Gewinnen ohne zu kämpfen - Christian Seidel - E-Book

Gewinnen ohne zu kämpfen E-Book

Christian Seidel

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Beschreibung

Wer Prinzipien hat, braucht keine Ellenbogen

Unsere orientierungslose Gesellschaft beklagt den Verlust der Werte. Ausgerechnet in einer Kampfkunst, dem Taekwondo, hat Christian Seidel diese Werte wiederentdeckt. Anschaulich erzählt er von klaren Prinzipien wie Achtsamkeit und Respekt, Disziplin und Verantwortung, die das Leben und Zusammenleben der Menschen enorm bereichern.

Als Produzent für Film und Fernsehen bewegt sich Christian Seidel jahrzehntelang in Kreisen, in denen Egomanie, Machtstreben und Profitorientierung den Ton angeben. Erst ein Burnout und der Verlust eines engen Freundes bei einem Unfall bringen ihn dazu, sein bisheriges Leben infrage zu stellen. Mit fünfzig fängt er an, bei einem koreanischen Meister Taekwondo zu trainieren. Er lernt, dass es dabei nur vordergründig um Selbstverteidigung geht. Tatsächlich steht nicht das Gegeneinander, sondern das respektvolle Miteinander im Zentrum. Die Kampfkunst öffnet ihm die Augen für klare ethische Prinzipien, die im Menschen angelegt, aber in einer von Selbstsucht und Materialismus geprägten Welt abhanden gekommen sind.

Anhand lebendiger Beispiele aus dem Taekwondo und seiner Managerkarriere beschreibt Christian Seidel die zehn wichtigsten Werte, die unserem Leben Sinn und Orientierung geben und zugleich auch die Richtschnur für Politik und Wirtschaft werden müssen, damit aus einer zerfallenden Gesellschaft wieder eine Gemeinschaft wird.

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Seitenzahl: 419

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Für Pupsik

Inhaltsverzeichnis

WidmungVorwort - Do – der WegTEIL I - Die Entdeckung der Einfachheit
Die Wellenbewegung des SteinsDer Weg des LebensEine neue Stimme in mirEin Schritt in eine neue RichtungAus Erfahrungen lernen – ein eigenartiges PhänomenKämpfen lernen, um nicht kämpfen zu müssen
Copyright

Vorwort

Do – der Weg

Der Körper ist zum Leben da. Der Geist für die Intelligenz. Körper und Geist für intelligentes Leben. Sie sind nicht für das Kämpfen gemacht, sondern für die Weiterentwicklung der besonderen Fähigkeiten des Menschen. Im Taekwondo geht es um Zufriedenheit, Glück und Frieden im Leben. Deswegen trainieren auch viele Frauen, alte und junge Menschen Taekwondo, nicht nur Männer. Jeder kann anfangen, egal, wie alt er ist. Viele Leute denken, dass Taekwondo nur eine Selbstverteidigungstechnik ist. Das ist falsch. Es geht nur in zweiter Linie darum. Wer denkt, er kann ohne Kämpfen nicht weiterkommen, der versteht das Leben nicht. Er muss das Leben kennenlernen, und das kann er im Taekwondo. Es ist eine ganzheitliche Übung für die Weiterbildung der Fähigkeiten von Körper und Geist. Gleichzeitig ist es eine der gesündesten Sportarten, denn es kommt dabei nie zu einseitiger Überbelastung.

Viele Menschen haben vom Kämpfen eine falsche Vorstellung. Das Kämpfen ist jahrtausendealt, ebenso, wie die Vorläufer des modernen Taekwondo. Wer heute noch kämpft, lebt in der Steinzeit. Damals mussten sich die Menschen in der Natur gegen Feinde behaupten. Gegen Räuber oder gefährliche Tiere. In einem Kampf ging es oft um Leben oder Tod. Die Erfahrung, wie gefährlich das Kämpfen ist, ist so alt wie der Mensch selbst. Trotzdem kämpfen auch heute noch die meisten Menschen. Dabei besteht fast nie eine ernstzunehmende Gefahr. Wir leben in einer friedlichen Zivilisation. Heute berühren die Menschen einander nicht einmal mehr. Wozu sollten sie kämpfen?

Als ich vor fünfzehn Jahren von Korea nach Europa kam, war ich überrascht, wie viele Menschen hier alleine leben. Ihre Beziehungen dauern oft nur kurze Zeit. Viele leben als Singles alleine in kleinen Wohnungen. Sie fahren alleine in den Urlaub und legen sich alleine an den Strand. Sie leben alleine oder in immer wieder neuen Partnerschaften, bis sie alleine sterben. Ständig verlassen sie sich, kämpfen aus Frustration oder falscher Konkurrenz gegeneinander und verlieren letztlich. Wofür? Es gibt heute leider immer weniger Menschen, die in Gruppen leben, wie Familien, größere Freundschaftskreise oder andere Lebensgemeinschaften. Das Zusammenleben wird immer mehr von Business-Teams ersetzt, die nach außen hin kämpfen und sogar innerhalb ihrer Gruppe bis aufs Schärfste miteinander konkurrieren. Manchmal sitzen unbekannte Menschen zusammen in Bussen und fahren während eines Ausfluges in die Berge. Die vielen einsamen Menschen wissen nicht mehr, wer sie selbst sind. Sie sind unzufrieden und haben angefangen, gegen sich selbst zu kämpfen. Respektlosigkeit und Leben ohne Herz. Sie berühren sich nicht mehr. Stattdessen wollen sie immer mehr Geld anhäufen, mehr konsumieren, mehr kaufen. Keine Grenzen, nie zufrieden, keine Ziele. Wir brauchen wieder mehr Harmonie. Wann kommt es hier vor, dass die Menschen sich zusammentun und jemandem helfen, wenn es ihm schlecht geht. Bei uns in Korea ist dies eine große Tradition. Den europäischen Ländern ist der innere Zusammenhalt verlorengegangen. Ohne ihn wird es nicht mehr nach oben gehen.

Taekwondo ist eine Übung für das Leben und seinen Frieden. Und für die Harmonie von Körper und Geist. Zu mir kommen ganze Familien und wollen trainieren. Sie wollen lernen, was man tun muss, um nicht mehr kämpfen zu müssen. »Tae – Kwon« heißt »Fuß – Hand«, und »Do« bedeutet im Koreanischen »Geist« und »Weg« gleichzeitig. Um zu Frieden und Glück in ihrem Leben zurückzufinden, müssen sich die Menschen wieder mehr miteinander beschäftigen. Sie müssen ihr »Do« wieder mehr leben, ihren Weg finden. Sie müssen ihre Harmonie, ihre Bescheidenheit und ihre Disziplin zurückerobern. Es geht immer, bei Frauen und Männern, Kindern und Alten. Es ist nie zu spät. Man muss nur wollen und glauben. Es braucht Vorbilder. Wir haben eine große Chance. Sie braucht eine tiefe Beschäftigung und eine unablässige Übung. Dieses Buch ist eine solche Übung. Ein Versuch, etwas zurückzugewinnen, was verlorengegangen ist. Der Autor schildert dies anhand seiner eigenen Lebenserfahrungen. Dieses Buch ist eine Anregung zu einer unablässigen Übung des »Do«, des Begehens des Lebensweges. Ich wünsche allen Menschen ein glückliches Leben in Harmonie mit ihrem Geist und ihrem Körper, möglichst lange und möglichst gesund.

