Forschungsfeldern gründeten und diese Implikationen als Hypothesen in die Zukunft projizierten – wurden nun von unabhängigen wissenschaftlichen Laboren in neuen Untersuchungen bestätigt. In der Wissenschaft brauchen wir bestehende Hypothesen, um den Ausgang von Forschungen vorherzusagen; es genügt nicht, dass wir lediglich im Nachhinein erklären, warum wir etwas entdeckt haben. In mehreren Bereichen hat die Interpersonelle Neurobiologie als Quelle für Vorhersagen gedient, die später von der Forschung bestätigt wurden. Diese Erkenntnisse unterstützen den Wert vieler allgemeiner Prinzipien und Prozesse, wie Integration, Regulation und die Bedeutung sozialer Erfahrungen in der Entwicklung eines gesunden Geistes.

Wenn Sie während des Lesens Interesse daran gefunden haben, selbst Zugang zu den Auswertungen und Synthesen der ausführlichen wissenschaftlichen Studien zu bekommen, verweise ich Sie gern auf die Neuauflage von The Developing Mind (Siegel, 2012). Eine weitere Fundgrube sind die vielen Ausgaben dieser Buchreihe von Norton, die zusammengenommen Tausende von Quellen enthalten. Wenn Sie nachlesen möchten, wie die Interpersonelle Neurobiologie im Umgang mit Kindern angewendet werden kann, bietet sich die Gelegenheit in den Büchern Gemeinsam leben, gemeinsam wachsen (Siegel und Hartzell, 2009), Achtsame Kommunikation mit Kindern (Siegel und Bryson, 2013). Im Bereich der Achtsamkeit bietet Das achtsame Gehirn (Siegel, 2007) eine tiefgründige und eingehende Untersuchung darüber, wie die Interpersonelle Neurobiologie alte kontemplative Übungen und ihre modernen pädagogischen und therapeutischen Wirkungen erklären kann. Wenn Sie als Psychotherapeut oder interessierter Laie die Interpersonelle Neurobiologie für sich selbst nutzen wollen, könnte das Buch Der achtsame Therapeut (Siegel, 2012) für Sie interessant sein. Darin werden einige praktische, konkret umsetzbare Anwendungen untersucht, wie das „Bewusstseinsrad“ und die „Möglichkeitsebene“, uns dabei helfen können, den eigenen Geist zu verstehen und zu entwickeln. Und wenn Sie die Geschichten von Menschen lesen möchten, die diese Ideen in ihrem eigenen Leben angewendet haben und sich in der Therapie oder im Alltag tief in einige „Integrationsbereiche“ begeben haben, finden Sie in Mindsight (Siegel, 2012) schrittweise Beschreibungen. Dies sind einige der veröffentlichen Quellen, die unterstützende wissenschaftliche Begründungen enthalten. Zudem finden Sie darin Wege, um diese Konzepte im tagtäglichen Prozess des Lebens und des Erwachens des Geistes in Ihnen selbst und anderen anzuwenden. Aber vor allem anderen gilt: Genießen Sie die Reise!

Das Handbuch

Warum ein Handbuch? In jedem der Bücher, die ich weiter oben erwähnt habe, und in vielen anderen Büchern der Norton-Buchreihe werden Sie eine große Vielfalt an Informationen, Geschichten und wissenschaftlichen Forschungsergebnissen finden. Zusammengenommen würde dies ausreichend Lesestoff für eine ganze Fachausbildung oder die Bibliothek eines Klinikers ergeben. Reicht das nicht aus? Warum noch ein Handbuch? Viele Leser und Studierende der Interpersonellen Neurobiologie haben nach einer Art „Zusammenfassung“, einer „Übersicht“ oder einen „Glossar“ gefragt. Sie wünschen sich ein Buch mit möglichst wenig Quellenangaben, das Hinweise und Ratschläge enthält, wie man sich Wissen auf diesem Gebiet aneignen kann. Bücher mit umfangreichen Quellenangaben gibt es genug – wir können uns also der direkten Erforschung dieses komplexen Themengebiets zuwenden. Dieser Leitfaden ist so konzipiert, dass er als Begleiter dienen kann, um die vielschichtigen Grundlagen der Interpersonellen Neurobiologie zu verstehen, wenn Sie andere Texte durcharbeiten. Lehrer, Therapeuten, Berater, Eltern und andere Menschen, die sich mit diesem Forschungsgebiet beschäftigen, wünschen sich einen Leitfaden, der sowohl leicht verständlich als auch praktisch sein sollte. Heute, wo diese interdisziplinäre Verständnisweise ins zweite Jahrzehnt ihrer Wirkung eingetreten ist, schien es an der Zeit, dieses Vorhaben in die Tat umzusetzen. Das Handbuch dient auch dazu, die Nutzung der Interpersonellen Neurobiologie draußen in der wirklichen Welt zu unterstützen. Es geht nicht nur darum, eine Form des Wissens zu untersuchen – wir wollen auch einen Beitrag dazu leisten, dass die Welt ein gesünderer Ort wird, an dem wir alle leben können.

