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Dieses Studienbuch, das 2018 erschien und jetzt in der überarbeiteten Neufassung vorliegt, richtet sich an Studierende und Lehrende der Germanistischen Linguistik und anderer Philologien. Es bietet eine fundierte und dabei stets verständliche Einführung in das Thema sowie einen Überblick über die aktuelle Forschungslage. Behandelt werden alle Bereiche der Systemlinguistik sowie der Sozio- und Gesprächslinguistik. Das inhaltliche Spektrum reicht von stimmlichen Unterschieden, dem Komplex Genus - Sexus - Gender und Personennamen über die Konstruktion von Geschlecht in Wörterbüchern bis hin zu Unterschieden in Gesprächen, auch in der Scherz- und der institutionellen Kommunikation. Es schließt mit einem Kapitel zu Genderkonstruktionen und Kommunikation im Internet. Eine umfangreiche Bibliographie bietet eine gute Grundlage für weitere wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit dem Thema.
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Seitenzahl: 889
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Helga Kotthoff / Damaris Nübling
unter Mitarbeit von Claudia Schmidt
Eine Einführung in Sprache, Gespräch und Geschlecht
2., überarbeitete und erweiterte Auflage
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
DOI: https://doi.org/10.24053/9783381105922
2., überarbeitete und erweiterte Auflage 2024
1. Auflage 2018
© 2024 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG
Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen
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Internet: www.narr.de
eMail: [email protected]
ISSN 0941-8105
ISBN 978-3-381-10591-5 (Print)
ISBN 978-3-381-10593-9 (ePub)
Vorwort zur 2. Auflage
Vorwort zur 1. Auflage
1Wozu Genderlinguistik?
1.1Was ist Geschlecht?
1.2Geschichte der linguistischen Genderforschung
1.3Aufbau dieser Einführung
2Doing, undoing und indexing gender in Sprache und Gespräch
2.1Was heißt „Konstruktion“ von Geschlecht?
2.2Was heißt doing gender?
2.2.1Der Ethnomethodologe Harold Garfinkel und seine Agnes-Studie
2.2.2Goffmans Sicht auf Arrangements der Geschlechter
2.2.3Geschlecht als reflexiv institutionalisiert
2.2.4Rückbindungen ans Biologische
2.2.5Gender hervorbringen und / oder mitlaufen lassen
2.2.6Gender bemerkbar in den Vordergrund der Interaktion bringen?
2.2.7Unterbrechung als doing gender?
2.2.8Gender als semiotische Gestalt
2.2.9Undoing gender, Grade an Salienz und Verzicht auf Relevantsetzung
2.2.10Indexing gender
2.3Indexikalität erster und xter Ordnung
2.3.1Jungen inszenieren eine weiblich assoziierte kommunikative Gattung
2.3.2Jugendliche in Detroit inszenieren Schicht und Gender
2.3.3Indirekte Assoziationen mit Gender
2.3.4Mehr zu Genderindices in der Jugendkommunikation
2.3.5Soziale Stilisierung über Genderindizien
2.3.6Kommunikation von Identitäten
2.3.7Stil-Basteln – Gender-Basteln
2.4Sozial-konstruktivistische und radikalkonstruktivistische Ansätze
2.4.1Judith Butlers Diskursidealismus
2.4.2Sind sexuelle Präferenzen für Identitäten immer zentral?
Zusammenfassung
3Prosodie und Phonologie
3.1Prosodie
3.1.1Die Stimmgrundfrequenz
3.1.2Schwankungen der Stimmgrundfrequenz
3.1.3Äußerungsfinale Tonverläufe und weitere Merkmale
3.1.4Die Singstimme und ihre Genderisierung
3.2Phonologie
Zusammenfassung
4Nominalklassifikation: Flexion und Genus
4.1Deklination – Genus – Sexus – Gender
4.2Deklination und Geschlecht
4.2.1Gemischte und starke Feminina
4.2.2Starke Maskulina
4.2.3Schwache Maskulina
4.2.4Deklinationsunterschiede als sedimentierte Geschlechterrollen
4.3Genus und Geschlecht
4.3.1Genussysteme und Genuszuweisung
4.3.2Das Genus-Sexus-Prinzip
4.3.3Das Genus-Sexus-Prinzip bei (personifizierten) Tieren, Objekten und Abstrakta
4.3.4Evoziert das Genus von Objektbezeichnungen Geschlechterstereotype?
4.3.5Haben Geschlechterstereotype Auswirkungen auf die Genuszuweisung?
4.3.6Genus-Sexus-Devianzen beim Menschen zum Ausdruck von Gender
Zusammenfassung
5Das so genannte generische Maskulinum
5.1Substantive
5.1.1Maskulina verstärken männliche Vorstellungen (Klein 1988, 2004)
5.1.2Psychologie des „generischen“ Maskulinums (Irmen / Köhncke 1996)
5.1.3Sind Frauen mitgemeint? (Heise 2000, 2003)
5.1.4Generische Maskulina und alternative Sprachformen im Vergleich (Stahlberg / Sczesny 2001 und Schunack / Binanzer 2022)
5.1.5Der Einfluss sprachlicher Formen auf die Verarbeitung von Texten (Braun et al. 2007)
5.1.6Personenbezeichnungsmodelle auf dem Prüfstand (Rothmund / Scheele 2004)
5.1.7Generisch beabsichtigt, aber spezifisch interpretiert (Gygax et al. 2008)
5.1.8Die Macht von Sprachformen (Kusterle 2011)
5.1.9Referenz- und Relevanzanalyse an Texten (Pettersson 2011)
5.1.10Personenbezeichnungen im Deutschen und Niederländischen (De Backer / De Cuypere 2012)
5.1.11Effekte genderbewusster Sprache auf die Zuschreibung von Kompetenz und das Prestige von Berufen (Vervecken / Hannover 2012, 2013, 2015)
5.1.12Zu guter Letzt: Sind Epikoina komplett geschlechtsindefinit? Mensch und Person
5.1.13Zusammenfassung, Diskussion, Desiderata
5.2Indefinitpronomen
6Morphologie
6.1Verfahren der Geschlechtsspezifizierung und -neutralisierung
6.2Wortbildung
6.2.1Komposition
6.2.2Derivation
6.3Flexion
6.4Morphosyntaktische Verfahren
6.5Analytische (periphrastische) Verfahren
Zusammenfassung
7Syntax
7.1Sprachgebrauchsmuster
7.1.1Vom Fischer und seiner Frau
7.1.2„… darunter auch Frauen und Kinder“
7.1.3Sie hat Erfolg „trotz ihrer zierlichen Figur“
7.2Binomiale (Koordinierungen)
Zusammenfassung
8Lexikon und Semantik
8.1Etymologie von Geschlecht
8.2Etymologie von Frauen- und Männerbezeichnungen
8.3Pejorisierung von Frauenbezeichnungen
8.4Geschlechter in Schimpf- und in Sprichwörtern
8.5Geschlechter im Wortschatz (Lexikon)
8.6Geschlechter im Wörterbuch
8.7Geschlechter in der Linguistik
Zusammenfassung
9Onomastik: Personennamen
9.1Luca und Eurone – Rufnamen und Geschlecht
9.2Die Lutherin und Frau Thomas Mann – Familiennamen und Geschlecht
9.3Das Heidi und das Merkel – (Frauen-)Namen im Neutrum
9.4Weitere genderonomastische Forschungsfelder
Zusammenfassung
10Schreibung
10.1Entstehung der Substantivgroßschreibung
10.2Binnenmajuskeln, Schrägstriche, Klammern: Binarisierende Verfahren
10.3Sterne, Doppelpunkte, Unterstriche: Nicht-binarisierende Verfahren
Zusammenfassung
11Gender, Sozialisation, Kommunikation
11.1Gender kommt von außen
11.2Dimensionen des Genderkonzepts
11.3Aneignung der Gendersemiotik
11.4Eltern-Kind-Interaktion
11.5Kindergarten
11.6Kindercliquen – zwei Kulturen?
