Ich komme - Christian Seidel - E-Book

Ich komme E-Book

Christian Seidel

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Beschreibung

Ich komme ist eine Offenbarung, eine Enthüllung – noch nie hat ein Mann so frei von seiner Sexualität erzählt.
Christian Seidel durchbricht das Schweigen, das dieses Thema umgibt, und schildert auf berührende Weise, was in ihm (und ganz ähnlich im Körper, der Seele und den Gedanken anderer Männer) beim Sex vorgeht: vom Erwachen erster sexueller Regungen als Junge bis zu den erotischen Erlebnissen des gereiften Liebenden – mit allen Hemmungen und Ängsten, Sehnsüchten und Glücksgefühlen, die mit unserer Sexualität einhergehen. So rückhaltlos und radikal er seine eigenen Empfindungen, Gefühle und Gedanken offenlegt, verletzt er doch nie die feine Grenze zwischen sensibler Innenschau und intimer Entblößung. Eine unerhörte Selbsterfahrung – und zugleich ein kritischer Blick auf den gesellschaftlichen Umgang mit Erotik und Sinnlichkeit in einer Welt, die mit unserem Verlangen Geschäfte macht.
Ein aufrüttelndes Buch, das dazu anregt, uns über unser Verhältnis zu uns selbst, zu unserem Körper und zu denen, die wir lieben und begehren, klarzuwerden.

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Zum Buch:

Ich komme ist eine Offenbarung, eine Enthüllung – noch nie hat ein Mann so frei von seiner Sexualität erzählt.

Christian Seidel durchbricht das Schweigen, das die Sexualität des Mannes umgibt, und schildert auf berührende Weise, was in ihm (und ganz ähnlich im Körper, der Seele und den Gedanken anderer Männer) beim Sex vorgeht: vom Erwachen erster sexueller Regungen als Junge bis zu den erotischen Erlebnissen des gereiften Liebenden – mit allen Hemmungen und Ängsten, Sehnsüchten und Glücksgefühlen, die mit unserer Sexualität einhergehen. So rückhaltlos und radikal er seine eigenen Empfindungen, Gefühle und Gedanken offenlegt, verletzt er doch nie die feine Grenze zwischen sensibler Innenschau und intimer Entblößung. Eine unerhörte Selbsterfahrung – und zugleich ein kritischer Blick auf den gesellschaftlichen Umgang mit Erotik und Sinnlichkeit in einer Welt, die mit unserem Verlangen Geschäfte macht.

Ein aufrüttelndes Buch, das dazu anregt, uns über unser Verhältnis zu uns selbst, zu unserem Körper und zu denen, die wir lieben und begehren, klarzuwerden.

Autor:

© Florian Seidel

Christian Seidel zählt zu den bekanntesten Autoren für Genderthemen und Selbsterfahrungsprojekte. In seinem Bestseller Die Frau in mir beschreibt er den mehrjährigen Selbstversuch, in die Rolle einer Frau zu schlüpfen. Unter dem Titel Christian und Christiane wurde das Projekt für Arte verfilmt. Im Nachfolgewerk Gender-Key setzt sich Seidel kritisch mit den Geschlechterklischees auseinander. Sein vielbeachtetes Film-Epos Himmlische Hundert porträtiert die Menschen, die Anfang des Jahres 2014 auf dem Maidan-Platz in Kiew von Regierungsmilizen ermordet wurden.

Seit Jahren beleuchtet der in München und Italien lebende Schriftsteller den Widerspruch zwischen Image und Wirklichkeit, insbesondere zu Genderthemen. In den 90er Jahren war Christian Seidel einer breiteren Öffentlichkeit als Medienmanager und Filmproduzent bekannt geworden. Er hat Theaterwissenschaften und asiatische Philosophien studiert.

CHRISTIAN SEIDEL

ICH KOMME!

WAS MANN BEIM SEX FÜHLT EINE GRENZÜBERSCHREITUNG

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Originalausgabe 02/2018

© 2018 by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich

Umschlagfoto: © Florian Seidel

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN 978-3-641-19492-5V002

www.heyne.de

Inhalt

Sprechen wir über Sex – ein Vorwort

Die Weite und wie das Trennende sich auflöst

Erregungsspiele und warum Sex keine Teilzeitaktivität ist

Eindringen ist nicht nur etwas für Diebe und wie ich zum ersten Mal davon erfuhr

Liebe und Sex führen ein voneinander losgelöstes Dasein

Erste Schmelzversuche

Das erste Mal »richtig« – schlecht gelungen

»Ficken« und andere Liebessprachen

Warum Sex kein Geschlecht hat und was Muschisäfte verraten

Warum glückliche Frauen besser schmecken

Das Ende der erotischen Selbstverständlichkeit und die Funktionalisierung des Orgasmus

Sex fühlen und die innere Haltung zur Erotik

Verschiedene Arten des Blasens und die Spannung vor der ersten Berührung

Stillhalten ist nicht Sex, Bewegung aber auch nicht

Der Liebesakt ist eine Tür, und eine Eichel ist kein Lustzentrum

Feine und weniger feine Perversionen

Anziehung und Nähe sind beziehungsfreie Energien

Wo kommen: drinnen, draußen, wohin nur?

Das süßsaure Gift der Phantasien und die tiefsten Küsse

Lust kennt keine Grenzen

Das Herz bumst mit – auch ohne mich

Innerer und äußerer Sex

Kleine wehleidige Passage mit Mond

Minenfeldsex, Sperma und ein Hygieneproblem

Jungfrauen aus Elfenbein

Die männliche Geschlechterrolle macht tiefen Sex kaputt

Entlustifizierte Zeit

Orgasmus – Sinneswelt ohne Trennungen

Vögeln mit oder ohne Sex

Sex braucht keine Beziehungsform, Liebe erst recht nicht

Ich komme? Aber ich bin doch schon da!

Besenkammern vs. Fruchtbarkeitsbiotope

Spermageiz, riesige und magere Gewinne

Nachruf auf das unschuldige Wichsen

Die Produzierbarkeit von Glück

Das entscheidende Mal

Spielerische Unterwerfung oder Der Kampf gegen die Unlust

Ein launenhafter Schwanz

Innere Ermahner

Spielzeug mit Folgen

Frauen sind Sterne, viele von ihnen auch

Augensex

Die Störanfälligkeit von gutem Sex

Wunderorgasmus

Ernsthafte Konzentration aufs Döschen

Auch Spermien haben Tage

Ein Jahr später

Dank

Weiterführende Lektüre

Anmerkungen

Sprechen wir über Sex – ein Vorwort

Männer reden nicht über Sex, allenfalls kalauern sie. Das war bei mir nicht anders: Hier erzähle ich zum ersten Mal von meiner Sexualität. Über Sex zu sprechen war nie ein essentieller Bestandteil meines Lebens. Mit Freunden habe ich es nicht gemacht, auch in meiner Familie nicht. Mit Lebensgefährtinnen habe ich mich höchstens punktuell darüber ausgetauscht, und alles in allem eher selten. Was wir beim Sex fühlen, war kaum je ein Gesprächsthema.

Dabei sind wir in unserem Zusammenleben wie eine Art riesengroße »Selbsterfahrungsgruppe«: Es geht nur miteinander und nur mit kommunikativem Austausch – und das gerade bei dem wichtigsten Thema unseres sinnlichen Lebens. Dazu gehört, dass einer damit anfängt, von sich selbst zu erzählen.

Dieses Buch zu schreiben war wie ein Ausbruch. Als Mann von der eigenen Sexualität zu erzählen kommt mir so vor, als würde ich mich in ein hermetisch abgeriegeltes Sperrgebiet begeben. Das zeigt auch die sprachliche Trockenwüste, die darin herrscht.

Über die abstrusesten Themen unterhalten wir uns in epischer Breite. Wir lassen uns über alles aus, was uns gefällt und was uns ärgert. Aber warum sind wir – und ganz besonders die Männer – nicht in der Lage, uns über unsere Gefühle, auch die beim Sex, genauso virtuos zu verständigen wie über die Beschaffenheit eines guten Rotweins oder die Zubereitung der besten Spaghetti all’arrabbiata? Verdient die schönste Sache der Welt nicht mindestens ebenso viele Worte wie der nächste Urlaub auf der Palmeninsel oder die Flüchtlingskrise?

Wenn es überhaupt Worte zum Thema Sex gibt, sind es zumeist entweder wissenschaftlich-technische Worte oder »schmutzige« Begriffe. Die meisten dieser Alltagswörter werden heute ganz anders verwendet als in ihrer ursprünglichen sprachlichen Bedeutung – in der Regel hat eine Begriffsverengung stattgefunden. Mit dem Ergebnis, dass es jene sprachliche Vielfalt, die wir von anderen Themen kennen, beim Sprechen über Sex nicht gibt.