Um die Dinge hier kurz und bündig auf den Punkt zu bringen, war es natürlich notwendig, dass ich umfangreiche wissenschaftliche Forschungsgebiete zusammenfasse. Ich zeige die Essenz jedes Konzeptes und untersuche die praktischen Implikationen und welche Rolle dieses Verständnis des Geistes für unser Leben, unsere Arbeit und unsere Welt bedeutet. Dieses Buch ist als ein Handbuch konzipiert, das Sie tatsächlich in Ihrer (vielleicht etwas größeren) Tasche mit sich tragen können. Deshalb werden wir hier auf viele wissenschaftliche Quellenangaben verzichten, die Sie in den zahlreichen zuvor genannten Texten finden können. Die Wissenschaft erweitert sich exponentiell und das ist ein faszinierender Prozess, aber in diesem Buch erforschen wir nicht die ursprünglichen empirischen Quellen dieses Wissens. Dieser Leitfaden hat die Absicht, Ihnen zu helfen, das innere Bezugssystem dieses breiten interdisziplinären Forschungsgebiets nachzuvollziehen. So wird es Ihnen leicht möglich sein, sich dieses Wissen auf eine produktive und freudvolle Weise – von innen heraus – anzueignen. Es gibt auch Publikationen, die sich mit der Anwendung dieser Erkenntnisse in verschiedenen Lebensbereichen beschäftigen, wie klinische Arbeit, Umgang mit Kindern, Pädagogik und die Praxis der Reflexion. Im Gegensatz dazu können wir uns in diesem Buch darauf konzentrieren, ein Netzwerk des Wissens zu integrieren, das mit unserer grundlegenden Haltung in der Wissenschaft übereinstimmt: „Ein vorbereiteter Geist zieht die Veränderung an.“ Ich hoffe, dass dieses Buch Sie auf all die wunderbaren Möglichkeiten vorbereiten wird, wie wir in unserem persönlichen und beruflichen Leben einen gesünderen Geist kultivieren können.

Das Ziel dieses Handbuchs ist es also, eine neue Form von Lernerfahrung herbeizuführen. Wir wollen darin eine direkte Erfahrung der „Wissenssphäre“ vermitteln, die in der Interpersonellen Neurobiologie beschrieben wird und die inneren Grundlagen dieses Forschungsfeldes vertiefen. Der Inhalt dieses Handbuchs dient als das Gerüst des übergeordneten Bezugssystems und bietet eine Untersuchung der miteinander verwobenen Ideen und Prozesse. Die jeweiligen Abschnitte sind konzeptuell miteinander verbunden, aber jeder von ihnen kann auch für sich stehen. Deshalb können Sie diesen Leitfaden auch durch jeden „Eingang“ betreten. Mit anderen Worten, Sie können an jedem Punkt eintauchen und in jeder Richtung weitergehen; so wird die Wissenssphäre durch Ihre eigene Erforschung der Themen geschaffen. Dieses Handbuch ist kein lineares Buch, denn schließlich arbeitet auch unser Geist nicht in einer einfachen linearen Abfolge. Aus diesem Grund ist es übrigens auch mein Ziel, mit der grundlegenden Struktur und dem Prozess dieses Buches einen neuen Ansatz des Lesens und Lernens zu schaffen, der unmittelbar die vielen Möglichkeiten reflektiert, wie der Geist selbst Information aufnimmt und integriert. So spiegeln sich im Prozess des Lesens dieses Buches die inhaltlichen Ausführungen über die Natur des Geistes wider.

Es ist Ihre eigene Entscheidung, wie Sie dieses Handbuch lesen. Sie können die Abfolge der Abschnitte, die Sie lesen wollen, selbst bestimmen. Sie können mit jedem beliebigen Abschnitt beginnen und dann zu einem anderen springen, abhängig von Ihren Bedürfnissen oder Ihren spontanen Vorlieben. Jeder Abschnitt enthält ein paar Begriffe, die als „Knotenpunkt“ in einem umfassenden Netzwerk fungieren, in dem Tatsachen, Ideen und Prozesse wechselseitig miteinander verbunden sind. „Knotenpunkt“ ist ein Begriff, der allgemein in Diskussionen benutzt wird, die sich damit beschäftigen, wie derartige Netzwerke funktionieren. Ein Knotenpunkt kann ein Mensch in einem sozialen Netzwerk, eine Idee oder eine Tatsache in einem Wissensnetzwerk sein. In diesem Leitfaden ist es mein Ziel, einen Leseprozess für Sie zu ermöglichen, während dem Sie das faszinierende, wechselseitig verbundene Wissensnetzwerk erforschen können, das der Interpersonellen Neurobiologie zugrunde liegt.