11.7Schule
11.7.1Ein Blick zurück
11.7.2Problemgruppe Jungen?
11.7.3Interaktionale Genderarrangements in der Schule
11.7.4Scherzverhalten
Zusammenfassung
12Gender in der Soziolinguistik
12.1Varietäten und ihr Prestige
12.2Die klassischen Studien
12.2.1Die englische Variable -ng
12.2.2Labovs Kaufhausstudien
12.2.3„Unruhe im Tabellenbild“
12.2.4Offenes und verdecktes Prestige, auch unter historischer Perspektive
12.2.5Prestigeorientierung in Berlin
12.3Netzwerkstudien
12.4Sprache als Abgrenzungsverfahren – vor allem zwischen Müttern und Töchtern
12.5Habitus und Geschlechtsindizien
12.5.1Habitus bei Pierre Bourdieu
12.5.2Selbststilisierung und Attraktivität
12.5.3Cheshires Studie zu Jugendcliquen
12.6Situationsbezogenes Sprechen
12.7Befunde aus dem heutigen Deutschland und Österreich
12.8Sprache und soziale Semiotik
12.8.1Sprachliche und soziale Stile in Detroiter „Handlungsgemeinschaften“
12.8.2Kinder inszenieren den Übergang ins Jugendalter
12.8.3Junge Leute in Barcelona
12.9Interaktionale Soziolinguistik
12.10Gendern wird soziolinguistisch relevant
12.11Arbeitet die soziolinguistische Genderforschung intersektional?
Zusammenfassung
13Gender im Gespräch und darüber hinaus
13.1Dominanz und Unterordnung
13.2Gesprächsstile und ihre Bewertung
13.3Unterbrechungen und andere Interventionen
13.4Redezeiten
13.5Fragen und Rezeptionskundgaben
13.5.1Fragen
13.5.2Rezeptionskundgaben
13.5.3Das Modell der kulturellen Differenzen
13.6Direktheitsstufen bei Direktiva
13.7Rahmung von Autorität, Expertentum und Kompetenz
13.8Das Gestalten von Beziehungen der Nähe
13.9Gender, Humor und Lachen
13.9.1Humor und Status
13.9.2Scherzen auf eigene Kosten
13.9.3Spott, Frotzeln, Humor mit Biss
13.9.4Milieuunterschiede in der Privatwelt
13.9.5Sexualität und romantische Interessen
13.9.6Lachen
13.9.7Humor und indexing gender
13.10Ist Gender als Identitätskategorie immer relevant?
13.11Mode und die unterschiedliche Salienz von Gender
Zusammenfassung
14Fernsehen, Radio und Printmedien
14.1Fernsehen
14.1.1Unterhaltung
14.1.2Zum Beispiel „Germany’s next Topmodel“
14.2Tagespresse
14.3Werbung
14.3.1Die kulturelle Supermacht
14.3.2Bildwerbung
14.3.3Radiowerbung
14.4Komik in Film und Fernsehen
14.4.1Humoristische Kritik an Geschlechterverhältnissen
14.4.2Genderparodie
Zusammenfassung
15Neue Medien
15.1Internetnutzung und Geschlecht
15.2Internetbasierte Kommunikation und Gender
15.2.1Sprachliche Merkmale internetbasierter Kommunikation
15.2.2Gender und Sprachgebrauch im Netz
15.2.3Genderisierte Stile internetbasierter Kommunikation?
15.3Gender und Identitätskonstruktion(en) im Netz
15.3.1Indexing gender
15.3.2Genderswapping
15.3.3Selfies
15.3.4Online-Dating
15.3.5Online-Misogynie
Zusammenfassung
Literatur
Register
Die genderlinguistische Forschung hat in den letzten Jahren in einigen Bereichen an Fahrt aufgenommen und zu neuen Befunden und Einsichten geführt. Dies gilt auch für Themenfelder, die es nicht in die Öffentlichkeit schaffen (z. B. die Abfolge bei Koordinationen vom Typ Vater und Mutter vs. Mutter und Vater). Das hat eine Aktualisierung dieser Einführung erforderlich gemacht. Der starke Zuwachs an Forschung ist eine erfreuliche Entwicklung, deren Erträge in diesen Band eingegangen sind. Spärlicher Zuwachs, wie etwa in der Gesprächs- und Sozialisationsforschung, soll dazu animieren, sich hier in Zukunft stärker zu betätigen. Viele Fragen, die in der 1. Auflage von 2018 noch nicht beantwortet waren, wurden mittlerweile bearbeitet, oft mit neuen, manchmal überraschenden Ergebnissen.
Nach wie vor ist das Bemühen um geschlechterbewusstes Formulieren ein emotional aufgeladenes Thema in der Öffentlichkeit, dessen linguistische Grundlagen und Forschungen kaum zur Kenntnis genommen werden. Dazu gehört auch, dass es keine „Gendersprache“ gibt und dass das Deutsche als Sprachsystem nicht verändert wird, sondern dass bestimmte Gebrauchsweisen der deutschen Sprache zu- oder abnehmen, etwa indem man mehr movierte -in-Formen (wie Soldatin, Vorständin) verwendet als noch vor 50 Jahren, oder indem man vermehrt Präsenspartizipien gebraucht (wie Studierende, Mitarbeitende). Das Sprachsystem selbst wird dabei kaum affiziert.
