Gender-Key - Christian Seidel - E-Book

Gender-Key E-Book

Christian Seidel

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Beschreibung

Ein Leben auf Augenhöhe – der Geschlechterschlüssel

Mit einem Chat fing alles an. Alle Frauen, die daran teilnahmen, hatten ein gemeinsames Problem: Wie kann sich frau am besten in der Männerwelt durchsetzen? Insbesondere im Berufsleben machen Frauen noch immer viel zu oft die Erfahrung, dass sie benachteiligt werden. Doch welche Möglichkeiten gibt es, das zu ändern? Mit dem Chef sprechen? Unmöglich. Mit dem Partner? Vielleicht. – Nie war das Bedürfnis nach einer Anleitung, wie sich Frauen behaupten können, ohne sich gleich in eine männliche Rolle drängen zu lassen, größer. Dazu muss das heillos veraltete Rollenverhalten der Geschlechter dringend auf den Prüfstand: Christian Seidel hat zehn Kernklischees identifiziert, die ursächlich dafür sind, dass Frauen das Leben im Beruf wie in Partnerschaft und Familie häufig so schwer gemacht wird. Gender Key wird das Leben der Frauen zum Besseren verändern – und sicher auch das einiger Männer.

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Seitenzahl: 367

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Frauen müssen ihre weibliche Stärke leben dürfen. Erst dann ist die Zusammenarbeit auf Augenhöhe für Frauen möglich, stellt der Autor des Bestsellers Die Frau in mir in seinem neuen Buch fest. Vom Gott-Klischee über das Steinzeit-Klischee bis hin zum Paar-Klischee und Liebe-Sex-Klischee erklärt er auf der Basis aktueller Forschungsergebnisse die Mechanismen, die das Miteinander von Frauen und Männern behindern. Fragen, die Frauen an ihn gerichtet haben, haben ihn geleitet: Wie kann ich als Frau in dieser Männerwelt besser Karriere machen? Wie kann ich als Frau mit Männern zusammenarbeiten, ohne mich an Männerverhaltensweisen anzugleichen?

„Das Aufbrechen und Weiterentwickeln der Geschlechterrollen sowie die Gleichstellung von Frau und Mann ist der Ausgangspunkt. Danach geht es erst richtig los – vielleicht mit einer neuen Lebensvision oder sogar einer übergreifenden menschlichen Zielsetzung“, meint der Autor.

Genderkey ist eine Aufforderung zu einer tiefgreifenden und kritischen Auseinandersetzung mit den Geschlechterrollen und Geschlechter-Klischees in unserem Privat- und Berufsleben.

Mit einer Selbstcoaching-Technik bietet der Autor zudem praktische Hilfe für Frauen an.

Christian Seidel

GENDER KEY

Wie sich Frauen in der Männerwelt durchsetzen

Hinweis:

Die geschilderten Begegnungen und Gespräche mit zwölf Frauen basieren auf wahren Begebenheiten. Die Veröffentlichung erfolgt nach Rücksprache und auf Wunsch der Frauen, um andere Frauen zu einer Reflexion zu diesem Thema anzuregen. Zu ihrem persönlichen Schutz sind die Namen geändert worden.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2016 Ariston Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Alle Rechte vorbehalten