Die Knotenpunkte und andere wichtige Begriffe werden kursiv geschrieben, damit sie leichter im Text auffindbar sind. Für diese Worte oder Aussagen findet sich auch eine kurze Definition im kommentierten Index, der als ausführliches Glossar mit den entsprechenden Seitenzahlen fungiert. Auf diese Weise kann der kommentierte Index zu einer hilfreichen Quelle werden, auf die Sie sich immer wieder beziehen können, während Sie diese Ideen untersuchen. Am Ende des kommentierten Index finden Sie im Knotenpunkt-Netzwerk eine Auflistung aller Knotenpunkt-Begriffe ohne Definition. Das Nachverfolgen dieser Knotenpunkte kann als Brücke dienen, um verschiedene Abschnitte zu lesen, so dass Sie das konzeptuelle Bezugssystem miteinander verknüpfen, während Sie gemäß Ihren persönlichen Bedürfnissen in verschiedene Abschnitte hineingehen und sich wieder herausbewegen.

Der Prozess der Erforschung dieses Wissensnetzwerks ermöglicht es Ihnen, jeden Abschnitt in Ruhe zu lesen und sich in das Thema zu vertiefen, das in diesem Moment relevant für Sie zu sein scheint. Jeder Abschnitt ist so formuliert, dass er leicht verständlich ist, ungeachtet dessen, ob Sie die vorhergehenden Abschnitte gelesen haben. So kann jeder Abschnitt zu einem Ausgangspunkt oder Durchgang werden, um sich in das Netzwerk des Wissens zu begeben. Das Thema, das sich im Titel jedes Abschnittes findet, dient selbst als Knotenpunkt, weil es in vielerlei Hinsicht mit anderen Ideen in weiteren Abschnitten verbunden ist. Wenn Sie Interesse am Thema „Erinnerung“ haben, dann können Sie sich dem Abschnitt mit diesem Titel zuwenden. Sie werden darin Ausführungen darüber finden, wie wir lernen und wie sich Erfahrungen auf unser Leben auswirken. Im Laufe des Lesens werden Sie auf andere Knotenpunkte stoßen, die im Text hervorgehoben werden. Nehmen wir an, Sie sind an der Hirnstruktur des Hippocampus interessiert. In diesem Fall können Sie sich dem kommentierten Index zuwenden und finden dort eine Definition des Begriffes. Darüber hinaus finden Sie dort auch Seitenzahlen, wo der Begriff „Hippocampus“ im Buch sonst noch vorkommt. All diese Knotenpunkt-Begriffe werden auch im Abschnitt für das Knotenpunkt-Netzwerk aufgelistet (wo sie nur mit den Seitenzahlen und ohne Definition aufgeführt werden). So können Sie leicht das Netzwerk der miteinander verbundenen Ideen erfassen, sich damit vertraut machen und die jeweiligen Ideen dann in den verschiedenen Abschnitten des Buches wiederfinden. Nun lesen Sie vielleicht einen Abschnitt, der sich mit dem Hippocampus und dem Einfluss, den Traumata auf diese Hirnstruktur haben, beschäftigt. Dadurch leitet Sie Ihr Interesse möglicherweise zur Vertiefung des Begriffes „Trauma“ als einem Knotenpunkt und Sie wenden sich dem kommentierten Index und dem Knotenpunkt-Netzwerk zu, um sich anhand der Definition zu orientieren und andere Abschnitte zu finden, die sich auf Trauma beziehen. Wie Sie noch herausfinden werden, können Sie sich dann in den Abschnitt über Traumata vertiefen, indem Sie wiederum auf andere Knotenpunkte stoßen, die mit „Narrativ“, „präfrontaler Funktion“ oder „Bindung“ zusammenhängen. Daraufhin können Sie in Ihrer eigenen Geschwindigkeit und nach eigenem Ermessen diese miteinander verbundenen Prozesse erforschen. So schaffen Sie Ihren eigenen Lernweg! Dies ist ein Netzwerk des Wissens. Indem wir die Informationen auf eine solche Weise vermitteln, möchten wir Sie darin bestärken, die Themen so zu vertiefen, dass es für Sie bedeutungsvoll und interessant ist.