Mit dieser zweiten, stark erweiterten Auflage der Einführung in die Genderlinguistik liefern wir eine Grundlage zur Versachlichung der Diskussion und die Möglichkeit, wissenschaftlich fundiert den faszinierenden Zusammenhang zwischen Sprache, Sprechen und Gesellschaft zu ergründen. Dazu gehört auch die Theoriediskussion, der wir hier erneut den Impuls geben, sich besser im Sozialkonstruktivismus anzusiedeln als in einem radikalkonstruktivistischen Sprachdeterminismus.
Freiburg und Mainz, im Mai 2024
Helga Kotthoff, Damaris Nübling, Claudia Schmidt
Kaum ein Thema löst so vehemente, oft reflexhafte Reaktionen aus wie die Genderlinguistik. Längst hat sich ein öffentlicher Disput entsponnen, der sich zwar immer wieder über ‚die Sprache‘ äußert, aber denkbar weit von der dafür zuständigen wissenschaftlichen Disziplin, der Sprachwissenschaft, entfernt ist. Dieser weitgehend uninformiert und emotional geführte Diskurs hat sich so weit verselbständigt und dabei auf vermeintliche Vorschriften oder gar „Sprechverbote“ kapriziert, dass sich die Linguistik selbst gar nicht mehr zu Wort meldet: Man wüsste nicht, wo man anzufangen hätte. Ohne linguistische Elementarkenntnisse lässt sich kaum etwas vermitteln. Deshalb dringen weder Erkenntnisse aus der Linguistik nach außen noch fragt die Öffentlichkeit, ob die Linguistik etwas dazu zu sagen hätte. Wir meinen jedoch, dass dies dringend angezeigt ist.
Wir legen daher für alle diejenigen, die sich für die faszinierende Disziplin der Sprachwissenschaft interessieren, eine Einführung vor, die versucht, den aktuellen Wissensstand zum Komplex Sprache und Geschlecht allgemeinverständlich zu präsentieren. Manche Bereiche sind gut erforscht, andere weniger, viele auch gar nicht. Im letzten Fall müssen wir uns auf (meist) US-amerikanische Forschungen beziehen, die aufzeigen, was für das Deutsche noch zu leisten wäre. Da die Genderlinguistik (im Gegensatz zu anderen genderbezogenen Disziplinen) nie an deutschen Universitäten institutionalisiert wurde, sind gravierende Wissensdefizite zu beklagen, die die deutsche oft weit hinter die angelsächsische Genderlinguistik zurücktreten lässt. Solche Forschungslücken werden in dieser Einführung, die sich in erster Linie an die Studierenden unseres Faches wendet, benannt.
Zur besseren Orientierung im Buch sind zentrale Begriffe und Schlagwörter durch Fettdruck hervorgehoben. Außerdem sind manche Abschnitte in Textkästen gefasst und mit Icons versehen, die unterschiedliche Funktionen haben. Es handelt sich dabei um Abschnitte,
die wir für besonders wichtig halten,
die interessante Hintergrundinformationen bieten oder unsere Ausführungen vertiefen oder
Beispiele darstellen.
Dem Narr-Verlag und insbesondere Tillmann Bub danken wir für die tatkräftige und freundliche Unterstützung. Lena Späth sind wir für die kritische Lektüre aus studentischer Perspektive dankbar, Pepe Droste und dem Freiburger Forschungskolloquium für wertvolle Kommentare zu Kap. 12. Lea Sonek, Claudia Koontz, Elena Gritzner und Petra Landwehr haben aufwändige Layout-Arbeiten geleistet.
Die einzelnen Kap. wurden wie folgt aufgeteilt: Helga Kotthoff ist Verfasserin von Kap. 2 und 11 bis 14, Damaris Nübling von Kap. 3 bis 10, Kap. 1 stammt von beiden. Autorin von Kap. 15 ist Claudia Schmidt.
Freiburg und Mainz, im September 2018
Helga Kotthoff, Damaris Nübling, Claudia Schmidt
Das Geschlecht, nicht die Religion, ist das Opiumdes Volkes. (Goffman 1994, 131)
Diese Einführung ist kein feministischer Leitfaden. Sie ist auch keine Einführung in die feministische Linguistik, da sie keinen sprachpolitischen Anspruch verfolgt (hierzu Samel 2000; Pusch 1984). Als eine der wichtigsten Vertreterinnen der feministischen Linguistik schreibt Pusch (1990, 13):
Als feministische Wissenschaft ist die feministische Systemlinguistik ‚parteilich‘, d. h., sie bewertet und kritisiert ihre Befunde, begnügt sich nicht mit der Beschreibung, sondern zielt auf Änderung des Systems in Richtung auf eine gründliche Entpatrifizierung und partielle Feminisierung, damit aus Männersprachen humane Sprachen werden.
Diese Haltung ist durchaus legitim. Dennoch versuchen wir in dieser Einführung eine möglichst unparteiliche Position einzunehmen. Dabei thematisieren wir durchaus sprachpolitische Vorschläge, da sie den öffentlichen Diskurs bestimmen und bereits zu greifbaren Effekten in Form von Sprachwandel geführt haben. Um ein Beispiel zu nennen: Wir bewerten das Indefinitpronomen man, obwohl es an Mann anklingt, damit etymologisch verwandt ist und maskulines Genus hat, mit Referenz auf Frauen nicht als ‚falsch‘ oder ‚inkongruent‘, auch wenn dies die feministische Sprachwissenschaft tut und deshalb das feminine Indefinitpronomen frau kreiert hat. Viele haben an dem Satz „Wie kann man seine Schwangerschaft feststellen?“ nichts auszusetzen und verwenden ihn selbstverständlich mit Bezug auf sich selbst oder auf andere Frauen. Dies gilt es festzustellen und nicht zu bewerten. Zur Wirkung feministischer Neuerungen kann man als Beispiel maskuline Personenbezeichnungen (wie Student, Forscher) anführen, die durch die Etablierung und Empfehlung femininer Formen stärker auf die männliche Referenz reduziert wurden und werden.