Seoul – München Dezember 2010Ko Eui-Min

TEIL I

Die Entdeckung der Einfachheit

»Jeder von uns ist ein Gott.Jeder von uns ist allwissend.Wir müssen lediglich unser Bewusstsein öffnen,um unserer eigenen Weisheit zu lauschen.«

BUDDHA

Die Wellenbewegung des Steins

Der hölzerne Boden, auf den ich donnerte, glänzte glitschig. Ich musste mir wieder etwas beweisen. Stürmisch war ich in einem Anfall von Selbstüberschätzung im Zweikampf mit der Koreanerin Chy-Eun in die Höhe gesprungen und rutschte nun in meinem eigenen Schweiß aus. »Du kannst alles. Aber mach nie mehr, als du kannst«, sagte die neue Stimme zu mir. »Orientiere dich an dem, was du weißt. Denn du weißt viel in deinem Herzen! « Ich ließ mir meine Schmerzen nicht anmerken, biss die Zähne zusammen und legte wieder los.

Ich habe schon als Kind gelernt, meine Gefühle zu verbergen. Irgendwann ist mir klargeworden, dass ich mir das Leben dadurch nur schwermachte! Trotzdem war es mir bei diesem Übungskampf mit der jungen Koreanerin unmöglich, meinen Kopf auszuschalten. Der wollte unbedingt gewinnen. Dabei wusste ich genau: Wenn das mein Ziel war, würde ich verlieren …

Chy-Eun war viel jünger als ich. Sie gefiel mir als Frau mehr, als mir lieb war. Jetzt standen wir uns im Abstand von ein bis zwei Metern gegenüber. Zu weit für einen Abstand zwischen Mann und Frau, dachte ich. Bekleidet mit Kampfweste und Kopfschutz (eine Art gepolsterter Helm), sahen wir vermutlich mehr wie zwei Astronauten aus als wie zwei Menschen, die den freien Kampf des Taekwondo miteinander austragen wollten. Fast hätte ich den blitzschnellen Gedanken übersehen, der mit einer beruhigenden Wirkung durch mich huschte: Die anderen werden dank der Schutzkleidung nicht unbedingt erkennen können, wer von uns beiden wer ist. So fallen meine Fehler weniger auf. Vielleicht verwechseln sie uns und schreiben mir einen von Chy-Euns tollen Kicks zu! Am Vorabend hatte ich sie durch die Luft wirbeln sehen, wirklich unglaublich!

Da war sie wieder, meine Unzulänglichkeit: Mein Wunsch, ein astrein guter Mensch zu sein, auch wenn ich rational begriffen hatte, dass das unmöglich war. Ich genierte mich vor mir selbst. Als ich mich bei diesem Gedanken ertappte, fühlte ich mich so, als wäre ich einem alten Laster auf dem Leim gegangen. Eigentlich müsste ich doch viel reifer sein, nach fast fünf Jahrzehnten Leben. Und erst recht mit meinem schwarzen Gürtel, auf den ich jahrelang hingearbeitet hatte, ich mit meinem unglaublichen 2. Dan.

Wir verbeugten uns voreinander, die junge Chy-Eun und ich. In dem Innehalten dieser Bewegung hatte ich ein letztes Mal Zeit, den Moment und seine Atmosphäre wahrzunehmen: Ich war sehr nervös. Ich wollte unbedingt auftrumpfen und Chy-Eun zeigen, wie gut ich war. Wie lade ich sie nachher zum Dinner ein, schoss mir durch den Kopf. Dabei hätte ich mich besser konzentrieren sollen.

Ich war gut aufgewärmt. Chy-Eun und ich hatten uns beim Stretching gegenseitig geholfen. Dabei hatte ich ihren weichen Körper und ihre zarten Hände gespürt. Ein wenig mulmig war mir schon, musste ich mir eingestehen, während ich mich wieder aufrichtete. Gegen diese zierliche junge Frau zu kämpfen, die mir so sympathisch war, hemmte mich irgendwie. Gleichzeitig beherrschte mich der heftige Wunsch, gegen diese Kämpferin gewinnen zu können. Auch wenn sie viel erfahrener war als ich. Wegen meiner Größe, weil ich ein Mann bin und sie eine Frau. Dabei trug sie den fünften Dan, was meiner Einbildung in diesem Moment völlig egal war.

Ich hätte mich besser auf die Situation konzentrieren sollen, statt auf das Rasseln im Kopf. Nach dem Startkommando des Meisters tänzelten wir zunächst ein paar Sekunden umeinander herum. Chy-Eun kämpfte mit äußerster Konzentration, offensiv, unnachgiebig, kontrolliert. Wir teilten Kicks und Schläge aus und beobachteten uns dabei genau. Hier und da glückte mir eine ganz nette Bewegung. Doch ich war unzufrieden mit meiner Leistung, wie immer. Deswegen schoss mein Geltungsbedürfnis mit mir los wie ein Pfeil aus einem heillos überspannten Bogen. Zu gewinnen war mein Ziel. Aber ich verließ den Weg zum Ziel, verlor die Disziplin, wie so oft in meinem Leben – und verfehlte das Ziel um Längen.

Als ich hochsprang, entschied ich mich ausgerechnet für den schwierigsten und auch spektakulärsten aller Kicks. Eitel wie ich war, wollte ich unsere Übung nicht mit der sinnvollsten, sondern der schönsten Bewegung für mich entscheiden. Es drehte sich nur darum, zu zeigen, was ich konnte. Während ich durch die Luft flog, war Chy-Eun plötzlich weg. Verschwunden aus meinem Blickfeld, wie so vieles in meinem Leben plötzlich einfach unsichtbar wurde, ehe es dann unvermutet wieder zurückkehrte. Chy-Eun war mir blitzschnell ausgewichen, und ich segelte ins Leere. Gleichzeitig knallte ihr Kick hart in meine Seite. Ich verlor mein Gleichgewicht. Mit einem lauten Knall stürzte ich in die glitschige Pfütze meines eigenen Schweißes. Peinlicher ging es nicht. Der Bretterboden des Trainingssaales in der Kyung Hee-Universität in Seoul hallte wie der misshandelte Resonanzboden eines riesigen Musikinstruments. Chy-Eun verfügte einfach über die besseren Reflexe.

Mir einzugestehen, dass mich eine junge Frau auf die Bretter beförderte, fiel meinem aufgeblähten Ego unglaublich schwer. In abgerundet 45 Jahren Männerleben hatte sich dieser Teil von mir zu einem hydraartigen Krake ausgewachsen, den ich kaum mehr unter Kontrolle hatte. Deswegen war mir der klar durchorganisierte Rahmen des Taekwondo-Trainings ein so willkommenes Lehrstück geworden.

Mit Schmerzen in der Seite stemmte ich mich hoch.

In der dritten Runde, als ich schon fast nicht mehr konnte und bereits schwer keuchte, hörte ich die Stimme meines Meisters: »Christian, komm mal her!«

Mist, gab es jetzt Kritik? Ich hatte doch alles so gut wie möglich machen wollen! Ich wollte doch nur zeigen, was ich draufhatte. Chy-Eun, diese drahtige Kämpferin, mit der ich bereits seit mehreren Tagen trainierte, half mir hoch. Ich fühlte mich zum ersten Mal wie ein alter Mann, als ich ihren warmen Atem in meinem Gesicht spürte, sie mir auf die Schulter schlug wie ein alter Kumpel und mir hintergründig lächelnd und mit hinreißendem koreanischen Akzent auf Englisch zuflüsterte: »Es ist schön mit dir zu kämpfen, so diszipliniert …!«

Als ich wenige Momente später neben Meister Ko Eui-Min saß, zielten seine Augen direkt in meine Pupillen: »Sind in deiner Welt alle so größenwahnsinnig wie du?«

Dann bedeutete er mir, dass er mit mir nach draußen gehen wolle.

