Gendarm des Königs - Moses Wolff - E-Book

Gendarm des Königs E-Book

Moses Wolff

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Beschreibung

Die Bekenntnisse eines königstreuen Gendarms Der bayrische, so ziemlich jeglicher erotischen Erfahrung offene Gendarm Ludwig Staudacher bekommt im Juni 1886 die Aufgabe, den entmündigten König Ludwig II. von Neuschwanstein nach Schloss Berg zu bringen. Hierbei erhält er Einsicht in das delikate Privatleben des Monarchen und wird Zeitzeuge des Todes von Ludwig und Dr. Gudden. Bei den anschließenden Ermittlungen lernt Staudacher viele Bedienstete des Königshofs kennen, die sich – wie er selbst – sexuell experimentierfreudig und allen Geschlechtern zugetan zeigen, was im damaligen Strafgesetzbuch als »widernatürlich« und damit strafbar eingestuft wird. Das Leben des Gendarms verändert sich innerhalb kürzester Zeit, sein Privatleben wird ereignisreich und bunt. Nur seine Ermittlungsergebnisse im Falle des toten Königs stoßen bei Vorgesetzten auf taube Ohren; die Öffentlichkeit soll weiterhin glauben, der König habe den Freitod gewählt. Doch Ludwig Staudacher kennt die Wahrheit …

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Seitenzahl: 311

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Moses Wolff

Gendarm des Königs

Die Starnberger Protokolle

Für Björn Puscha

November 2022

Cover und grafische Gestaltung von Hirschkäfer Design/Coriander Pinxit unter Verwendung einer Illustration von Mike Maurus

© Hirschkäfer Verlag, München 2022

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN 978-3-940839-88-6

Besuchen Sie uns im Internet:

www.hirschkaefer-verlag.de

Inhalt

Prolog: 9. Juni 1886

10. März 1864

23. Dezember 1868

05. Januar 1869

21. Januar 1869

23. April 1869

7. Juni 1869

18. September 1870

18. September 1870

24. Februar 1874

24. Februar 1874

24. Februar 1874

25. Februar 1874

12. Oktober 1874

27. Mai 1875

20. März 1876

20. März 1876

20. März 1876

2. Juni 1879

2. Juni 1880

3. Oktober 1881

24. Oktober 1881

24. Oktober 1881

11. April 1882

12. April 1882

12. April 1882

29. April 1882

4. Juni 1882

4. Juni 1882

5. Juni 1882

25. Dezember 1882

25. Dezember 1882

13. Juni 1885

10. April 1886

10. April 1886

12. April 1886

13. April 1886

13. April 1886

14. April 1886

14. April 1886

15. April 1886

18. April 1886

18. April 1886

19. April 1886

19. April 1886

25. April 1886

25. April 1886

26. April 1886

15. Mai 1886

16. Mai 1886

9. Juni 1886

9. Juni 1886

9. Juni 1886

9. Juni 1986

10. Juni 1886

10. Juni 1886

10. Juni 1886

10. Juni 1886

11. Juni 1886

11. Juni 1886

12. Juni 1886

12. Juni 1886

12. Juni 1886

12. Juni 1886

12. Juni 1886

12. Juni 1886

13. Juni 1886

13. Juni 1886

13. Juni 1886

13. Juni 1886

13. Juni 1886

13. Juni 1886

13. Juni 1886

13. Juni 1886

13. Juni 1886

13. Juni 1886

13. Juni 1886

13. Juni 1886

13. Juni 1886

13. Juni 1886

13. Juni 1886

13. Juni 1886

14. Juni 1886

14. Juni 1886

15. Juni 1886

16. Juni 1886

16. Juni 1886

17. Juni 1886

18. Juni 1886

19. Juni 1886

17. August 1886

Epilog

Quellennachweise

Prolog

9. Juni 1886

König Ludwig II. saß auf Schloss Neuschwanstein in einem seiner thronähnlichen Sessel und blickte aus dem geöffneten Fenster. Der Himmel war bewölkt, die Stimmung des Monarchen arg getrübt durch Enttäuschung, Schwermut und körperliche Beschwerden. Er war vierzig Jahre alt und litt an Kopf-, Zahn- und Gliederschmerzen. Er hatte immer davon geträumt, der Menschheit mehr Pracht, mehr Schönheit, mehr Freude zu schenken, seinem Volke zu zeigen, dass nicht Zank und Krieg, sondern Musik und Anmut die Herzen glücklich machen. Doch seine Liebe zur Kunst und seine Neigung zur Schaffung wundervoller Bauwerke wurde ihm in letzter Zeit immer öfter vorgeworfen, man beschuldigte ihn, Gelder zu verschwenden, lieber Schlösser bauen zu lassen, als sich an Völkerschlachten zu beteiligen.

Durch ein lautes Klopfen wurde er aufgeschreckt. Er blickte auf die Standuhr. Es war gerade einmal kurz vor elf Uhr abends. Er hatte angeordnet, nicht gestört werden zu wollen. Ludwig sprang auf.

»Wer wagt es?«, rief er laut und erzürnt und spürte dabei die Falte zwischen seinen Augen. Zaghaft wurde die Türe zu seinem Gemach geöffnet, sein junger Kammerdiener Rutz kam in gebeugter Haltung herein, so wie es sich gehörte, schließlich war es keinem Bediensteten gestattet, dem König ins Antlitz zu blicken.

»Eure Majestät«, sagte Rutz mit zurückhaltender Stimme, »ich bringe den gewünschten französischen Wein!« Unter wiederholten Verbeugungen trug der Kammerdiener die silberne Karaffe mit den kunstvoll eingeprägten Schwänen zum Beistelltisch vor dem großen Fenster und stellte sie nebst einem glänzend polierten Kelch hin. »Ich ziehe mich zurück, Eure Majestät läuten, wenn wir das Souper servieren sollen.«

Ludwig starrte in die Luft. Natürlich, er hatte den Wein völlig vergessen. Rutz stand erst wenige Wochen in den Diensten des Königs, verschiedene Rituale waren ihm noch nicht vertraut. Dafür machte er seine Arbeit aber bereits sehr gut, befand der König.