Was für das Deutsche fehlt, ist eine möglichst wertungsfreie Genderlinguistik, die den Einfluss der sozialen Variablen Geschlecht auf ‚die Sprache‘ (das System) und ‚das Sprechen‘ (Sprachverwendung, Gespräche) untersucht, und, wenn ein solcher Einfluss gegeben ist, diesen (möglichst) bemisst. Dass es dabei zur Feststellung von Asymmetrien kommt und zur Bestätigung von vielem, was die feministische Linguistik bereits erforscht und beschrieben hat, bedeutet nicht, auf sprachpolitische Maßnahmen abzuzielen, so sinnvoll und berechtigt sie sein mögen (hierzu gibt es mittlerweile viel Literatur, s. von Duden „Richtig Gendern“ und „Handbuch geschlechtergerechte Sprache“). Natürlich haben jahrhundertelang praktizierte Geschlechterunterscheidungen, Ungleichbewertungen und Hierarchisierungen nicht nur das Sprachsystem geprägt, sie wirken auch bis heute auf unser Sprachverhalten, in unsere Interaktionen ein, und sie lassen sich in den Tiefen der Grammatik nachweisen. Diese Einführung behandelt daher einerseits den Sprachgebrauch, wie er sich im Sprechen über und durch die Geschlechter manifestiert; die gesprächs- und medienanalytische Genderforschung wird dabei auf den neuesten Stand gebracht. Andererseits analysieren wir das Sprachsystem, das in seinen erhärteten lexikalischen und grammatischen Strukturen frühere Gespräche, Geschlechterordnungen und das Sprechen über die Geschlechter konserviert, perpetuiert und reproduziert. Seit einigen Jahrzehnten werden Unterscheidungen nach Geschlecht politisch unterbunden, Geschlecht darf z. B. bei Bewerbungen und beruflichen Zugängen (außer dem Beruf des Priesters) keine Rolle spielen (undoing gender). Auch in vielen gesellschaftlichen Bereichen verliert diese Unterscheidung an Relevanz, sie wird zunehmend zurückgewiesen. Mütter gehen immer öfter arbeiten, Väter kümmern sich zunehmend um die Kinderversorgung. Auch hier stellt sich die Frage, ob solcher gesellschaftlicher Wandel sich bereits in ‚Sprache und Gespräch‘ niedergeschlagen hat oder dies derzeit tut.
Geschlecht ist eine in vielen Gesellschaften praktizierte soziale Unterscheidung von Menschen, die am Körper ansetzt. Als Geschlechtszugehörigkeit wird hier das begriffen, wozu Menschen sich selbst bekennen. In den meisten Fällen entspricht ihre Geschlechtsidentität (Gender) der bei der Geburt vorgenommenen und von den Genitalien abgeleiteten Geschlechts(klassen)zuordnung (Sexus). Ist der Sexus nicht schon vorher bekannt, so lautet die erste Frage von Angehörigen nach der Geburt: „Und – was ist es?“. Mit „was“ könnte theoretisch viel gemeint sein, praktisch bezieht es sich nur auf das Geschlecht. Die Geschlechtszuordnung sortiert die Menschen von Anfang an in (mindestens) zwei Klassen und hat gewaltige soziale Folgen (zur jüngst etablierten dritten Option im Personenstandsregister s. u.). Das, was nach der Geburt allerorten vorgeführt und tagtäglich eingeübt wird, ist die – graduell ausgeprägte – soziale Geschlechterrolle (Gender), die die Binarität in aller Regel vergrößert. Mit Gender sind somit alle an die biologische (anatomische) Geschlechtsbestimmung andockenden vielfältigen Praktiken der Geschlechtsdarstellung (doing gender) gemeint (Kap. 2). Diese sind viel wirkmächtiger als Genitalien, Hormon- oder Chromosomensätze und bestehen z. B. aus kulturell und historisch variablen Kleidungs-, Ornamentierungs-, Konsum-, Betätigungs-, Verhaltens- und auch Sprechweisen, die sachlich und logisch keinerlei Bezug zu dem haben, was man bei der Geburt zwischen den Beinen vorgefunden hat. Sie werden jedoch so früh und leidenschaftlich betrieben und dabei erhärtet, dass sie bald für Natur, für ‚angeboren‘ gehalten werden (Naturalisierung von Gender). Versuche, ins Genderinventar der anderen Geschlechtsklasse zu greifen (röcketragende Männer, krawattetragende Frauen), werden mehr oder weniger stark sanktioniert. Röcke tragende Männer riskieren sogar den Verlust ihres Geschlechts, mindestens ihres Status, während hosentragende Frauen mittlerweile das Hosengeschlecht neutralisiert haben. Noch 1970 wurde die Parlamentarierin Lenelotte von Bothmer, weil sie es wagte, im Bundestag einen Hosenanzug zu tragen, von den (nicht anders gewandeten) Herren übel beschimpft („Sie sind ein unanständiges würdeloses Weib!“; „Sie sind keine Dame!“). Gender ist damit hochvariabel, kontingent und historisch wandel- inkl. umkehrbar (so war rosa früher die ‚Farbe der Jungen‘).
Die bei der Geburt vorgenommene Klassifikation wird als lebenslang geltend begriffen und mit der Vergabe eines ebenfalls lebenslang geltenden, vergeschlechtlichten Vornamens hör- und sichtbar gemacht (Kap. 9). Eltern, die ihrem Kind schon lange vor der Geburt einen Proto- bzw. Pränatalnamen geben, ändern diesen häufig mit der Geschlechtsdiagnose. Da der Mehrheitsglaube der an zwei Geschlechter ist und tief in Gesellschaft, Gesetze, Sprache etc. eingelassen ist, untersuchen wir diese historisch sehr alte Unterscheidung in der deutschen Sprache. In diesem nicht-biologistischen Sinn sprechen wir von Gender oder einfach nur von Geschlecht, das die Kopplung von Gender an Geschlechtsorgane weder negiert noch erfordert. Auch viele andere Gesellschaften beziehen bei der Geschlechterunterscheidung körperliche Geschlechtsmerkmale ein. Da das natürliche, biologische oder körperliche Geschlecht oft sichtbar ist sowie – auf vielfältigste Art und Weise – sichtbar gemacht und bei der Geschlechtszuweisung durchaus thematisiert wird (der hat ja gar keinen Bart! die hat ja einen richtigen Bart!), da wir außerdem bei Kühen, Bullen und anderen Tieren nicht von Gender sprechen können, sondern deren Geschlechtsklasse sich nur aus körperlichen Merkmalen ergibt, sprechen wir in diesen Kontexten von Sexus.
Auch auf der biologischen Sexusebene gelangte in den letzten Jahrzehnten die (medizinisch schon ältere) Erkenntnis ins allgemeine Bewusstsein, dass sich eine strikte Zweigeschlechtlichkeit nicht aufrechterhalten lässt. Auf anatomischer (innere und äußere Geschlechtsorgane), chromosomaler und hormonaler Ebene existieren vielfältige Zwischentypen und -formen, die noch bis vor kurzem bald nach der Geburt medizinisch zugunsten der Geschlechtsbinarität bearbeitet (‚vereindeutigt‘) wurden. Auch so schafft man zwei (und nur zwei) Geschlechter und bannt man Ambiguität.