»Ich habe selten einen so ungeduldigen Menschen wie dich kennengelernt«, sagte er mit leiser Stimme. »Was willst du dir eigentlich beweisen? Das hier ist keine Show. Es gibt keine Kameras, kaum Zuschauer! Was ist los mit dir?!«

Meister Ko knuffte mich in den Arm. Dann nahm er mich bei der Hand wie ein Vater und führte mich zu einem kleinen Teich. Eine Mischung aus Humor und warmherziger Provokation schwang in seinem Ton mit, als er mich fragte: »Wie oft willst du dieses Spiel noch treiben? Hast du wirklich gedacht, gewinnen zu können? Warum hast du nicht einfach einen guten Kampf hingelegt? Diszipliniert, bewusst, integer, verantwortungsbewusst dir gegenüber und deiner Kampfgefährtin? Geht es dir nur darum, ihr zu imponieren? Was brauchst du noch, um herauszufinden, was du wirklich willst?«

Ich traute mich nicht zu antworten.

»Deine Prellung heilt von alleine, du brauchst nur Geduld und Zeit. Leider tust dich mit beidem schwer. Aber was du in die Welt setzt mit der Verletzung deiner Seele und anderer Menschen Herzen – das heilt nie. Das setzt sich fort, in einer endlosen Kettenreaktion. Wie die Wellenbewegung eines Steines, den du ins Wasser wirfst.«

Als wir am Teich standen, warf der Meister mit leichter Bewegung einen Stein in den Teich. Als der Stein die spiegelglatte Oberfläche traf, erklang ein angenehm helles Ploppen, und sofort schwammen einige Goldfische neugierig näher. Kleine Wellen kräuselten sich, als wüssten sie nicht so recht, wohin sie sich bewegen sollten.

Dann rief der Meister laut: »Oder so!« Er holte aus und feuerte mit aller Wucht einen weiteren Stein ins Wasser. Das Geräusch war unangenehm, und die Fische schossen ängstlich davon. Es spritzte, und Wellen breiteten sich kreisförmig aus. Plötzlich sah ich einen hellblauen Schmetterling vom Teich aufsteigen. Für einen winzigkleinen Moment lief mir ein Schauer über den Rücken. Der Falter flog in meine Richtung und setzte sich auf meine Hand. Seine Flügel glänzten und bewegten sich langsam im Sonnenlicht, als wollten sie mir mitteilen: Wie lange musst du die gleiche Erfahrung immer wieder machen? Die langen Fühler dieses feingliedrigen Wundertieres betasteten vorsichtig meine Haut, und die neue Stimme in mir sagte: »Alles, was du tust, hat eine Wirkung und findet eine Fortsetzung. In dir und in anderen. Nur wenn du bereit bist, das zu lernen, kannst du glücklich werden.«

Der Weg des Lebens

Gestern bin ich also wieder einmal über mich selbst gestolpert. Seit Stunden sitze ich nun an diesem frühen Morgen in den Gärten des buddhistischen Sang-Gaesa Klosters in den Hügeln zwischen Seoul und Busan auf einer alten Holzbank. Ich sinniere über den gestrigen Kampf mit Chy und die Worte des Meisters. Es fiel mir schwer, auf dem geheizten Boden meiner Kammer zu schlafen. Die Gedanken kreisten in meinem Kopf wie kantige Meteore, die wehtun und lärmen, wenn sie kollidieren. Daher stand ich schließlich auf. Ich war aufgeregt, hatte das Gefühl, als würde ich einen alten Schatz wiederentdecken, der absurderweise mitten in mir selbst vergraben liegt.

Ich finde das überraschend, sucht man Schätze doch normalerweise anderswo, als bei sich selbst. Obendrein ist es ein Schatz, über den zu sprechen mir nicht leichtfällt, denn jeder kennt diesen Schatz. Er wird daher manchmal als etwas Banales, etwas leicht Nerviges, ja fast Abgedroschenes wahrgenommen. Aber er birgt vielleicht die Lösung in sich. Wir müssen nur anwenden, was wir wissen. Jeder von uns. Vielleicht ist in Wirklichkeit tatsächlich alles ganz einfach, und ganz und gar nicht aussichtslos und schwer? Während ich hier auf der Holzbank über mein Leben nachsinne, wandelt sich die Nacht langsam zum Tag. Ich spüre meinen Atem, und ich fühle mich am Leben. Das kommt mir außergewöhnlich vor.

Vor einigen Jahren führte meine Lebensweise zu einer Art Kollaps. Lange Zeit bereits war mir klar gewesen: Ein Leben auf der Überholspur führt auch nicht schneller zum Ziel. Auch die Einsicht, dass mein Lebenstempo mich daran hinderte, mich selbst und meine Umwelt richtig wahrzunehmen, bewirkte nicht rechtzeitig eine Veränderung. Ich war süchtig nach dem Rausch von Geschwindigkeit und Erfolg. Mit Duftlampe auf dem Schreibtisch, Zen-Buch im Aktenkoffer und einem Berg an – sicherlich bemerkenswerten, aber völlig unsortierten – Erfahrungen aus Selbsterfahrungskursen, Meditations- und Therapie-Abenteuern war ich dabei einer abstrusen Einbildung von seelischer Unverwundbarkeit aufgesessen.

Ich hatte mit meinen Projekten zwischen den Metropolen dieser Welt in einem Tempo und einer Lust gelebt, als könnte mir niemals irgendetwas passieren. Als dauere mein Leben unendlich lange. Ich hatte mich erfahrener als alle anderen gefühlt. Wissender, besser einfach, wähnte ich mich doch bestärkt von meinen selbstkreierten Maximen auf dem Gipfel der Lebensweisheit. Ich hatte aufgehört dazuzulernen, und dies nicht einmal bemerkt.

Dass diese scheinbar ewig andauernde Phase eines Tages zu Ende ging, zeichnete sich bei einem Landeanflug auf den Münchner Flughafen ab. Draußen hinter dem Fenster jagten die Wolken der Einflugschneise wie Fabelwesen vorbei, und ich ertappte mich dabei, wie ich klammheimlich die Sehnsucht hegte, dass der Flieger jetzt abstürzte. Das wäre mal was Neues. Ich hatte gerade eines meiner größten Business-Abenteuer zum Abschluss gebracht. Seit Wochen freute ich mich auf den vertrauten, inneren Kick, diese zuverlässige Euphorie über die erfolgreiche Beendigung eines großartigen Projektes. Stattdessen machte sich in mir ein völlig neuer Eindruck von Erfolglosigkeit breit. Alles, was ich bisher gemacht hatte, war in meinem Selbstbild zu einem unbedeutenden Haufen von Nebensächlichkeiten zusammengeschmolzen. Ich kam mir vor, als hätte ich mich auf dem Höhepunkt einer Jagd nach einem Dinosaurier selbst erlegt.