»Ich möchte erst in ein paar Stunden speisen, entferne er sich und sorge er für ungestörte Ruhe!«

Sich hündisch verneigend, zog sich Rutz zurück, den Blick gewissenhaft auf den Boden gerichtet. Als er fort war, spürte Ludwig für wenige Sekunden Frieden. Er versuchte, ruhig zu atmen. Was war nur geschehen? Wo waren die Jahre hingegangen? Er fühlte sich träge, so träge. Schleppenden Fußes trottete er vor den mächtigen Spiegel, dessen Geheimnis nur er kannte. Er sah sich an. Es war ein schauerlicher Anblick. Seine Augen waren glasig, das Gesicht aufgedunsen, sein Körper ebenso. Der Bart wucherte wild, er ließ ihn selten zurechtschneiden. Ludwig war erstaunt, was für einen verwahrlosten Eindruck er machte – bis auf sein Haupthaar, das wie in jungen Jahren äußerst gepflegt, geschmeidig, glänzend und schön frisiert war. Er überlegte, warum er darauf solchen Wert legte. Vielleicht war, so schlussfolgerte er, seine Frisur das letzte Anzeichen seiner königlichen Erscheinung und Würde, was ihm im Übrigen mittlerweile gleichgültig war. Er traf außer seiner Dienerschaft und in seltenen Fällen Ministern keine Menschenseele. Und sowohl den Dienern als auch den Ministern misstraute er. Es ging ihm fürwahr schlecht, sein gesamtes gegenwärtiges Leben fand in der Flucht aus dem realen Dasein und in der Vermeidung aller weltlichen Wirklichkeiten mit ihren Anforderungen zugunsten einer imaginären und in den Augen des Königs besseren Welt statt. Gesellschaftliche Etikette und bürgerliche Vorstellungen waren ihm ein Gräuel. In seinem Kopf hörte er die imaginären Klänge von Parsifal.

»Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist der Edelste im Land?«, fragte er sein Spiegelbild. Nun folgte einer der seltenen Momente, in denen er kichern musste, weil ihm bewusst war, dass ihn Außenstehende für einen Verrückten halten mussten, wenn er mit einem Spiegel sprach. Aber für ihn hatte das Zwiegespräch mit dem Spiegel deutlich höheren Realitätsgehalt als ein Pferderennen oder andere Ablenkungen, denen gewöhnliche Menschen frönen mochten. Er kniff die Augen zusammen, öffnete sie erst nach gefühlten drei Minuten wieder, als er den Eindruck hatte, das Gleichgewicht zu verlieren. Durch das lange Schließen der Augen sah er zunächst etwas verschwommen, dann deutlicher. Der gewünschte Effekt war eingetreten. Sein Spiegelbild zeigte nicht mehr den gebeugten, geplagten alten König mit dem wuchernden Bart, sondern den jungen, schönen König Ludwig, der er einst war. Funkelnde Augen, das Gesicht fein glatt rasiert, sein ausdrucksvoller Mund war von einer vornehmen Röte, seine Haltung edel und voller Tatendrang.

»Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist der Edelste im Land?«, fragte er erneut.

»Oh König, im Innersten, da seid es Ihr. Doch draußen, da lauert Missgunst und Gier.«

»Ich weiß«, bekannte er. »Doch ich kann nicht mehr hinaus in die Welt. Menschen sind mir in zunehmendem Maß zuwider, ich lebe lieber hier in meiner eigenen Wirklichkeit, suche kleine Freuden durch den gesteigerten Verzehr edler Speisen und trinke über die Maßen Alkohol. Leider stellt sich selten der gewünschte Rausch ein, vielmehr verstärken die geistreichen Getränke meine Melancholie und die düsteren Gedanken.«

»Wie wäre es wieder einmal mit einem erfrischenden Bad im Bergsee? Klares Quellwasser vertreibt Trübsinn.«

»Ich bin im Augenblick voller Apathie, finde kaum Schlaf, und meine Gewohnheiten bezüglich Tag und Nacht haben sich genau umgekehrt. Ich gehe in den frühen Morgenstunden zu Bett, schlafe bis in den Nachmittag – sofern ich einschlafen kann –, stehe dann auf, nehme heiße Bäder, kleide mich an und pflege am zeitigen Abend zu frühstücken. Im Anschluss tüftle ich an Bauplänen, lasse mir in besonderen Momenten Musik vorspielen oder Literatur vortragen.«

»Wie ergeht es Eurem Bruder?«, erkundigte sich der junge Ludwig im Spiegel.

Mit dieser Frage hatte der König nicht gerechnet. Wie ein Blitz durchzuckte es seinen Körper.

»Ich liebe meinen Bruder Otto«, hauchte er sehr leise. »Er war noch nie ein einfacher Mensch, und nach einem schrecklichen Kriegserlebnis wurde er traumatisiert. Seither ist er in einem geistig dramatischen Zustand und in einer entsprechenden medizinischen Einrichtung untergebracht.«

»Habt Ihr Angst, selbst geisteskrank zu werden?«

»In manchen Augenblicken habe ich diese Angst, ja. Du kennst mich besser als jeder andere, du weißt, ich bin kapriziös und eigenwillig, jedoch habe ich niemals Anzeichen von Geisteskrankheit aufgewiesen.«

Das Spiegelbild blickte sein Gegenüber gütig an.

»Eure Minister«, warnte es, »würden Eurer Majestät liebend gern eine psychische Störung unterstellen. Ein kranker König kann nicht regieren und auch keine Staatsgelder mehr für Schlösser ausgeben. Gewiss munkeln auch Stammtische in den Wirtshäusern, es könne etwas nicht stimmen mit ihrem bausüchtigen König, der gerne mutterseelenallein in der Oper sitzt und sich Werke von Richard Wagner vorspielen lässt.«

Ludwig war schlau und hatte ein ausgeprägtes Gespür, so ahnte er längst, was die Menschen über ihn mutmaßen mochten und wusste, dass sein Spiegelbild die Wahrheit sprach.

»Ist meine Zeit vorbei?«, fragte der König heiser.

»Ihr wisst, dass ich nicht prophezeien kann, Eure Majestät.«

»Natürlich, bitte verzeiht. Ich bedanke mich für die Unterhaltung.«

»Stets zu Diensten«, sprach das Spiegelbild, verschwamm im nächsten Moment und wich dem realen Bild des gealterten Ludwig. Dieser atmete schwer und wusste, dass es nach ihm gewiss nicht besser werde. Würde er nicht mehr sein, er, der den Frieden und die Schönheiten für alle Menschen begehrte und keinesfalls Twist und Kampf, würde sein Nachfolger den alten menschlichen Drang nach Macht, Griff zu den Waffen, auch unter Brüdern, Gemetzel, Zerstörung, Tod, all dem, was ihm sein Leben lang zuwider war, was er stets verhindern wollte, neuen Raum geben? Er hatte Tränen in den Augen.