Gegenwärtig können wir beobachten, dass sich immer mehr Geschlechter und Geschlechtsidentitäten Gehör und Respekt verschaffen, z. B. Intersex-Personen (mit uneindeutigen Geschlechtsorganen), die heute nach der Geburt nicht mehr operativ vereindeutigt werden müssen (man wartet ihre eigene Entscheidung ab) und die (seit 2013) von keinem oder (seit 2018) von einem dritten Geschlechtseintrag („divers“) Gebrauch machen können (dies gilt auch für andere Geschlechtsidentitäten). Ebenso kann die Geschlechtsidentität (auch soziales oder psychologisches Geschlecht genannt) von der genitalienbezogenen Zuordnung abweichen (Transgender). Viele weitere Formen auch fluider oder temporärer Geschlechtszugehörigkeiten kommen hinzu. Auch gibt es Personen, die sich jenseits jeglichen Geschlechts positionieren, somit jegliche Geschlechtszugehörigkeit ‚gekündigt‘ haben (dem entsprechen in der Religion AtheistInnen): Sie weisen, egal, wie ihr Körper beschaffen ist, jegliche Vergeschlechtlichung von sich. Hier erlangen die Genitalien den Status von Haarfarbe oder Sommersprossen, sie sind irrelevant. Dabei haben auch geschlechtsfreie Menschen mit der Tatsache zu kämpfen, dass ihnen, ob sie es wollen oder nicht, ein Geschlecht zugewiesen wird: In jeder Begegnung versucht das Gegenüber üblicherweise, ihnen eine Geschlechtsklasse zuzuweisen. Auch das Deutsche erzwingt eine Geschlechtsbinarisierung, da es gerade in zentralen Bereichen nur zwei Optionen (und nicht drei oder vier) vorsieht, so etwa bei der Anrede (Frau oder Herr), in der Warteschlange (die Dame / der Herr war vor mir dran und kaum diese Person war vor mir dran), bei den Pronomen der 3. Person (sie oder er), bei der Namengebung (Michael oder Michaela). Unisexnamen (Toni, Nicola, Kim) werden, wiewohl mittlerweile als vollwertige Vornamen erlaubt, nur selten vergeben und irritieren derzeit noch. Standesämter raten oft von ihnen ab.
Dass Kim de l’Horizon 2022 mit dem Buch „Blutbuche“ sowohl den Deutschen als auch den Schweizer Buchpreis erhalten hat, deutet auf Veränderungen in diesem Bereich hin. Mit kreativer Energie sucht die nonbinäre Erzählfigur in diesem Buch nach einer eigenen Sprache. De l’Horizon praktiziert für sich selbst eine queere Semiotik, die Zobal (2022) so beschreibt:
Der Auftritt der Künstlerfigur anlässlich der Verleihungszeremonie glich der Bestätigung des Geschriebenen. Kim de l’Horizon, eine groß gewachsene, schlanke Erscheinung, der Oberlippenbart streng getrimmt, der lange, schmale Rock, aus dem eine Art Wiese zu wuchern schien, mit grün glitzernden Pailletten besetzt, demonstrierte den Einklang von Literatur und Leben.
Wir werden dieses Spektrum an geschlechtlicher Vielfalt mit in den Bick nehmen, ohne umgekehrt aus dem Blick zu verlieren, dass die große Mehrheit der Menschen der Zweigeschlechtlichkeit frönt und sich mehr oder wenig stark zu ihrem Geschlecht bekennt.1 Beim doing gender (Kap. 2) werden auch biologische Fakten ins Feld geführt: Stimmunterschiede werden dramatisiert, Bekleidungen gewählt, die deutlich auf primäre und sekundäre Geschlechtsmerkmale verweisen bzw. diese exponieren, Operationen durchgeführt, die die biologischen Geschlechtsmerkmale bearbeiten, vergrößern, ‚optimieren‘, betonen, Bärte werden wachsen gelassen etc. Biologische Geschlechtsmerkmale werden somit (neben einer Palette an kulturellen Indices) mehr oder weniger bewusst zur Geschlechtsdarstellung eingesetzt – ein Blick ins Fernsehen, ins Internet oder auch nur ein Schritt vor die Haustür reichen zur Bestätigung dessen aus. Biologische Sexus- und soziale Genderklasse korrelieren zu weit über 90 %, und dies wird von vielen mehr oder weniger betont.
Daher differenzieren wir (entgegen radikalkonstruktivistischen Ansätzen von Judith Butler und anderen) zwischen Sexus und Gender, wohl wissend, dass Gender relevanter für die Geschlechtsdarstellung und -zuordnung ist und in keiner logischen Beziehung zum Sexus steht. Die Soziologie unterscheidet in diesem Sinn zwischen Weibchen und Männchen (Sexus) sowie zwischen Frauen und Männern (Gender) (Hirschauer 2013). Wir alle führen einen Körper mit uns, der für andere sichtbar ist und dem diese ein Geschlecht zuweisen (ein Faktum, das Butler vernachlässigt). Dies zeigt: Geschlecht ‚gehört‘ nicht nur dem Individuum, Geschlecht wird in aller Regel und binnen kürzester Zeit von anderen zugewiesen. Gelingt die Geschlechtszuweisung nicht, führt dies (beiderseits) zu Irritationen. Dies erfahren Transgenderpersonen zu Beginn ihrer Transition, wenn sie Hormone einnehmen, ihre Kleidung verändern etc. Hier erweist sich das alltägliche Interesse an einer wohlgeformten Geschlechtergrenze am offensichtlichsten: „Also uns sind Beschwerden über Sie zu Ohren gekommen. Sie sind geschlechtlich nicht eindeutig“, zitiert eine davon betroffene Trans-Person ihren Arbeitgeber (Schmidt-Jüngst 2018, 66). Viele gehen im Alltag davon aus, dass jede Person genau ein festes Geschlecht hat. Jemanden nach ihrem / seinem Geschlecht zu fragen, bedeutet, es als solches anzuzweifeln. Die meisten Menschen würde diese Frage verstören (sie wird auch kaum gestellt), selbst wenn sie an der Geschlechtsdarstellung (Gender) desinteressiert sind. Ab der Geburt wird das, was Geschlecht primär ausmacht, so schnell und intensiv verinnerlicht, ohne dass man sich dessen bewusst ist (einschließlich vieler Eltern, die behaupten, bei der Erziehung keinen Unterschied zu machen). Da wir uns im Folgenden nicht immer dazu äußern können und wollen, ob Sexus- und Genderklasse übereinstimmen, sprechen wir vereinfachend von Geschlecht, wenn wir die persönliche Geschlechtszugehörigkeit eines Menschen meinen.2 Umso konsequenter werden wir in der Grammatik das Wort Geschlecht meiden (wir sprechen dort nur von Genus).