Nächtelang saß ich danach in meiner Bar. Bei meinem Lieblingsrotwein und zusammen mit einem guten Freund quetschten wir philosophische Kalauer über das Leben aus uns heraus. Wir klammerten uns ans Sprücheklopfen und kommentierten bissig ein- und ausgehende Gäste. Dabei wurden unsere Gesprächspausen immer länger, und der Klang meiner öden Geschichten über meine Projekte, an denen ich mich vorher aufgerichtet hatte, verhallte in mir schneller, als ich mich daran freuen konnte. Schließlich wollte ich gar nicht mehr darüber reden, geschweige denn daran denken. Die schlimmsten Fragen, die man mir damals stellen konnte, lauteten: »Hallo, wie geht’s? Was machst du gerade?« Mein Zustand fühlte sich an wie Wiederkäuen. Ich hatte nicht das geringste Interesse mehr an Projekten oder an einer dieser »unglaublich geilen Ideen«, die mich sonst getragen hatten, auf denen ich gesurft war wie auf einem Sinker – diesen kurzen, extrem leichten und schnellen Windsurfbrettern, die im selben Moment untergehen, in dem kein Wind mehr im Segel steht. Bei mir war der Wind weg, Dauerflaute.

»Klassischer Burnout«, warnte mich ein Freund, der Psychologe war. Ich solle dringend etwas unternehmen. So beschloss ich eines Tages zu einer sehr späten Nachtstunde in unserer Bar, gemeinsam mit meinem schwer an Liebeskummer erkrankten Freund zum Relaxen nach Italien zu fahren. Gleich in der Früh sollte es losgehen, und das mit Bleifuß.

Eine neue Stimme in mir

Wir waren völlig übernächtigt und fertig, als irgendwo am Gardasee bei 220 km/h der Sekundenschlaf nach unserem Wagen griff. Unser Fahrzeug überschlug sich, und wir stürzten in einen Abgrund, in einen Hügel voller Weinstöcke. Nachdem ich aus dem Wagen geschleudert worden war, hockte ich da und blickte mich um, und zum ersten Mal in meinem wundersamen Leben sah ich einen blauen Schmetterling. Er zog meine ganze Aufmerksamkeit auf sich.

Mein Gefühl für Zeit und Raum schien sich aufgelöst zu haben. Verständnislos und fasziniert überlegte ich mit einer mir völlig neuen Seelenruhe, warum dieses Tier so unbekümmert herumflog, hier im Sonnenlicht, ähnlich ziellos, wie eben noch die Glassplitter, nur viel langsamer und anmutiger, während drüben in diesem rauchenden Blechhaufen mein Freund lag und ich auf einem zerquetschen Weinstock saß, wie eine aus ihrem Topf herausgerissene Pflanze, jedoch völlig unversehrt und ohne Kratzer, zwischen Ästen, Splittern, Blech, unserer Wäsche und 580 aus Kuba geschmuggelten Havanna-Zigarren, die aus unserem Kofferraum herausgeflogen waren.

Die Zeit schien stillzustehen, und mein Bewusstsein blieb einfach in der Reglosigkeit hängen. Ich beobachtete meine Gedanken, wie sie über den Reifezustand der Weintrauben sinnierten, statt mir das Kommando zu geben aufzuspringen, um etwas zu tun, irgendetwas, einfach etwas tun. Ich war wie gelähmt, gefangen in einer Überfülle von Wahrnehmungen. In diesem Moment nahm ich die neue Stimme in mir wahr. Obwohl ich sie nicht kannte, hatte ich tiefes Vertrauen zu ihr. Sie zu hören, war, als würde ich nach Hause kommen: »Jetzt rauchst du erst mal eine Zigarre!«

Ich blickte hinüber zu dem zerfetzten Auto. Dieses Ungetüm, wie es dampfte und vielleicht demnächst explodieren würde, kam mir wie ein grausames Gespenst vor. Ich wollte nicht dort hin. Mein Freund ist tot, dachte ich. Nein, dorthin gehe ich nicht zurück. Oder muss ich das?

Augenblicklich meldete sich eine der altbekannten Stimmen. »Bist du verrückt geworden! Woher willst du das wissen. Du musst hin!«

Stimmen wie diese hatten mich durchs Leben getrieben wie einen willenlosen Galeerensklaven. Immerzu hatte ich sie in mir vernommen: »Sei besser als die anderen! Das Projekt ist fantastisch! Du musst mehr machen! Streng dich an!«

Es war, als würden zwei Persönlichkeiten in mir zerren.

Die neue Stimme in mir blieb ganz ruhig. Sie ließ sich nicht beirren: »Lasse dich nicht unter Druck setzen. Nie mehr. Folge dem, was du weißt.«

Ich begriff, dass ich zu dem Wrack musste, es war meine Pflicht. Wie in einem diffusen Alptraum bewegte ich mich auf das dampfende Auto zu, fing an zu laufen, immer schneller, hin zu meinem Freund, der sich nicht mehr regte. Ich tat mein Möglichstes, was mir, wie alles in meinem bisherigen Leben, unzulänglich vorkommen sollte. Ich zog ihn heraus, bevor das Feuer ausbrach. Ein paar Helfer eilten den Hang herunter. Jetzt sah ich, dass mein Freund noch lebte. Er öffnete kurz die Augen, während er dalag, vor mir ihm Gras, und sagte: »Scheiß Leben!« Dann verlor er wieder das Bewusstsein.

Ich ließ mich neben ihm nieder. Es gab nichts mehr zu tun. Warten, warten. Die hektischen Stimmen um uns herum änderten nichts an der Situation. Die Zeit war tatsächlich stehengeblieben. Es war, als würde sie uns einen Stempel aufdrücken.

Ich steckte mir die Zigarre an und freute mich über mein Leben wie noch nie. Bis ich meine zitternde Hand sah und sich der Schrecken in meiner Brust breitmachte wie ein Schwelbrand, den kein Wasser dieser Welt mehr zu löschen vermag.

Es war der Moment, als ich beschloss, mein Leben zu verändern. Seit diesem Tag versuche ich nur noch meiner neuen Stimme zu folgen. Sie sagte, ich wisse alles. Ihr Auftrag lautet, mich nie mehr unter Druck setzen zu lassen.

Mit dieser Erinnerung in meinem Herzen nehme ich im Sang-Gaesa Kloster an diesem Morgen den zarten Duft von Blumen wahr. Es ist die älteste Tempelanlage der Buddhisten auf der fernostasiatischen Halbinsel. Die umliegende Natur strahlt eine konzentrierte Ruhe aus, als würde sie mitmeditieren. Das Aroma der wilden Pflanzen erinnert mich an den Weinberg, in welchem ich nach zwanzig Jahren Leben auf der Überholspur gelandet war. Das vage Schimmern von Licht in den Blütenblättern signalisiert jetzt das Aufsteigen der Morgensonne. Endlich fühle ich mich ein klein wenig erleichtert. Nach dem Taekwondo-Training mit Chy-Eun in den letzten Tagen spüre ich meine Muskeln und Knochen auf eine wohlige Weise, und meine neue Stimme sagt mir, dass mein Weg nie ein Ende haben wird.