Hinzu kommt der Einfluss der Pornoindustrie. Das endlose Dauerzappen stereotyper Pornovideos verursacht eine Art sexuellen Visualsturz, ähnlich einem Hörsturz; das Ergebnis ist nicht nur eine Fixierung auf bestimmte sexuelle Praktiken, sondern auch auf ein verengtes Rollenbild, das in ständiger Wiederholung vermittelt, wie Frauen und Männer zu sein haben und was sie vermeintlich mögen. Unmittelbar betroffen davon sind fast nur Männer als Hauptkonsumenten dieser Filme. Manche masturbieren nur noch oder bumsen so ritualisiert und stereotypisiert, wie sie es in den Pornos sehen. Unbefangenheit und Offenheit im Umgang mit Frauen entstehen auf diese Weise nicht.

SÜCHTIG NACH PORNOS?

Einer Studie zufolge sollen in Deutschland über 560000 Menschen internetsüchtig sein,1 geschätzte 400000 seien internetsexsüchtig.2 Die Zahl der Nutzer des Pornoangebots im Internet liegt deutlich höher: So geben 50 Prozent der Schweizer Männer an, regelmäßig Pornos zu konsumieren.3 In einer privaten Umfrage gaben es mir gegenüber zehn von zehn Befragten zu. Über 70 Prozent der Pornokonsumenten sind männlichen Geschlechts.4

Angesichts dieser virtuellen Sexwelt ist es umso notwendiger, die Worte zu finden, um uns über unsere tatsächliche Sexualität zu verständigen. Aber auch bei dem in der Öffentlichkeit geführten Genderdiskurs fehlen Ansätze, sich mit den Gefühlen von Männern beim Sex zu beschäftigen. Wie kann man über das Zusammenleben der Geschlechter sprechen, wenn die treibende Kraft des männlichen Geschlechts aus unserer Kommunikation ausgeklammert wird?

Während meines Selbstversuchs, für eine längere Zeit als Frau zu leben, den ich im Buch Die Frau in mir5 beschrieben habe, und bei der sich daran anschließenden Arbeit über Geschlechterrollen und -klischees (Gender-Key)6 ist mir aufgefallen, wie abstrus männliche Sexualität oft betrachtet wird: als würden Männer beim Sex weniger fühlen als Frauen – als empfinde der Mann seinen Orgasmus nur in der Eichel – als wäre der männliche Orgasmus sowieso nur »kurz, stark, plumps«, wie mir eine Frau sagte … Dazu passt, dass ich von nicht wenigen Bekannten weiblichen und männlichen Geschlechts gewarnt wurde, mir die Bürde eines solchen Themas aufzuhalsen, schließlich könne man über den Orgasmus des Mannes nicht mehr schreiben als »zehn Zeilen« (mehrfacher O-Ton).

Zu meiner Motivation kam also eine gehörige Portion Trotz hinzu. Im ersten Anlauf landete ich bei knapp 400 Seiten über mein sexuelles Erleben. Davon kürzte ich 100, und es blieben über 200 Seiten alleine über meinen Orgasmus, die restlichen 100 über das Davor und Danach, das natürlich mit dazugehört. Offenbar sind die männliche Sexualität und die sexuellen Gefühle der Männer viel mehr als gemeinhin angenommen (und sowieso mehr als die sekundenzuckenden Leiber der Pornoindustrie, die ihre Produkte nur zu gern als Ausweis einer freien Gesellschaft verstanden wissen möchte).

Ich bin überzeugt, dass wir mehr über unsere Sexualität und unsere Gefühle sprechen müssen. Wir haben es dringend nötig. Jedes Thema in unserem Leben erfährt eine neue Dynamik, wenn Worte hinzukommen, was übrigens neurologisch nachzuweisen ist. Denn Worte in Verbindung mit Erfahrungen schaffen neuronale Verbindungen im Gehirn, sie prägen sozusagen bestimmte Klischee-Eindrücke, und in diesen Assoziationswelten werden diese Eindrücke auch wieder wachgerufen, wenn die entsprechenden Worte fallen. Je mehr Worte es zu einem Lebensthema gibt, desto vielfältiger und freier werden wir demnach im Umgang damit. Bezeichnenderweise sagt die Eigenart der Worte, die es zu einem Thema gibt, daher viel über unseren Umgang damit aus. In Sprache manifestiert sich die Dynamik des menschlichen Zusammenlebens. Nur wenn wir die Sprachlosigkeit überwinden, können wir den Trend zur Abspaltung der Sexualität von unserem Leben stoppen.

Sexualität als universelle Energie unseres Zusammenlebens brauchen wir dringender denn je. Nicht die Liebe, die mir dafür als zu flüchtig erscheint, nicht irgendwelche äußerlichen Umgangsformen, sondern unsere gefühlte Sexualität ist das Bindemittel zwischen uns Menschen. Zerstören wir sie, werden wir uns immer mehr voneinander isolieren. Die menschliche Berührung schließt die körperliche mit ein, die zugleich auch eine geistige und seelische ist. Sie ist eine maßgebliche Quelle unserer ureigensten und unverwechselbaren Fähigkeiten: der Empathie, der Liebe, der Intuition, der Kreativität und letztlich auch der Intelligenz. Und natürlich betrifft Sexualität als Berührung auch unsere Gefühle. Doch die gesellschaftliche Entwicklung ist gegenläufig, und sie ist weit fortgeschritten. Wenn wir zulassen, dass diese Fähigkeiten und Eigenschaften aus unseren Begegnungen ausgegrenzt werden, können wir uns gleich den Maschinen einer fast schon greifbaren Zukunft überlassen. Sie sorgen für Orgasmen, die man nach Belieben in Orgasmus-Apps einstellen kann, befruchten Frauen, melken den Männern das Sperma heraus. Wir werden vereinsamen, stumpf gegenüber anderen und hoch aggressiv werden, weil uns mit der emotionalen Sexualität zugleich das Bindeglied und die Balance unseres Zusammenlebens abhandenkommen. Auch das erfordert, dass wir darüber sprechen, also den Diskurs.

Ich will das, was ich sagen will, nicht anhand von wenigen ausgewählten Beispielen aus meinem Leben beschreiben. Es geht um das ganze Bild, nicht um Ausschnitte, es geht um die Entwicklung des sexuellen Erlebens, mehr noch: Es geht um die Ausbildung unserer Persönlichkeit und wie sie durch Sexualität bedingt wird – das alles ist miteinander verflochten. Meine Sexualität besteht – wie die Sexualität jedes Mannes (und natürlich auch die Sexualität jeder Frau) – nicht aus einem oder zwei gepflegten metaphorischen Ereignissen, sondern aus einem gelebten Leben. Deshalb habe ich mich darauf eingelassen, das ganze Leben zu erzählen, von den ersten sexuellen Empfindungen bis zum erotischen Leben als Erwachsener und meinen Erfahrungen mit der Reproduktionsmedizin. Dazu gehören auch die Verhaltensregeln, die Eltern und Umwelt uns mit auf den Weg geben – von denen »Darüber spricht man nicht« eine der vielleicht prägendsten ist, die fatale Rückwirkungen auf unsere Sexualität haben kann.

Logischerweise spielen die Partnerinnen eine bedeutende Rolle. In meinem Leben gab es mehrere Frauen, das soll in über dreißig Jahren durchaus vorkommen. Nichts an den geschilderten Begegnungen mit ihnen ist erfunden, alles hat sich so zugetragen. Nur ihre Namen und Persönlichkeiten wie auch die Umstände unserer Begegnung habe ich zu ihrem Schutz so weit nötig fiktionalisiert und mitunter vollkommen unkenntlich gemacht. Ich empfinde größten Respekt und Liebe für sie.

Es geht mir nicht darum, diese Partnerinnen vorzuführen oder mich selbst zum Casanova zu stilisieren; weder bin ich Macho noch Narziss, noch Exhibitionist oder Pornograf. Es geht mir um radikale Offenheit und Ehrlichkeit, nicht um erotische Schilderungen um ihrer selbst willen. Wenn auf den folgenden Seiten einige erotische Begegnungen detailreich berichtet werden, so liegt das in der Natur der Sache: Wie sollte man das Schweigen durchbrechen, das unsere Sexualität umgibt, ohne darüber zu sprechen, was unsere Sexualität und damit uns als geschlechtliche Wesen ausmacht: die vielen Spielarten des Sex, unsere sexuellen Erfahrungen, Wünsche und Phantasien?

Mein Traum wäre, dass dieses Buch zweierlei erreicht: Dass es dazu beiträgt, die Wahrnehmung und das Verständnis der männlichen Sexualität wieder mehr ins Zentrum des Fühlens und des Herzens zu rücken. Und vor allem: Dass wir miteinander darüber ins Gespräch kommen und Worte finden, wo sonst Sprachlosigkeit und Sprechverbote herrschen.

Ist es nicht so, dass die Sexualität selbst pur und ungeschliffen ist? Der altrömische Dichter Ovid sagte einmal: »Die Liebe befahl mir zu schreiben, worüber ich mich schämte zu sprechen.« Warum sollten wir zweitausend Jahre später darüber anders sprechen als frei?

