Liebe machen - Moses Wolff - E-Book

Liebe machen E-Book

Moses Wolff

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Beschreibung

Die Sternstunden der Popkultur und eine schicksalhafte LiebeAls die zwanzigjährige Dagmar in einer lauen Kölner Nacht im März 1970 aus dem Schlaf hochschreckt, ahnt sie nicht, dass in Hamburg ein junger Mann, Götz, ebenfalls wach liegt und denselben Traum träumt wie sie. Und vor allem ahnen weder Dagmar noch Götz, dass das Schicksal sie füreinander bestimmt hat … Noch im selben Jahr werden sie sich auf dem Oktoberfest begegnen, sich verlieben – und dann für lange Zeit aus den Augen zu verlieren, ohne zu wissen, wie nah sie sich eigentlich die ganzen Jahre über sind.Moses Wolff ist Autor, Schauspieler und Komiker. Er inszeniert selbstgeschriebene satirische Theaterstücke, ist Gründer der „Schwabinger Schaumschläger Show“ und schreibt für das Satiremagazin „Titanic“. 2015 erhielt er den Schwabinger Kunstpreis. Moses Wolffs Blick auf die Dinge ist einzigartig direkt, denn er „schaut den Leuten nicht nur beinhart aufs Maul, sondern auch ins Maul hinein bis hinunter ins Herz und in den Bauch.“ Friedrich Ani

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Inhalt

Cover & Impressum

1970

1971

1972

1973

1974

1976

1979

1980

1984

1989

1996

1999

2000

2001

2002

2005

2009

2020

Dank an

1970

Samstag, 28. März 1970

Köln, 4:25 Uhr

Dagmar erwachte mitten in der Nacht. Sie hatte intensiv geträumt, verzerrte Bilder waberten in ihrem Kopf herum. Verwirrt tastete sie nach dem Schalter ihrer Nachttischlampe, knipste das Licht an und sah auf ihren Wecker. Es war kurz vor halb fünf. Sie öffnete die Mineralwasserflasche, die neben ihrem Bett stand, und nahm einen tiefen Schluck. Nachdem sie die Flasche wieder verschlossen hatte, löschte sie das Licht, legte sich auf den Rücken und versuchte mit geschlossenen Augen, sich an möglichst viele Details ihres Traums zu erinnern. Er war zwar relativ gespenstisch und surreal gewesen, hatte aber dennoch kein beunruhigendes oder verstörendes Gefühl hinterlassen, sondern eher eine tröstende und vertraute Stimmung.

An einige Traumbilder konnte sie sich ganz konkret erinnern. Sie war in einem Zugabteil, um sie herum saßen Menschen, die wie Außerirdische wirkten. Keiner sprach, alle hatten kleine Taschenrechner in der Hand und starrten darauf, als wären es Bücher oder Schatzkarten. Dagmar blickte aus dem Fenster, der Zug fuhr in einen ländlichen Bahnhof ein. Auf dem Bahnsteig standen Personen, die sich nicht bewegten. Sie wirkten fast wie Wachsfiguren oder Schaufensterpuppen. Dagmar überlegte, wo sie eigentlich aussteigen musste. Da fiel ihr ein, dass ihr Gepäck in einem anderen Teil des Zuges war, sie stand auf, die Leute machten ihr Platz, blickten aber nicht von ihren Taschenrechnern auf.

Sie lief durch den inzwischen wieder fahrenden Zug, begegnete spielenden Kindern und einem alten verliebten Ehepaar, das Händchen haltend an einem offenen Zugfenster im Gang stand und glücklich in die Landschaft hinausblickte. Da entdeckte sie ihre Reisetasche, die neben zwei attraktiven Frauen auf einem Sitz stand. Als sie danach greifen wollte, bemerkte sie, dass sie entgegen ihrer Gewohnheit einige Ringe an den Fingern trug. Die Frauen fragten, ob es echter Schmuck sei. Dagmar erklärte, sie habe die Ringe selbst mit goldener und silberner Farbe bepinselt. Alle lachten. Dann schlug Dagmar vor, gemeinsam fortzufliegen, da in Wirklichkeit jeder fliegen könne. Die Frauen wollten wissen, wie das gehe. Dagmar sagte: »Wir fliegen doch schon«, und tatsächlich hatte sie sich in einen Flugsaurier verwandelt, und die beiden Frauen saßen auf ihrem Rücken. Sie segelten durch die Lüfte, sahen von oben auf den Zug hinab und flogen durch ein Fenster wieder hinein, vorbei an dem verliebten alten Paar. Der alte Mann hielt nun ein Geschichtsbuch in der Hand und erklärte gerade irgendein historisches Ereignis. Dann kam eine Hummel durchs Fenster, kreiste um Dagmar und wich nicht mehr von ihrer Seite. An mehr konnte sie sich nicht erinnern. Kurz darauf schlief sie wieder ein.