Redaktion: Regina Carstensen

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München

unter Verwendung eines Motivs von shutterstock/kiuikson

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN: 978-3-641-18372-1V001

Inhalt

Einleitung – »Ich bin ein Mensch, keine Farbe«

Die Unschuld des ersten Moments

Das Eigenleben der Seelentattoos

Ein Baustein zu wenig Erfahrung

Die Marionettenfäden der Gendersprache

Die Berührungslosigkeit der Geschlechter

Das Gott-Klischee – und die Macht der Männer

Die geringe Kreditwürdigkeit Gottes

Warum Frauen nicht »auf die Beine gestellt« werden

Das Steinzeit-Klischee – und das Dilemma mit dem Unterschied

Erzwungene Unterschiedlichkeit

Das Diskriminierende an der Gleichstellung

Der Sturz des Königs

Weich konditioniert

Hart konditioniert

Die Wiedereinführung der Sinne

Alles ist weiblich – die Traumata der Männer

Das Mutter-Klischee – und die Umkehr der Werte

Diskriminierung des Wunderbarsten

Duale Exzesse

Frauenfreundliche Arbeitsplätze

Das Arbeits-Klischee – und männerverstärkende Gefallfrauen

Gesetze allein befreien nicht

Archaische Ängste und Kurzschlüsse

Das Paar-Klischee – der Für-immer-und-ewig-Traum

Monogamie und Lust im Job

Auflösung des Paar-Klischees

Das Liebe-Sex-Klischee – und wie man sich Erotik gefügig macht

Die kärgliche Typologie der Liebe-Sex-Beziehungen

Das Gefühl und die Geschlechterfuge

Innerer Schrei

Aufbau von Genderdruck, aber ohne Ventil

Das Klischee vom Fühlen, Leisten und Wissen – und das Märchen vom Prinzen

Ob wir es fühlen oder nicht: Wir fühlen

Mit Gefühl und Verstand backen Frauen besser

Das Macht-Klischee – wenn das Gute zum Bösen wird und das Böse zum Guten

Das Stockholm-Syndrom der Frauen – weibliche Macht als Chance

Das Rituale-Klischee – und das Friede-Freude-Eierkuchen-Gefängnis

Wenn das Gehirn fremdgeht

Weiblicher Ritualmangel

Ritualbrüche, Co-Abhängigkeit und Machtumkehr

Co-Abhängigkeit der Frauen undLoslösung

Die Schlüsselrolle der fliegenden Frauen

Freiheit beginnt innen

Das Tolle-Frau-Klischee

Verletzte Rollenbilder und tantrisches Jobbing

Der Eingriff der anderen in unser Leben

Das geschlechtliche Ego und der Verlust der Menschlichkeit

Religiöse Genderparadoxe

Menschliche Mitte als neue Lebenskultur

Das Projektive Selbstcoaching für Frauen

Die Wassergeschichte der Chinesin Lin

Erste Übung: neues Bewusstsein für das Selbst

Zweite Übung: Befreiung durch Loslassen von Geschlechterklischees

Kämpferinnen einer neuen Zeit

Grundsätze von Kämpferinnen

Dank

Literatur, Quellen und Links

Wir begrenzen unsere Möglichkeiten

durch die Unbewusstheit

darüber, wie wir funktionieren.

Umso bewusster wir uns diese Mechanismen machen,

desto freier werden wir.

Einleitung – »Ich bin ein Mensch, keine Farbe«

Kann man das Wunderschöne verallgemeinern? Oder ist es nur das, was man selbst als wunderschön empfindet? Und wie ist es mit dem Hässlichen? Dem Ungerechten? Dem Akzeptablen oder dem Angenehmen? Wie mit unseren Träumen und Vorstellungen? Oder unserem Geschlecht?

Es war ein später Abend im Sommer, als ich meine Aufzeichnungen zu meinem ersten Frauenseminar durchlas. Darin war es um Geschlechterrollen und ihre Klischees gegangen, nur wenige Tage erst lag die Veranstaltung zurück. Die Vorhänge hatte ich weit aufgerissen und die Fenster meines Arbeitszimmers geöffnet. Mich bewegte, was wir in den vergangenen Wochen aufgearbeitet hatten, dachte über meine eigenen Erfahrungen nach, die ich mit diesem Thema gemacht hatte.

In meinem Leben habe ich beruflich sehr viel mit Frauen zu tun gehabt. Als Autor, Filmemacher und von den Menschen Faszinierter setzte ich mich seit Jahren mit dem Widerspruch zwischen Image und Wirklichkeit auseinander, als Couch beriet ich hauptsächlich Frauen, wobei mein Fokus auf den Geschlechterklischees lag. Seit dieser intensiven Beschäftigung empfand ich es als Niederlage, würden sich Männer und Frauen als unterschiedliche Wesen betrachten, und zwar als Konsequenz unseres genetischen Pools, demzufolge Frauen angeblich »schwächer« und »weicher« sind und Männer »stärker« und »rationaler«. Die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse sprechen dagegen.

Was aber nicht heißt, dass weibliche und männliche Geschlechterrollen und damit verbundene Geschlechterklischees nicht existieren. Trotz aller emanzipatorischen Forderungen und ihrer Realisierungen halten sie sich hartnäckig. Fast scheint es, als wären sie in Stein gemeißelt. Als ich das erkannt hatte, wollte ich mehr über diese Unbeweglichkeit der Klischees in Erfahrung zu bringen. Das tat ich, indem ich mit ihnen zu spielen begann. Über einen längeren Zeitraum, insgesamt waren es zwei Jahre, schlüpfte ich immer wieder in die Rolle einer Frau und versuchte, das Leben aus weiblicher Perspektive kennenzulernen. Es war ein unfassbares Erlebnis, nie hätte ich gedacht, wie mächtig Geschlechterrollen noch waren. Das konnte ich nicht so einfach hinnehmen, und ich begann gegen sie zu kämpfen. Über meine Spurensuche und mein Aufbegehren schrieb ich dann auch ein Buch: Die Frau in mir.

Da ich eine Schauspielausbildung absolviert und Theaterwissenschaften studiert hatte, konnte ich sehr schnell die typischen Anzeichen eines Rollenverhaltens an mir selbst feststellen. Beim Method Acting, einer speziellen Schauspieltechnik, gestaltet man sein Rollenspiel, indem man in sich persönliche Identifikationspunkte mit der jeweiligen Rolle ermittelt. Auf der Bühne identifiziert man sich schließlich mit ihren psychologischen Aspekten. Doch nach der Vorstellung ist es wichtig, sich wieder von ihnen zu lösen, um keine Persönlichkeitsstörung zu entwickeln. Die Geschlechterrollen, wie ich sie erlebte, erschienen mir jedoch wie ein Theaterspiel, von dem man sich nie gelöst hatte. Die Verwurzelung dieser Rollen in unserer Gesellschaft, die die Bühne für sie darstellt, konnte ich nur als sehr stark bezeichnen. Human war etwas anderes, denn es war einfach ein viel zu enges Korsett. Um Möglichkeiten der Loslösung zu ermitteln, versuchte ich nicht nur bei mir, sondern als Couch auch bei anderen – wie gesagt, meist Frauen – die Rollen umzugestalten, sie zu erweitern, zu variieren, mit Gewalt aufzubrechen.

Gerade nach der Veröffentlichung von Die Frau in mir kamen viele zu mir oder schilderten mir über Skype ihre Konflikte, die sie in sich trugen, Konflikte, die genau mit den immer noch zementierten Geschlechterrollen in Verbindung standen. Ungeheure Dimensionen taten sich da auf, wobei sich ein Problem als grundlegend abzeichnete. Fast alle diese Auseinandersetzungen gründeten auf einem – oft unbewusstem – Kampf der Frauen mit ihrer eigenen Weiblichkeit und in Verbindung damit auch mit der Männlichkeit des anderen Geschlechts. Viele erzählten von Krisen, spannten einen weiten Bogen von ihrem Privatleben bis in die männlich dominierte Arbeitswelt, wo sie ihre Frau zu stehen versuchten – und vielfach an besagten Klischees scheiterten.