München, im November 2017

Christian Seidel

Sex

ist ein Lebewesen.

Ich kann mich mit ihm verbinden

oder auch nicht.

Es lebt notfalls auch

ohne mich weiter.

Ich aber nicht.

Die Weite und wie das Trennende sich auflöst

Dass meine Lust auf eine Frau plötzlich versiegen, genauso aber wie aus dem Nichts im Raum stehen kann, ist mir nur allzu vertraut. Aber auch rätselhaft. Dieses jähe Kommen und Verschwinden, es kann auch in ungeahnten Momenten geschehen, in den ungelegensten Situationen sogar, nicht nur wenn ich mit einer »Lebens«-Partnerin zusammen bin, sondern auch bei einer ganz unbekannten Frau oder wenn ich alleine bin. Dass mein sexuelles Erregtsein nicht an eine Beziehungsform geknüpft oder überhaupt an einen bestimmten Menschen gebunden ist, sondern fast wie ein selbstständiges Wesen handelt, wurde mir schon früh in meinem Leben unmissverständlich klar. Dies muss ich vorausschicken, bevor ich alles von mir erzähle, denn das ist eine entscheidende Wahrheit über mein sexuelles Empfinden – und nicht nur über meines.

Nur: Was tun damit? Überall Sex haben, wo und von wem man gerade erregt ist? Das geht doch nicht, es ziemt sich nicht, es widerspricht dem Ideal der Paarbeziehung, ja es ist eines der härtesten Verbote in unserem Zusammenleben. Und ich will es auch gar nicht. Ich habe kein gesteigertes Bedürfnis danach, sondern schon eher nach der Tiefe des sinnlichen Erlebens mit einer einzigen Partnerin. Aber da sind eben auch die Sinne, die sich nicht einsperren lassen. Wann und wie ich erregt bin, geht weit über eine Beziehung hinaus, ohne dass es diese aber gefährdet oder einschränkt. Und es geht nicht nur um dieses wohlige Gefühl im Unterleib, denn wenn es so plötzlich auftritt, ist es überall in mir, ich fühle es durch das Pochen meines Herzens, den stockenden und schwerer werdenden Atem, die sich verschärfende Wahrnehmung mit den plötzlich intensivierten Geruchs- und Gefühlseindrücken – und durch ein kleines, schnell keimendes Verliebtsein. In solchen Momenten kann ich mich in alles verlieben, auch in einen Baum, in ein Glas Wein oder eben in die Augen einer Frau, auch wenn ich gerade in einer Beziehung mit einer anderen bin. Von diesem Phänomen erzählte ich einmal meiner ehemaligen Freundin Jule.

»Du bist also fürs Fremdgehen, oder wie?«, hakte sie ein. Wir waren schon über zwei Jahre nicht mehr zusammen, und unsere Beziehung nannte sich jetzt »eine gute Freundschaft«.

»Nein, so würde ich es nicht sagen«, entgegnete ich. »Darum dreht es sich doch auch gar nicht. Ich wollte nur ganz offen etwas von mir erzählen. Immerhin hast du mich danach gefragt. Nach meinem Sex, meinen Gefühlen.«

Ich war sauer. Wie immer, wenn ich mich mit Äußerungen über meine Sexualität etwas weiter vorgewagt hatte, zog ich mich gleich wieder zurück. Ein sperriges Thema stand plötzlich überdimensional im Raum. Jule und ich saßen uns in jener Nacht auf dem hellbeigen Ledersofa in meinem Wohnzimmer gegenüber. Wir hatten uns einfach so zum Plaudern getroffen. Wie schon so oft – einst als Liebespaar, heute als Freunde. Abgesehen von der Beziehungsform war eigentlich gar nichts so viel anders. Die Gefühle, zumindest bei mir, waren die gleichen. Ihre warmen Füße lagen an meinen, nur dass wir früher, angeregt durch dieses zarte Gefühl körperlicher Nähe, ziemlich bald miteinander geschlafen hätten – doch heute waren wir ja nicht mehr zusammen. Ihre Wärme zu spüren liebte ich aber immer noch genauso.

Es war Hochsommer, die Fenster standen sperrangelweit offen, Jule in einem langen, cremeweißen Kittel, ein Wasserglas in der Hand. Ich halb nackt, ein dunkelblaues Tuch um die Hüfte, leicht angetrunken vom Rotwein. Jule stillte in dieser Zeit ihr Kind und hatte das ein paar Monate alte Mädchen mitgebracht; es lag friedlich im Nebenzimmer und schlief tief und fest. Trotz beendeter Liebesbeziehung war unsere körperliche Vertrautheit präsent wie eh und je. Bedeutete das aber auch, dass da tatsächlich keine Erotik mehr zwischen uns war? Oder nicht mehr sein durfte? Oder etwa doch?

Ich selbst befand mich gerade in einer sich etwas in die Länge ziehenden Flirtphase mit einer möglichen neuen Freundin. Zwar waren wir bereits ziemlich weit gegangen mit unserer Sexualität, hatten ein paar Mal wunderschön miteinander geschlafen, aber es war noch unklar, was das hieß. War das nur eine Affäre oder waren wir schon »zusammen« oder nichts davon? Ich wusste es nicht. Ungeachtet dessen kreiste die Treuefrage bereits in meinem Kopf: Durfte ich hier mit Jule überhaupt ein körperliches Wohlgefühl zulassen? Musste ich es verleugnen? Wo war die Grenze? Darf da überhaupt ein Trennstrich sein, ist unsere Sexualität nicht von Natur aus vollkommen frei und uneinsperrbar?

»Quatsch.« Ich wich Jule aus. »Allein das Wort ›Fremdgehen‹ führt doch schon in die Irre.«

Ich betrachtete sie, ihr aschblond gelocktes Haar. Mein Blick ruhte auf diesem Gesicht, das ich so gut kannte und das ein so wunderbar warmes Lächeln ausstrahlen konnte. Liebte ich sie am Ende doch noch? Würden wir heute Nacht vielleicht wieder einmal miteinander schlafen? Lust darauf hätte ich theoretisch schon, aber nur im Kopf, denn sonst spürte ich gerade nichts. Wie konnte es bloß dazu kommen, dass zwischen einer derart wunderbaren Frau und mir die sexuelle Lust abhandengekommen war?, überlegte ich. Wir verstanden uns doch so ausgezeichnet.

»Was soll denn an dem Wort ›Fremdgehen‹ bitte in die Irre führen?«, fragte Jule.

»Das Wort impliziert, dass man in die Fremde weggeht. Aber das ist doch nicht wirklich so. Genauso wie das Wort ›Seitensprung‹. Wörtlich genommen, springt man dabei auf die Seite, als würde man wie ein Zug aus den Schienen entgleisen. Aber das ist doch gar nicht so.«

»Wie dem auch sei: Eben weil dieses Aus-der-Schiene-Springen für dich so normal zu sein scheint …«

»… versteh mich nicht falsch. Ich sage doch nur, dass es keine Schienen gibt.«

»Jetzt sag schon: Bist du fremdgegangen, als wir zusammen waren?«

Ich gestand es Jule. »Ja. Bin ich.«

Nach einer kleinen Pause fragte sie: »Öfters? Also, ich meine mehr als ein Mal?«

Ich sah sie an. Ich sah die Verletzung in ihrem Blick. Und war selbst schockiert. Zwei Jahre waren es bereits her, dass wir uns getrennt hatten. Mir lag auf den Lippen, Jule das Gleiche zu fragen. Doch ich fühlte, dass so eine Frage jetzt unangebracht war, dass sie sie vielleicht noch mehr verletzen würde. Ich schämte mich. Aber was sollte ich tun? Ich fühlte mich hilflos. So hilflos wie schon immer mit meiner Lust, die kam und ging, wie sie wollte.

Meine Sexualität ist wie ein Berg. Auf ihm wandere ich unentwegt herum. Gleichzeitig bin ich selbst der Berg, und das Wandern auf ihm ist mein Leben. Ich umkreise mich also selbst mit meinem Leben, wandere hinauf und hinab, hin und her. Ich verkrieche mich im Gebüsch und offenbare mich, wenn ich nackt auf hohen Felsen stehe und in die Welt schaue. Deswegen nackt, weil mein Leben keine Kleidung hat. Meine Gefühle tragen keine Hosen, keine Röcke, vor allen Dingen haben sie kein Geschlecht. Nur mit derart freien Sinnen kann ich eine Verbindung zum Himmel und zu anderen Menschen herstellen. Ich kann sie zulassen oder auch nicht. Sie werden entweder Bestandteil meines Berges, oder sie sind getrennt von ihm und damit abgespalten von mir selbst.