Vor den Toren krähte ein Rabenpaar im Kastanienbaum. Ludwig stand auf, ging zum Fenster und richtete die Augen zum Himmel.

»Dies ist ein schlimmes Vorzeichen«, sagte er. »In den Häusern Wittelsbach und Habsburg bedeuten Krähen und Raben Unheil.«

Er brauchte nun etwas, das ihn aufheiterte, so schleppte er sich zum Bücherregal und nahm das von ihm hochgeschätzte Werk Phantasien über die Kunst von Wilhelm Heinrich Wackenroder heraus, ein Buch, aus dem er beinahe auswendig zitieren konnte. Er schlug es auf und las die Worte des Romantikers Wackenroder: Wohl dem, der, wann der irdische Boden untreu unter seinen Füßen wankt, mit heitern Sinnen auf luftige Töne sich retten kann«, ruft der weltflüchtige Musiker aus. Die Klänge der Musik machen unabhängig von der Welt.

Ludwig schloss die Augen. Er dachte an Schwäne, an Seen, an stolze Rösser, an erhabene Bauwerke und Statuen anmutiger Menschen. Dann las er weiter: Die Musik hat das Schönste der Naturtöne gesammelt und veredelt, sie hat sich Instrumente gebaut, aus Metall und Holz, und der Mensch kann nun willkürlich eine Schar von singenden Geistern erregen, sooft er will; die Kunst beherrscht das große, wunderbare Gebiet. Die wollüstige Phantasie hofft, einst einen noch höheren überirdischen Gesang der Sphären anzutreffen, gegen den alle hiesige Kunst roh und unbeholfen ist. Der König seufzte, erhob sich, ging hinüber zum Beistelltisch, griff sich ein paar Weintrauben, schenkte sich aus der großen silbernen Karaffe seinen Kelch voll und leerte ihn in einem Zug.

Diesen Vorgang wiederholte er zwei weitere Male, wobei er beim dritten Leeren des Trinkgefäßes die Flüssigkeit im Munde behielt. Er war davon überzeugt, es sei gut für die Mundflora, wenn er süßen Wein erst möglichst spät hinunterschlucke. Er hatte kaum noch Zähne im Mund, diese befanden sich in einem äußerst bedenklichen Zustand, bestanden quasi nur aus schwarzen Stummeln. Seine Zähne waren ein Abbild seines seelischen Zustandes. Mit beiden Backen voller Wein schlurfte er zurück zu seinem Sessel, um die in seinen Augen wichtigste Passage des Buches nachzulesen: Beim Steigen, beim Sinken der Sonne, beim Schimmer des Mondes ist die Natur in einer raschen, unwillkürlichen Entzückung, in der sie noch freigebiger ist, noch weniger spart, und wie ein Pfau in stolzer Pracht allen Schmuck mit inniger Freude rauschend auseinanderschlägt. Er schluckte den Wein hinunter und verfiel in eine Art Trance. Die Uhr schlug Mitternacht.

10. März 1864

Von den Stammgästen der Aufkirchner Bierstube unbemerkt, nahm Beppi, ein leicht gebückter Mann mit weißem, langem Bart und einer grauen Trachtenjacke mit Hirschhornknöpfen, an dem kleinen Tisch neben der Eingangstür Platz. Sein Alter war schwer einzuschätzen, aber gewiss war er zwischen fünfzig und sechzig. In seinen Augen waren faszinierende Leichtigkeit und Lebenskraft erkennbar. Keiner kannte den Fremden, es war das erste Mal, dass er die Bierstube betreten hatte. Hubsi, der glatt rasierte Betreiber der Stube, kam herüber.

»Magst ein Bier?«, fragte er den Bärtigen.

»Ja. Hast was zum Essen auch?«

»An Wurschtsalat kann ich dir machen.«

»Des passt.«

Hubsi stellte dem Fremden den mit Bier gefüllten Krug hin. Der Schaum schmiegte sich wie Puderzucker um Beppis Bart, nachdem dieser einen Schluck getrunken hatte.

»Bist auf der Durchreise?«

»Ja, ich war ein bisserl am Würmsee spazieren«, sagte der Bärtige. »Ich werd nachher noch nach München gehen.«

»Da wirst die halbe Nacht durchmarschieren müssen.«

»Ich weiß. Ich bin auch schon hergewandert.«

Hubsi bewegte seinen massigen Körper in die hintere Stube, um Wurst, Zwiebeln und Gurken für den Wurstsalat aufzuschneiden. Beppi blickte sich um. An einem runden Tisch labten sich drei Herren an ihren Bieren.

»Also, noch mal Gratulation zum Nachwuchs, Staudacher!«, sagte einer mit schütterem Haar und prostete den anderen zu.

»Dankschön!«

»Es ist dein erstes Kind, oder?«

»Richtig. Und weil ja heut der neue König proklamiert wurde, haben wir unseren Sohn nach ihm benannt. Ludwig.«

»Also Wiggerl«, sagte der mit dem schütteren Haar.

»Ja, so werden wir ihn nennen, damit es keine Verwechslung mit dem König gibt.«

Die Herren lachten und tranken.

Es war in der Tat ein historisch wichtiger Tag für Bayern. Der junge Ludwig Otto Friedrich Wilhelm von Wittelsbach war am Tage des Todes seines Vaters zu König Ludwig II. von Bayern proklamiert worden. Nach schwerer Schwangerschaft hatte Maria Staudacher jenen Knaben zur Welt gebracht. Sie und ihr Mann Leopold, ein Schreiner, waren sehr stolz auf den Nachwuchs. Die Mutter konnte es gar nicht erwarten, so rasch wie möglich ein Bildnis des frisch gekrönten Königs neben Wiggerls Kinderbettchen aufzustellen.