Da ich auch auf Facebook und in Chats kommunizierte, erreichte mich auf diese Weise eines Tages Sophia, eine Mittdreißigerin und Managerin, die in einem Hightechkonzern tätig war.

»Stell dir das nur vor!«, chattete sie. »Weißt du, wie mich mein Chef genannt hat? ›Die Farbe auf dem Büroflur.‹ Unfassbar! Und das vor zehn Männern, noch dazu mitten in einem Meeting. Das zahl ich ihm heim!«

Eigentlich hätte sie die Aussage als Kompliment betrachten können, aber das schrieb ich Sophia nicht. Das gegenseitige Verstehen oder Nichtverstehen von Frauen und Männern konnte ein Minenfeld sein – besonders im Beruf. Wer vermochte schon zu sagen, wer dabei in die Luft flog?

Es dauerte etwas, bevor ich antwortete. Draußen stürmte es. Im Garten riss der Wind einen großen Zweig von einem Baum, und während er durch die Luft wirbelte, schlug er mit einem lauten Krachen gegen andere Äste. Obwohl ich sicher in meinem Arbeitszimmer am Computer saß, verspürte ich einen Hauch von Angst in mir aufkeimen. Wie konnte das sein? Unmöglich konnte mir etwas, geschützt in meinen vier Wänden, passieren? Laub wirbelte durch die Luft. Wunderschön war dieses Naturschauspiel im Grunde. Doch was war wunderschön?

Man soll sich niemals gegen etwas mit Gewalt wehren, was es auch sei, sinnierte ich weiter, außer man wird existenziell bedroht. Aber was wiederum empfindet jemand als existenzielle Bedrohung?

»Du hast die Situation anders wahrgenommen als dein Chef«, hackte ich endlich diplomatisch in die Tasten. »Ist auch kein Wunder, wenn man so etwas im Beisein von zehn Männern gesagt bekommt. Wie hast du überhaupt reagiert?«

Sophia ist eine hochintelligente Frau, gut aussehend, humorvoll, ehrgeizig, eine, die schnell einen flotten Spruch auf den Lippen hat, schneller als so mancher Mann. Sie gehört zu jenen Frauen, die Männer dazu bringen, dass sie zu grübeln anfangen: Ist sie nicht ein wenig zu taff? Hat sie nicht einen Tick zu viel Schubkraft? Aber warum sollte eine Frau nicht mit der gleichen Energie ihren Beruf ausüben, wie viele Männer es tun?

»Mir hat’s glatt die Sprache verschlagen«, erwiderte Sophia. »Hab nur ziemlich kleinlaut rausgebracht, dass ich mir so eine Äußerung nicht gefallen lassen muss. Daraufhin wurde ich nur verständnislos angeglotzt.«

Die Geschichte ging dann weiter. Nach dem Vorfall versuchte Sophias Boss, sich bei ihr zu entschuldigen. Er stellte ihr einen Strauß Tulpen in ihr Büro. Doch wieder rebellierte sie, auch diese Handlung empfand sie als Übergriff.

»Würden Sie sich in einer vergleichbaren Situation bei einem Mann ebenfalls mit einem Strauß Blumen entschuldigen?«, fragte sie ihren Vorgesetzten unverblümt. »Hätten Sie überhaupt einen männlichen Mitarbeiter jemals ›Farbe auf dem Büroflur‹ genannt?«

»Nein, dazu wäre es wohl kaum gekommen«, meinte ihr Chef lakonisch.

Sophia fühlte sich endgültig falsch verstanden. Nur weil sie eine Frau war, konnte ihr also Derartiges passieren. Wobei: Mit dieser Einschätzung hatte sie recht, ihr Beispiel stand stellvertretend für unzählige ähnliche Ereignisse, die mir im Laufe der Monate von berufstätigen Frauen auf meine Nachfrage hin berichtet wurden. Solche Geschehnisse drücken vor allem eines aus: Dass die Gleichstellung von Frauen im Berufsalltag mehr Theorie als Wirklichkeit ist, real prallen Frauen und Männer ständig aufeinander, oder sie driften aneinander vorbei.

Auch wenn ich bei diesen Erkundigungen von vorwiegend beruflichen Problemen hörte, ging es den Frauen letztlich immer um das Zwischenmenschliche, um Beziehungen ohne Sex und um den häuslichen Alltag, der Basis für ihr äußerliches Engagement ist. Sie wollten im Beruf vorwärtskommen, sie einte die Sorge, wie sie sich in jener Männerwelt durchsetzen, wie sie im anderen geschlechtlichen Lager erfolgreich agieren konnten, ohne dass Mann das Gefühl beschlich, dass ihm etwas weggenommen wurde. Unbewusst schien er zwar so etwas zu empfinden, doch welcher moderne Mann gab zu, dass im Beruf nur seinesgleichen etwas zu suchen hätten? Einen solchen Gedanken würde er sich nicht einmal zu denken trauen. Trotzdem berichteten die Frauen, wie sie von Männern in der Arbeitswelt überholt wurden, obwohl sie die gleichen, wenn nicht sogar bessere Qualifikationen besaßen. Einige Frauen – und es waren nicht wenige – hatten den Eindruck, dass sie viel mehr Fähigkeiten als ein konkurrierender Mann aufweisen mussten, um zumindest gleiche Chancen zu haben. Sie fühlten sich beruflich massiv diskriminiert.