Samstag, 28. März 1970

Hamburg, 4:35 Uhr

Götz erwachte schweißgebadet. Er hatte wirres Zeug geträumt, an das er sich wie immer nur schemenhaft erinnern konnte. Er drehte sich auf die andere Seite und versuchte weiterzuschlummern. Glücklicherweise hatte ihm sein Großvater schon als Kind einen Trick gezeigt, mit dem man sofort wieder einschlafen konnte. Deshalb konzentrierte er sich jetzt darauf, zunächst das Gesicht von Stirn bis Kinn, so gut es ging, zu entspannen, um dann den gesamten Körper folgen zu lassen, also Oberkörper, Schultern, Arme und so weiter. Wichtig war, dass man alle Muskeln völlig locker ließ und tief und regelmäßig ein- und ausatmete. Der Körper sollte so schwer werden, dass man das Gefühl hatte, in die Matratze einzusinken. Dies ließ die Gedanken und den gesamten Organismus zur Ruhe kommen. Als Götz wieder einschlief, träumte er, er sei eine Hummel, die durch ein Fenster in einen Zug fliegt.

Dienstag, 31. März 1970

Köln, Spätnachmittag

Die anarchistische Hagener Theatergruppe Die Brigadisten war einer offiziellen Einladung des Amtes für Kunst und Kultur der Stadt Köln gefolgt, um vor Betrieben und in Jugendeinrichtungen ihr revolutionäres Agitationskonzept zu präsentieren. Die heutige Vorstellung fand in einer Aula der Universität statt, und auch Dagmar befand sich unter den Zuschauern. Die Schauspieler und Musiker der Brigadisten spielten sehr hingebungsvoll und emotional; es ging inhaltlich um den Verlust von Liebe und die Ohnmacht des Einzelnen. Alle in dem Stück vorkommenden Figuren lebten in ihrem eigenen Hamsterrad, dabei lag die Lösung so nah: Gemeinsam konnte man sich befreien. Am Ende des letzten Aktes entstanden Freundschaft, Solidarität und Zusammenhalt. Die Vorstellung war ein großer Erfolg; das aus Studenten, Lehrern, Professoren, Schülern und Erziehern bestehende Publikum klatschte lange und voller Überzeugung. Im Anschluss standen die Künstler den Zuschauern noch für Fragen zur Verfügung.

»Glaubt ihr, dass die Leute, die sich Programme wie das eure anschauen, nicht sowieso schon durchblicken? Oder kommen auch Bonzen und Kapitalisten in eure Vorstellungen?«, fragte Dagmar. Sie war mit ihrem Freund Eberhard und dessen WG-Mitbewohner Hinnerk hier.

»Es geht uns in erster Linie darum, eine Diskussion anzuregen, die dann im Idealfall in die Welt hinausgetragen wird«, antwortete der Sänger Ulrich, ein gut aussehender Mann mit schulterlangem, goldblondem Haar, dicken Koteletten und einer für seine schlanke Erscheinung fast zu hoch geratenen, hellen, leicht heiseren Stimme. Er sprach leise und betonte seine Sätze überdeutlich und mit sanftem Nachdruck, was seinen Worten eine gewisse Faszination verlieh. Dagmar hatte Ulrich schon auf der Bühne bewundert, er strahlte gleichzeitig Verletzlichkeit, Melancholie, Weisheit, Schwermut, Tiefe und Männlichkeit aus. Sein Charisma war enorm, und Dagmars Freund Eberhard schien Ulrichs Wirkung auf Dagmar mit leichter Besorgnis zu bemerken. Es hatte den Anschein, als versuche er, die Unterhaltung zu unterbinden, indem er wie ein kleines Kind anfing, mit den Füßen zu scharren.

»Alles in Ordnung mit dir?«, fragte Dagmar entspannt.

»Ja. Wann wollen wir los? Ich würde gern noch ins Ding gehen«, antwortete Eberhard in leicht quengelndem Tonfall. Das Ding war eine erst vor wenigen Jahren eröffnete Kölner Studentenkneipe am Zülpicher Platz, wo gute Tanzmusik lief. Dagmar und Eberhard hatten sich vor elf Monaten dort kennengelernt.

»Warte, ich unterhalt mich grad, siehst du doch«, erwiderte Dagmar etwas genervt, weil sie die oft mit Eifersucht verbundene Ungeduld ihres Partners zur Genüge kannte. Sie fand das Gespräch mit dem Künstler spannend und hatte Lust, sich intellektuell mit ihm zu messen.

Dagmar stammte aus einer Kölner Arbeiterfamilie. Ihr Großvater Heinrich war im Zweiten Weltkrieg Wehrmachtssoldat gewesen und hatte als solcher jahrelang geglaubt, die hinter vorgehaltener Hand gemunkelten Geschichten über Holocaust und Euthanasie seien »feindliche Propaganda«, bis es irgendwann nicht mehr zu übersehen und zu überhören war, dass das gesamte Land einem Haufen traumatisierter Wahnsinniger folgte. Heinrich änderte deshalb gerade in den letzten Kriegsjahren seine ursprüngliche Meinung über das Dritte Reich von Grund auf und wurde ein überzeugter Regimegegner.