Der bärtige Alte hob den Kopf und schnaufte tief ein. Beppis Nasenlöcher öffneten und schlossen sich wie die Nüstern eines Fohlens. Wieder einmal durchfuhren ihn die ihm seit seiner Kindheit vertrauten Strömungen, die durch Mark und Bein gingen. In diesen Momenten manifestierten sich in seinem Hirn klare Botschaften zu einem runden, stimmigen Bild. Er wusste, dass jene hellseherischen Kräfte nicht überall angesehen waren, und er hatte im Lauf seines Lebens gelernt, die empfangenen Worte nur dann kundzutun, wenn er den Eindruck hatte, seine Zuhörer würden etwas damit anfangen können. Doch diesmal entschied er sich zu schweigen. Es hätte auf die neben ihm sitzenden Herren gewiss kurios gewirkt, wenn ein fremder, älterer Herr plötzlich Prophezeiungen von sich gibt.

Der Wurstsalat kam. Während er aß, konzentrierte er sich auf die empfangenen Informationen, die sich ausschließlich um den neugeborenen Knaben drehten:

»Dieses Kind hat nicht ohne Grund den Namen Ludwig erhalten«, schoss es dem Alten in den Kopf, als würde ein Geist direkt in sein Ohr flüstern. »Er wird einst den Beruf eines Gendarmen ergreifen und ist dazu erkoren, im Alter von zweiundzwanzig Jahren ein wichtiger Bestandteil des Schicksals von Ludwig II. von Bayern zu werden.«

Beppi nahm sein Stofftaschentuch aus der Tasche, wischte sich den Mund ab, genoss noch kurz den würzigen Essiggeschmack seines Wurstsalates und trank seinen Krug aus. Er blickte zu dem frischgebackenen Vater, der in seiner heiteren Geselligkeit keinen Schimmer hatte, was für eine bedeutungsvolle Fügung seinem kleinen Wiggerl vorbestimmt war.

23. Dezember 1868

Der vierjährige Wiggerl spielte am Vorabend der Christnacht unter dem warmen Ofen der Großeltern mütterlicherseits mit dem einzigen Spielzeug, das er besaß: einem handgeschnitzten hölzernen Hahn mit rot angestrichenem Kamm und Bart, den sein Vater von einer Reise aus dem Schwarzwald mitgebracht hatte. Das Spiel war eine fortlaufende Geschichte rund um Prinzessin Ilsebill, die sich in einen bettelarmen Holzfäller verliebt hatte, der zu seinem Unglück von einem bösen Geist in einen Hahn verwandelt worden war. Wiggerl spielte die Prinzessin.

»Die anderen Hühner mögen mich nicht«, klagte der Hahn. »Sie merken, dass ich anders bin.«

»Ich würde dich so gerne erlösen«, schluchzte die Prinzessin.

»Das geht nicht, ich bin für alle Zeiten gefangen im Körper des Hahnes. Aber ich habe die Gabe, dich zu beschützen.«

»Aber der HerrGOTT beschützt mich doch schon.«

Der Hahn kam mit seinem Schnabel sehr nah an das Gesicht von Prinzessin Ilsebill und flüsterte in ihr Ohr.

»Ja, aber morgen beginnen die Raunächte. Da brauchst du noch mal besonderen Schutz.«

Die ersten Lebensjahre verbrachte Wiggerl bei den im nahe gelegenen Berg am Würmsee wohnenden Großeltern, da seine Mutter unter der Nervenkrankheit Hysterie litt und meist schlief oder zu schwach war, sich um das Kind zu kümmern. Die Großeltern waren freundliche Menschen, allerdings beide stark dem altbayerischen Volksglauben verfallen, sodass ihre Tage mit Ritualen und Kirchgängen ausgefüllt waren und Klein Wiggerl oft allein in der Stube verbringen musste, was ihn nicht störte, da er eine ausgeprägte Fantasie besaß und es ihm niemals langweilig wurde. Besonders die winterlichen Raunächte und die damit verbundene Besorgnis der Großmutter machten ihm Spaß. Während andere Kinder sich vor den Spukgeschichten fürchteten, ließ Wiggerl seine Gedankenwelt von ihnen beflügeln.

»Beschützt du dann die Oma und den Opa auch?«, fragte Prinzessin Ilsebill.

»Nein, ich habe nur die Macht, einen Menschen zu beschützen. Eine Prinzessin. Ilsebill von Berg. Du wirst einst die Königin dieses Reiches sein, und alles wird dir gehören.«

»Auch der Würmsee?«

»Natürlich! Der Würmsee mit allen Fischen darin.«

Die Großmutter kam herein und brachte einen Hefezopf und frische Milch in die Stube.

»Komm an den Tisch, Wiggerl«, sagte sie freundlich.

Wiggerl legte den Hahn auf den Holzboden und kletterte auf seinen Stuhl. Der Zopf schmeckte wunderbar, doch in dem Augenblick, als Wiggerl das Glas ansetzte, um einen Schluck Milch zu trinken, hörte er ein Geräusch. War es der Hahn gewesen? Nein, der lag brav an seinem Platz auf dem Fußboden. Da war es wieder, das Geräusch! Es kam von draußen. Eine Krähe! Sie krächzte sieben Mal. Wiggerl konnte schon bis zehn zählen und überlegte, was er getan hätte, wenn die Krähe öfter als zehn Mal gekräht hätte. Dann wüsste er die Anzahl der Krählaute nicht. Seine Oma konnte er nicht fragen, weil die nie bei irgendetwas mitzählte. Er musste auf einmal furchtbar lachen, verschluckte sich und verschüttete dabei etwas Milch auf seinem Hemd.

»Gib doch Acht!«, schimpfte die Großmutter. »Na ja, heut Abend ist es noch in Ordnung. Morgen musst du aber besser aufpassen, weil da dürft ich nix mehr rauswaschen.«

Sie stand auf, holte ein Tuch und etwas Wasser und reinigte das Gewand ihres Enkelsohnes.

»Warum darf man es heut rauswaschen und morgen nicht?«, fragte Wiggerl.

»Nach den alten Perchtengesetzen«, so veranschaulichte die Großmutter ihr Gesagtes, »darf zwischen Heiligabend und Heiligdreikönig weder gewaschen, gewebt, geputzt oder gesponnen werden. Sämtliche Räder sollen stillstehen. Wehe den Frauen, die sich ans Spinnrad setzen, ihre Wolle wird von der Percht unbrauchbar gemacht.«

»Wer ist denn die Percht?«, fragte der aufmerksam lauschende Wiggerl.