In jener Nacht, als es draußen heftig stürmte, als Äste zerbarsten und Blätter beim Fallen sanft wirbelten, entschloss ich mich, diese Auseinandersetzung der Frauen mit den Männern zum Kernthema meiner nächsten Beschäftigung zu machen. Dazu organisierte ich ein weiteres Seminar, zu dem ich einige Frauen einlud, die sich in meinen Augen besonders für dieses Thema interessierten. Das Chatten oder Skypen reichte mir nicht mehr. Darüber hinaus wollte ich intensive persönliche Begegnungen herbeiführen, um über das zu sprechen, was ich für den Kern ihrer Probleme hielt: nämlich dass sie aufgrund veralteter Geschlechterrollen weiterhin mit klischeehaften Vorstellungen konfrontiert werden – Vorstellungen, die sie mit sich schleppen und die sie daran hindern, sich wirklich als vollständige Menschen fühlen zu können. Diese Rollen sind wie jene, die dazu benutzt werden, um Farbe auf eine Wand zu malen oder einen Teig platt zu walzen. Im Theater sorgen sie noch für eine gute Show, im Leben trennen sie aber Frauen und Männer. Die Frauen, die an dem dreitägigen Seminar teilgenommen haben, werden in diesem Buch der rote Faden sein.

Es geht dabei um einen neuralgischen Schnittpunkt: Es ist der zwischen neuen, modernen Erfordernissen und überholten Aspekten geschlechtlicher Programmierung. Dazu habe ich mir ein Ziel gesetzt: Ich werde einen – vielleicht ungewöhnlichen – Ansatz vorstellen, wie wir uns von unerwünschten Klischees befreien könnten und sollten.

Vier Fragen hatten alle Frauen, mit denen ich sprach, miteinander verbunden:

Wie kann ich als Frau in der alten Männerdomäne Beruf intelligent Karriere machen?Welche Möglichkeiten habe ich, um mich als Frau in der Arbeitswelt besser gegen Männer durchzusetzen?Wie kann ich als Frau zusammen mit Männern arbeiten (und leben), ohne mich im Verhalten anzugleichen – und ohne als minderwertig angesehen zu werden?Was kann ich tun, damit Männer bei gleicher oder besserer Qualifikation meinerseits mir nicht vorgezogen werden?

Bei meiner Spurensuche stellte ich im Vorfeld schnell fest, dass bei der Aufarbeitung des zwischengeschlechtlichen Miteinanders oder Gegeneinanders das berufliche und private Leben von Frauen nicht voneinander zu trennen ist. Ich richtete meine Aufmerksamkeit also auf beide Bereiche. Zudem zog ich Erkenntnisse der modernen Gehirnforschung heran und setzte mich mit Neurobiologie und soziologischen Erkenntnissen in der Genderforschung auseinander. Dabei ließ ich mich von meinen eigenen Assoziationen leiten, war ich doch selbst Teil dieser Geschlechtermaschinerie. Die Folge war, dass ich immer mehr hinterfragte. Denn: Spielen Geschlechterklischees nicht unentwegt bei unserer Meinungsbildung eine Rolle? Nicht auch in diesem Moment?

Damit mein Genderkey eines Tages real wird, beschreibe ich zum Ende des Buches eine Übungstechnik, die ich speziell für das Thema entwickelt habe, ich habe sie Projektives Selbstcoaching genannt. Ausgearbeitet habe ich sie für Frauen, die sich in bestimmten Situationen selbst helfen wollen, ohne langwierige Termine mit einem Coach vereinbaren zu müssen. Sie kann angewendet werden, wenn man akut eine Lösung für sich sucht, etwa wenn es um männliche Macht geht, wenn man meint, dass man sich aufgrund von geschlechtsbezogenen Missverständnissen in einer ausweglosen Situation befindet. Die Methode funktioniert über eine einfache Imaginationstechnik und hat sich vielfach als hilfreich erwiesen.

Frauen, die in ihrem Leben weiterkommen wollen, sollten aber beim Justieren ihrer Position im Leben niemals vor dem Spannungsverhältnis Frau-Mann haltmachen. Eine tiefer gehende Auseinandersetzung mit den Geschlechterrollen und ihren Klischees, dem Problem der Gleichstellung sowie mit Spannungen, die aus dem Umgang mit Männern resultieren, kann niemals das endgültige Thema sein. Das Aufbrechen und Weiterentwickeln der Geschlechterrollen wie auch die Gleichstellung von Frau und Mann ist vielmehr nur ein Ausgangspunkt. Danach geht es erst richtig los. Vielleicht mit einer neuen Lebensvision oder sogar einer übergreifenden menschlichen Zielsetzung. Sie könnte von den Frauen angestoßen werden. Wir könnten so etwas brauchen. Einen Vorschlag dafür habe ich als Gedankenanstoß ganz zum Schluss entworfen.