Nach Kriegsende trat er sofort in die SPD ein und machte sich fortan für Bürgerrechte stark. Außerdem war er aktiv am Wiederaufbau seiner stark zerstörten Heimatstadt beteiligt. Seine Frau Hilde sowie die gemeinsame Tochter Annemarie – Dagmars Mutter – unterstützten ihn dabei tatkräftig. Alle drei wohnten in einer sogenannten »Trümmerwohnung«, da ihr eigenes Haus im Bombenhagel komplett zerstört worden war.

Das Einzige, was in Köln unversehrt geblieben war, war der Dom. Sprachen Menschen davon, dass dies »wie durch ein Wunder« geschehen sei, sagte Dagmars streng katholischer Opa Heinrich stets: »Nicht wie durch ein Wunder, sondern durch ein Wunder.« Er war der Ansicht, dass man durchaus öffentlich kundtun könne, dass es tatsächlich Wunder gebe. Mit der Bezeichnung wie durch ein Wunder stelle man ja die Existenz und das Auftreten von Wundern infrage.

Dagmars Mutter Annemarie hatte am 28. Februar 1949 beim ersten Rosenmontagszug nach dem Krieg, der unter dem Motto »Mer sin widder do un dun wat mer künne!« stand, Dagmars Vater Frank kennengelernt und sich sofort in ihn verliebt. Noch in derselben Nacht war Dagmar gezeugt worden, woran kein Zweifel bestand, da Frank am nächsten Tag für sieben Monate zu Gleisbauarbeiten nach Bayern reisen musste und Dagmar am Nikolaustag, dem 6. Dezember 1949, auf die Welt kam.

Dagmar besaß dank der Geschichte ihrer Familie einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn, eine Schwäche für ehrliche Arbeiter, eine auf den schwärmerischen Erzählungen ihres Vaters beruhende innere Verbundenheit zu Bayern und eine für Kölner Verhältnisse völlig normale, gesunde Liebe zum Karneval. Im Grunde war sie eine nachdenkliche Person, liebte es, kurz nach dem Erwachen ihre Träume Revue passieren zu lassen, und verlor sich gern in Fantasien. Genauso liebte sie die gelegentliche Auseinandersetzung in Diskussionen, so wie hier gerade mit den Brigadisten. Ins Ding konnten sie auch noch in einer Stunde gehen, das Gespräch mit dem Sänger war jetzt wichtiger. Sie lächelte ihren Freund Eberhard kurz an und wandte sich erneut Ulrich zu.

Eberhard zog den Kopf ein und wirkte wieder einmal etwas enttäuscht, als er sich allein auf den Weg machte. Er war ein großer Verfechter der Gleichberechtigung von Männern und Frauen, scheute aber jeglichen Streit und war deshalb eigentlich alles andere als ein emanzipierter Mensch. Im Gegenteil, er gab grundsätzlich jeder Art von Macht und Obrigkeit bedingungslos recht, um möglichen Konflikten von vornherein auszuweichen. Dagmar mochte ihn gerade wegen seiner weichen Seite, doch wenn er sich für etwas verantwortlich fühlte und glaubte, er müsse sich dafür entschuldigen, ging er ihr auf die Nerven. Dann wurde seine Stimme kindlicher als sonst, er bekam einen hündischen Blick und flehte gewissermaßen um Vergebung. In diesen Momenten schlug ihre Zuneigung in eine Mischung aus Geringschätzung und Restzweifel um. Doch heute bemerkte sie Eberhards Kapitulation nicht, so sehr war sie in das Gespräch mit dem charismatischen Sänger vertieft.

»Eine Diskussion verändert noch keinen Zustand«, sagte sie kokett. Ihre grünen Augen leuchteten. »Mit Worten allein macht man keine Revolution.«

»Jede schöpferische Tätigkeit ist gleichzeitig ein politischer Akt«, sagte Ulrich und zog an seiner Zigarette. »Sobald die Kunst das Denken verändert, wird sie für das System gefährlich.«

Hinnerk stand daneben und verfolgte die Unterhaltung.

»Ich finde sehr gut, was du sagst«, pflichtete er Ulrich bei. »Und eure Arbeit geht genau in die Richtung unserer Band Kunststoffmangel. Vielleicht wollt ihr ja mal mit uns zusammen einen Abend gestalten? Bei euch in Hagen oder hier in Köln. Würde mich freuen!«

»Klar, wir haben immer Lust auf Gemeinschaftsprojekte«, antwortete Frieder, Ulrichs Bruder und der Trommler der Gruppe, ein freundlicher junger Mann mit charismatischem Gesicht und einer angenehmen, sonoren Stimme, die allerdings nicht so einprägsam war wie die von Ulrich.