Meine Sinne sind allerdings permanent wach. Indem ich sowohl das Wandern als auch der Berg bin, gibt es kein Innen und kein Außen mehr. Kein Rein, kein Raus. Kein Eindringen, keine Flucht. Gleichwohl gibt es die Phantasie, meine Sinne und Gefühle, meine Sexualität. Mit ihnen spielen sich inmitten meiner Wanderungen die ungeheuerlichsten Dinge ab. Immer wieder haben Überlegungen und Unsicherheiten die Wege versperrt, besonders die durch klare Regeln kaum einzugrenzende Arithmetik der Treue, dieser Endlos-Versprechen und gegenseitigen Vorstellungen von einer richtigen, echt wirklich guten Beziehung, sie stand immer wieder wie Nebel zwischen mir und diesem Berg meiner Sexualität. Obwohl ich es gerne mit der Treue hielt – schließlich wollte ich ja auch, dass meine Partnerin sie ebenfalls wahrte –, erschien mir die Idee der Treue im Laufe der Jahre doch eher als ein illusionäres Unterfangen, ja als eines, das der Natur widersprach.

So oft hatte ich Liebe geschworen. Dabei wusste ich längst, dass man Liebe nicht schwören kann. Wenn ich ehrlich bin, muss ich eingestehen: Obwohl ich fest daran glaubte, was ich sagte, waren die Liebesbekundungen mitunter ein vorgeschobenes Alibi-Statement, um die Bestätigung zu bekommen, dass meine Partnerin mich noch liebte. Sie neigt doch so leicht dazu, sich zu verflüchtigen, die Liebe, wenn sie zu straff an die Leine genommen wird. Ebenso unklar empfand ich es mit dem Sex. Da war manchmal nur Sex, aber keine Liebe. Oder die Liebe war noch da, der Sex aber nicht mehr. Sollte ich nun sexlos weiterleben, nur weil wir uns an Liebesbeteuerungen und an Vorstellungen von der idealen Für-immer-Beziehung gebunden hatten?

Wenn es so weit in einer Beziehung gekommen war, fühlte ich mich nicht selten in einem Dilemma: Was sollte ich tun, wenn ich keine Erregung mehr verspürte und diese sich auch nicht mehr so leicht erzeugen ließ? Und umgekehrt: Was, wenn die Erregung plötzlich da war, wenn mich von innen her dieses züngelnde Drängen antrieb, das mir alles Mögliche vorgaukelte? Dann konnte ich mit der vollen Inbrunst der Überzeugung erklären, wie verliebt ich sei, was oft bei der Verführung half, ich glaubte ja selber fest daran, war voll davon überzeugt. Doch kaum hatte ich mich entladen, konnte dieses Gefühl jäh verschwinden. Wie war das möglich? Wie sollte ich damit umgehen? Ansprechen konnte ich das ja kaum, und lange Zeit war ich mir solcher Vorgänge nicht einmal richtig bewusst. Ich schlitterte ungebremst und ohne Orientierung auf der Hormon- und Gefühlsrutsche, dem erliegend, was ich dabei empfand, ich schwamm mit dieser Energie mit, die mich von innen her steuerte. Ohne mir dessen bewusst zu sein, war ich zu einem Zwerg in meinem Sex-Berg geworden, und dabei wusste ich nicht einmal, dass es diesen Berg überhaupt gab. Es spielte auch keine Rolle, denn ich hatte sowieso keine Chance gegen ihn. Er war mein Zuhause, er ist meine Welt, mein Universum, für immer. Sex ist unser Leben, wir können uns ihm hingeben, versperren können wir uns ihm paradoxerweise nicht.

Seit ich denken kann, verhält sich mein Schwanz wie ein kleines Haustier. Er hat sein eigenes Leben, ich kann ihn nur bedingt kontrollieren. Kooperationsbereit ist er nur, wenn ich ihm regelmäßig entgegenkomme. Er macht, was er will, und er kennt viele Tricks und Schliche, wie er mich dazu bringen kann, zu tun, was er sich in den Kopf gesetzt hat. Er verfügt über sein eigenes Temperament, das sich manchmal völlig abgekoppelt von meinen Vorhaben entfaltet, und verfolgt Ziele, die nicht selten vollkommen widersprüchlich sind zu den Erfordernissen der jeweiligen Situation. Es konnte geschehen, dass ich in solchen Momenten nur noch machte, was mein Haustier wollte, und nicht, was ich mir selbst vorgenommen hatte.

Zwar versuchte ich, mich regelkonform zu verhalten, doch das war nicht immer einfach, weil es so viele Regeln gibt, an denen wir unsere Sexualität ausrichten sollen. Es sind die Regeln einer Welt, die das Universum Sex zu beherrschen versucht. In ihrem Kern verbinden sie sich mit Fragestellungen, die fast etwas so Unlösbares wie Zen-Koans haben und allzu oft mit »dürfen« oder »müssen« verbunden sind: Wie oft »muss« man Sex in einer Liebesbeziehung haben, damit er als »gut« bezeichnet werden kann? Aber hat das überhaupt etwas mit Quantität zu tun? Darauf antwortet man schnell mit einem Nein. Doch lässt sich das in der Praxis überhaupt durchhalten? Mein Haustier macht schließlich sowieso, was es will. Es hat sogar seine eigenen Gefühle.

SCHWANZ ODER NICHT?

Das Wort »Penis« (lateinisch für das männliche Glied) wurde vor ca. 150 Jahren als medizinischer Begriff für den länglichen Teil der männlichen Geschlechtsmerkmale eingeführt. Sonst gibt es kaum respektvolle, sondern nur »schmutzige« Wörter – ausgenommen vielleicht »Zebedäus«, in manchen süddeutschen Gegenden ein Kosewort für Penis, das, aus dem Hebräischen kommend, »Geschenk Gottes« bedeutet. Ich selbst bin nicht so poetisch, was mein Geschlechtsteil anbelangt, und sage einfach »Schwanz«.

Das Ungute daran war, dass mein Schwanz mich zum Mitfühlen zwingt, schonungslos und wann immer es ihm in den Sinn kommt, auch wenn es mir ganz und gar nicht recht war. Wenn ich mich auf ihn einließ, schien es mir, als wären seine Gefühle auch meine – und die gestand er mir dann mit aller Großzügigkeit zu, indem er sie durch meinen ganzen Körper und von dort ins Universum verströmte. In diesen Momenten lösten sich alle Grenzen auf, und selbst das Dach meiner Wohnung, durch dessen Fenster ich nach einem Orgasmus oft in den Himmel sah, stand nicht mehr trennend zwischen mir und dem Universum. Es war, als wäre dieses Haustier keine separate Existenz, als wäre es nicht mehr abgespalten von mir. Alles war einfach eins.

Wenn ich meinen Schwanz allerdings in seinem Entfaltungsbedürfnis einschränken wollte oder ihn gar kritisierte (»Um Gottes willen, benimm dich. In solchen Momenten regt man sich nicht, das ist doch viel zu früh!«, oder: »Nein, bloß nicht, mit der nicht!«), konnte er schnell eingeschnappt sein. Dann brauchte es langes geduldiges Zureden, viel Wohlwollen und eine schwer zu beschreibende Mischung aus In-Ruhe-Lassen und Streicheleinheiten, um ihn wieder zu versöhnen.

Manchmal dachte ich früher, dieses an mir angewachsene Haustier habe etwas von einem Barometer: An seiner Verfassung ließ sich ablesen, wie es um meine Sinne und um mein Herz bestellt war. Der einfachste Indikator dafür war ganz banal der Grad seiner Aufrichtung. Den deutlichsten Hinweis auf extrem gute Laune aber gab eine wohlriechende Flüssigkeit, die sich an der Eichelöffnung als kleiner Tropfen zeigte, besonders wenn ich einer Frau begegnete, mit der Schmetterlingspotenzial bestand. In solchen Situationen war mein Schwanz häufig noch nicht einmal erigiert. Er konnte noch vollkommen regungslos sein, aber er befand sich in einer Art Bereitschaftszustand, der sich wie ein bestimmtes Gefühl von Wohligsein anfühlte, das den gesamten Körper durchzog, während sein Ruhen immer bedeutsamer zu werden schien. Mein Gehirn interpretierte dieses Gefühl nicht selten als Verliebtheit, was erhebliches Flirten und Hofieren zur Folge haben konnte. So lenkte mein Haustier viel von dem, was ich sagte, und noch viel mehr von dem, was ich machte. Überall, zeitlich unbegrenzt, mein gesamtes Leben hindurch. Es führte mich mit anderen Menschen zusammen, und wieder von ihnen weg. Ich vermute, dass das nicht nur bei mir so ist. Mit anderen Männern habe ich darüber nie gesprochen. Männer reden miteinander nicht über Sex. Und mit den Frauen? Vielleicht habe ich mich nie wirklich getraut, von mir zu erzählen.