Die Unschuld des ersten Moments

Man könnte denken, dass das Erste, was Menschen voneinander bewusst registrieren, etwas Visuelles ist. Die Kleidung beispielsweise. Doch das trifft nicht zu, es ist nachgewiesenermaßen falsch. Es sind auch nicht die Gerüche. Das Erste, was Menschen von Menschen erfassen und erkennen, das sind seine Worte. Nehmen wir einen anderen wahr, bevor er spricht, so ist das unbewusst sicher zuerst etwas Visuelles. Aber durch Prozesse in unserem Gehirn, die physikalisch-chemischer Art sind, verknüpfen sich in diesem unmittelbaren Moment sofort Worte mit unserer Wahrnehmung, sodass die visuellen Erfahrungen in ihrer Reinform gar nicht erst in unser Bewusstsein dringen. Wie kleine Stempel haben sich bereits Worte und Assoziationen auf sie gedrückt, erst dann erfassen wir den gewonnenen Eindruck, erst dann bemerken wir ihn tatsächlich. Vergleichbar ist dieser Vorgang mit einem Menschen, der das Meer sieht und im selben Augenblick »blau«, »Wasser« und »Wie wunderschön!« denkt. Das Meer ist somit die Wahrnehmung einer Farbe (blau), eines Elements (Wasser) sowie eines Gefühls (wunderschön). Ein zweiter Betrachter kann das Meer ganz anders empfinden, womöglich als kalt und beängstigend und dann auch noch als irgendwie schön. Beide verwenden das Wort »schön«, aber als jeweiligen Kommentar auf ihre individuelle Betrachtung des Meeres. Obwohl beide »schön« sagen, haben sie dennoch nicht das Gleiche erlebt (was sie jedoch denken könnten, wüssten sie von der Aussage des jeweils anderen) – was sich in ihrem Innern abspielt, unterscheidet sich vollkommen.

Wir stehen morgens vor unserem Kleiderschrank und wollen uns anziehen. Bevor wir das tun, überlegen wir indes, wie wir aussehen wollen. Dabei denken wir, dass wir Worte benutzen. Selbst die Entscheidung, wie wir uns kleiden wollen, ist sprachgesteuert, auch wenn wir dafür ein Vorbild aus einem Modemagazin, eine Vorstellung von einem bestimmten Look in uns haben: Die Entscheidung wird auf der Basis von Redewendungen gefällt wie »Das Kleid finde ich für diesen Anlass gut«, also von inneren Dialogen, die uns entsprechend begleiten. Sogar während des Anziehens sprechen wir mit uns selbst, korrigieren uns permanent: »Das steht mir, nein, dieser Stil passt nicht zu mir, jedenfalls nicht an diesem Tag, viel zu aufgedonnert.«

Und sobald wir nackt oder angezogen in Erscheinung treten, werden wir nicht mehr als Mensch gesehen, sondern als Frau oder als Mann. Spätestens jetzt beginnt die Verwirrung. Es ist, als hätte man uns die Unschuld genommen. Plötzlich werden die jeweiligen Geschlechter durch die Sprache als getrennt wahrgenommen, aber nicht nur sie. Auch die Welt selbst wird verbal aufgeteilt in eine innere und eine äußere, die mit dieser Geschlechtertrennung einhergeht.

Das Eigenleben der Seelentattoos

Ich fragte Sophia, was sie denn mit den Blumen ihres Chefs gemacht hätte, und sie antwortete: »Er hatte die Tulpen in einer Vase auf meinen Schreibtisch gestellt, und nachdem er mein Büro verlassen hatte, musste ich sofort einen Abstand zwischen mich und die Blumen bringen und sie auf einem Wandregal deponieren. Aber mein Blick glitt die nächsten Stunden immer wieder zu den bunten Tulpen. Das störte mich. Ich wollte von meinem Vorgesetzten nicht als Special Person betrachtet werden. Nicht so! Seit Jahren kämpfe ich, habe alles getan, was erforderlich war, um endlich befördert zu werden, doch er hat immer wieder irgendwelche Typen an mir vorbei nach oben gelobt. Die Tulpen signalisierten mir: ›Du bist eine Frau, da kannst du machen, was du willst! Aber schau, es gibt wenigstens Blumen für dich.‹ Ich empfand das als Herabsetzung. Deshalb stehe ich auch zu meiner Antwort ihm gegenüber, so hart sie gewesen sein mag. Später warf ich die Blumen in den Müll – und fühlte mich augenblicklich freier.«

Zwei Menschen treffen aufeinander, ganz gleich, ob sie sich kennen oder nicht, es entstehen Reaktionen. Bei beiden. Bei allen Beteiligten. In einem Meeting, unter Kollegen im Büro, bei einem Zusammensein mit Freundinnen, zwischen Frauen und Männern. All diese Reaktionen sind hochkomplex und finden in uns selbst statt. Die Schaltstelle unserer Wirklichkeit, innerhalb derer wir mit anderen Menschen kommunizieren, liegt nicht außerhalb von uns, sondern befindet sich in uns.