»Sie ist«, berichtete die Großmutter, »die Anführerin der wilden Jagd. Sie kontrolliert die Spulen der Spinnräder – befindet sich auch nur ein einziger Faden darin, wird sie böse. Hängt gar jemand weiße Leintücher auf, erweckt die Percht die Apokalyptischen Reiter aus ihrem Todesschlaf. Sie erscheinen den Menschen, die das Verbot missachtet haben, töten sie und benutzen die Bettlaken als Leichentuch für ihre Opfer.«

»Oh, das will ich sehen! Hängst du in den Raunächten weiße Leintücher auf?«

»Ja, hast du denn überhaupt keine Angst?«

»Nein, warum denn auch?«

In der folgenden Nacht erdachte Wiggerl mehrere Fabelwesen, deren von ihm erfundenen Geräusche er in den nächsten Tagen häufig anwandte, was schließlich dazu führte, dass die Großeltern aufhörten, in seiner Anwesenheit von den Raunächten zu sprechen.

05. Januar 1869

»Wiggerl, wach auf!«, sagte die Großmutter in aller HerrGOTTsfrühe. Draußen war es noch dunkel. Wiggerl hatte gerade noch wunderbar von einer fliegenden Kutsche geträumt und rieb sich die Augen.

»Warum soll ich denn mitten in der Nacht aufwachen?«, fragte er.

»Dein Großvater … er ist tot.«

Wiggerl sah die Großmutter mit großen Augen an.

»Hat den die Percht geholt?«, erkundigte er sich.

Noch am selben Tag brachte ihn die Großmutter zurück ins Haus seiner Eltern.

21. Januar 1869

Der kleine Wiggerl kannte keinerlei Furcht, hatte regelrecht Gefallen am Gruseln gefunden und liebte es, andere zu erschrecken, indem er gut hörbar schnell und stoßartig atmete, wie ein schnüffelndes oder schnaubendes Untier. Diese Angewohnheit geriet irgendwann aus den Fugen, und er konnte das Schnüffeln nicht mehr steuern. Da er jedoch in fast jeder noch so ernsten Situation eine heitere Seite entdeckte, belustigte ihn der Umstand des zügellosen Hyperventilierens derart, dass es nicht selten in ein herzhaftes Lachen ausartete. Der Hausarzt der Familie, Dr. Amperer, sprach von »unkontrollierten respiratorischen Affektkrämpfen«, die man höchstens durch Aderlässe, harten Schlafentzug oder, im Zweifelsfalle, durch eine Zwangsjacke behandeln könne. Diese Methoden schienen jedoch bei Kindern wegen der meist irreparablen Begleitfolgen nicht ratsam. So also sah man von einer Behandlung ab und entschied sich, das Verhalten des Kindes zu erdulden, was nicht leicht war, da das Nervenleiden der Mutter sich täglich verschlechterte, vor allem, wenn Wiggerl mitten in der Nacht laut zu schnaufen, bellen und kichern begann.

23. April 1869

»Dass man den heiligen St. Georg verehrt, ist ja wirklich schön und gut«, sprach König Ludwig II., während er am frühen Morgen am Tag des Ritterschlages in Anwesenheit seines Leibreitknechts Carsten durch den Hofgarten flanierte.

»Aber warum in aller Welt müssen da immer so viele Leute teilnehmen?«

»Tja«, antwortete Carsten, »die Menschen mögen Festlichkeiten, und es gibt nun mal Bräuche.«

»Es bereitet mir ja auch eine gewisse Freude, den neuen Ordensmitgliedern des St. Georg-Ordens den Ritterschlag zu erteilen. Das ist ein bisschen wie in einem Märchen. Wisst Ihr etwas über den heiligen Georg?«

»Nicht viel. Nur eben, dass er ein Drachentöter war.«

»Das ist korrekt. Drum wurde er als Schutzheiliger der Pferde und Reiter auserwählt. Als Kind hab ich mir manchmal vorgestellt, was ein Drache wohl für Geräusche macht. Ich dachte mir, dass sie wahrscheinlich Nüstern haben wie Pferde und folglich auch schnauben.«

Ludwig atmete schnell und stoßartig wie ein schnaubendes Ross. Carsten kannte solche heiteren Verhaltensweisen seines Gebieters und lachte vergnügt.

»Na ja«, sprach der König weiter. »Deshalb werden immer am 23. April an vielen Orten die Pferde geehrt und gesegnet, sowohl in fürstlichen Kreisen als auch auf den Bauernhöfen. Bis vor ein paar Jahren gab es auch noch einen Schwerttanz und den Georgi-Ritt mit unzähligen schön geschmückten Rössern, aber das hat man kürzlich vorübergehend abgeschafft. Eine Tradition, die ich gern wieder mal erleben würde, ist das Kranzlstechen.«

»Was wird denn da gemacht?«, wollte Carsten wissen.

»Es ist ein Geschicklichkeitsspiel nach dem Vorbild alter Ritterspiele. Ein Reiter muss versuchen, einen aufgehängten Kranz im Galopp mit einem glatt geschnitzten Weidenstock oder auch einem Degen herunterzustechen. Ein sehr anmutiges Schauspiel. Vielleicht werde ich nächstes Jahr mal wieder solch ein Kranzlstechen durchführen lassen.«

»Das würde mich interessieren. Eure Majestät, Ihr wisst ja, dass ich aus einem bäuerlichen Haus in der Nähe von Benediktbeuern stamme?«

»Freilich weiß ich das.«

»Diese Bräuche kennt man bei uns auf dem Lande nicht. Aber es gibt eine Menge Sprüche, auch zum heiligen St. Georg.«

»Sprüche?«

»Ja! Bei uns wird gesagt, dass die durch den heiligen Georg aus den Fängen des Drachen befreite Jungfrau das Wetter im kommenden Jahr bestimmt.«

»Ach so? Das höre ich zum ersten Mal. Erzählt mir mehr.«

Der König und sein Leibreitknecht spazierten über den Kiesweg am Dianatempel vorbei. Ludwig trug einen weißen Umhang mit Stehkragen und einer Brosche in den Farben des Ritterordens, schnallenbesetzte, cremefarbene Schuhe, Strümpfe aus Samt und einen dunkelgrauen Filzhut mit echten Fasanenfedern und Adlerflaumfedern. Außerdem natürlich das schlanke, aus altem Familienbesitz stammende Schwert aus Gold, Stahl und Silber, das mit türkisen und roséfarbenen Edelsteinen besetzt war. Leibreitknecht Carsten trug die vom Königlich Bayerischen Hof für den Anlass des Ritterschlages gestellte Festkleidung, bestehend aus weißen Seidenhosen mit lackierten Lederschuhen, einem hellen Wams mit passender, edel bestickter Jacke und weißen Handschuhen.