»Auch eure Songs sind wirklich dufte«, bemerkte Hinnerk. »Da fällt mir ein – hättet ihr nicht Lust, auf der Insel Fehmarn bei einem großen Musikfestival im Spätsommer aufzutreten? Es kommen tolle Bands aus aller Welt, aber es gibt noch kein Theaterprojekt. Ich spiel da auch mit meiner Gruppe, das würde doch gut zusammenpassen.«

»Gibt es Gage?«, fragte Ulrich. »Oder zumindest Reisegeld?«

»Gage gibt’s, glaub ich, keine, das müsste man alles aber noch besprechen. Auf jeden Fall zahlen die was zu den Fahrtkosten dazu und natürlich Kost und Logis. Seid ihr dabei?«

»Klar sind wir dabei.«

»Dann sag ich den Veranstaltern Bescheid.«

Dienstag, 31. März 1970

Hamburg, Abend

Drei junge Männer mit Schnauzbärten und hellen Rollkragenpullovern strolchten um den Eingang des frisch besetzten Gebäudes in der Haynstraße. Die gesamte linke Szene des Hamburger Stadtteils Eppendorf schien sich hier versammelt zu haben, manche Frauen trugen Miniröcke, große runde Hüte und überdimensionale Sonnenbrillen, einige Männer fielen durch langes Haar und weit aufgeknöpfte Hemden auf. In den geöffneten Fenstern des Hauses saßen ein paar Leute und musizierten mit Congas und Gitarren, es roch nach selbst gedrehten Zigaretten, Kaffee und Joints.

Die meisten Anwesenden waren gekommen, um ein Zeichen gegen die autoritären Eliten der Gesellschaft und für Frieden, Liebe und Freiheit in jeder Form zu setzen. Sie folgten der aus Amerika nach Europa schwappenden Hippiekultur, die sich politisch engagierte, sexuelle Befreiung predigte und eine allgemeine Aufbruchsstimmung verbreitete. Außerdem wollte die Szene in Hamburg den Westberliner Nachbarn, bei denen überall politisch motivierte Aktionen und Kunstprojekte aus dem Boden schossen, natürlich in nichts nachstehen.

Als Götz um die Ecke bog, sah er zwei junge Frauen vor dem Eingang des Hauses stehen. Sie trugen bunte Kleider und hielten ein Transparent mit der Aufschrift »Lieber Instandbesetzen als Kaputtbesitzen« in die Höhe.

»Schluck Sekt?«, fragte er, und seine intensiv blauen Augen blitzten spitzbübisch. Er hielt ihnen eine grüne Flasche hin.

»Is der aus’m Kühlschrank?«, fragte die Blonde der beiden, nahm die Flasche entgegen und versuchte, einen entspannten Gesichtsausdruck zu machen, was ihr aber nicht ganz gelang. Götz unterdrückte ein Schmunzeln. Er hatte eine Schwäche für konservative Mädels. Das waren oft zarte Pflänzchen, die, sobald man sie erweckte, zu endlosen Schandtaten bereit waren.

»Man kann ihn gut trinken, aber eiskalt ist er nicht. Zum Wohl!«, rief er gut gelaunt. Die Frau trank, es schien ihr zu schmecken, denn sie nahm wie aus einer Wasserflasche einen sehr großen Schluck, bevor sie die Flasche an ihre Freundin weiterreichte.

Die trank ebenfalls, sagte dann aber: »Ich muss mal kurz aufs Klo. Du kommst hier allein zurecht?«

»Klar, ich hab ja einen netten Typen an meiner Seite«, antwortete die Blonde und lächelte Götz süß an.

»Du bist richtig«, sagte er und strich sich über den Spitzbart. »Wie heißte denn?«

»Karen.«

»Karin oder Karen?«

»Karen.«

»Schöner norddeutscher Name.«

»Eigentlich stammt der Name aus Dänemark.«

»Gibt es da irgendeine Bedeutung?«

»Ja, es heißt die Reine.«

»Klasse Name. Altmodisch. Einfach. Die Reine. Echt schön. Du wirkst wirklich, als wärest du innen blütenweiß.«

»Wie … also … was meinst du damit?«, stotterte Karen.

»Na ja, wilde Hühner gibt es wie Sand am Meer. Die nehmen sich, was sie wollen, und toben sich aus. Bei denen kann man nichts entdecken, die haben schon alles erlebt und lassen sich von nichts überraschen. Aber Mauerblümchen, brave Mädels wie du, mit denen macht es Spaß, gemeinsam auf Forschungsreise zu gehen.«

Karen schnappte nach Luft, und Götz beobachtete fasziniert, wie ihre Wangen langsam puterrot anliefen. Offensichtlich verunsichert, leckte sie sich über die Lippen, was Götz’ Aufmerksamkeit auf ihren Mund lenkte.

»Astrein, wie viele Leute heute da sind!«, rief in diesem Moment ein etwa zwanzig Jahre alter Mann mit sehr heller Haut, einem kleinlockigen, ballonartigen Wuschelkopf, verwaschenen Bluejeans und einer abgeschnittenen Jeansweste über seinem schmächtigen, unbehaarten Brustkorb. Er hatte sich auf einen Bierkasten gestellt, damit ihn jeder sehen konnte, und sprach mit lauter, klarer Stimme. »Toll, dass ihr alle gekommen seid. Es ist auch wirklich eine wichtige Sache, und wenn wir gemeinsam dafür kämpfen, können wir unser Ziel erreichen: gerechten Wohnraum und Umdenken der Hausbesitzer. Wir sind hier eingezogen, und wir bleiben hier. Hier in der Haynstraße. Wir lassen uns von keinem Bagger, keinem Bonzen, keinem Bullen vertreiben. Die Wohnungssituation in Hamburg ist eine Katastrophe. In diesem Haus wohnen etwa fünfzig Leute in insgesamt einundzwanzig Mietwohnungen. Das Haus wurde letztes Jahr verkauft und soll nun zugunsten eines Neubaus abgerissen werden. Wir wehren uns, indem wir nicht von hier weichen. Wir fordern die Baufirma IHA Hausbau auf, uns weiterhin und ohne Einschränkung Mietrecht zu gewähren. Bitte tragt euch in die hier am Stand ausliegende Liste ein, um eure Solidarität zu bekunden.«

Der Wuschelkopf verteilte ein paar Bleistifte, und die Leute gingen rüber zum Stand. Auch Karen, Götz und die Sektflasche.