In ihrem berühmten Werk „Das andere Geschlecht“ (1949) erklärte Simone de Beauvoir:
Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es [d. h.: dazu gemacht]. Keine biologische, psychische oder ökonomische Bestimmung legt die Gestalt fest, die der weibliche Mensch in der Gesellschaft annimmt. (Beauvoir 1992, 334)
Das große Anliegen der linguistischen Geschlechterforschung war und ist es, in diesem Sinn die sprachlichen und kommunikativen Beiträge zur Gestaltung von Männlichkeiten, Weiblichkeiten, Zwischen- und Transidentitäten nachzuzeichnen. Die noch größere Frage, wie es zur sprachlichen Geschlechtsdifferenzierung überhaupt kommt – phylo-, historio- wie ontogenetisch –, ist noch kaum beantwortet: Weder wissen wir, ob alle Sprachen Geschlecht kodieren (und, wenn ja, wie verpflichtend und seit wann), noch wie sich im Zeitverlauf der Ausdruck dieser Information verändert, verstärkt oder abschwächt. Dieses Buch wird dazu neue Einblicke liefern.
Die linguistische, feministisch geprägte Forschung zu Sprache, Gespräch und Geschlecht blickt in Deutschland inzwischen auf eine über vierzigjährige Geschichte zurück. Damit wurde eine soziolinguistische Teildisziplin begründet, die mehr in den USA als in Deutschland intensiv beforscht wird. Da die Genderlinguistik in Deutschland nie institutionalisiert wurde (es gibt keinen germanistischen Lehrstuhl mit genderlinguistischer Ausrichtung), hinkt die Forschung zum Deutschen der englisch-amerikanischen hinterher. Immer wieder werden wir in dieser Einführung auf Forschungs- und Wissensdefizite zum Deutschen hinweisen müssen. Manche Kapitel (z. B. Kap. 12 zur Soziolinguistik) sind darauf angewiesen, sich auf anglophone Länder zu beziehen. Dennoch versuchen wir, uns in dieser Einführung so weit wie möglich auf das Deutsche zu konzentrieren. Dabei müssen wir (aus Platzgründen) kontrastive Betrachtungen, so wichtig und interessant sie wären, weitestgehend ausklammern (dazu seien die Bände „Gender across languages“ von Hellinger / Bußmann 2001–2003 sowie von Hellinger / Motschenbacher 2015 empfohlen, die 42 Sprachen untersuchen). Dennoch hat sich innerhalb der bisherigen Forschung ein breites Spektrum an Fragestellungen entwickelt, das sich mit grammatischem Genus ebenso beschäftigt wie mit Wortbildung, Namen, Kollokationen, Gesprächsforschung und Genderstilisierungen in den sog. Neuen Medien. Dabei kommt eine Bandbreite an qualitativ-interpretativen und quantifizierenden Methoden zum Einsatz.
Zu Beginn der 1970er Jahre entstanden in den USA erste Studien zum Zusammenhang von Patriarchat, Sprache und Diskurs. 1970 hielt Mary Ritchie Key auf der Tagung der American Dialect Society ihren Vortrag „Linguistic Behavior of Male and Female“ (1972), 1972 analysierten Casey Miller und Kate Swift Sexismen im Wortschatz, und 1973 erschien Lakoffs Beobachtungsstudie dazu, wie Frauen in Sprache und Sprechen marginalisiert werden, z. B. wie sie im sog. generischen Maskulinum verschwinden und einen Sprechstil der Zurückhaltung, Unterordnung und Unsicherheit praktizieren, der ihre gesellschaftliche Zweitrangigkeit absichert. LinguistInnen widmeten sich auch der textuellen Repräsentation der Geschlechter, z. B. in Kinder- und Schulbüchern (Nilsen 1971, 1973; Ott 2017a, 2017b), in denen mehr Jungen auftraten und viel interessanteren Tätigkeiten nachgingen als die wenigen Mädchen.
Seither hat sich die internationale linguistische Geschlechterforschung zu einem lebendigen Forschungsgebiet entwickelt. Sie beschäftigt sich mit Grammatik und Diskurs, mit Sprachsystem, Sprachwandel und Sprachverhalten, auch im Kulturvergleich (Günthner / Kotthoff 1991; Hellinger / Bußmann 2001–2003; Hellinger / Motschenbacher 2015). Cameron (1998) und Coates (1998) haben wichtige Veröffentlichungen in zwei Readern zugänglich gemacht. Auch zwei Handbücher zu Sprache, Kommunikation und Geschlecht stehen zur Verfügung (Holmes / Meyerhoff 2003, Angouri / Baxter 2021). In Deutschland bildeten Beiträge von Luise Pusch und Senta Trömel-Plötz den Auftakt zur feministischen Linguistik. Trömel-Plötz (1978) griff in „Linguistik und Frauensprache“ Fragestellungen aus den USA auf und übertrug sie auf das Deutsche. Sie identifizierte und kritisierte dabei bzgl. des Sprachsystems das frauenverschleiernde sog. generische Maskulinum wie der Forscher, bei dem sich Frauen mitgemeint fühlen dürfen, das sich aber oft genug als geschlechtsspezifisch-männlich erweist. Auch Wortbildungsasymmetrien (Gott Göttin, aber Krankenschwester *Krankenbruder) sowie semantische und lexikalische Asymmetrien identifiziert sie erstmals, des Weiteren Unterschiede im sprachlichen Verhalten. Dem folgte die Replik „Die Frauen und die Sprache“ von Kalverkämper (1979), der das Anliegen der Linguistin missverstanden hatte und ihr einen linguistisch-strukturalistischen Nachhilfekurs angedeihen ließ. Dies wiederum hat Pusch (1979) zu einer Antwort veranlasst, in der sie für das Deutsche den Grundstein zur feministischen Linguistik gelegt hat. Dem sind mehrere gewichtige Aufsätze und Bände von Trömel-Plötz, Pusch, aber auch anderen LinguistInnen gefolgt (so 1995 ein Überblicksartikel von Bußmann, mehrere Beiträge von Schoenthal, 2012 der Sammelband „Genderlinguistik“ von Günthner et al., 2022 der Band „Genus – Sexus – Gender“ von Diewald / Nübling). Samel (2000) hat die erste Einführung in die feminische Linguistik verfasst, gefolgt von Klann-Delius (2005). Ayaß (2008) hat mit „Kommunikation und Geschlecht“ eine Einführung in die Kommunikationssoziologie vorgelegt. Bis heute ist die Disziplin der feministischen Linguistik bzw. Genderlinguistik ein umstrittenes und ideologisch umkämpftes Feld. Insbesondere der öffentliche Diskurs nimmt kaum linguistische Forschung wahr und geriert sich nicht selten antiwissenschaftlich, indem wissenschaftliche Befunde als irrelevant abgetan werden. Diese Einführung versucht deshalb, einen Überblick über den aktuellen, oft verstreut publizierten Wissensstand zu liefern und dabei auch die zahlreichen Forschungsdefizite zu benennen. Erfreulicherweise ist seit Erscheinen der 1. Auflage 2018 ein hohes Aufkommen an anspruchsvoller Forschung zu konstatieren, die auf Impulse, Ideen und Forschungsanregungen dieser Einführung zurückgeht.