Zunächst mag sich das alles etwas einschüchternd anhören, aber das ist eine Herausforderung, mit der ich als Autor umgehen musste – für Sie als Leser soll es eine Erleichterung sein. Wenn uns die Umsetzung dieses Konzepts gelungen ist, dann wird jeder Eintrittspunkt, jeder Abschnitt ein Beginn sein, der natürlich und einfach zu jedem anderen Abschnitt im Leitfaden führt, ungeachtet dessen, wo Sie vorher im Buch gewesen sind. Während des Schreibens musste ich mit diesen Perspektiven verbunden bleiben und ich hoffe, dass Ihnen der Lesefluss gefällt. Gemäß Ihren eigenen Interessen werden Sie die Verbindungen zwischen den vielen Knotenpunkt-Begriffen herstellen. Unsere Emotionen und unsere Interessen bestimmen unsere Aufmerksamkeit und unterstützen das Lernen. Dementsprechend werden Sie Ihr eigenes Lernen formen und das Netzwerk des Wissens in Ihren eigenen selbstbestimmten Ansatz des Verstehens hineinweben. Sie werden für sich selbst herausfinden, wie Sie die vielschichtige, wechselseitig verbundene Natur des Geistes erforschen können. Ich hoffe, die Bemühungen, innerhalb dieses Buches solch einen personalisierten Prozess zu entwickeln, zeigen für Sie einen positiven Effekt. Und ich hoffe auch, dass Sie in diesem personalisierten Prozess Freude empfinden, während Sie das sich entfaltende Lernen vertiefen!

Weil dieses Buch nicht wie ein typisches Buch strukturiert ist, möchte ich die Struktur und den Prozess des Buches noch etwas ausführlicher beschreiben. So können Sie sich vielleicht etwas effektiver und leichter hinein vertiefen. Die Abschnitte wurden in der Anzahl und Länge auf ein Minimum reduziert. Die Abfolge der Abschnitte des Buches ist natürlich und entfaltet sich aus sich selbst heraus, dies werden Sie selbst erfahren, wenn Sie sich entscheiden, den Leitfaden auf diese Weise zu lesen. Die Abschnitte sind aber wie gesagt auch vielschichtig miteinander verwoben, wie ein Wandteppich. Wenn Sie sich also in einen Abschnitt vertiefen, kann Sie die Entscheidung für den nächsten Abschnitt in alle möglichen Richtungen führen. Um diesen integrierenden und personalisierten Effekt zu erzielen, habe ich das Netzwerk wechselseitig miteinander verbundener Informationen als eine Sammlung von Eingängen in das Bezugssystem dargestellt. Dieses Verzeichnis der Abschnitte ist keine Abfolge von Kapiteln, die in einer bestimmten Reihenfolge gelesen werden sollte. Es enthält nur deshalb eine nummerierte Aufteilung, damit man sie im Buch finden kann. Die Seitenzahlen in diesem Buch zeigen die Nummer des Abschnitts an und dann die Seite in diesem Abschnitt (7–5 ist die fünfte Seite des Abschnitts 7). Innerhalb jedes Abschnitts finden sich zusätzlich zum Thema des Abschnitts mehrere weitere Knotenpunkte*: die Kernkonzepte oder Begriffe, die in einem Abschnitt verwendet werden. Jeder Knotenpunkt wird beim ersten Erscheinen in einem Abschnitt durch Kursivschreibung und ein* kenntlich gemacht. So wissen Sie, dass es sich um einen Knotenpunkt im wechselseitig verbundenen Netzwerk der Ideen handelt (die im Knotenpunkt-Netzwerk aufgeführt sind). Wenn Sie einem kursiv geschriebenen Begriff begegnen (mit oder ohne Sternchen), dann können Sie sich jederzeit dem kommentierten Index zuwenden, um eine kurze Definition zu erhalten, und die Seitenzahlen, wo dieser Begriff verwendet wird. Wenn Sie diesen hervorgehobenen Begriff beim Lesen zum ersten Mal sehen, wird Ihr Geist darauf vorbereitet sein, ihn auch im restlichen Abschnitt zu beachten, wodurch Sie aktiv mit dem Inhalt arbeiten. Wenn Sie daran interessiert sind, diesen Knotenpunkt noch weiter zu vertiefen, dann können Sie sich dem Knotenpunkt-Netzwerk zuwenden. Dort finden Sie weitere Abschnitte und die entsprechenden Seitenzahlen, wo diese Knotenpunkt-Idee oder dieser Begriff besprochen wird. Innerhalb des Textes werden Sie auch schattierte Passagen finden, die als ein einfacher visueller Hinweis Kernideen anzeigen, die nach Bedarf gelesen werden können, um das Gerüst des Wissens noch weiter zu integrieren. Zudem habe ich am Ende des Buches einige Zeichnungen und Abbildungen hinzugefügt, um den ganzheitlichen Ansatz zu unterstützen.