»Du hast mir deinen Namen noch gar nicht verraten«, bemerkte Karen.

»Götz«, sagte er. »Komm, lass uns Brüderschaft trinken!«

Er schnappte sich von einem neben ihm stehenden jungen Studenten einen Pappbecher mit Rotwein und stieß mit Karen an, die noch immer die Sektflasche in der Hand hielt. Dann fädelten sie ihre das jeweilige Getränk haltenden Arme durch die Armbeuge des anderen und nahmen beide einen tiefen Schluck, bevor sie sich langsam und schüchtern lächelnd einander zuneigten, bis sich ihre Lippen berührten. Karen küsste ausgesprochen fruchtig, fand Götz.

Freitag, 28. August 1970

Köln, Abend

Hinnerk, seine neue Freundin Daisy, Dagmar und Eberhard saßen im Übungsraum der Band Kunststoffmangel und sahen sich gemeinsam den ARD-Beitrag Die wilden Horden an. Inhaltlich ging es um die aktuellen studentischen Aktivitäten und den Konflikt zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen, und es sollten Aufnahmen von dem Auftritt der Brigadisten in Köln gezeigt werden, bei dem sie ja ebenfalls anwesend gewesen waren. Der Probenraum war schön dekoriert mit golden eingerahmten Bildern, Plattencovern, einer kleinen Elvis-Figur auf einem Sockel und einem Bücherregal mit Musikerbiografien. Sie sahen sich die Dokumentation auf einem portablen, knallgelben Schwarz-Weiß-Fernseher an. Ab und zu fiel das Bild aus, und man musste die Antenne ein paar Millimeter verschieben.

Die Sendung lief zur besten Sendezeit und war wirklich sorgfältig produziert. Selbst der Klang der Songs war fabelhaft abgemischt worden.

»Das haben die wirklich anständig gemacht«, meinte Hinnerk anerkennend. »Hätte ich nicht gedacht. Auch die Aussage der Sendung ist wunderbar.«

»Ja, die Leute werden immer mutiger«, bestätigte Daisy. »Ich hoffe, das haben sich einige angeschaut.«

»Bestimmt, um Viertel nach acht sitzen die Leute vor dem Fernseher und glotzen. Ob das nun Frankenfeld ist oder ’ne politische Dokumentation, ist denen schnuppe.«

»Still, sie spielen einen Song der Brigadisten!«, rief Dagmar.

Andächtig lauschten sie, als das Lied Rücken krumm lief.

Unsere Taschen sind leer

unsere Koffer sind schwer

unser Alltag ist roh

wir schlafen auf Stroh

Wir brauchen nicht viel

wir sind Formen im Spiel

wir sind Knechte und Huren

wir sind eure Figuren

Wir zerr’n die Schultern nach oben

und den Kopf ziehn wir ein

wir haben so schwer gehoben

sind nicht groß, sondern klein

Wir denken nur, wenn es sein muss

leisten stur, schaffen stumm

sperren Auge und Ohr zu

und der Rücken bleibt krumm

Danach wurde noch Musik der Gruppe Rote Steine aus Westberlin gespielt, die ihnen ebenfalls ausgezeichnet gefiel.

»Bier?«, fragte Hinnerk und bot Gaffel-Kölsch aus einem neben dem Tisch stehenden Bierkasten an.

Eberhard nahm eine Flasche, Dagmar lehnte ab. Sie liebte zwar Bier, aber nur, wenn es schön kalt war. Von ihren Eltern wusste sie, dass es in Italien in Lebensmittelgeschäften alle Getränke auch gekühlt gab, selbst Rotwein. Weil es in Deutschland aber grundsätzlich nicht so heiß war wie im mediterranen Raum, war hier Bier neben Milch das einzige Getränk, das man kalt kaufen konnte. Daisy nahm einen kräftigen Schluck von dem warmen Flaschenbier und zog ihren Parka aus. Darunter trug sie eine türkisfarbene Bluse mit Schmetterlingsknöpfen. Sie streckte sich und gähnte.

»Saugut rübergebracht. Die Brigadisten sind echt ’ne Wucht. Und die Roten Steine haben mich auch voll gepackt mit dieser Mischung aus klaren Texten und Gitarrenriffs. Und wisst ihr, was? Beide Gruppen spielen mit uns beim Festival der Liebe auf Fehmarn«, bemerkte Hinnerk. »Das wird wohl größer als gedacht, sie haben sogar Hendrix engagiert.«

»Jimi Hendrix?«, fragte Eberhard ungläubig.