In einer Pagode schlägt ein Mönch einen überdimensional großen Gong. Die dunklen Schatten um mich herum verwandeln sich in Pflanzen, in Landschaften, so wunderschön, wie ich sie noch nie gesehen habe. Langsam beginnen auch die Bäume der Laubwälder in ihren rotgoldenen Herbstfarben zu schimmern. Sie erinnern mich an meine europäische Heimat. Unsere Wälder. Und wie in einem Déjà-vu wähne ich mich plötzlich zu Hause.

In der Ferne, auf der anderen Seite des Tales, erkenne ich einen Weg, der sich wie ein knorriger Ast in Richtung Himmel windet. Immer wieder höre ich die Worte des Meisters in mir. Ich erinnere mich auch, wie mir die junge koreanische Kampfgefährtin im Dojang – dem Taekwondo-Trainingssaal – auf die Beine half. Ein Gefühl von Verbundenheit und Gleichheit ergriff mein Herz, als ihre Hand die meine umschloss und sie mich hochzog. Chy-Eun ist bereits seit ihrem zwanzigsten Lebensjahr eine Meisterin des Kampfes. Und ich habe gerade erst vor ein paar Jahren angefangen, Taekwondo zu üben. In einem Anflug von Ignoranz und Hybris hatte ich alter Mann mir eingebildet, gegen die hübsche koreanische Meisterin gewinnen zu können. Immer noch klingen die Worte des Meisters in mir, als er mit unendlicher Wärme zu mir sagte: »Es gibt eine Möglichkeit, auf einem Weg zu gehen, ohne zu stolpern. Es dreht sich um Genauigkeit! Du hast Erfahrungen, du weißt, wie es geht. Du weißt alles, du musst die Welt nicht neu erfinden, wozu? Wende einfach an, was du selbst weißt!«

Ein Schritt in eine neue Richtung

Dieser Satz des Meisters: »Du weißt, wie es geht« und die Worte »Weg«, »Erfahrungen« und »Genauigkeit« hallen in diesen Morgenstunden auf der Holzbank in mir nach, wie der Klang einer schwingenden Stimmgabel. Wie einfach, wie banal, wie normal. Ja! Es ist eigentlich alles ganz einfach. Oder doch nicht?

Als Ko Eui-Min mir seinen schlichten Rat mitteilte, musste ich mein aufsteigendes Lachen unterdrücken. Es war die gleiche Situation, wie ich sie auch im Training schon oft erlebt hatte, wenn er uns beim Üben eines Fauststoßes oder des berühmten Schritts nach vorne unterbrach. Er stellte sich dann vor seinen hilflosen Schüler und forderte ihn mit strenger Stimme auf: »Gib mir die Hand!«

Häufig stand der Übende, der nicht selten ich selbst war, wie vom Donner gerührt da und fragte kleinlaut: »Wie bitte, ich verstehe nicht!? Hand? Welche Hand?«

»Wie machst du es, wenn du jemandem die Hand schüttelst, hm!? So?« Und mit diesen Worten imitierte der Meister die umständlich-kurvige Armbewegung seines Schülers.

Auch wenn es oft absichtlich komisch aussah, was der Meister uns vorführte, lachten wir Schüler nur, wenn wir uns dabei nicht über den Betroffenen lustig machten. Denn zu den obersten Gesetzen des Taekwondo zählen Achtsamkeit und Respekt, die nicht mit jener Schadenfreude vereinbar sind, mit der man sich als Beobachtender so leicht auf Kosten anderer über die eigene Unsicherheit hinwegrettet.

»Na, komm, mach schon, reiche mir die Hand, so, als würdest du mich begrüßen!«, wiederholte der weise Mann dann seine Aufforderung.

Der Schüler gehorchte. Er machte automatisch einen Schritt, während er die Hand reichte, weil er etwas zu weit entfernt stand. Der Meister erläuterte uns daraufhin, dass die Bewegung eines Fauststoßes und eines dabei möglicherweise vorzunehmenden Schrittes nicht viel anders funktioniert: »Nichts im Taekwondo ist anders, als im Leben. Aber dein Leben ist wahrscheinlich zu kompliziert. Sonst würdest du nicht so komplizierte Bewegungen machen. Wähle immer die natürlichste und die einfachste Bewegungsform. Diese Regel sollst du auch in deinem Leben beherzigen. Du musst alles einfacher machen! Kümmere dich endlich um dich selbst!«

Mit dem Klang dieser Worte in meiner Erinnerung erhebe ich mich von meiner Bank. Es drängt mich, nun diesen Schritt nach vorne zu tun, einen möglichst einfachen. Die Sonne schickt mächtige Strahlen über den Hügel. Die Welt um mich herum ist jetzt bereits lichterfüllt und wird jeden Augenblick heller und heller. Weiter unten sehe ich meinen Freund Karl, wie er aus einem mit Drachengebilden verzierten Rundbogen heraustritt. Das Gongschlagen des Mönches hat aufgehört, ohne dass ich bemerkt hätte, wann. Langsam spaziert Karl den Weg nach oben, in meine Richtung. Ich beobachte seine Bewegungen und wiederhole vorsichtig noch einmal meinen Schritt.

Unzählige Male habe ich ihn geübt, diesen Schritt. Ursprünglich hatte ich mir vorgestellt, dass eine Kampfkunst aus akrobatischen, hochkomplizierten Bewegungen besteht. Genauso, wie mir das Leben von frühester Kindheit an wie ein fast unbezwingbarer Berg erschienen war, musste dieser Kampfsport extrem schwierig sein. Das war der Grund, warum ich mein Leben lang einen riesigen Bogen um die Verwirklichung meines Kindheitswunsches gemacht hatte, den Wunsch, mich so bewegen zu können wie ein Taekwondo-Kämpfer, wie Bruce Lee zum Beispiel.

Praktisch von Geburt an hatte jeder versucht, mir die Welt zu erklären, immer mit dem Hinweis, dass ich zu klein, zu jung, zu unerfahren sei, um sie allein zu begreifen. Immerzu hörte ich: »Lass es dir sagen«, »Hör mir gut zu« und »Das verstehst du noch nicht in diesem Alter«. Damals muss sich bei mir die abstruse Selbsteinschätzung von geballter Unwissenheit verfestigt haben, mit der ich meiner Existenz über so viele Jahre gegenüberstand und die ich fortan mit nachgeäfften Phrasen und Ideen oder einem weisen Buch in der Hand zu kaschieren versuchte. Dass es etwas geben könnte, was ich sowieso schon wusste und gar nicht erlernen musste, konnte ich lange Zeit nicht einmal als vage Möglichkeit zulassen. Denn, über das wahre Wissen verfügten nur die Großen, die Eltern, die Chefs, die Philosophen. Ihnen haftete das Image des Wissens an. So erschien mir das Leben kompliziert und bedrohlich, und ich beeilte mich, Kulissen um mich herum aufzubauen. Ich wagte es nicht, mich so einfach und verletzlich zu zeigen, wie ich wirklich war. Wie sollte ich mich in so einer feindlichen Atmosphäre mit so etwas Normalem auseinandersetzen wie dieser Aufforderung »Kümmere dich um dich selbst!« und mit den Werten, die aus ihr resultierten?