Beim Versuch, die Natur dieses Leitfadens zu beschreiben, fiel mir das Bild einer „Wissenssphäre“ ein. Eine Sphäre ist eine dreidimensionale Struktur, die einen inneren Raum (denken Sie beispielsweise an das Innere eines Balles) und eine äußere Oberfläche hat. Ich stelle mir die Abschnitte in diesem Buch als die gewölbten Bereiche auf der Oberfläche der Sphäre vor (s. Abb. A im Bildteil des Buches). Wir können durch einen dieser Eingänge in der Oberfläche ins Innere der Sphäre gelangen. Sie laden uns dazu ein, die Sphäre des Wissens zu erforschen. Wenn wir uns in einem solchen Eingang befinden, entdecken wir kursiv geschriebene und mit Sternchen versehene Knotenpunkte*, denen wir in den Innenraum der Sphäre folgen können. Wir können uns diese Knotenpunkte als Kreuzungen vorstellen, die durch verschiedene Linien miteinander verbunden sind. Sie bilden im Inneren der Sphäre wie auch auf der Oberfläche der Sphäre leuchtende Verbindungen mit vielen anderen Knotenpunkten (s. Abb. B).

Noch ein Beispiel: Wenn Sie in einem Abschnitt den Begriff Empathie* finden, dann können Sie im Verzeichnis der Netzwerk-Knotenpunkte nachschauen und die Seitenzahlen in anderen Abschnitten heraussuchen, in denen der Begriff Empathie ebenfalls eine Rolle spielt. Einer dieser Abschnitte handelt möglicherweise im Besonderen von Beziehungen, wie Bindung*. Wenn Sie sich diesem Abschnitt widmen und sich in den Text vertiefen, entdecken Sie vielleicht den Begriff Integration*. Sie lesen darüber und spüren den Impuls, wieder zum Verzeichnis der Netzwerk-Knotenpunkte zurückzukehren, wo Sie andere Abschnitte finden, aus denen Sie für das Weiterlesen auswählen können. Während des Lesens eines solchen Abschnitts stoßen Sie möglicherweise unerwartet auf den Begriff Gewahrsein*, Ihr Interesse erwacht und Sie wenden sich wieder dem Knotenpunkt-Netzwerk zu, um im Netz der Knotenpunkt-Verbindungen andere Abschnitte zum Thema Gewahrsein zu finden. Im Abschnitt selbst befinden Sie sich wieder in den bekannten und nützlich ergänzenden, linearen Ausführungen der Information. So können Sie sich vom Eintreten in einen Knotenpunkt als Thema eines Abschnitts an der Oberfläche der Sphäre über Knotenpunkt-Verbindungen im Innern der Sphäre wieder zurück zu den Abschnitten an der Oberfläche der Sphäre bewegen. Dadurch sind Sie in der Lage, ein Netzwerk dieser Wissenssphäre zu bilden (s. Abb. A und B). Das ist dreidimensionales Lernen! Aber keine Sorge: Sie brauchen keine 3-D-Brille! Dieser Ansatz ist vielleicht neu, aber ich hoffe, dass Sie ihn zutiefst erfüllend finden, hilfreich für Ihr Lernen – und dass er Ihnen sogar Spaß macht.

Im kommentierten Index und im Knotenpunkt-Netzwerk werden Sie auch sehen, dass einige Begriffe als akademische Terminologie angezeigt werden, dazu fügen wir nach dem Begriff die Abkürzung „F“ hinzu und kennzeichnen ihn so als einen „Begriff, der durch die wissenschaftliche Forschung gestützt wird“. Das bedeutet, dass dieser Begriff allgemein anerkannt ist und in der wissenschaftlichen Fachsprache verwendet wird. Im Gegensatz dazu haben andere Begriffe den Zusatz „A“. Dies zeigt an, dass es sich um eine wichtige Idee in der Interpersonellen Neurobiologie handelt; ein Begriff, der für praktische Anwendungen in der weit gefassten klinischen Arbeit, in der Pädagogik, der Organisationsberatung, der Praxis der Reflexion und beim Umgang mit Kindern – im Kontext der Perspektive der Interpersonellen Neurobiologie – grundlegend wichtig ist. Diese Begriffe werden von Anwendern aber nicht notwendigerweise in der Forschung verwendet. Die Information über diese Unterscheidung kann hilfreich sein, um zu wissen, wie diese Begriffe entstanden sind und wo ihre Anwendung auf ein allgemeines Verständnis und weitgehende Akzeptanz trifft. Oft entstammen diese praktischen Begriffe den verschiedenen Ebenen der subjektiven Erfahrung, die im Kern der Praxis und der Beschäftigung mit Medizin, Psychotherapie, Pädagogik, Beratung, Kinderbegleitung, Reflexion und Kontemplation – und anderen Wegen, wie wir in unserem beruflichen und privaten Leben Menschen im Wachstum und bei der Heilung unterstützen – liegen. In diesem Handbuch finden Sie ein Fundament, in dem das Beste aus der streng akademischen, auf Forschung basierenden Wissenschaft mit nützlichen praktischen Ansätzen verbunden ist. Diese Ansätze können Sie dann in kreativer Weise anwenden, um Wachstum und Wohlbefinden in einer Reihe von Bereichen zu fördern. Durch dieses Verweben im Prozess und Inhalt dieses Buches werden Sie zum aktiven und einzigartigen Mitgestalter dieser Erfahrung von Integration und Geist – neben vielen anderen Dingen.