»Ja, die wollen so ’ne Art deutsches Woodstock daraus machen. Wird sicher ein irre gutes Wochenende.«

»Hey, Mann, können wir da nicht mitfahren?«, rief Dagmar spontan.

»Klar. Ihr müsst euch aber selber um Eintrittskarten kümmern, wir haben schon jeweils eine Begleitperson angegeben.«

»Aber Daggi«, warf Eberhard ein. »Mein Bruder hat uns doch Mitte September zu seinem fünfundzwanzigsten Geburtstag nach München eingeladen. Am nächsten Tag beginnt das Oktoberfest. Da freust du dich doch schon so drauf. Wir sollten unser Geld zusammenhalten. Festivaleintritt, Anreise und das alles wird vermutlich nicht billig werden.«

»Mach dir mal keine Sorgen«, beruhigte Dagmar ihren Freund. »Ich hab ein bisschen was gespart, wir können uns sowohl das Festival mit Hendrix und den Brigadisten als auch unseren München-Trip leisten.«

Eberhard starrte sie an wie ein Hase, den die Schlange in einen Hinterhalt gelockt hat. Sein linkes Auge zuckte leicht. Sie wusste, er hasste es, bevormundet zu werden, hatte auf die Schnelle aber offenbar keine Gegenargumente parat. Wie gewohnt, gab er schnell klein bei.

»Gut, dann nimmst du das mit der Organisation in die Hand. Ich lehn mich zurück und mach alles mit, was du sagst. Ist absolut wonnig für mich.«

Neben seinen Entschuldigungsritualen irritierte es Dagmar besonders, wenn Eberhard plötzlich anfing, kecke Jugendsprache zu benutzen.

Als die Sendung vorbei war, griff Hinnerk das Thema wieder auf. »Was für eine spannende Zeit, in der wir leben dürfen. Durch Bands wie die Brigadisten spürt man, dass unsere Aktivitäten richtig sind«, stellte er fest.

»Ja«, bestätigte Dagmar. »Ich hab mich ja noch eine Zeit lang mit ihnen unterhalten. Sie sind aus einem Marionettentheater für Kinder entstanden. Ulrich ist eigentlich Marionettenspieler, der hat ursprünglich für progressive Kinderstücke Texte und Songs geschrieben. Und in letzter Zeit kam die Musik so gut an, dass sie sich jetzt darauf konzentrieren.«

»Bombe«, fand Hinnerk.

Dagmars offensichtliches Interesse an dem Sänger Ulrich schien Eberhard zu irritieren. Doch wie immer blieb er stumm und zog nur ein beleidigtes Gesicht.

»Haben wir noch Tabak?«, fragte Dagmar, die zwar nicht regelmäßig rauchte, aber gerade in diesem Moment extrem Lust auf eine Zigarette hatte.

»Nein, aber ich könnte ein richtig kaltes Bier vertragen. Lass uns doch zum Büdchen gehen, das hat bis Mitternacht auf«, schlug Daisy vor.

»Gern«, stimmte Dagmar zu. »Braucht sonst noch jemand was?«

»Ja, bring Underberg mit«, meinte Hinnerk. »Hast du Kohle?«

»Hab ich, kein Problem.«

Die beiden jungen Frauen gingen in die warme Kölner Nacht hinaus. Dagmar trug über ihrer Bluse eine schwarz-weiße Strickjacke.

»Wieso bist du denn noch so warm eingepackt, Dagmar? So kalt is doch nich.«

»Stimmt, aber ich frier so leicht. Außerdem hab ich keinen BH darunter, und bei meiner Bluse sieht man alles durch.«

»Na und? Die können sich doch sehen lassen, deine beiden Äpfelchen. Oder glaubst du, der Hinnerk schaut dir was weg? Oder ich?«

Daisy lachte sich halb scheckig.

»Ich bin eben eine Spießerin.«

»Pustekuchen. Das ist alles anerzogen, meine Schöne. Das musst du unbedingt schnell ändern. Wir leben doch im Zeitalter des Wassermanns, voller Liebe und ohne Schranken im Kopf, lass dich einfach gehen.«

»Ja, ich weiß. Ich würd ja gern lockerer sein, aber ich blockier mich irgendwie immer selber.«

»Ein altes chinesisches Sprichwort sagt: Glücklich sind die Menschen, die aufhören, etwas werden zu wollen, und anfangen zu sein, was sie sind.«

Dagmar war nicht immer in Stimmung für diese Art der Kommunikation, die die meisten jungen Menschen ihrer Generation so zu genießen schienen. Viele ihrer Altersgenossen waren für ihren Geschmack zu verkopft, formulierten ständig irgendwelche hochtrabenden Erkenntnisse aus und zitierten von früh bis spät weise Sprüche. Dagmar wollte manchmal lieber die Gedanken fließen lassen und nicht die ganze Zeit abstrakt und philosophisch denken und reden müssen. Aber kurioserweise empfanden ihre Freunde das nicht so, im Gegenteil, sie taten, als sei gerade das immerwährende Schwadronieren ein Zeichen für Freiheit.