Die Kernidee des Taekwondo geht von der Einfachheit und der Natürlichkeit der Dinge aus. Dieser Gedanke faszinierte mich schon bald nach meiner ersten Begegnung mit diesem Sport derartig, dass ich – wie übrigens viele, die ich dabei beobachtet habe – von einer neuen Leichtigkeit beflügelt wurde und schnell über den sportlichen Aspekt hinaus zu denken begann. Weisheit oder Wissen ist also nicht nur etwas, was man durch jahrelange Meditationsmarathons, den exzessiven Verbrauch von Räucherstäbchen oder durch ein lebenslanges Philosophiestudium erlangt. Vielmehr schlummert ein universales Wissen in jedem von uns, wirklich in jedem, auch im Dümmsten, im größten Pechvogel und im Allerunglücklichsten. Dieses Wissen ist wie eine Märchenprinzessin, die man mit dem richtigen Losungswort wachrufen kann. Unser Erfahrungsschatz lehrt uns, dass jedes Problem lösbar ist, und dass man als Mensch tief im Inneren praktisch alles weiß.

Du verfügst über alle Talente für ein glückliches Leben. Es sind die Werte des Lebens, die unser Leben lebenswert machen – eine Weisheit, dachte ich selbst lange Zeit, so alt wie banal, so oft gehört, dass sie nur noch als Binsenweisheit gelten konnte. Doch wer sie umsetzt, gewinnt seine Freiheit zurück und wird sein Leben selbst in die Hand nehmen.

Aus Erfahrungen lernen – ein eigenartiges Phänomen

Der Schritt, den ich auf dem Hügelweg beim Sang-Gaesa Kloster tue, stellt nicht nur die Basisbewegung für einen Angriff oder das Ausweichen im Kampf dar. Er ist nicht nur eines der wichtigsten Bewegungselemente in der koreanischen Kampfkunst und fast in allen Kampftechniken schlechthin. Er verkörpert viel mehr. Er ist das Erste, was wir als Kinder lernen, wenn wir uns aus der Vierfüßlerposition in die Vertikale aufgerichtet haben und sicher auf zwei Beinen stehen zu können. Der Schritt nach vorne, auf die Seite oder zurück bleibt während des gesamten Lebens die bedeutendste, körperliche Bewegung. Er ist die essenzielle Bewegung, um auf einem Weg zu gehen, um vom Fleck zu kommen. Darüber hinaus ist er eines der bedeutendsten Symbole für das menschliche Leben und Streben schlechthin. Und noch mehr: Der Schritt ist ein Sinnbild für die Einfachheit und den Weg des Lebens, auf dem man nur vorwärtsgeht, indem man Schritte tut. Allerdings geschieht ein Schritt nicht automatisch und eine Aneinanderreihung von Schritten erst recht nicht. Bereits in meinen ersten Taekwondo-Stunden lernte ich – nachdem ich mir einmal selbst auf den Fuß gestiegen war –, mir immer zu vergegenwärtigen, dass mein Gehirn nicht in den Beinen sitzt, sondern im Kopf.

»Weißt du noch im Mutterbauch?!«, fragte mich der Meister eines Tages lächelnd, als mir beim Training wieder einmal gar nichts gelang. »Dort hast du auch schon versucht, einen Schritt zu machen und gekickt und geboxt. Es waren deine ersten Bewegungen. Du weißt also, wie es geht. Tu es einfach!« Ich habe den Meister wohl etwas perplex angeschaut. Denn er fuhr fort: »Du musst dich selbst steuern, du bist der Kranfahrer, nicht dein Fuß und niemand sonst!«

Deine Erfahrungen liegen in dir, wende sie an! Mit ihnen löst sich das Rätsel der Schritte sofort: Bereits nach mehreren Schritten kannst du von deinem Weg abkommen, wenn du dich nicht für eine Richtung entschieden hast und nicht achtsam bist. Du musst mutig sein und handeln, du musst dich dem Weg aufschließen, der vor dir liegt, und du musst gleichzeitig die Richtung bestimmen, in die du gehst. Das Leben ist ein Weg, also gehe ihn. Im selben Moment, in dem du deine Wanderung aufnimmst, wirst du neue Erfahrungen machen. Sei daher offen und wach.

Es wird dir nicht erspart bleiben, dass du manchmal nicht weißt, was dich hinter einer Kurve erwartet. Du wirst vielleicht zaudern. Das ist der Moment, eine Entscheidung zu treffen: Soll ich weitergehen, oder soll ich stehen bleiben? Es gibt Menschen, die in so einem Moment in ihrem Leben für immer oder für lange Zeit stehen bleiben und sich nicht mehr vor und zurück bewegen. Sie verharren im Stillstand. In ihrer Angst vor der eigenen Entscheidung, der eigenen Selbstständigkeit und der Möglichkeit zu handeln, geben sie ihre Freiheit auf.

Traue dich, Fragen zu stellen. Es ist eine Illusion, dass das Lernen vorbei ist, wenn du die Schule oder die Universität verlässt. Oder wenn du volljährig bist. Doch scheint es so, dass genau dies die meisten denken. Woher kommt es sonst, dass die Menschen bis heute nicht gelernt haben, nach ihrer Erfahrung zu handeln: dass Kriege nichts bringen, dass Abgase das Klima kaputtmachen, Ölfirmen ohne Vorsichtsmaßnahmen kilometerweit ins Innere der Erde bohren (dürfen!). Wie ist es möglich, dass wir uns in endlosen Fernsehdebatten wie in einer Scheinaktivität verstricken, anstatt die Probleme auf der Basis unserer Erfahrungen vorurteilsfrei anzupacken. Diejenigen, die für diese Situation verantwortlich sind, verstoßen gegen sämtliche Werte, die es gibt, allen voran den der Achtsamkeit, und sie schaden mit ihrer Ignoranz und ihrem Egoismus unserer Welt und sich selbst. Nicht nur Menschen verharren ängstlich vor einer Kurve auf ihrem Weg, hinter die sie nicht blicken können. Ganze Gesellschaften schädigen sich selbst in ihrem zögerlichen Innehalten und setzen sich damit der allergrößten Gefahr aus: der Selbstzerstörung.

Karl ist nun bei mir angekommen. Er hat gesehen, wie ich den Schritt übte. Er lacht und legt seinen Arm auf meine Schulter: »Komm, schau mal, diese Blume hier. Lass uns einen Schritt auf sie zu tun!«

Am Wegrand, nicht weit von mir entfernt, erblicke ich hohes Gestrüpp, das auf den ersten Blick wie Unkraut aussieht. Deswegen habe ich wohl daran vorbeigeschaut. Irgendein Schalter in meinem Kopf muss automatisch auf »Unkraut« gesprungen sein, und meine Aufmerksamkeit hat sich sogleich wieder der perfekten Schönheit des buddhistischen Klosters, seiner Gärten, der Symbolik dieses Weges am anderen Ende des Tals und den Worten des Meisters während der aufregenden Tage dieser Koreareise zugewandt. Ich komme Karls Aufforderung nach und tue einen Schritt auf das Unkrautbüschel zu. Plötzlich sehe ich die violette Blüte, die fast unmerklich im Windhauch erzittert und soeben ihre Blätter reckt. Karl und ich sehen uns an. Ich glaube, unsere Herzen fühlen in diesem Moment etwas Ähnliches. Karl und ich, wir sind alte Freunde. Wir begannen gleichzeitig, die Kunst des Taekwondo zu trainieren, und das in nicht allzu jungem Alter. Seither werden wir immer wieder von den unendlichen Möglichkeiten überrascht, die sich uns eröffnen, wenn wir den Mut aufbringen, um in die Biegung des Weges zu gehen. Ich zeige auf den eigenartig gewundenen, sonderbar romantisch anmutenden Weg, der sich dort drüben auf dem Berg in Richtung Himmel windet.