Erregungsspiele und warum Sex keine Teilzeitaktivität ist

Zu Beginn unserer Beziehung befanden sich Jule und ich rund 80 Prozent der Zeit im Bett, während vielleicht 10 Prozent genossen wir das gemeinsame Kochen (weil es von dort schnell wieder ins Bett gehen konnte), und 10 weitere Prozent vertrieben wir uns die Zeit mit Kultur oder anderen Unternehmungen. Hatten Jule und ich in der Anfangszeit unserer Beziehung einige Stunden nicht miteinander geschlafen, dauerte es nicht lange, und diese wohlriechende Flüssigkeit bildete sich wieder. Dann konnten unsere Hände nicht mehr voneinander lassen. Unsere Arme umschlangen uns, unsere Körper drängten zueinander hin, egal ob zu Hause, beim Wandern oder in unserem indischen Lieblingsrestaurant. Und während unsere Sprache langsam erstarb, spürten wir mehr und mehr das Pulsieren unserer Körper und unserer Sinne. So vieles geschah einfach von alleine. Wenn Jule mir nur in die Augen sah, wenn sie zu mir sagte: »Ich kann jetzt gar nichts sagen« – und mich weiter anschaute, wusste ich ganz genau, dass sie erregt war. Auch ich brachte in solchen Momenten kaum etwas heraus, vor Verlangen bekam ich ein enges Gefühl im Hals, ich brauchte aber auch gar keine Worte mehr, brachte vielleicht nur noch hervor: »Das geht mir auch so – komm zu mir.«

Besonders schön war es zwischen Jule und mir in Restaurants, von deren Tischen ausladende Tischdecken hingen, dickere, weiße. Sie waren ein ideales Versteck, in dessen Schutz wir unsere Hände, nachdem sie von unseren Nacken tiefer gewandert waren, unter unsere Hemden, Hosen, Röcke und BHs schieben konnten, ohne dass es jemand bemerkte. Jule und ich genossen diese kleinen Gefahren, ertappt zu werden. Meine Hände glitten wie automatisch über Jules Haut, wollten mehr haben, waren rastlos, unfähig innezuhalten. Es war wie ein Drang, nicht mehr nur weitermachen zu wollen, sondern zu müssen. Der Weg, diese Reise, dieses Hinaufwandern auf den Berg, das immer zwingender und unbeherrschbarer wurde, zählte für mich zum Schönsten beim Sex. Da war manchmal etwas so Unbändiges in mir, dass ich am liebsten aufgestanden wäre und Jule vor allen anderen Gästen auf den Tisch gesetzt hätte. Zu gern hätte ich mit einer einzigen Bewegung das Geschirr vom Tisch gewischt, ihr die Kleidung vom Leib gerissen und sie ohne Hemmungen gefickt, bis sie in ihrem Orgasmus geschrien hätte. Mich hätte es dabei fast zerrissen, und ich hätte andere Männer gebeten, auch von ihr zu kosten, was sie unbändig genossen hätte, während ich in schierem Wahn über die anderen Frauen im Restaurant hergefallen und mit Leib und Seele durch sie hindurchgekrochen wäre, bis der gesamte Laden sich, zu einem Brei verkocht, dampfend im Himmel aufgelöst hätte. All dies hatte ich Jule nie erzählt. Ich konnte es auch nicht, weil mir diese Phantasie so konkret gar nicht bewusst war, sie war ein abstraktes Gefühl, eine unbändige Leidenschaft. Ich erzählte ihr natürlich auch deshalb nicht davon, weil ich tief in mir ein eifersüchtiger, anständig und katholisch erzogener und deswegen auch ein ziemlich verzogener Bengel war.

So taten wir, was im Versteckten möglich war, unter Decken aller Art. In mir selbst hatte ich ausreichend Gelegenheit, meine Phantasien, dieses ununterbrochen laufende Kopfkino, dazuzuschalten oder auszublenden.

Manchmal tat mir die Gespaltenheit zwischen dem, was ich durfte, und dem, was ich empfand, beinahe körperlich weh. Dann kam ich mir angesichts meiner inneren Gewalten ganz klein vor – schutzlos in dem Gefühl, dass ich jederzeit auffallen und als hoffnungsloser Fall den Perversen dieser Welt zugeordnet werden könnte. Diese archaische Furcht in mir gehörte zu den dunkleren meiner sexuellen Vorstellungswelten, die tief mit Angst besetzt waren.

Was ich in solchen Momenten brauchte, war Nähe, Wärme und wenigstens einen ganz kleinen Pfad, auf dem ich mich vorantasten konnte. Im Restaurant waren es Jules feuchte Achseln, glitschig wie kleine Muschis, und darin herumzukitzeln erregte sowohl Jule als auch mich. Diese Stellen waren auch deswegen so wunderbar, weil sie sich nur eine Handbreit neben dem Verschluss ihres BHs befanden, und schon hatte ich meinen Pfad. Ich löste den Verschluss, um – immer davon beseelt, etwas Verbotenes zu tun und vielleicht sogar zu weit zu gehen – sanft mit den Fingern über Jules Brüste zu gleiten, deren Warzenvorhof sich so wunderbar anfühlte, ähnlich gekräuselt wie die Oberhaut einer Walnuss, wie ich es auch von meinen Hoden kannte, wenn die sich voller Erregung zusammenzogen und kleine elektrische Signale durch meinen Unterleib sandten.

Während solcher Momente schauten Jule und ich umher, als wäre nichts. Um die Gefahr noch zu erhöhen und damit das Gefühl des Verbotenen, bestellte ich bei dem indischen Kellner mit den gefärbten Haaren manchmal unnötigerweise ein weiteres Glas Wein – es stand schließlich noch ein halbvolles auf dem Tisch –, während ich Jules Brustwarze zwischen den Fingern hatte. Ich zwickte genau dann zu, wenn er Jule ansah und fragte: »Darf es für Sie auch noch etwas sein?« Aber er konnte nicht sehen, nicht ahnen, was unsere Hände taten. In Jules Fingern ruhte längst mein Schwanz, und sie wusste mein Kneifen mit einem sehr starken Druck zu erwidern. Mit einem verstohlenen Lächeln in den Augen sahen wir uns dann an, küssten uns und sagten zu dem Kellner allenfalls entschuldigend: »Wir sind sehr verliebt und deshalb etwas unkonzentriert – bitte entschuldigen Sie: Was haben Sie noch mal gesagt?« Wenn er zu einer Erwiderung ansetzte, drückten und kniffen wir uns wieder, stärker diesmal, und versuchten all unsere Disziplin aufzubringen, uns nichts anmerken zu lassen.

»Kein Problem, ich verstehe das«, sagte der Kellner lächelnd, und wir wussten nie, ob er nicht doch etwas bemerkt hatte. In Gedanken spielten wir mit dem Risiko, dass er ein heimlicher Mitwisser sein könnte.

Manchmal war Jule so erregt, dass sie sich nicht mehr zusammenreißen konnte. Sie streckte dann ihre Brüste derart heraus, dass sich meine Finger unter ihrer Bluse abzeichneten, ich zuckte zurück und zischte: »Hey, Baby, das ist zu viel, das kann er sehen«, worauf der Kellner zu unserem Tisch zurückkehrte, um uns mit seinem indischen Lächeln und dieser indischen Sanftheit in der Stimme schon wieder zu fragen, ob wir noch einen Wunsch hätten; das genossen wir extrem.

Jule und ich tranken und aßen an solchen Abenden wenig. Fast war es so, als würde das berühmte Gespann aus Luft und Liebe für unsere Ernährung sorgen. Und meine Gefühle, die nicht nur meine Erregung, sondern auch die von Jule registrierten. Es war aber nicht nur ihr tiefer Atem oder unsere intensive körperliche Wärme, da war noch etwas Größeres, was in mir arbeitete: Wir beide waren in unserer Erregung zu einem einzigen Körper geworden. Was ich fühlte und wollte, spürte sie genauso, und wie es ihr ging, nahm ich ebenso wahr. Es war, als wäre ich auch sie. Mein Berg war mit einem anderen verschmolzen, eine gigantische Weite hatte sich auf dieser sexuellen Reise aufgetan. Sie war so unendlich, dass wir uns in sie hineinfallen lassen konnten, ohne irgendwo zu zerschellen, das war wie fliegen. Dieses Einssein kannte keine Gedanken, keine Sorgen, keine Phantasien. Es brauchte auch kaum Worte, alles ging wie von selbst.

Das einzige Problem waren die unbequemen Sitzmöbel. Sie lenkten mich ab. Es war mir ein Rätsel, warum Menschen im Neunzig-Grad-Winkel zu sitzen hatten. Vermutlich hatte das ein Designer ersonnen, der nichts anderes konnte, als zwei Bretter aneinander zu nageln. Wegen dieses Dilettanten rutschten wir nun während unserer Umarmungen immer wieder nach unten. Einige Male kam es vor, dass wir uns gegenseitig nicht mehr nach oben halfen, sondern einer von uns ganz unter den Tisch glitt. Stets so getimt, dass der Kellner dies nicht bemerkte und die Person, die noch oben saß, im Zweifelsfall sagen konnte, der Partner habe etwas fallen gelassen und suche unter dem Tisch danach.