Ich habe versucht, das Medium zur Botschaft zu machen, indem ich in einer Möglichkeit für aktives Lernen den Prozess und den Inhalt miteinander verwoben habe. Insgesamt ist dieser Leitfaden ein Versuch, durch seine verschiedenen Ebenen wechselseitig miteinander verbundener Ideen integrativ zu wirken. Einige dieser Ideen finden sich in hervorgehobenen Passagen in den verschiedenen Abschnitten. Dieser Versuch der Integration mit den vielen Eingängen für den Zugang zum Thema und den Knotenpunkten* der wechselseitigen Verbindungen hat zum Ziel, die Modi des nicht-linearen und des linearen Lernens miteinander zu verbinden. Ich hoffe, dass dadurch für Sie eine bestärkende Erfahrung der Synthese möglich wird. Wenn wir Konzepte voneinander unterscheiden und sie dann miteinander verbinden, integrieren wir Wissen. Und die Integration – des linear aufeinanderfolgenden und des ganzheitlichen Lernens, des persönlich subjektiven und des wissenschaftlich objektiven Lernens – ist (wie wir schon bald sehen werden) das zentrale Thema der gesamten Interpersonellen Neurobiologie. Dieses Handbuch hat zum Ziel, Ihnen bei der persönlichen und beruflichen Anwendung der Interpersonellen Neurobiologie zu helfen, um mit diesem Ansatz einen gesunden Geist, ein integriertes Gehirn und empathische Beziehungen zu entwickeln; es möchte die Erfahrung des Wachstums und des Erwachens, die im Kern unserer Reise liegt, „reicher, tiefer und freudvoller“ machen, wie es mein Reiseführer für Paris vorgeschlagen hat. Ich hoffe, dass Ihnen dieser kleine Begleiter helfen wird, sich besonders lebendig zu fühlen und die Schätze der Interpersonellen Neurobiologie zu testen und sich zu eigen zu machen.

Bon Voyage!

Kursiv geschriebene Begriffe

Schlüsselidee oder -prozess

Kursiv geschriebene Begriffe mit Sternchen*

Knotenpunkt-Idee oder -Prozess

Schattierter Text

Schlüsselkonzepte

Fett gedruckte, kursiv geschriebene Begriffe mit Sternchen*

Titel eines Abschnitts; dient als Knotenpunkt im Netzwerk des Wissens

 

1 O’Reilly, J., Habegger, L., O’Reilly, S. (2002). Travelers’ Tales Paris. Berkeley: Publisher’s Group West (S. xx).

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Geist

Worum geht es?

Der Begriff „Geist*“ bezieht sich auf unsere innere subjektive Erfahrung* und den Prozess*, durch den wir bewusst oder gewahr* sind. Zudem kann der Geist auch als ein Prozess definiert werden, der den Fluss von Energie und Information* in unserem Körper und in unseren Beziehungen* reguliert. Der Geist ist ein emergenter* und selbstorganisierender* Prozess, der unsere mentalen Aktivitäten* wie Emotion*, Denken und Erinnerung hervorbringt. Grundlegende und wechselseitig abhängige* Facetten des Geistes sind die subjektive Erfahrung, das Gewahrsein* und ein verkörperter* und relationaler* Prozess, der den Fluss von Energie und Information reguliert*.