»Man sieht nicht, wo er aufhört!«, murmelt Karl.

Der Mensch hat vermutlich das am höchsten entwickelte Gehirn aller Lebewesen. Man weiß es nicht sicher, aber es gibt keinen gegenteiligen Beweis. Dieses Gehirn verschafft ihm ein unvergleichliches Bewusstsein, mit dem er sogar seine eigenen Gedanken und Gefühle, ja sein gesamtes Leben beobachten kann. Er kann nach einer durchlebten Erfahrung entscheiden, was er daraus macht. Aber er weiß nicht, wie lange er lebt, was die Zukunft bringt und wann das Ende kommt – fast immer ganz plötzlich und unvorhergesehen. Mit diesem Rätsel, dieser ungewissen Komponente müssen wir leben. Sie ist die essenzielle und geradezu dramatisch offenstehende Frage. Dennoch hat der Mensch eine Gesellschaft gestaltet, als wäre er befähigt, unendlich zu leben und als stünden ihm grenzenlose Ressourcen zur Verfügung.

Wir wissen von der Unumstößlichkeit dieser Tatsache, dass unser Leben irgendwann aus ist. Doch wir leugnen sie, wie kleine Kinder, die etwas, was ihnen nicht passt, nicht wahrhaben wollen. Wir scheinen unfähig zu sein, unsere Erfahrungen, die wir nur durch unser Bewusstsein erkennen können, wirksam anzuwenden, und zwar konsequent und im Hinblick auf die schwerwiegendste und unabänderlichste Tatsache überhaupt, mit der wir konfrontiert sind: die Endlichkeit unseres Daseins.

Der Mensch hat alle Instrumente, um sich gezielt weiterentwickeln zu können. Sie basieren auf seinen Erfahrungen und seinem Wissen. Aber er nutzt sie für sich selbst, im Privaten wie im Gesellschaftlichen, kaum. In den Naturwissenschaften beispielsweise wird die Fähigkeit systematischer Erforschung konsequent eingesetzt, um bestimmte Ziele zu erreichen und weiterzukommen. Hier werden Wege begangen, nachdem Ziele gesteckt worden sind. Doch welches Ziel verfolgen wir für uns, unsere menschliche Gesellschaft?

Nur, wer ein Ziel hat, tut auch einen ersten Schritt in seine Richtung. Sonst eiert er sprichwörtlich vor sich hin. Ein Kind macht seinen Schritt nur wegen seines Zieles, weil es nach etwas greifen will, vielleicht nach der Hand der Mutter oder einem Spielzeug. Auch Erwachsene haben ihre Ziele. Doch im Vergleich zu dem Griff nach der Welt eines sich aufrichtenden Kindes sind die Ziele eines Erwachsenen oft geradezu kümmerlich. Er geht ins Büro oder will jemanden besuchen. Er möchte ein Projekt verwirklichen und danach das nächste. Oft genug ist das Ziel seiner Träume der Feierabend, das Wochenende, der Urlaub, die Rente. Der Erwachsene erlernt einen bestimmten Beruf und ärgert sich später über ihn, allerdings ohne etwas zu verändern. Er versucht, eine freie Gesellschaft zu erhalten, und wählt deswegen eine demokratische Partei. Doch genau in diesen Handlungen erschöpft sich seine gesamte Freiheit. Er ist erstarrt im Kollektivschrecken über die Zeit der Diktatur, der Armut und voller Angst, mit so etwas Verstaubtem wie Werten oder so etwas Riskantem wie einer neuen Erfahrung die errungene Freiheit und den Wohlstand zu gefährden. Irgendwo in diesem Breitengrad scheint unsere Entwicklungsbereitschaft aufzuhören. Die Komplexität des Lebens und seiner Endlichkeit bleiben unberücksichtigt. Vor uns liegt eine Kurve auf dem Weg. Stillstand. Was verbirgt sich dahinter? Jetzt ist der Moment, der dringend nach einer Entscheidung über unsere Ziele und nach konsequentem Handeln verlangt. Das Leben funktioniert nicht automatisch, es gibt kein Laufband, das uns um die Ecke führt.

Ich selbst empfand den Zustand von Passivität und Sattheit in meinem Leben irgendwann als unerträglich. Das kann doch nicht wahr sein, ist das alles?! – so sah meine Grundstimmung aus. Daher zog ich nach zwei verflogenen Jahrzehnten Karriere mit Hochs und Tiefs die Reißleine. Mein gesamtes Leben sollte sich verändern. Ich bin beim Taekwondo gelandet, einer Kampfsportart, in der Werte praktiziert werden. Das Taekwondo wurde für mich zu einer lebendigen Metapher für mein eigenes Leben und die Probleme, mit denen ich konfrontiert werde.

Obwohl mein Alter nicht gerade dafür sprach, mich mit anderen zu prügeln, meine Knochen bereits verrostet waren und der sogenannte gesunde Menschenverstand davon abriet, entschloss ich mich zu einer ersten Trainingsstunde, einer Art Probestunde. Begleitet von meinem alten Freund Karl, der das gleiche Wagnis bereits ein paar Wochen früher eingegangen war, begab ich mich in den Dojang, die Trainingsstätte des koreanischen Großmeisters Ko Eui-Min.

Vor dem Besuch meines ersten Trainings befand ich mich zunächst in einem Zustand heftiger Aufregung, als würde ich schwer verliebt dem ersten Rendezvous mit einer Angebeteten entgegenfiebern. Es kribbelte in meinem Magen, und meine Sinne waren gespitzt wie Bleistifte, denn ich hatte beschlossen, um die Kurve des Weges zu gehen und neue Erfahrungen zu machen. Ich brach ins Unbekannte auf.

Kämpfen lernen, um nicht kämpfen zu müssen

Ein sagenhafter Ruf eilte dem koreanischen Großmeister voraus, dem ich nun erstmals begegnen sollte. Vor über fünfzig Jahren hatte Ko Eui-Min als junger Idealist die Impulse verschiedener sich nach Frieden sehnender koreanischer Generäle aufgegriffen. Nach all den Jahrhunderten, in denen ihr Land pausenlos von verheerenden Kriegen überzogen worden war, machten sich koreanische Kämpfer erstmals daran, die Philosophie der Perfektionierung der Kampftechnik Taekwondo mit dem Ziel einer friedlichen Welt zu verbinden.

Der waffenlose Kampf stellt die letzte Chance eines Menschen in einem Krieg dar. Der waffenlose Kampf ist der Inbegriff des Kampfes schlechthin. Er verkörpert gleichermaßen als lebendige Metapher und leuchtendes Symbol einen zurückgelegten Lebensweg. In ihm erweist sich in schicksalhafter Weise die wirkliche Perfektion gelernter Fähigkeiten, der Grad der Harmonie zwischen Körper und Geist, die Früchte einer vollen Ausschöpfung der Möglichkeiten, die das Leben anbietet. In ihm wurzelt der Kernsatz der Taekwondo-Philosophie, die Kampftechnik zu perfektionieren, um nicht mehr kämpfen zu müssen. Kämpfen tut nur, wer es nötig hat.