»Nun«, sagte Carsten andächtig, »ist es an Georgi windig und kühl, so wie heute, wird die Ernte ertragreich. Ist es hingegen sonnig und warm, wird die Ernte schlecht ausfallen. Mein Großvater sagt immer: Auf St. Georgs Güte stehen alle Bäum’ in Blüte. Und auf einer Stickerei im Flur unseres Hauses steht Georg kommt nach alten Sitten auf einem Schimmel angeritten. Also, damit sind die letzten Schneeflocken des ausklingenden Winters gemeint. Da gibt es noch zahlreiche Reime, die wir als Kinder aufgesagt haben.«

»Lasst mich daran teilhaben! Ich liebe Kinderverse!«

Der König bekam leicht feuchte Augen der Rührung, als sein Leibreitknecht weitersprach.

»Ist’s am Georgi warm und schön, wird man noch raue Wetter sehn. Beziehungsweise Ist’s an Georgi hell und warm, gibt’s noch ein Wetter, dass GOTT erbarm. Und Regnet’s am Georgitag, dauert lang des Regens Plag. Außerdem: Des St. Georgs Pferd tritt den Hafer in die Erd. Und ein besonders hübscher Vers: An Georgi soll das Korn sich recken, dass die Kräh kann sich verstecken.«

»Wunderschön!«, freute sich der König. »Dann wollen wir zu den Festlichkeiten schreiten!«

Die beiden Männer spazierten zum Ordenssaal der Residenz, wo die Kapitelsitzung von 11 Uhr bis Viertel vor 12 Uhr stattfinden sollte. Der Trupp zog durch die Korridore der Residenz zur Allerheiligen-Hofkirche, wo die Ritterschläge erteilt werden sollten. Angeführt wurde der Zug von historisch gekleideten, Fanfaren blasenden Hoftrompetern, gefolgt von Ritterkandidaten, Altrittern, dem Ordensgroßmarschall, Mitgliedern der königlichen Familie und die Majestät Ludwig II. selbst. Das heilige Ordensschwert wurde vom Fürsten Fugger von Babenhausen vorangetragen. Eine mittelalterliche Kammerkapelle hatte sich in der Kirche eingefunden und spielte altertümliche Weisen. Vier in weiß-goldene Gewänder gehüllte Diener hielten den Baldachin, ein schirmartiges Zierdach aus edlen, ebenfalls weiß-goldenen Stoffen. Bis vor wenigen Augenblicken war noch Jubel zu hören gewesen, jetzt, da der König die Kirche betrat, verstummten die Gespräche.

Ludwig lauschte den letzten Klängen des noch kurz andauernden Liedes, harrte kurz in der Stille aus und nahm die Atmosphäre wahr. Nun setzte er sich, um mit allen Anwesenden unter der Leitung des Pfarrers die heilige Messe zu feiern. Anschließend stand der König auf, schritt die vier Stufen über die kleine Treppe direkt unter den Baldachin, drehte sich um, hob den Kopf, richtete seinen Blick auf einen imaginären Punkt an der Kirchenwand und sprach: »Flor und Aufnahme dem Orden! Schöner Zauber, der nicht für immer vergehen darf, glückliches Traumbild, das nicht zerrinnen sollte, o herrliche, heilige Zeit des wahren, echten Rittertums, gepriesenes GOTTerfülltes Mittelalter!«

Der Fürst Fugger von Babenhausen überreichte als leitender Befehlshaber des Ritterordens das Schwert dem Pfarrer, der es segnete und dem König darreichte. An diesem Tag wurden insgesamt vier Ordensmitglieder zum Ritter geschlagen. Sie trugen prunkvolle Helme, die mit Federn geschmückt waren, und bestickte, alten Rüstungen nachempfundene Gewänder, Wappenröcke und wollene Hosen. Die geehrten Männer mussten sich nach der Reihe auf einem Kissen vor den König hinknien und folgenden Schwur leisten:

»Ich schwöre, fortan mein Dasein und all meine Güter für den heiligen Glauben und für die Kirche, für Witwen, Waisen und Unterdrückte einzusetzen.«

Der König berührte nun würdevoll mit der Schwertklinge beide Schultern und den Kopf der vier neuen Mitglieder des Ordens. Er blickte kurz zu seinem Leibreitknecht Carsten und schnaubte übermütig wie ein Drache. Carsten musste sein Kichern unterdrücken. Ludwig wandte den Kopf zurück zu den frisch geschlagenen Rittern und sagte zu jedem der Männer hintereinander:

»Im Namen GOTTes und St. Georgs Ehr’

empfange diesen Schlag und keinen mehr.

Sei tugendhaft, brav und gerecht,

’s ist besser Ritter sein als Knecht.«

Nun überreichte Fürst Fugger von Babenhausen den frisch gekürten Rittern Schwertgurt, Schild und Lanze und bat alle zum Festmahl in den Wintergarten. Erneut setzte großer Jubel ein. Es wurden Crevettes auf französischem Omelette, Salat von mariniertem Hummer mit russisch angerichteten Eiern, Hammelkoteletts mit gratinierten Kartoffeln und in Südtiroler Speck gewickelte grünen Bohnen, zum Dessert in Safran gewälzte Zartbitterschokolade, Pistazieneis und Carameltorte serviert.

7. Juni 1869

Als Wiggerls Vater eine gut bezahlte Tätigkeit in einer großen Schreinerei am nahe gelegenen Würmsee1 annahm, wurde der kleine Wiggerl mit neuen, wenig kindgerechten Aufgaben betreut. Noch im Vorschulalter musste er abends zur Arbeitsstätte seines Erzeugers spazieren, um kistenweise Nägel zu sortieren, rostige Eisenplatten abzufeilen, Bretter aufzuschlichten und Sägespäne zusammenzufegen. Allein sein lebensfroher Übermut half ihm dabei, diese Tätigkeiten mühelos auszuführen, er erfand einfach Welten voller Seeräuber und Brunnengeister, die ihm die schwere Arbeit ausgesprochen leicht erscheinen ließen. Auch, weil die von Wiggerl dargestellten Figuren wunderliche Pfeif- und Knurrgeräusche von sich gaben. Viele Auftraggeber kamen erst nach ihrem Feierabend in die Schreinerei und brachten Holzkisten, Stühle und Vogelhäuschen zur Reparatur mit. Der Vater war in der Regel gerade an der Werkbank beschäftigt, sodass Wiggerl die Aufträge entgegennahm. Durch jenen regen Kontakt mit Vaters Kundschaft hohen und niederen Standes, die die Geräusche und Pantomimen Wiggerls als originell empfanden, wuchs auch seine Menschenkenntnis. Er mochte zwar den Geruch von Holz und Leim, doch das eigentliche Schreinerhandwerk lag dem Knaben kaum. Ungewöhnlich war, dass er seine Mutter beharrlich darum bat, ihm Stricken, Sticken und Häkeln beizubringen. Noch ungewöhnlicher war, dass das erste Kleidungsstück, das Wiggerl strickte, ein Mädchenkleid war.