Daraus entwickelte sich eines unserer Lieblingsspiele. Jule und ich suchten eine Zeitlang Restaurants nur noch nach weit herunterhängenden Tischdecken aus. Wer von uns welche Position einnahm, ergab sich vielfach von selbst. Meist war ich es, der unter den Tisch kroch, was aber auch praktische Gründe hatte. Ich genoss es, unten im Schneidersitz zu kauern und zu lauschen, was Jule beim Kellner bestellte, während ich mit den Fingern ihre Schamlippen auseinanderzog. Sie trug manchmal nichts weiter als ein leichtes Mäntelchen, sodass ich in die feuchten Stellen hineinblies, sie schloss, wieder öffnete und erneut sanft blies. Dabei ließ ich meine Zunge leicht über ihre Klitoris gleiten. Jule griff mit einer Hand unter den Tisch, um meinen Kopf mit einem Schauer der Lust an sich zu drücken. Schließlich stieß sie ihn weg, sodass ich mit dem um ihre inneren Schamlippen geschlossenen Mund diese ein wenig hochzog.

EIN KLEINER HÜGEL

»Klitoris« bedeutet im Altgriechischen »kleiner Hügel«. Sie verfügt über doppelt so viele Nervenenden wie der Penis und ist auch doppelt so empfindsam. Wenn sie erregt wird, schwillt sie an und wird hart. Alleine über 13000 Mädchen drohte übrigens 2017 in Deutschland die Klitorisbeschneidung, 4000 mehr als im Vorjahr.7

Ich liebte es geradezu, die Schamlippen der Frauen im Mund hin und her zu bewegen. Das Aroma der Säfte, das mir so gut mundete, wandelte sich im Laufe des Leckens, vor allem aber übertrug sich die Erregung einer Frau über ihre Muschi und diese süße, vielleicht auf bis zu einen Zentimeter anschwellende Klitoris auf meine Zunge und meine Lippen. Deswegen blieb ich lange und selbst mit Nackenschmerzen in dieser Position hocken. Wenn Jule sich währenddessen die Pfeffermühle oder einen dieser immer verstopften Salzstreuer oder noch einmal die Karte bringen ließ, zwirbelte ich besonders intensiv an ihr herum. Ich genoss mein Lecken so sehr, dass mein Schwanz zuckte, insbesondere, wenn ihre Stimme plötzlich leicht zittrig wurde:

»Hier ist der neue Salzstreuer«, sagte der Kellner.

»Danke, sehr nett von Ihnen, und ein Glas Wein hätte ich auch noch gern.«

»Aber Sie haben noch ein volles Glas, und der Herr ebenfalls. Er kommt wohl gleich wieder?«

»O ja, entschuldigen Sie … aber auch der Pfefferstreuer, ich glaube, es ist kein Pfeffer mehr drin.«

»Ich verstehe, bin gleich wieder da, Madame.«

Die umgekehrte Position, also wenn ich auf dem Stuhl saß und Jule unter dem Tisch, gestaltete sich als weitaus schwieriger. Die Stuhlhöhe ist häufig so bemessen, dass die Oberschenkel die Unterseite des Tisches fast berührten. Wenn Jule unter der Tischdecke hockte und meinen Schwanz auspackte, war ich eher froh, wenn er sich nicht ganz zur vollen Blüte entfaltete. Meine Erregung war aber zumeist so groß, dass er augenblicklich steif wurde, sobald sie mit der Zunge über die Eichel fuhr. Ich liebte dieses Gefühl. Um die Erregung zu dämpfen, überlegte ich, ob Litschis auch so empfanden, wenn sie im Mund hin und her gewälzt wurden, bevor man sie genoss, wie Jule es mit meiner Eichel gern machte. Vielfach lief es aber darauf hinaus, dass wir uns wieder gesittet an den Tisch setzten und ein Schälchen mit Früchten bestellten. Es war nämlich fast unmöglich, meinen Penis im voll ausgefahrenen Zustand so zu biegen, dass Jule ihren Mund um ihn hätte schließen können. Entweder sie stieß sich dabei den Kopf an der Tischplatte an, oder meine Eichel schnalzte dagegen, wenn sie den Schwanz losließ. Und das wollten wir beide schon aus hygienischen Gründen vermeiden.

Auf diese Weise kannte ich einige Tischplatten von unten. Die unter ihnen klebenden Kaugummis warnten: »Berühr mich nicht!« und verwiesen darauf, dass das, was sich unter Tischplatten befand, zwar Spielraum für verstecktes Fummeln ließ, nicht aber für sexuelle Handlungen konstruiert war, was aus unserer Sicht wieder so ein Designfehler war.

So vielseitig und spontan wie in dieser Zeit lebten wir unsere Sexualität leider nicht auf Dauer aus. Im Laufe der Jahre wurde der Anteil gemeinsamen häuslichen Kochens größer, und unsere Verschmelzorgien wurden immer weniger. Irgendwann sah unsere Bilanz so aus: 80 Prozent Kochen, 15 Prozent Ausstellungen, Kino oder Theater, Spaziergänge und Shopping sowie magere 5 Prozent Sex. Auch unser geliebtes Einssein – dieses universale Gefühl von Weite, das jede Unternehmung überflüssig machte, weil es sich so reich anfühlte – begleitete unsere Beziehung und unser Sexleben nicht mehr so wie früher. Eine seltsame Krankheit hatte von uns Besitz ergriffen, zu bezeichnen vielleicht als Aufgespaltensein: Unser Geilwerden geschah nicht mehr, wie wir es gewohnt waren, nicht mehr ausschließlich gemeinsam, und das pulsierende Ausleben unserer Lust hatte stark abgenommen. Auch Phantasien wie unser Tischdeckenritual hatten sich ausgelebt. Als wir uns im sexuellen Hoch befanden, hatte ich niemals auch nur den Funken eines Gedanken daran verschwendet, dass Jule etwas anderes fühlen könnte als ich. Es war schlicht nicht vorstellbar.

Sicherlich hatten wir uns über unterschiedliche Sinnesregungen oder Wahrnehmungen ausgetauscht. Das geschah aber im Rahmen dieses Schmetterling-Einsseins, und insgesamt waren es zumeist ziemlich undifferenzierte Dialoge.

»Fühlst du’s auch?«

»Ja, klar!«

Wir atmeten beide tief durch, und je mehr wir erregt waren, desto weniger Worte brauchten wir.

Schließlich redeten wir mehr, aber leider nicht über Sex.

»Die Flüchtlingskrise macht mir Angst«, hatte Jule einmal gesagt, als wir Arm in Arm in unserer Wohnung vor dem Kamin lagen.

»Aber was soll man tun? Wir können diese heimatlos gewordenen Menschen doch nicht von uns weisen.«

»Wäre es nicht besser, sie lösten ihre Probleme dort, wo sie herkommen?«

Ein solcher Dissens führte dazu, dass wir uns innerlich so eng zusammenzogen, dass nicht der Hauch eines erotischen Gefühls mehr Platz hatte. Die Leichtigkeit des Einsseins hatte uns einst Flügel geschenkt, die nur von Schmetterlingen stammen konnten; mit ihnen hatten wir uns hoch hinaufgeschwungen in die Lüfte, wir waren durch den Himmel geschwebt, waren unentwegt fasziniert voneinander. Ständig hatten wir aneinander etwas Neues entdeckt. Das Neue war der Herzschlag unseres Liebes- und unseres Sexlebens. Bis sich die ersten Störfaktoren einschlichen, die Gewohnheiten mit ihren Giften, wie zum Beispiel ständig zu wiederholen, was am schönsten war. Die Wiederholung verdarb unsere kleinen Abenteuer unter den Restauranttischen und stahl ihnen den Zauber, weil unser Spiel allzu eingeübt war. Um eine solche Verkrustung aufzubrechen, brauchte es einen Impuls von außen wie etwa jenen Moment, als Jule einmal ein Glas Wein verschüttete und der Kellner die Tischdecke wechseln musste, unter der ich saß. Ich leckte gerade ihre Muschi, als ich seine Stimme hörte: »Kein Problem, jeder verschüttet mal was. Bitte entschuldigen Sie, ich nehme die Decke weg und bringe eine neue.«

»Nein, nein, lassen Sie!«, bat Jule. In ihrer Panik stieß sie meinen Kopf mit einer heftigen Bewegung von sich, während sie zischte: »Hör schon auf! – Komm, er ist gegangen, um eine neue Tischdecke zu holen.«

VON KATZEN UND ASTEROIDEN

Die Bezeichnung »Muschi« dürfte sich vom Kosewort für Katzen ableiten. Es gibt aber auch einen gleichnamigen Asteroiden, 1921 entdeckt, der nach dem Kosenamen der Frau seines Entdeckers benannt wurde.8 Das ist durchaus verbreitet: Auch der frühere bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber nennt seine Ehefrau Karin »Muschi«. Das Wort »Vagina« klingt mir – wie »Penis« – zu technisch-medizinisch. Alle anderen Bezeichnungen haben etwas Abwertendes für mich.