In diesem Band vertreten wir ein gemäßigtes Konzept des sprachlichen Konstruktivismus. Es besteht kein Zweifel daran, dass Geschlechtsdarstellungen (doing gender) nicht nur durch Kleidung, Körperstilisierungen, Berufe, Tätigkeiten und Institutionen produziert werden, sondern maßgeblich durch Sprache und Sprechen, sei es in Gesprächen und Interaktionen, sei es durch Anreden, Stimmen, Namensnennungen, die Verwendung von Pronomen, oder – auf noch subtilere Weise – durch grammatische Strukturen: Geschlecht ist im Deutschen sehr präsent, man kann der Geschlechtsauskunft kaum entrinnen. Sprachsysteme bestehen aus der Härtung jahrhundertelangen Sprechens der Geschlechter mit- und übereinander. Nicht nur die Lexik (Wortschatz), auch die „Grammatik ist geronnener Diskurs“ (Haspelmath 2002, 270), denn „Grammatik entsteht als Nebenprodukt des Sprechens in der sozialen Interaktion“ (ebd., 262). Offensichtlich ist oder war (viele Jahrhunderte lang) Geschlecht in der Interaktion eine so wichtige Information, dass Geschlechtshinweise tief in die deutsche Grammatik eingesickert sind. Damit handelt es sich um ein kaum zu umschiffendes Phänomen, das die Zweigeschlechtlichkeit ständig aufruft.
Wir betrachten das Verhältnis zwischen Sprache und ‚Wirklichkeit‘ im Sinne eines moderaten sprachlichen Relativitätsprinzips als ein flexibles, wechselseitiges Bedingungsgefüge: Einerseits prägt und präformiert die Sprache als Sediment früherer Diskurse unsere Wahrnehmung (und damit auch die Wirklichkeit). Sie determiniert sie aber nicht; sonst wäre Sprachwandel (der permanent stattfindet) kaum denkbar. Um ein Beispiel für die Macht von Sprache zu liefern: Der lang erkämpften Abschaffung der Anrede Fräulein im Jahr 1972 gingen viele Jahrzehnte voraus, in denen man, um Frauen korrekt adressieren und auf sie referieren zu können, wissen musste, ob sie verheiratet waren oder nicht, d. h. die Kenntnis darüber, ob eine Frau im Besitz eines Mannes war oder nicht, war eine omnirelevante Information, eine zwingende Voraussetzung, um überhaupt über oder mit ihr sprechen können. Alle Frauen waren im Unterschied zu den Männern entsprechend zweigeteilt. Dass das Diminutiv Fräulein die noch unvollkommene, ihrer eigentlichen Bestimmung harrende und nur durch einen Ehemann zu vervollkommnende Frau bezeichnete, kommt hinzu. Andererseits und umgekehrt aktiviert man beim Sprechen eben diese Kategorien und Informationen in jeder einzelnen Äußerung. So sind Ausdrücke wie Köchin, Arzt, sie, er nicht nur bloße Referenzformen, sondern gleichzeitig (je nach Sichtweise auch ausschließlich) sog. Appellationen mit wirklichkeitskonstituierender Funktion (Hornscheidt 1998, 2006). Um auf unser Bespiel zurückzukommen: Mit jeder Verwendung von Frau und Fräulein hat man vor 1972 diese asymmetrische Geschlechterordnung bestätigt und verfestigt. Unseres Erachtens vollzieht sich Wirklichkeit auch jenseits sprachlicher Handlungen, wenngleich sie maßgeblich diskursiv hergestellt wird. So beobachten wir immer wieder, dass und wie veränderte soziale Verhältnisse sich in der Sprache niederschlagen. Hierzu schreibt Haß-Zumkehr (2003):
Wir finden in der Sprache weniger ein Abbild als einen Abdruck der gesellschaftlichen Verhältnisse vor […], der die Wahrnehmung so lange prägt, bis entweder die Verhältnisse oder die Wahrnehmung der Verhältnisse in Misskredit geraten. Bewusste Veränderungen der Sprache sollen die Wahrnehmung korrigieren. Auch veränderte gesellschaftliche Verhältnisse können jedoch zu Veränderungen in der Sprache führen, auf die die feministische Sprachkritik nicht abgezielt hatte. Tatsächlich lässt sich beides oft gar nicht voneinander trennen. (162)
Im Folgenden distanzieren wir uns von einseitig-radikalkonstruktivistischen Ansätzen, die die Sprache bzw. das Sprechen verabsolutieren.
Wir gehen davon aus, dass spezifische Sprechaktivitäten und Kommunikationsstile in der Gesellschaft mit historisch entstandenen Genderassoziationen verbunden sind, die je nach Kontext unterschiedlich genutzt werden können. Innerhalb eines sozialen Milieus eignen sich interpretierbare Genderfolien für die Inszenierung verschiedener sozialer Identitäten. Mit einem zurückhaltenden Gesprächsstil (der traditionell eher als feminin gesehen wird) kann ein Mann sich z. B. in einem bestimmten Kontext als „Nicht-Macho“ oder als „neuer Mann“ inszenieren. Auch Typenzitationen wie das Sprechen in der Rolle eines Kiezdeutsch-Sprechers bedeuten bei männlichen und weiblichen Jugendlichen nicht dasselbe. Wer eine Queer-Identität für sich beansprucht oder eine andere Art von Transgression lebt, kann diese über semiotische Anleihen hier wie dort kommunizieren. In den folgenden Kapiteln wird unsere gegenstandsorientierte Herangehensweise an Geschlechterverhältnisse in Sprache und Kommunikation deutlicher. Wir konzipieren die Genderlinguistik so, dass auch Fragen einer „queeren Linguistik“ (Motschenbacher 2012) eingehen.