Unser mentales Leben ist erfüllt von subjektiven Erfahrungen mit Gedanken, Gefühlen, Erinnerungen* und anderen mentalen Aktivitäten, die direkten Einfluss auf unser Verhalten haben – unsere äußerlichen Handlungen in der Welt, einschließlich unserer Interaktionen mit anderen Menschen. Während solche mentalen Prozesse* die Struktur unseres inneren Lebens bilden und unser Gewahrsein ausfüllen, können sie auch als die Art und Weise gesehen werden, wie der Geist den Energie und Informationsfluss* reguliert. Zu diesen mentalen Aktivitäten gehören auch unsere Überzeugungen, Haltungen, Absichten*, Hoffnungen, Träume, Wahrnehmungen, Überlegungen, inneren Bilder und unsere Intuition*. Wir können in uns ein Empfinden unserer selbst erfahren, das sich wie eine Wahrheit anfühlt, wie ein implizites Wissen. Wir können aber auch ein expliziteres Erkennen bestimmter Einzelheiten und Tatsachen unseres Wissens erfahren. Sowohl implizite* als auch explizite mentale Prozesse* beeinflussen unser Denken, unsere Gefühle und unser Verhalten. Zu unser mentaler Erfahrung gehören auch unsere Geisteszustände* und unsere Stimmung*. Jeder dieser mentalen Prozesse hat ein subjektives Muster, die „Qualia“ oder die Essenz seiner persönlich erfahrenen Natur, eine subjektive Qualität, die real ist, aber oft nicht vollständig beschrieben und nur schwer quantifiziert werden kann. Wir können vielleicht nicht genau sagen, was die subjektive Erfahrung „ist“. Aber wir „wissen“, wenn wir etwas sehen, hören oder fühlen, ein Bild vor unserem inneren Auge entsteht, wir uns an ein Ereignis erinnern* oder ein tiefes intuitives Empfinden für etwas haben. Unser mentale Lebens ist nicht quantifizierbar oder direkt beobachtbar. Deshalb ist es schwierig, es auf die numerisch präzise Weise zu messen, wie es in der Wissenschaft oft notwendig ist. Berichte der subjektiven Erfahrung sind nützlich und können in vielerlei Hinsicht quantifiziert werden, aber sie sind nicht das Gleiche wie die Erfahrung selbst. Trotz dieses Merkmals des mentalen Lebens und ungeachtet der Tatsache, dass subjektive Erfahrungen schwer auf eine objektive und quantifizierbare Weise zu messen sind, wissen wir doch, dass sie real sind.

Ein weiterer Aspekt des Geistes, den man auch nur schwer in einer kontrollierbaren oder messbaren Weise untersuchen kann, ist das Bewusstsein*, die Erfahrung, sich einer Sache gewahr zu werden. Wir wissen, wie es ist, wenn wir bewusst sind: Wir haben ein Empfinden für das Wissen und wir wissen etwas über eine bestimmte Sache oder Situation – das „Gewusste“. Ich kann wissen, dass ich mich jetzt daran erinnere, dass ich in einem See geschwommen bin. Diese Erfahrung, mir der Erinnerung bewusst zu sein, hat zwei Facetten: Das Wissen (Ich weiß, dass ich mich an das Schwimmen im See erinnere) und das Gewusste (Gestern war ich im Wasser). Wir können zwar nicht sagen, „was“ genau das Gewahrsein „ist“, aber die Erfahrung des Wissens und des Gewussten ist ein grundlegender Aspekt unseres mentalen Lebens. In vielfältiger Weise kennen wir unsere subjektive Erfahrung durch das Bewusstsein, denn es ist die innere Erfahrung des Wissens und die Beschaffenheit – die Qualia – des Gewussten. Auch das Gewahrsein spielt eine entscheidende Rolle dabei, wie wir den Verlauf unseres Lebens verändern, neue Fertigkeiten erlernen und sogar die Struktur unseres Gehirns* selbst verändern und darüber reflektieren, was für uns Bedeutung* hat. Durch Gewahrsein werden Entscheidungen und Veränderungen möglich.

Aber was heißt es wirklich, gewahr zu sein, zum Beispiel unseres Denkens? Was ist überhaupt Denken? Wir können eine scheinbar einfache Frage stellen: Was ist ein Gedanke? Und jeder, den wir fragen, wird uns wahrscheinlich eine andere Antwort geben. Wir „wissen“ nicht, was ein Gedanke – oder ein Gefühl – eigentlich ist. Im Ernst! Natürlich wissen wir, wenn wir einen Gedanke haben, aber die Definition eines Gedankens zu formulieren, ist eine Herausforderung. Wenn wir die Idee genauer untersuchen, dass der Geist ein Prozess ist, der aus dem Fluss von Energie und Information entsteht – in unserem Körper und in unseren Beziehungen – werden wir klarer erkennen und besser verstehen können, was ein Gedanke oder eine Emotion in Wirklichkeit „ist“. Wir werden erfahren, dass manche Systeme einen emergenten Prozess hervorbringen, der als Selbstorganisation bezeichnet wird und dieses System seinerseits wiederum reguliert. In diesem Fall werden wir die Idee näher untersuchen, nach der das System, über das wir hier sprechen, aus dem Energie- und Informationsfluss in unseren Beziehungen und in unserem Körper entsteht. Und wenn wir dann fragen, was die Verbindung dieser mentalen Prozesse mit dem Gehirn ist, können wir uns in einen weiteren Bereich faszinierender und hitziger Debatten vorwagen. Wie eingangs schon erwähnt, trafen wir uns vor zwei Jahrzehnten in einer Gruppe von vierzig Wissenschaftlern aus einem Dutzend Forschungsdisziplinen, um uns dieser Frage zu widmen: Wie stehen das Gehirn und der Geist miteinander in Beziehung? Und wir kamen dabei zu keiner übereinstimmenden Antwort. Es war „einfach“, das Gehirn zu definieren, doch der Versuch, eine gemeinsame Bedeutung oder auch nur eine gemeinsame Beschreibung dessen zu finden, was der „Geist“ ist, hatte es in sich.