Jede Begegnung ist ein unmittelbares Erlebnis, das zuerst Gefühle auslöst, Bauchgefühle, doch fast gleichzeitig leitet unser Gehirn einen vielschichtigen Prozess ein: Die ursprüngliche Wahrnehmung und die damit einhergehenden Empfindungen verbinden sich augenblicklich mit bestehenden Erfahrungen, die in uns archiviert sind. Unser Gehirn ist wie ein Computer, in dem alles abgespeichert ist und auch abgerufen werden kann. Dieses Wachrufen von Abgespeichertem geschieht bei den meisten Menschen weitgehend unbewusst. Genau das ist bei Sophia geschehen: Als »Blume« bezeichnet zu werden, erzählte sie mir später einmal, löste in ihr ein Gefühl der Erniedrigung aus: »Jemand, der ›Blume‹ genannt wird, leistet nichts. Zumindest assoziiert man das so«, sagte sie. »Blumen stehen in Vasen, bewegungslos, eingepfercht. Sie werden begafft, sind eine schöne Nebensache in einem Raum und gehen dann irgendwann ein. Und genauso fühle ich mich in dieser Firma: als eine nette Nebensächlichkeit, die man irgendwo abstellen kann, wo sie hübsch aussieht!«

Beim Vorgang des Wachrufens von Abgespeichertem werden aber nicht nur Sinnesreize beziehungsweise Sinnesfragmente beschworen, sondern auch Worte, die mit passenden Eindrücken aus früheren Zeiten gekoppelt sind. Erst in dieser Kombination gewinnt die neue Erfahrung an Komplexität. Sie besteht jetzt nicht mehr nur aus dem Ursprungsereignis, sondern sie ist belegt mit Teilen unseres inneren Erfahrungsschatzes, mit Worten. Es sind, wie gesagt, Prägungen gleich einem Stempel – unsere Wahrnehmung hat jetzt einen Namen bekommen. Und wenn wir ehrlich sind, ist sie nicht mehr wirklich authentisch, sie ist vielfach zu einem Klischee geworden: Das Meer wird als »schön« bezeichnet, weil dieses Empfinden sich mit einem Traum von einem weißen Strand und Urlaubsgefühlen verbunden hat. Und Menschen werden zu Frauen oder Männern, die angeblich nur unter bestimmten Bedingungen miteinander glücklich werden können.

Das Erlebnis selbst, beispielsweise eine Begegnung mit dem anderen Geschlecht, hat sich durch die Kombination mit der Abspeicherung in uns gewissermaßen von außen nach innen verlagert. Nach dieser Wahrnehmungsmetamorphose bleibt vom erlebten Ursprungsereignis nicht mehr viel übrig, denn die Verwandlung geht ununterbrochen weiter. Dem ersten Wort folgen weitere Worte und mit ihnen neue Erfahrungen – denn auch auf Worte reagieren wir in unserem Innern wie auf Erlebnisse. Dabei ist es ganz gleich, ob wir das Wort gehört haben oder ob es uns selbst eingefallen ist. Egal ob Sophia von jemand anderem »Blume« genannt wird oder ob sie selbst »Blume« denkt – das Wort löst dieselben Assoziationen aus. Wenn man es gesagt bekommt, ist es allerdings intensiver: Dann räsoniert man quasi doppelt – in einem selbst taucht das Wort auf, und gleichzeitig dringt es im Geiste immer wieder von außen her in einen ein. Daher halte ich es für so wichtig, sich klarzumachen, was man mit Worten anrichten kann, bevor man sie ausspricht. Ich werde daher immer wieder versuchen, die Aufmerksamkeit auf den tieferen Sinn hinter bestimmten Worten zu lenken.

Durch diese Verflechtung von äußerem Erleben, innerer Erfahrung und dem auf all das gesetzte Wort hat sich ein von der ursprünglichen Erfahrung abgekoppelter Eindruck wie ein Tattoo in unsere Seele gebrannt. Die winzigen Sinnesempfindungen aus dem ersten unschuldigen Moment und dem in uns entstehenden Eindruck, aus dem sich unser Wahrnehmungsklischee formt, nenne ich »Seelentattoos«. Als Seele bezeichne ich all das, was wir, ganz individuell, bewusst und unbewusst als unser vollständiges Selbst verstehen – also die Gesamtheit dessen, was wir sind, und nicht nur das Abbild unserer selbst, das wir in einem Spiegel sehen oder das andere uns als Bild vorhalten.

Durch das Tattoo verfremdet sich unser Verständnis von dem, was wir zu sein glauben. Im Zuge unseres Tuns, äußere Eindrücke mit Teilen unseres inneren Archivbestands zu verbinden, gleiten wir zunehmend in einen Abgleich von Bildern: Wir wägen unsere Vorstellung von uns selbst mit dem ab, was von außen auf uns gerichtet wird, mit unserem konstruierten Image. Dabei geraten wir in genau dieses Dilemma: Wir nehmen ein Ereignis anders wahr, als es wirklich ist. Hätten wir unsere inneren Abspeicherungen nicht mit ihm verknüpft, dann wäre es real. Doch in Kombination mit unserer »Färbung« ist es in Wirklichkeit nur noch das, was wir daraus gemacht haben. Trotzdem glauben wir, dass wir etwas wahrhaftig Authentisches erlebt haben.

Dieser Prozess findet ständig statt, in der Wahrnehmung von uns selbst und natürlich auch dann, wenn wir jemand anderem begegnen und im selben Augenblick feststellen, dass unser Gegenüber ein Mann oder eine Frau ist – beim anderen findet selbstverständlich ein identischer Vorgang statt. Beide gehen davon aus, dass die jeweilige Reaktion unmittelbar den anderen betrifft. Dass das, was er von uns wahrnimmt, tatsächlich wir selbst sind. Das jedoch ist fatal, weil falsch. Ebenso wie wir selbst nimmt auch der andere nur das wahr, was er mit seiner Vorstellung von uns verbindet. Und diese Vorstellung des anderen sind nicht wir selbst.