1 Der Würmsee wurde später in »Starnberger See« umbenannt.

18. September 1870

»Bismarck möchte die deutsche Einheit«, sagte Maximilian Karl Theodor Graf von Holnstein, königlich bayerischer Oberststallmeister, mit finsterer Miene. »Und Ihr, Majestät, wollt Theater und Gebäude bauen, aber es fehlt am Kapital.«

»Wisst Ihr einen Ausweg, Graf?«, fragte der König.

»Nun, man könnte möglicherweise ein gewisses geheimes Abkommen treffen …«

König Ludwig II. lief kopfschüttelnd durch den über dem Nordwestflügel des Festsaalbaus neu erbauten Wintergarten in der Münchner Residenz. Der Besuch seines langjährigen Vertrauten von Holnstein war schon lange angekündigt, aber der König wollte den von ihm als qualvoll empfundenen Einmischungen des preußischen Kanzlers Otto von Bismarck in seine Belange nicht schon wieder ausgesetzt sein. Er war allerdings durch seine vielen aufwendigen Projekte in große Geldverlegenheit geraten, und eine unterstützende Hilfe durch Preußen schien die einzige Möglichkeit für ihn zu sein.

»Ich hab lang genug mitansehen müssen, dass mein Heer sich am Krieg gegen Frankreich beteiligt«, klagte er. »Dabei liebe ich nichts mehr als den Frieden. Durch Kämpfen und Morden wurden nachweislich in der Geschichte der Menschheit noch nie Konflikte auf Dauer beseitigt, aber das Machtstreben der Menschen ist vermutlich nicht auszurotten.«

Graf Holnstein und der König hatten sich am späten Vormittag getroffen, waren ein wenig im Hofgarten spazieren gegangen, dann wurde das Mittagsmahl serviert. Es bestand aus Hechtklößchen in klarer Brühe, Kalbspastete, Salpicon chasseur aus gebratenem Rehwild mit weißem Champignon-Püree, Westfälischem Schinken in Madeira-Wein, mit Geflügel-Blanquette gefülltem Kapaun an indischem Reis, Orangencreme-Torte und zur Abrundung Schweizer Bergkäse mit frischen Feigen. Dazu wurden diverse Weine und kühles Quellwasser serviert.

»Ich verstehe Eure Bedenken, Majestät. Gerade Euch als großen Bewunderer der französischen Kultur war es gewiss nicht leichtgefallen, die eigenen Soldaten in diesen Krieg schicken zu müssen.«

»Ihr sagt es, Graf! Mein GOTT, ich bin gerade erst fünfundzwanzig Jahre alt, und man verlangt von mir, solche Entscheidungen gemäß dem vor vier Jahren getroffenen geheimen Militärbündnis mit Preußen treffen zu müssen! Ich glaube zudem, dass ich einst nicht einmal im reifen Alter einsehen werde, dass es Kriege geben wird, nur weil ein paar geldgierige Herrscher und Minister ihre verfluchte Macht erweitern wollen.«

»Nun, aber vielleicht hat es im Falle eines vorherzusehenden Sieges den Vorteil, dass die bayerische Souveränität stabilisiert werden kann.«

Ein Diener kam herein und brachte zwei Krüge frischen Bieres. Der Wintergarten war von einer neun Meter hohen Konstruktion aus Glas und Eisen überspannt und mit exotischer Flora und Fauna ausgestattet. Es duftete nach exotischen Pflanzen, inmitten des Wintergartens war ein künstlich angelegter See samt lebenden Schwänen und Goldfischen, einem maurischen Kiosk, einer authentischen Fischerhütte und riesigen Panoramagemälden des Darmstädter Kunstmalers Julius Lange.

»Ich bin ein Freund der Künste, möchte erschaffen und nicht zerstören, liebe den Geruch von Holz und Lack, und verabscheue das Geräusch von Kanonen. Ich benötige dringend finanzielle Mittel für Architektur, Kultur und den Bau von Schlössern. Ich möchte der Welt nicht Kriegsgräber, sondern Pracht hinterlassen! Ich habe bereits den Fürsten von Thurn und Taxis um ein Darlehen gebeten, selbst die Könige von Schweden und Belgien, den türkischen Sultan, den Kaiser von Österreich und den Schah von Persien! Aber niemand war imstande, mir die erforderliche Summe auszubezahlen.«

»Wie viel«, fragte von Holnstein und nahm einen großen Schluck Bier, »würde Eure Majestät denn benötigen?«

»Zwanzig Millionen Gulden!«

»Das ist eine beträchtliche Summe. Bismarck wäre als künftiger deutscher Kanzler freilich in der Lage, dieses Geld zur Verfügung zu stellen. Ich könnte mich dafür starkmachen, dass es kein Darlehen, sondern eine Art diskrete Zuwendung darstellt.«

»Der Preis wäre allerdings die Unterwerfung Bayerns unter ein neues Deutsches Reich mit preußischer Führung.«

»Immerhin sind Sonderrechte im Militär-, Post-, Eisenbahn- und Steuerwesen vorgesehen.«

»Das ist Schönfärberei. Ich sehe es sachlich. Ich würde bei Zustimmung für die Erhaltung und das weitere Schaffen von Kunstwerken und Schlössern mein Land an die preußischen Patrioten verkaufen.«

»Selbstverständlich wäre die Verschwiegenheit gegenüber den bayerischen Ministern garantiert.«

»Was für ein schäbiges Geschäft! Wenn mir vor fünf Jahren jemand gesagt hätte, dass ich eines Tages korrupt würde …«

»Ich würde es eher als kooperativ bezeichnen«, sagte von Holnstein bedeutungsvoll.