Dagmar hatte den Wunsch und das spätere Berufsziel, etwas Kreatives zu machen, zu schreiben, Dokumentationen zu drehen, den Menschen eine Botschaft zu vermitteln. Das fand sie spannend und erstrebenswert. Daisy sah sie heute erst zum zweiten Mal, sie bewunderte ihre direkte Art, wollte sich ihr gegenüber deshalb keine Blöße geben oder wie ein Mauerblümchen wirken. Daher versuchte sie jetzt, etwas Kluges zu dem chinesischen Spruch zu antworten.

»Das waren schon tolle Philosophen im alten China«, presste sie etwas steif hervor.

»Schalte den Kopf aus und dein Herz ein, Süße«, munterte Daisy sie auf, die wohl bemerkt hatte, dass Dagmar gerade überfordert war. »Handle nach deinem Instinkt. Lass dich treiben. Wir sind nur einmal jung, und die Welt steht uns offen!«

Genau das wollte Dagmar ja. Sich treiben lassen.

»Komm, lass uns beide die Blusen ausziehen und oben ohne gehen. Wozu immer diese bekackte Anpassung, wir lassen uns nicht von der bürgerlichen Moral in Grenzen zwängen. Worauf wartest du?«

Das wiederum wollte Dagmar allerdings ganz und gar nicht.

»Nein, also, weißt du, ich …«

»Komm! Stell dich nicht so an! Wir sind zwei tolle Frauen und stolz auf unsere Körper! Zeigen wir, was wir haben! Los! Hupen raus! Auf drei. Eins, zwei …«

»Ich weiß nicht …«

»Hey! Liebelein!!! Du sollst hier nicht nackt ein Rad schlagen. Los, mach den ersten Schritt gegen die Diskriminierung der Frau. Präsentiere allen deinen jungen, saftigen Busen! Was soll denn passieren? Hast du Angst, dass dich jemand fotografiert?«

»Also gut, hast ja recht«, sagte Dagmar und zog etwas angespannt ihre Jacke und Bluse aus.

»Na also!«, sagte Daisy und entblößte ebenfalls ihren Oberkörper. »Und nun lass uns einkaufen gehen.«

Sie waren am Büdchen angekommen und gingen barbusig hinein. Der Verkäufer hatte einen dunklen Schnauzer, lange, krause Haare und rauchte. Er schmunzelte, als er die beiden halb nackten Frauen sah.

»Na, is euch kalt, oder warum habt ihr nur die Hälfte ausgezogen?«, scherzte er.

Daisy ignorierte seine Frage. »Was?« Sie blickte an sich hinab. »Oh, wir haben anscheinend völlig vergessen, dass wir in einem Geschäft sind. Dürfen wir so einkaufen, oder sollen wir die Oberteile wieder anziehen? Ist das hier ein konservatives Geschäft, oder geht ihr mit der Zeit?«

»Mir gefällt’s«, sagte der Mann.

Dagmar schämte sich in Grund und Boden. Sie fühlte sich absolut unwohl in ihrer Haut. Fast war sie versucht, sich wieder anzuziehen, wollte aber lässig sein und Daisy nicht im Stich lassen. Verstohlen trat sie mit ihr ans Bierregal und versuchte, so überzeugend wie möglich selbstbewusst zu wirken. In einem Kinofilm hätte sie bestimmt keinen Oscar gewonnen, sie spürte, wie schlecht ihre Darbietung war. Sie blickte an sich herab und schämte sich augenblicklich für ihre Freizügigkeit. Da hätte sie tatsächlich gleich splitternackt rumlaufen können, wie der Verkäufer vorhin durch die Blume vorgeschlagen hatte. Instinktiv verdeckte sie mit dem rechten Arm ihre Brüste. Trotzdem lief ihr ein wohliger Schauer des Mutes über den Rücken.

Freitag, 28. August 1970

Hamburg, Abend

Seit der Hausbesetzung in der Haynstraße waren einige Monate vergangen. Karen und Götz hatten sich an jenem Abend nach dem Brüderschaft-Trinken noch einige weitere Male geküsst und waren später zusammen in Götz’ Wohngemeinschaft gelandet, wo es indisches Essen und Wein gegeben hatte. Spätabends hatte Götz Karen heimbegleitet. Die Verabschiedung war sehr leidenschaftlich ausgefallen, und sie hatten sich für das kommende Wochenende zu einem Spaziergang an der Elbchaussee verabredet.

Götz war seit seiner Jugend das erste Mal wieder so richtig verliebt, alles war auf einmal so leicht, er erkannte in jedem Geräusch, jeder Pflanze, jedem vorbeifahrenden Auto etwas Entzückendes und Schönes. Er war am 16. August 1950 in Hamburg als Sohn eines Hafenarbeiters und einer Hotelfachfrau geboren worden. Als Jugendlicher hatte er sich mit Gelegenheitsjobs etwas dazuverdient, mal auf dem Fischmarkt als Obstkistenträger, mal am Hafen als Gehilfe des Hafenmeisters, mal auf der Reeperbahn beim morgendlichen Putzen von Kneipen. So hatte er immer wieder Einblick in das »wahre Leben« erhalten, Seeleute, Prostituierte, Gastwirte, Luden, Kaufleute, Ganoven und Handlungsreisende kennengelernt. Deshalb hatte Götz bereits früh ein gutes Gespür für Situationen, menschliche Verhaltensweisen und Umgangsformen entwickelt, wodurch er bei vielen Menschen beliebt war. Außerdem hatte er eine recht annehmbare Singstimme und konnte herrlich Hans Albers parodieren, den er sehr bewunderte. Nach dem Abitur hatte er sich rasch der aufkommenden Studentenbewegung angeschlossen, er war quasi von der ersten Stunde an dabei gewesen. Was sein Studium betraf, wollte er sich nicht festlegen. Im Augenblick studierte er Germanistik.