Der auf diese Weise blitzschnell zusammengepackte Rucksack aus neuen wie alten Eindrücken hat zusammengefasst kaum etwas mit dem tatsächlichen Gegenüber zu tun. Der Gesprächspartner war lediglich Auslöser für einen umfangreichen biochemischen Vorgang in uns. Unser Gehirn veranstaltet dabei zuallererst eine kleine Genderrecherche. Sie ist die dominanteste Kategorisierung, die in uns wirkt. Trotz Gleichberechtigung und Gleichstellung – unsere primäre Fragestellung ist immer noch: Mit welchem Geschlecht haben wir es beim anderen zu tun? Als wäre dies die wesentliche und vorrangig zu regelnde Frage in unserem Miteinander.

Zum Frau- und Mannsein haben wir zahlreiche Informationen mitbekommen. Die Gene spielen hier vielleicht eine Rolle, ebenso haben wir entsprechende Erfahrungen in unserer Kindheit gemacht. All das ist aber nicht zentral, viel wichtiger für unser geschlechtliches Verhalten und Empfinden ist ein anderer Einfluss: die über Tausende von Jahren von unseren Vorfahren praktizierte Form des Zusammenlebens von Männern und Frauen. Es ist eine uralte Prägung, eine Art »Altkonditionierung«.

In der unendlich langen Zeit unseres menschlichen Miteinanders hat unser Gehirn mittels Milliarden neurologischer Zuordnungen die heute gelebte Klischeekategorisierung Frau/Mann herausgebildet. Andere geschlechtliche Einstufungen als die von der »Frau« oder von dem »Mann« haben wir nie gelernt, etwa dass es vielleicht noch andere Rollen geben und diese Kategorisierung nur eine von vielen Möglichkeiten sein könnte. Würden die auf »Frau« und »Mann« einschränkenden Rollendefinitionen wegfallen, stünde uns aber die volle Entfaltung als Mensch in unendlich vielen Variationen offen. Unsere Sexualität, unsere Geschlechtsorgane und unsere Verhaltensklischees würden weit in den Hintergrund weichen oder sogar vollkommen an Bedeutung für unser Selbstverständnis verlieren.

Fest steht jedenfalls: Mangels differenzierterer kollektiver Erfahrungen und Einflüsse auf unser Erleben haben sich die Mann-Frau-Rollen immer mehr verfestigt. Aus Erfahrungsmangel denken wir, es gibt nur sie. Und dementsprechend erwarten wir, wie sich unser Gegenüber passend zu verhalten hat. Wenn sich jemand anders verhält, als es zu unseren geschlechtlichen Seelentattoos passt, empfinden wir eine unangenehme Dissonanz – und schon hagelt es entsprechende Worte in uns: »Unmöglich, das ist doch kein richtiger Mann! So verhält sich keine begehrenswerte Frau …« Dabei berücksichtigen wir kaum, dass unsere Analyse ausschließlich auf der Basis unserer subjektiven Genderkonditionierung erfolgt, so wie wir sie uns innerhalb unserer eigenen Seelentattoos vorstellen. In diesem verzerrten, eingeschränkten, ja falschen Selbstbild verhalten wir uns, als wäre unser Eindruck von den Geschlechterrollen ein verallgemeinerbarer, ein wahrer und ein angemessener.

Dieser Prozess ist praktisch unausweichlich, die Zusammenhänge dieser Konditionierung sind wissenschaftlich untersucht. So beschreibt der Biologe und Geschlechterforscher Heinz-Jürgen Voss in seinem Buch Geschlecht. Wider die Natürlichkeit, warum wir uns nicht unabhängig von anderen menschlichen Eindrücken entwickeln: »Der Mensch kann nicht abgelöst von der Gesellschaft betrachtet werden, denn er ist stets schon gesellschaftlich. Eine für Menschen wahrnehmbare, von der Gesellschaft unabhängige ›Natürlichkeit‹ kann es nicht geben. Einflüsse anderer Menschen wirken schon im Embryonalstadium auf die Entwicklung eines Menschen ein.«

Voss bestätigt, dass das, was wir heute sind, zu einem großen Teil Konditionierung ist, und dass diese durch Erfahrungen unserer Vorfahren und zurückliegender Generationen weithin geprägt wurde. Auch die in Boston lebende Forscherin Junko Arai hat mit einer spektakulären Entdeckung den Nachweis erbracht, dass nicht nur die über die Geburt vererbte und somit feststehende DNA unser Verhalten prägt. Die Neurobiologin ist auf transgenerationale Epigenetik spezialisiert, also die Vererbung über Generationen hinweg allein durch erworbene Fähigkeiten und Aktivitäten. Yunko Arai konnte zeigen, dass im Laufe eines Lebens vom eigentlichen DNA-Code unabhängige Erbinformationen gebildet werden. Sie können durch die Umwelt, das eigene Verhalten oder besondere Erlebnisse beeinflusst werden (damit ist das Rauchen der Mutter gemeint, ebenso Ernährung oder Stress). Solche Informationen werden »transgenerational«, mithin über Generationen hinweg, weitergegeben. Darauf deuten in der Gehirnforschung sogenannte Spiegelzellen hin, Nervenzellen, die die stoffliche Basis unseres Verhaltens bilden. Allein durch Zuschauen, durch Beobachten von dem, was der andere tut, werden wir sofort mit diesen Zellen befeuert, die uns in die Lage versetzen, nachzuvollziehen, was der andere macht – und es gegebenenfalls für uns übernehmen. In der Traumaforschung gilt es seit einiger Zeit ebenfalls als nachgewiesen, dass sich Erfahrungskomplexe, die sich tief in einem Menschen eingegraben haben, an die eigenen Kinder und sogar noch an spätere Nachfahren übertragen können.