Je mehr sich Körper und Geist in Harmonie und in maximaler Beherrschung ihrer Fähigkeiten befinden, desto unbezwingbarer wird ein Mensch. Unter Unbezwingbarkeit versteht man in der koreanischen Taekwondo-Philosophie und zahlreichen fernöstlichen Denkungsweisen die Abwesenheit der Notwendigkeit, zu kämpfen. Das erreicht man aber nicht, indem man sich nicht ums Kämpfen kümmert.

In zahlreichen Trainingserfahrungen sollte ich im Laufe der Zeit lernen, was es tatsächlich heißt, zu kämpfen. Dabei hatte ich jahrelang in meinem beruflichen und privaten Leben gedacht, längst alles darüber zu wissen. Zwar hatte ich mich im Beruf schwer verschanzt. Mit E-mails, Blindcopys und geliehenen Images als Waffen kämpfte ich um Erfolg. Scharfe Worte waren meine Lanzen gewesen und meine Hintergedanken das Gift auf ihrer Spitze. Sie hatten mich, wann immer ich mich ihrer bediente, in düsteres Fahrwasser geführt. Und obwohl mir das mehr als klar gewesen war, gab ich mich über viele Jahre hinweg diesen Grabenkämpfen in meinem Leben immer wieder hin. Ich war virtuos darin, Begründungen zu erfinden, warum andere die Arschlöcher waren und nicht ich. Am sichersten war mir dieses Spiel immer beim Autofahren von der Hand gegangen. Da waren nur noch Idioten und Dreckskerle unterwegs, und ich konnte mich über Gaspedal, Bremse und Stimme ungestraft entladen, wie ich wollte. Damit besiegte ich mich in Wirklichkeit jedes Mal selbst. Ich hatte mich bezwungen.

Großmeister Ko Eui-Min begann vor fünfzig Jahren in dem von Hungersnöten und Armut geschüttelten Nachkriegskorea, die ehemals unter Banden und in Dörfern praktizierten Kampftechniken mit einem sportwissenschaftlichen Studium zu verbinden und zu systematisieren. In seinem ersten Trainingsstudio in Seoul formte er aus den verschiedenen technischen Strömungen, die sich in Jahrhunderten ausgebildet hatten, ein neues Konzept.

Der erste Dojang (Trainingstätte) von Ko Eui-Min war sehr klein, und der Zulauf zu dem Meister enorm groß. Der Koreaner zog mit seinen modernen Taekwondo-Ideen viele Menschen an. Den maximal 40 Übenden blieb auf den knapp 60 Quadratmetern während ihres Trainings fast kein Platz zum Ausweichen. Das Studio war nahezu rund um die Uhr ausgebucht. Die räumliche Situation im Dojang Nr. 1 des modernen Taekwondos spiegelte wie ein Sinnbild zwei der bedeutendsten Aspekte zwischenmenschlicher Beziehungen im Leben wie auch im Kampf wider: Nähe und Distanz. Je näher man sich in einem körperlichen – aber auch in einem geistigen Kampf – kommt, desto schwerer beherrschbar wird die Situation. Wie soll man sich verhalten, wenn der Bewegungsradius fast auf null reduziert ist? In Reaktion auf die scheinbar unlösbare Frage übernehmen oft die Gefühle das Zepter. Plötzlich haut man einfach irgendwie drauf. Im täglichen Leben wird man böse oder gemein. Verletzende Handlungen resultieren aus verzweifelten Befreiungsschlägen in beengenden Situationen. Das gilt auch für einzelne Menschen, die sich innerlich derartig gefangen fühlen, dass sie mit Gewalt ausbrechen. Amok ist eines der möglichen Resultate. Zu eng geführte Liebesbeziehungen enden nicht selten abrupt, als wäre ein innerer Sprengkörper gezündet worden. Manche Menschen versuchen mit Alkohol oder anderen Drogen aus der Enge, aus der zu großen Nähe auszubrechen.

In meinem Freikampf mit Chy-Eun in der Kyung Hee-Universität hatte ich alle Möglichkeiten gehabt auszuweichen. Freikampf bedeutet, dass wir alle trainierten Techniken in einem simulierten Kampf frei ausprobieren. In diesem Fall war es ein Kampf mit Vollkontakt gewesen, was bedeutete, dass auch herbe Körpertreffer vorkommen können. Deshalb trugen wir Schutzwesten. Zwar hatte ich um mich herum ausreichend Platz, um mich vor ihren Kicks in Sicherheit zu bringen. Doch meine inneren Dämonen, die mich drängten, es »Besser! Fantastisch! Perfekt!« zu machen, beherrschten mich von Beginn des Kampfes an. Sie erzeugten ein klaustrophobisches Gefühl von platzender Enge in mir, so dass ich sogar meine neue Stimme überhörte. Dazu kam der Druck der Zuschauer, die Chy-Eun und mich mit lauten Rufen anfeuerten. Und mein Wunsch, wie Bruce Lee zu wirken, möglichst tolle Kicks zu fabrizieren, so dass Chy-Euns Hände in den meinen honigweich schmelzen würden, wenn ich sie bei dem von mir geplanten Dinner ergreifen würde. All dieser Gedankenwirrwarr hat in einem Kampf nichts zu suchen. Ich hatte mich selbst auf jede nur erdenkliche Weise eingeengt und den Erfolgsdruck bis ins Unerträgliche gesteigert, nicht zum ersten Mal in meinem Leben. Entsprechend unkoordiniert explodierten die Kicks aus mir heraus: schlecht getimt, furchtbar unkoordiniert – ganz wie bei einem verzweifelten Befreiuungsschlag.

Im Kampf lässt sich eine erlernte Technik nur schwer anwenden, wenn man zu nah oder zu weit entfernt vom Gegner steht. Entweder fehlt es an Platz zum Ausholen, oder man kommt an den Gegner nicht heran. Es besteht keine Möglichkeit, sich für einen Moment zu besinnen, um Augenmaß zu nehmen. Aus dem Umstand der Platznot systematisierte Ko Eui-Min neue Techniken des Taekwondo und verfeinerte seine Philosophie. Deutlicher als andere zuvor erkannte er die Notwendigkeit der geistigen Reife. Er entwickelte als Erster Techniken für die Veränderung des Standpunktes. Aus dem berühmten »Schritt nach vorne« formte er die Step-Variationen des modernen Taekwondo und setzte damit weltweit einen neuen Standard. Bei öffentlichen Wettkämpfen lachte man zunächst über die Schüler dieses Meisters, die sich tänzelnd und mit flinken Schritten nach vorne, zurück oder zur Seite bewegten. Obwohl das Aus- oder Zurückweichen für manche Menschen als unkämpferisch gilt, entwickelte Ko gerade dafür zahlreiche Bewegungsabläufe. So etwas hatte man noch nicht gesehen. Das Resultat dieser weiterentwickelten Taekwondo-Technik war, dass Ko ein regelrechter Weltmeistermacher wurde. Keiner hat jemals so viele Worldchampions trainiert oder Meister ausgebildet, die selbst wieder Weltmeister trainierten, wie Großmeister Ko Eui-Min.

Vor fünfzig Jahren stand Ko eines Abends während eines Essens in einem Seouler Restaurant auf und forderte amerikanische Soldaten zum Kräftemessen auf. Obwohl der deutlich kleinere, zierliche Mann über weitaus weniger sichtbare Muskelkraft

Lektorat: Anja Freckmann

Copyright © 2011 by Ludwig Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Innenfotos: www.karlkramer.com

Satz: Leingärtner, Nabburg

eISBN 978-3-641-06224-8

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