»Ich werde noch ein paar Nächte darüber schlafen müssen, aber vermutlich bleibt mir keine andere Wahl, als mich zu einem preußischen Präfekten zu wandeln. Aber vielleicht ist dies mein Schritt in die Freiheit, mich künftig nicht mehr mit Politik herumschlagen zu müssen, sondern den wesentlichen Dingen zuzuwenden.«

»Das wäre sehr wünschenswert, Majestät!«

HISTORIKER DR. JOHANNES RONCZKA:

Nach einem Putsch des spanischen Militärs erfolgte am 2. Juli 1870 die öffentliche Bekanntmachung der Kandidatur des aus dem Geschlecht der Hohenzollern stammenden Erbprinzen Leopold (1835-1905) für den spanischen Thron. In Frankreich witterte man große Gefahr durch die Machtzunahme Preußens, woraufhin Prinz Leopold seine Kandidatur zurückzog, was der Regierung Frankreichs jedoch nicht genügte, sie wollten einen dauerhaften Verzicht Preußens auf den spanischen Thron. Der französische Botschafter Graf von Benedetti forderte eine Garantie des amtierenden Königs Wilhelm I., dass er seine Zustimmung verweigere, sofern die Hohenzollern eine erneute Kandidatur anstreben würden. Diese Forderung lehnte der König ab und telegrafierte seinen Entschluss unter dem Namen »Emser Depesche« an Otto von Bismarck, der den Text bearbeitete, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmten französischen Forderungen einfügte und als kalkulierten Schachzug an die Presse gab, was als taktlose Provokation empfunden wurde und zur Folge hatte, dass Frankreich Preußen den Krieg erklärte. Damit war Preußen nicht der Auslöser und der damalige französische Kaiser galt in weiten Teilen Europas als Friedensbrecher.

18. September 1870

Zur Zeit des Deutsch-Französischen Krieges kam Wiggerl in die Dorfschule in Aufkirchen. Eigentlich hatte das Schuljahr, wie damals üblich, kurz nach Ostern begonnen. Da Wiggerl damals aber noch zu jung war, wurde er erst Mitte September eingeschult. Weil ein Mangel an qualifizierten Lehrkräften herrschte, wurde die Schule von Ortsgeistlichen geleitet. Es gab ein großes Klassenzimmer mit über achtzig Schülerinnen und Schülern zwischen sechs und zwölf Jahren, die auf langen Sitzbänken hockten. Vorne befanden sich eine Tafel und ein Pult. Der Lehrplan stammte aus dem Jahre 1806 und hatte sechs Schwerpunkte für den Unterrichtsstoff:

I. GOTT

II. Mensch

III. Natur

IV. Kunst

V. Sprache

VI. Zahl- und Maßverhältnisse

Da viele Mädchen im Haushalt oder auf dem Hof ihrer Eltern mitarbeiten mussten, zudem eine Vielzahl der Schüler aus bäuerlichem Anwesen stammten und auf dem Felde mitzuhelfen hatten, war die Schule in den Frühjahrs-, Sommer- und Erntemonaten oft nahezu leer, im Winter hingegen stets restlos überfüllt.

HISTORIKER DR. JOHANNES RONCZKA:

Der Unterricht Mitte des 19. Jahrhunderts wurde im ländlichen Bayern fast ausschließlich von männlichen, frisch ausgebildeten Absolventen der Lehrerbildungsanstalten als Hilfslehrer gehalten, deren Verhältnis zum erfahrenen Lehrer etwa vergleichbar war wie im Handwerk der Geselle zum Meister. Weibliche Lehrkräfte gab es seinerzeit noch nicht in diesem Schulbereich. Die eigentlichen Lehrer waren quasi so gut wie nie im Schulhaus, regelten den Ablauf eher administrativ im Hintergrund oder kamen zu wichtigen Prüfungen vorbei. Die Hilfslehrer wohnten und aßen häufig in der Wohnung der Lehrer, die ihnen auch wöchentlich den nicht allzu großzügigen Lohn ausbezahlten. Die Lehrersgattinnen mussten die Wäsche und den Haushalt der Hilfslehrer mit übernehmen. Hierdurch kam es zu vielen Konflikten, da die Hilfslehrer in einem starken Abhängigkeitsverhältnis standen, die tatsächliche Arbeit im Schulhaus verrichteten und sich häufig nicht genügend wertgeschätzt fühlten. Häufig kam es zu Streitereien mit den Lehrersgattinnen, die sich über die Lebensgewohnheiten, den Ordnungssinn, das zu lange Verweilen in den Waschräumen oder den Nahrungsverbrauch der Hilfslehrer beschwerten. Im Gegenzug waren viele Hilfslehrer mit der Qualität von Nahrung, Unterkunft und Haushaltsführung nicht einverstanden. Manche Hilfslehrer endeten in unglücklichen Verhältnissen oder starben früh durch die dauerhafte nervliche Belastung.

Häufig wurden auch Schüler der höheren Klassen von den Hilfslehrern und Lehrern angewiesen, mit den Schulanfängern Grundfächer wie Schreiben, Lesen und Rechnen zu üben. Die Lautstärke im Klassenraum war zur kalten Jahreszeit in der Regel lauter als bei einer gut besuchten Tanzveranstaltung, daher wichen manche Lernwillige in dafür geschaffene Nebenräume aus. Konzentriertes Arbeiten war so gut wie nicht möglich. Schüler, die zu frech oder zu laut waren, wurden mittels Prügelstrafe diszipliniert. Da es aber aufgrund der Klassengröße nicht leicht zu bestimmen war, wer den Unterricht gestört hatte, traf es oft auch Unschuldige. In den meisten Familien wurde ungezogenes Verhalten ebenso hart bestraft wie in der Schule. Wiggerls Eltern hielten nicht viel von der häuslichen Prügelstrafe, hinterfragten jedoch die schulische Züchtigungspraxis nicht.

Durch die hohe Anzahl der Schüler entstanden gerade für die Jüngeren lange Pausen, die sie im großzügig angelegten Pausenhof verbrachten. Die reguläre Pause fand zwischen elf und zwölf Uhr statt. Schüler aus den umliegenden Dörfern hatten Milch, Obst, Brot, Käse und Wurst dabei, die direkt aus Berg stammenden Kinder gingen zum Mittagessen nach Hause. Der Unterricht dauerte bis vierzehn