Sein politisches Engagement war so groß, dass er es geschafft hatte, auch Karen dafür zu begeistern. Sie zeigte mehr und mehr Interesse an Aktivitäten, Demos und Literatur, auch wenn er das Gefühl hatte, sie tat es in erster Linie, um ihm zu gefallen. Für Götz hingegen war es selbstverständlich, sich für die Freiheit einzusetzen, sich zu beteiligen, mitzukämpfen, mitzureden und den Kopf nicht in den Sand zu stecken. Er freute sich deshalb schon sehr auf die Dokumentation Die wilden Horden, die am heutigen Abend in der ARD ausgestrahlt werden sollte.

Karen hatte in Götz’ Wohngemeinschaft Spaghetti mit Tomatensoße und frisch geriebenem Käse gekocht, das in Studentenkreisen damals beliebteste Gericht. Dazu gab es Rotwein. Zusammen mit seinen Mitbewohnern Benny und der aus Frankreich stammenden Manuelle warteten sie gespannt auf die in der Szene groß angekündigte Sendung. Das Essen und der Wein schmeckten hervorragend, direkt nach der Tagesschau ging es los. Gespannt sahen die vier auf den Bildschirm des schönen alten Schwarz-Weiß-Fernsehers, den Bennys Eltern ihm überlassen hatten, als sie entschieden hatten, sich ein modernes Gerät mit einer mit Kabel verbundenen Fernbedienung namens »Tele-Pilot« anzuschaffen. Die Sendung war sehr gelungen, viele interessante Persönlichkeiten kamen zu Wort, und alle waren sich einig, dass diese sehr mutige Reportage zur besten Sendezeit ein wichtiger Meilenstein in der gemeinsamen Arbeit sei. Besonders beeindruckt waren sie von der Musik samt revolutionären, guten Texten.

Götz kündigte an, bald beim Sender anrufen zu wollen, um sich zu erkundigen, wer die Band sei und wo man eine Schallplatte von ihnen bestellen könne. Der Abend endete für Karen und Götz wie so oft beim leidenschaftlichen Liebesspiel auf der Matratze, die auf dem alten Parkettboden in seinem Zimmer lag. Diese Liebesnacht fiel noch sinnlicher und schöner aus als sonst, schließlich hatte Karen um Mitternacht Geburtstag.

Am folgenden Morgen ging es Karen und Götz mehr als hervorragend. Sie hatten tief und fest geschlafen, er war wie immer lange vor ihr wach geworden, und als sie eine Stunde später unter die Dusche ging, hatte er bereits frische Brötchen, Honig, Trauben, Schinken, Butter und Joghurt gekauft und bereitete gerade ein üppiges Frühstück zu. Dabei ließ er seine Gedanken schweifen. Er mochte Karen sehr, merkte aber in manchen gemeinsamen Momenten, dass er möglicherweise zu ausgeflippt für sie war. Sie hatte ziemlich geordnete Ansichten, wollte nicht aus der Reihe tanzen und bremste ihn regelmäßig in seiner Euphorie, wenn er gerade wieder wilde Zukunftspläne spann.

Doch auch wenn sie vielleicht nicht ideal zusammenpassten, waren sie immerhin oft sehr glücklich. Er war stolz darauf, im Hier und Jetzt leben zu können, und freute sich über jeden Tag, den er mit Karen verbringen durfte. Man weiß ja nie, was morgen kommt, das war ihm bewusst; so genoss er den Augenblick und ließ sich keine grauen Haare wachsen, die würden sowieso von alleine irgendwann kommen.

»Guten Morgen, du«, sagte er, als sie im hellgrünen Bademantel und einem sehr putzig aussehenden Handtuch, das wie ein Turban um ihr Haar gewickelt war, in die Küche kam.

»Hallo, du«, hauchte sie und gab ihm einen liebevollen Kuss.

»Alles Gute zum Geburtstag, mein Engel!«

»Du hast mir doch schon um Mitternacht gratuliert«, erklärte Karen, während sie sich an den Tisch setzte.

»Ich bin überzeugt, dass Zeit und Raum eins sind und es in Wirklichkeit keine Vergangenheit oder Zukunft oder Gegenwart gibt. Deswegen hat meine Gratulation von Mitternacht einfach noch nicht aufgehört. Außerdem gibt es jetzt noch die Bescherung!«

»Bescherung?«

Sie versuchte wohl, verwundert dreinzublicken, was ihr aber nicht sonderlich gut gelang, denn sie strahlte vor Vorfreude.

Ende der Leseprobe