Flink kroch ich nach oben und setzte mich wieder gesittet neben sie. Vorher hatte sie die Tischdecke kurz gehoben, um nachzusehen, ob mein Schwanz aus der Hose herausschaute. Sie selbst zupfte ihr Mäntelchen zurecht, das man vorne bis unten zuknöpfen konnte.

Ich war enttäuscht. Es hätte schön werden können, wurde es aber nicht. Jule hatte sich hysterisch und unsensibel verhalten, fand ich. Solche plötzlichen Stimmungswechsel machten mir jedes Mal sehr zu schaffen, denn der »Schmelzprozess« wurde durch sie jäh unterbrochen. Es tat verdammt weh, wenn ich gerade geöffnet war, in meinen Gefühlen schwelgte, mich fallen gelassen hatte – und dann – als hätte mich Bengel jemand am Schopf gepackt – aus meinem kleinen Gefühlsparadies ans Tageslicht gezogen wurde.

Mit den Jahren reduzierte sich unser Miteinander-Schlafen auf die sichereren Positionen, von denen wir wussten, dass dabei alles flutschte und nichts schiefging, und das waren immer weniger. Erst nach drei Jahren gestanden wir uns ein, dass keine Schmetterlinge mehr da waren. Schon lange nicht mehr.

Rückblickend wirkt der Umgang mit unserer Erotik auf mich, als hätten wir naiverweise angenommen, dass ein einmal angestecktes Feuer von selbst für immer weiterbrennt. Wir haben unsere Sexualität zum Gefühlssurfen benutzt, uns aber nicht wirklich tiefer hineinfallen lassen. Möglicherweise hat uns auch die Sprache dafür gefehlt – wie hätten wir sonst mehrere Jahre nach dem Ende unserer Beziehung Gefühle wachrufen können, außer durch ebendiese Sprache, die wir vorher nie angewandt hatten? Sicher, Sex ist unentwegt existent, er ist eine Reise, die nie zu Ende geht. Aber unsere Verbundenheit im Sex ist nicht unendlich. Sie braucht Pflege und Wachsamkeit.

»Uns ist das Unschuldige abhandengekommen, die Frische«, sagte Jule in einem unserer Trennungsgespräche. »Als wir mitten in unserer Beziehung steckten, hatten wir uns alles schön und wunderbar ausgemalt. Wenn ich dich gefragt habe, ob alles in Ordnung sei, hast du jedes Mal gesagt, es sei alles bestens. Und ich habe dasselbe gesagt. Aber das hat nicht immer gestimmt.«

Wenn ich ehrlich bin, war das die Phase, wo ich an andere Frauen zu denken begann. Ich betrog Jule mit Vera; mit ihr hatte ich schon früher eine Affäre gehabt. Sie war jemand, die ich immer besuchen konnte und mit der sich jedes Mal ein wunderschönes sexuelles Erlebnis ereignete. Mehr aber nicht, zwischen uns gab es nur Sex, und manchmal erzählten wir uns danach von unseren Beziehungsproblemen. Überraschenderweise hatte ich nach der Nacht, in der ich mit Vera schlief (was ich gar nicht als »betrügen« empfand), plötzlich leidenschaftlich Sehnsucht nach Jule. Es folgte eine Zeit, in der Jule und ich wieder tollen, sich viel frischer anfühlenden Sex hatten. Alles war wieder neu und unschuldig. Es war, als hätte ich mit dem Seitensprung eine Tür aufgerissen, durch die frische Luft in unsere Beziehung geströmt war.

Jule sah mich nach meinem Geständnis an jenem Abend aufmerksam an.

»Woran denkst du gerade?«, fragte sie.

Ich fühlte es: Jule wusste intuitiv schon immer, dass ich damals fremdgegangen war. Sie nahm meine Hand.

»Du kannst dir nicht vorstellen, wie erleichtert ich bin«, sagte sie. »Es tut ein wenig weh, aber endlich reden wir. Damals habe ich gemerkt, dass etwas anders war.«

»Was denn?«, fragte ich, überrascht und verlegen zugleich.

»Es waren deine Augen. Sie baten um Vergebung. Das war für mich kaum zu ertragen.«

»Hättest du dir gewünscht, dass ich es dir erzähle?«

»Nein«, sagte Jule nur, nichts weiter.

Doch nach einer Weile fügte sie hinzu: »Trotzdem hätten wir irgendwie damit umgehen sollen. Du hättest dein schlechtes Gewissen loswerden müssen. Und ich meine bad feelings, weil ich das spürte. Wir hatten uns wohl viel zu sehr auf den Klebstoff Liebe verlassen und auf unser Für-immer-und-ewig-Versprechen. Nicht mal das hat gehalten.«

Ich überlegte: War es nicht tatsächlich so, als würden wir in unseren Liebesbeziehungen aneinander kleben, wie mit diversen Klebstoffen verbunden? Neben Zuneigung, Wertschätzung und Vertrauen, Respekt und Ehrlichkeit gab es drei berühmte Haltemittel, aber genau diese drei hielten leider ganz besonders schlecht: Liebe. Sex. Rituale. Am schlechtesten klebte die Liebe. Ihr Hafteffekt ließ oft aufgrund von zu viel Druck, zu wenig Berührung oder zu langer Zeitdauer nach. Kaum besser hielt der Sex; der war manchmal wie ein Spuk verschwunden. Und die Rituale – sie leierten aus wie eine alte Feder. Besonders bei der Liebe passt es uns nicht ins romantische Konzept, wenn sie endet. Dabei sind sowohl Liebe wie sexuelle Erregung in erster Linie biochemische Vorgänge, die anschwellen und vergehen.

Zum guten Haften gehört aber noch ein weiteres Phänomen: Die Verführung, das heißt, sich Zeit zu lassen, bis die Sinne zu brodeln beginnen. Ähnlich wie bei richtigem Klebstoff muss man alles erst ein wenig einwirken lassen, bevor man sich aneinanderpresst. Wenn es sehr schnell zu sexuellen Begegnungen kam, entstanden bei mir fast nie richtige Beziehungen daraus. Wo das doch geschah, waren wir dazu in der Lage, die Spannung, die Luft zwischen uns, das Nicht-sofort-ins-Paar-Klischee-Springen, eine Zeitlang auszuhalten. Ich meine damit nicht, dass man nicht sofort miteinander schlafen sollte, wenn alle Sinne danach verlangen. Sex gehört zu einer Beziehung dazu, warum also nicht schon nach kurzer Zeit ausprobieren? Wie sonst wissen wir, ob die Begegnung überhaupt für eine Beziehung taugt? Aber ist das überhaupt so wichtig? Ist es nicht viel schöner und auch wichtiger, die Offenheit auszuhalten, dieses universale Einssein?

Das gegenseitige Sich-Verführen zählt zu den schönsten Erlebnissen in meinem Leben. Im Lauf der Jahre ist es weniger geworden. Ich bin mir nicht sicher, ob das durch die Gewohnheit kommt oder ob hier vielleicht Veränderungen wirksam werden, die zunehmend vom Internet ausstrahlen, in dem alles an jedem Ort und sofort zugänglich zu sein scheint, während man im richtigen Leben nicht einfach so übereinander herfällt.

Im Lauf der Jahre hat meine Sexualität eine gewisse individuelle Form, ja vielleicht sogar Persönlichkeit angenommen. Ich hatte sexuell viel kennengelernt, Schönes, aber auch Unsinniges. Dank Letzterem kann ich heute das Schöne klarer bestimmen. Mein Haustier ist inzwischen stärker mit mir verschmolzen, auch wenn es immer noch sein Zepter schwingt. Ich weiß heute, dass der Rhythmus meines Körpers und meiner Sinne sexuellen Fieberkurven folgt, bei denen immer wieder Entladungen stattfinden. Ich gebe mich ihnen hin, oft weil es gar nicht anders geht, häufig aber auch, weil ich es liebe, und mehr als früher genieße ich ganz besonders das Davor und Danach. Mein sexuelles Verlangen und Empfinden ist für mich längst nicht mehr auf diesen einen Akt und seinen vermeintlichen Höhepunkt beschränkt. Es ist mit der Zeit viel mehr geworden.

Dadurch ist auch der Wunsch entstanden, ein Kind zu bekommen. Früher hätte ich mir das nie vorstellen können. Am Sex interessierte mich nur die Begegnung, die Lust und das Verschmelzen, das Sinnliche, das Aussteigen aus dem Kopf, nicht der Zeugungsakt. Ich wollte auch keine Familie gründen, und die eine oder andere Frau ging sofort von mir weg, sobald das klar wurde. Mit Jule aber stand das Thema irgendwann sehr zentral im Raum. Auch ich konnte tief in mir spüren, dass ich es wollte. Erstmals. Mit ihr. Ein Kind. Das verlieh meiner Sexualität – immerhin rund dreißig Jahre nach meinem ersten Orgasmus – eine völlig neue Ausrichtung.