Neben den wichtigen Dimensionen der subjektiven Erfahrung und des Gewahrsein, und unseren mentalen Aktivitäten wie Emotionen, Gedanken und Erinnerungen zeichnet den Geist noch ein anderes entscheidendes Merkmal aus. Es bezieht sich darauf, wie unser mentales Leben unser materielles Leben und unsere Interaktionen mit der Welt reguliert.

Dieser Kernaspekt des Geistes kann als „ein verkörperter und relationaler Prozess“ definiert werden, „der den Fluss von Energie und Information reguliert“. Das ist der selbstorganisierende, emergente Prozess, der unserer Arbeitsdefinition des Geistes zugrunde liegt.

Implikationen: Was bedeutet der Geist für unser Leben?

Nach einer Befragung von über 100.000 Mitarbeitern, die in verschiedenen Bereichen der mentalen Gesundheit* tätig sind, habe ich folgende Ergebnisse zusammengetragen. Auf die Frage, ob sie in ihrer Ausbildung jemals einen Vortrag gehört haben, in dem der Geist definiert wurde, antworteten zwei bis fünf Prozent mit „Ja“. Das bedeutet, dass mehr als 95 Prozent der Psychiater, Psychologen, Sozialarbeiter, des psychiatrischen Krankenpflegepersonal, der ausbildenden Therapeuten, Berufstherapeuten, pädagogischen Therapeuten, Bewegungstherapeuten, Tanztherapeuten, Kunsttherapeuten, Musiktherapeuten und anderen nie einen Vortrag gehört haben, in dem der Geist definiert wurde. Auch ich habe nie einen Vortrag zu diesem Thema gehört. (Ähnlich war das Ergebnis bei der Frage nach der Definition des Begriffes „mentale oder psychische Gesundheit“.) Auch 4.500 Erziehern im Kindergarten und Lehrern, die in verschiedenen Altersstufen unterrichten, wurde diese Frage gestellt – mit den gleichen Ergebnissen.

Verschiedene Bereiche der Wissenschaft und der Philosophie vertreten die Ansicht, dass der Geist etwas Unbekanntes sei und weder definiert werden solle noch könne. Ich weiß, dass sich das vielleicht überraschend anhört, aber nach wiederholten Diskussionen mit verschiedenen Führungspersönlichkeiten in diesen Disziplinen und nach einer Sichtung der wissenschaftlichen Fachliteratur ist unsere momentane Situation die folgende: Uns fehlt eine Definition des Geistes. Im Sinne einer Konsilienz* könnte als Arbeitsdefinition eines Kernaspekts des Geistes ein regulativer Prozess gelten. Das entspricht dem, was viele Wissenschaftler verschiedener Fachgebiete aus ihren Untersuchungen des Geistes schlussfolgern – auch dann, wenn sie keine explizite Definition geben. Aus Sicht der Interpersonellen Neurobiologie* ist dies eine Arbeitsdefinition, ein Ausgangspunkt. In den letzten zwei Jahrzehnten hatte die Benutzung dieses Konzeptes mehrere wichtige Implikationen.

Wenn wir sagen, dass der Geist sowohl verkörpert als auch relational ist, dann bedeutet dies, dass wir, um unseren Geist zu verstehen, auch unseren Körper verstehen müssen. Dazu gehört auch das Nervensystem*, das über den ganzen Körper verteilt ist und mit dem Körper interagiert. Dieses nennen wir verkürzt „das Gehirn“. Wenn man anmerkt, dass der Geist auch ein relationaler Prozess ist, hinterlässt dies bei einigen Menschen den Eindruck, dass sie ihren eigenen Geist nicht „besitzen“. Der Geist wird von unseren sozialen Interaktionen beeinflusst, und auch von Beziehungen mit Entitäten jenseits unseres körperlichen Selbst und von Erfahrungen, die wir in unserer Umgebung erleben. In der Tat wird der Geist in grundlegender Weise durch diese Erfahrungen geschaffen. In diesem Zusammenhang können wir sagen, dass der Geist verkörpert und gleichzeitig in unseren Welten der Beziehungen eingebettet ist.

Die Verwendung des Begriffes „Prozess“ besagt, dass der Geist ein Verb und kein Substantiv ist. In der Wissenschaft bezeichnen wir dies als einen emergenten Prozess, der aus der Interaktion von Elementen des betreffenden Systems