Verschiedene wissenschaftliche Disziplinen kommen hier zu einem ähnlichen Ergebnis: Es ist davon auszugehen, dass die Lebensweisen vergangener Generationen die noch heute von uns gelebten Geschlechterrollen sowie die Art und Weise, wie wir sie ausfüllen, mit geprägt haben. Über den Umfang dieser Konditionierung und über das möglicherweise sehr geringe Maß unserer Unabhängigkeit davon ist bislang wenig bekannt. Das ist deswegen von besonderer Relevanz, weil wir so selbstverständlich von unserem Rollenverständnis ausgehen und in einer Zeit zu Hause sind, in der wir Worte wie »Gleichstellung« oder »Frauenquote« in den Mund nehmen, als wären sie das Normalste der Welt. Dabei machen die vierzig, fünfzig Jahre, in denen den Frauen erstmals ein etwas freieres Leben zugestanden wird, im Vergleich zu den vergangenen zweitausend Jahren gerade einmal 2 Prozent aus. Selbst wenn wir »nur« von diesen zwei Jahrtausenden ausgehen, arbeiten also noch 98 Prozent (!) geschlechtlicher Altkonditionierung in uns. Anders gesagt: Wir sollten die »Geschlechter« und die Herkunft ihres jeweiligen Verhaltens genauer unter die Lupe nehmen: Wir Frauen und Männer sind nämlich nicht so, wie es uns die Gesellschaften der letzten Jahrhunderte vorgelebt haben.

»Aber was sagt uns das?«, fragte mich eines Tages Evelyn, Marketingchefin in einem Modeunternehmen, die ich übers Chatten kennengelernt und der ich von meiner Spurensuche erzählt hatte. »Dass wir Menschen praktisch über Generationen hinweg auf ein bestimmtes Rollenverhalten gedrillt wurden?«

Sophia, die sich in unser Gespräch eingeschaltet hatte, meinte: »Oder dass Frauen und Männer ähnlicher sind, als wir dachten. Dass wir sogar ziemlich gleich und nicht ungleich sind.«

Ich fügte hinzu: »Wir sollten unser Verständnis von ›ähnlicher‹ oder ›gleich‹ und ›ungleich‹ als Maßstab zunächst einmal weglassen. Es kann doch sein, dass es zwischen ›gleich‹ und ›ungleich‹ noch viel mehr gibt.«

»Und wie sieht dieses Mehr aus?«, fragten Evelyn und Sophia unisono.

»Dazu ist eine aufgeschlossenere Form der gegenseitigen geschlechtlichen Betrachtung notwendig.«

»Na, das klingt ja getragen, das musst du uns aber näher erklären.«

Ein Baustein zu wenig Erfahrung

Sophia hat die folgende Erfahrung mit ihrem Chef gemacht, ebenso viele andere Frauen in vergleichbaren Situationen, wie ich aus den Chats weiß: Die Wahrnehmungs- und Erlebniswelten beider Geschlechter decken sich so gut wie nie. In der Regel wird das sofort gespürt, dennoch beginnen wir trotz einer dabei empfundenen Unschärfe Einschätzungen vorzunehmen. Wir interpretieren ein Verhalten, als wäre das von uns Wahrgenommene das tatsächliche Ereignis. Als wären die daraus gezogenen Schlüsse Abbild einer objektiven Wirklichkeit – und die vielen Seelentattoos verstärken diesen Eindruck. Nachdem sie durch Erfahrung entstanden sind, wandern sie durch unser Bewusstsein, gesellen sich gleichsam zu anderen Erfahrungen, die ihnen gefallen, und formen mit ihnen neue Klischees. Da wir ununterbrochen Neues erleben, entstehen daraus immer neue Tattoos, die das ursprünglich geprägte – falsche – Bild festigen.

Lassen wir diesen Prozess ungebremst zu, ohne ihn zu hinterfragen, bringt uns nach und nach ein stets größeres Klischeebild in seine Abhängigkeit. Die monströsen Konstrukte, die hinsichtlich der Geschlechterrollen entstehen, sind Bilder, die uns am meisten beherrschen. Es sind Sätze wie: »Nur als richtig weibliche Frau werde ich von Männern geliebt«, oder: »Halbe Männer gibt es nicht, ein Mann muss ein richtiger Mann sein«. Ihre Existenzberechtigung wird so gut wie nie infrage gestellt. Im Gegenteil: Vielerorts wird ein regelrechter Kult um solche Rollenbilder betrieben: in der Werbung, in der Mode, im Sport, in Religionen und Traditionen. Wir können an die Rollenbilder glauben – oder auch nicht. Die meisten Menschen identifizieren sich mit ihnen. Sie gehen davon aus, dass das einfacher ist. Und wenn sie einem solch eingebildeten Bild nicht vollständig entsprechen, tun sie alles dafür, um es zu korrigieren.

»Im Job kommt es mir oft vor, als würde man mich auf etwas festlegen wollen, das ich gar nicht bin«, erzählte Sophia einmal, als wir uns gemeinsam mit Evelyn in einem Café in München trafen. »Offenbar werde ich nicht an meinen objektiven Ergebnissen gemessen, sondern an meinen Leistungen als Frau. Und da Frauen angeblich größere Schwierigkeiten haben, etwas auf die Beine zu stellen, scheint es, als müsste ich viel mehr meine Fähigkeiten unter Beweis stellen als ein Mann, um vergleichbar akzeptiert zu werden.«

ENDE DER LESEPROBE