MITEINANDER SCHLAFEN

»Miteinander schlafen« stammt nicht von »schlafen« ab, sondern vom altmittelhochdeutschen »beslafen«, was »schwängern« bedeutete. Im Wort »Beischlaf« klingt diese Herkunft bis heute mit an.

»Wir hätten schon viel früher versuchen sollen, ein Kind zu bekommen«, sagte ich zu Jule an dem Abend auf dem Sofa.

»Komisch, dass das erst nach so langer Zeit solch ein drängender Wunsch wurde«, sagte sie. »Meinst du, das hing damit zusammen, weil es bei uns nicht mehr stimmte?«

Vielleicht war das so. Aber ich wusste es nicht und konnte letztlich nur Vermutungen anstellen. Tatsache war, dass Jule und ich unserer Sehnsucht nach einem Baby erst im letzten Stadium der Beziehung nachgingen. Dann aber forcierten wir unsere Anstrengungen, und das möglicherweise zu sehr.

»War das so für dich?«

»Die Umstände rund um das Kinderkriegen hatten angefangen, meine Sexualität zu beherrschen«, gestand ich Jule.

Als Jule und ich an unserem Kinderwunsch »arbeiteten« – anders kann man das kaum nennen, weil wir beide diese zielorientierten Bemühungen manchmal als nicht sonderlich lustvoll empfanden –, hielten wir, ohne es zu bemerken, wie in einer Art seelischen Muskelkontraktion aneinander fest. Wir schliefen nur noch selten in der gewohnten funkenstiebenden Begierde miteinander, sondern häufiger aufgrund des daraus entstandenen Rituals und mit der neuen Zielvorgabe »Kind«. Vielleicht ging genau deswegen mehr und mehr die Spannung verloren. Das Thema »Baby« stand immer isolierter und umso bedeutungsvoller im Raum. Wir hatten schon immer ungeschützt miteinander geschlafen, doch Jule war nie schwanger geworden. Auch wenn wir es nie auf das richtige Timing angelegt hatten, hätte es genügend Gelegenheiten gegeben, bei denen es hätte passieren können. Die »schönste Sache der Welt« war zum Ende der Beziehung mit Jule zu einer Art Teilzeitaktivität geworden, die zu diesem Beziehungstyp einfach dazugehörte. Jule und ich mussten gezielter vorgehen. Aber wie?

Diese Bemühungen um den Kinderwunsch haben mit zu meiner heutigen Sexualität und zu meiner sexuellen Persönlichkeit beigetragen. Denn meine Sexualität besteht niemals nur aus dem, was ich gerade erlebe. Mit »sexueller Persönlichkeit« meine ich vielmehr, dass sich mein sexuelles Empfinden immer aus all dem zusammensetzt, was ich insgesamt sexuell erlebt und gefühlt und worauf ich mich eingelassen habe. Wie anders als durch Worte können wir eine solch umfassende Erfahrung vermitteln? Deshalb halte ich es für so entscheidend, dass wir mehr Sprache in unserem sexuellen Leben zulassen.

Sex ist universell und immer präsent. Er ist nicht die schönste »Sache« der Welt, denn eine Sache ist stets nur Teil eines Ganzen. Sex kann deshalb nicht die »schönste Sache der Welt« sein, weil sonst der gesamte Rest des Lebens fehlen würde. Da Sex aber allumfassend ist, kann das nicht richtig sein. Stimmiger ist, was der amerikanische Psychotherapeut Alexander Lowen sagte: »Sexualität ist eine Lebensart.«9

Und so hat sich diese Lebensart bei mir entwickelt.

Eindringen ist nicht nur etwas für Diebe und wie ich zum ersten Mal davon erfuhr

Als kleiner Junge hatte ich dieses schöne Jucken zwischen den Beinen, dieses leise, angenehme Ziehen in der Lendengegend lange vor meinem ersten Orgasmus gespürt, weit bevor mich meine Mutter aufzuklären versuchte. Das Gefühl war mir bekannt, ich wusste nur nicht, was das war. Und ich hinterfragte es auch nicht. Es war einfach eines der vielen Gefühle, die zu meinem Körper gehörten. Bis zu jenem Nachmittag, kurz nach Schulschluss, ich muss etwa sieben oder acht Jahre alt gewesen sein. Zum Mittagessen hatte es Leberknödelsuppe gegeben, und jetzt wollte ich zum Fußballspielen, hinaus auf die Wiese zu den Freunden, statt meiner Mutter beim Aufhängen der Wäsche zu helfen. Sie aber setzte mich auf die Waschmaschine im Bad, um in dem engen Raum Platz zu haben, während sie bereits getrocknete Wäsche zu bügeln begann. Die Waschmaschine befand sich mitten im Schleudergang; ihr Vibrieren setzte sich in meinem Beckenboden so nachhaltig fort, dass ich unweigerlich dieses Züngeln verspürte. Mit einem wohligen Gefühl blieb ich auf der Maschine sitzen.

»Weißt du eigentlich, wie ein Kind entsteht?«, hatte meine Mutter gefragt – das war ihr eigentliches Anliegen an diesem Nachmittag: mich aufzuklären. Dass ich ihr beim Wäscheaufhängen helfen sollte, war nur ein Vorwand. Ohne eine Antwort abzuwarten, sprach sie weiter: »Es braucht dazu die Liebe, verstehst du?«

ELTERN OHNE BEDEUTUNG

Seit der Jahrtausendwende beziehen männliche Jugendliche ihre Aufklärung mit rasant steigender Tendenz durchs Internet: 50% sind es heute bei den 14- bis 17-Jährigen, nur 39% bei den Mädchen, die ihre Informationen in höherem Maß über Jugendzeitschriften oder Gespräche mit der Mutter erhalten.10 Die Rolle der Eltern wird allerdings immer unwichtiger.11

Ich verstand nichts. »Was ist denn Liebe eigentlich?«, fragte ich und überlegte kurz, ob ich von meiner Mutter ein Kind bekommen könne, weil sie mich liebte, ich sie aber auch.

»Wenn du bereit bist, alles für eine Frau zu tun, wenn du sie halt liebst«, sagte sie und sah mich liebevoll an. Sie gab mir einen Kuss und fügte hinzu: »Auch ich liebe dich, aber das ist eine andere Form der Liebe, das ist Mutterliebe.«

Ich wusste damals nur, dass Liebe das war, was meinen Vater und meine Mutter miteinander verband. Und das, was meine Mutter für mich empfand.

»Ich liebe dich auch«, sagte ich deshalb zu meiner Mutter. Als sie dann erklärte, auch zum Kinderkriegen brauche es die Liebe, ging ich weiter davon aus, dass ich dazu meine Mutter lieben müsse. Doch sie sagte nur einen Satz, den ich als Rätsel empfand: »Hast du einmal deine Einzige gefunden, wirst du wissen, was ich meine.«

»Was ist denn die Einzige?«

Genauso dumm und verlegen wie damals auf der Waschmaschine fühlte ich mich später immer wieder, wenn ich über meinen Sex sprechen wollte. Vielleicht hatte ich es wegen dieses Gefühls des Ungenügens nie mehr wirklich versucht.

»Das ist die Frau deines Lebens, mein liebes Kind. Die Frau, die dich glücklich machen wird. Mit der du Kinder haben wirst.«

»Entsteht so ein Kind: durch Liebe?«, fragte ich meine Mutter.

»Wenn du die Liebe fühlst, wirst du eine Erregung in deinem Glied spüren.«

»Wieso sagst du jetzt Glied und nicht mehr Schniedelwutz?«

»Weil das kein Spaß mehr ist, mein Liebling.«

»Für mich aber schon! Ich finde, alles soll Spaß machen. Es ist schön auf der Waschmaschine«, sagte ich.

»Um Gottes willen, komm schnell dort runter!«

Ich weigerte mich aber und blieb sitzen.

»Kind, die Liebe ist eine Aufgabe. Und wenn ihr euch dann sehr liebt, wird deine Einzige sich dir gegenüber öffnen. Dein Schniedelwutz-Glied wird dann von der Liebe verzaubert und plötzlich größer werden …«

Wieder spürte ich das Vibrieren der Waschmaschine. Ich dachte an den kleinen Haufen Haut zwischen meinen Beinen. Daran, wie ich bei der Einschulung mit meiner Mutter vor dem Schularzt stand, der meinen Körper untersuchte. Ich war nackt. Er saß auf seinem Hocker und griff nach mir, drehte mich hin und her, bog meine Gliedmaßen in diese und jene Richtung, fasste mir unter die Achseln, schob mir einen Holzstab in den Mund, zog meinen Po auseinander – und plötzlich hielt er meinen Schniedelwutz hoch und rollte darin meine Eier auf eine eigenartige Weise in seiner Hand hin und her.