Im Buch gibt es Kapitel, die von ihrer methodischen Ausrichtung her historisch-philologisch, textanalytisch-philologisch, experimentell-psycholinguistisch oder quantitativ-korpuslinguistisch orientiert sind. Daneben stehen sozialwissenschaftlich oder medienwissenschaftlich ausgerichtete Zugänge. Selbst naturwissenschaftliche Anteile kommen in Kap. 3 über die Stimme ins Spiel. Die Gesprächs- und Medienforschung (Kap. 13, 14, 15) verbindet sozialwissenschaftliche und linguistische Methoden.
Vorab ein Wort zur Personenreferenz: Da ein generisches Maskulinum (Kap. 5) nur beschränkte Gültigkeit hat, werden wir es weitgehend meiden. Statt ein bestimmtes Verfahren dogmatisch durchzudeklinieren (wovon auch alle Ratgeber abraten), verwenden wir eine bunte Mischung an geschlechterbewussten Formulierungen, auch, aber nicht ausschließlich, nicht-binarisierende. Unter anderem praktizieren wir das, wofür uns „Das kleine Etymologicum“ von Kristin Kopf (2014) als Vorbild erscheint. Hier die betreffende Passage:
Bei generischer Verwendung von Personenbezeichnungen (wenn keine konkreten Individuen gemeint sind) wird in diesem Buch die weibliche oder die männliche Form gebraucht. Die Zuweisung erfolgt per Zufall, über eine randomisierte Liste. Gemeint sind aber immer alle Menschen, egal welchem Geschlecht sie sich zugehörig fühlen (oder ob sie das überhaupt tun). Auch die Fälle, in denen unklar ist, ob beide Geschlechter gemeint sind, wurden großzügig den generischen Bezeichnungen zugeschlagen. Sie werden im Folgenden also auf Vorfahrinnen, Griechinnen, Lexikografinnen … stoßen, die alle Nicht-Frauen mitmeinen – und auf Ahnen, Goten und Sprachwissenschaftler, die die Nicht-Männer mit einschließen. (11)
Eine der häufigsten Reaktionen auf dieses Buch bestand in dem interessanten Vorwurf, Frauen genannt zu haben, wo angeblich eindeutig nur Männer gemeint sein können. So bestand man bspw. ohne Rücksicht auf historische Tatsachen darauf, dass an der Völkerwanderung nur Männer beteiligt waren. Hinzu kam, dass die weiblichen Formen, obwohl sie im Buch genau 50 % ausmachen, als dominierend kritisiert wurden. Dies deutet auf ein generelles Male-as-norm-Prinzip hin, wonach Menschen als Männer vorgestellt werden (man vergegenwärtige sich nur das Endprodukt bei Darstellungen der Entwicklung vom Affen zum Menschen). Dem kann man, wie mittlerweile erwiesen ist, nur mit der Sichtbarmachung von Frauen begegnen. In dieser Einführung praktizieren wir also Mischverfahren, die den Text nicht schwerfälliger werden lassen.
Unser Band enthält neben dieser Einleitung 14 Kapitel, die kurz skizziert werden.
Kap. 2, „Doing, undoing und indexing gender“ stellt die Konzepte des doing gender und indexing gender vor. Gesellschaften haben Vorstellungen davon, welches kommunikative Verhaltensrepertoire eher als weiblich oder als eher männlich gilt, und auch Praktiken, Kindern und Erwachsenen diesbezügliche Erwartungen zu spiegeln. Hat sich im Laufe seiner Enkulturation ein Kind etwa über Kleidungs- und andere Verhaltenssemiotiken zu einem erkennbaren Mädchen oder Jungen gemacht, braucht diese Mitgliedschaftskategorie nur noch mitzulaufen, kann aber auf unterschiedliche Art und Weise salient gemacht werden. Viele Anzeigeverfahren von Gender sind bspw. über die Mode habitualisiert. In der Kommunikationsstilistik gibt es keine strenge Genderexklusivität, sehr wohl aber in manchen Bereichen höhere Auftretensfrequenzen (z. B. freundliches Lachen bei Frauen). Dies indiziert Unterstützung des Gegenübers, die weiblich konnotiert ist. Alle Geschlechter können sich so verhalten und erlangen darüber spezifische Identitätsprofile.
Kap. 3, „Prosodie und Phonologie“, befasst sich mit der Stimme, die man (wie kaum sonst etwas Sprachliches) für etwas so Biologisches und Angeborenes hält wie Haare oder Körperteile. Forschungen zeigen jedoch, dass auch die Stimme, ihre Tonhöhe und ihr Verlauf (Modulation) weitaus mehr Kultur als Natur enthält. Auch werden Frauen- und Männerstimmen durch Höher- bzw. Tieferlegung voneinander differenziert, ihr Überschneidungsbereich wird schärfer abgetrennt als natürlicherweise der Fall. Frauen- und Männerstimmen verändern sich auch historisch, und sie unterscheiden sich im interkulturellen Vergleich. Als noch konstruierter erweist sich die Singstimme. Ab dem 19. Jh. wurden Tenor und Alt voneinander separiert und Frauen- und Männerstimmen außerdem klanglich polarisiert (Koloraturen werden weiblich).
Kap. 4, „Nominalklassifikation“, widmet sich der zweifachen Klassifikation der Substantive durch Genus und durch Deklinationsklasse (als der Art und Weise, Kasus und Numerus auszudrücken). In diesen Tiefen der deutschen Grammatik haben sich (historische) Geschlechtervorstellungen verfestigt, ohne dass wir uns dessen bewusst sind. Hier legen wir die Bezüge sowohl von Genus als auch von Deklinationsklasse zu Geschlecht offen. Beide Klassifikationen haben großen Anteil an der Produktion der Zweigeschlechtlichkeit und der asymmetrischen grammatischen Ausstattung entsprechender Personenbezeichnungen. So ist es kein sprachgeschichtlicher Zufall, dass maskuline Personenreferenzen am Nomen drei bis vier Kasus unterscheiden, feminine dagegen gar keinen. Dies weist subtil auf handlungsmächtige Männer und ohnmächtige Frauen hin. Beim Genus erweisen sich Frauenbezeichnungen im Neutrum (Weib, Mädchen, Fräulein) als Hinweise auf unangenehme oder auf unreife, sozial unfertige Frauen, die ihr gesellschaftlich vorgesehenes Ziel (Ehe und Mutterschaft) noch nicht erreicht oder verfehlt haben.
Kap. 5 zum sog. generischen Maskulinum behandelt ein besonderes Thema von Kap. 4, nämlich die vieldiskutierte Frage, ob das grammatische Maskulinum bei Personenbezeichnungen (wie der Linguist) sich auf beide Geschlechter zu beziehen in der Lage ist, wie dies manche Grammatiken und viele Laien behaupten. Um diese Frage linguistisch anzugehen, referieren wir (psycho-)linguistische Untersuchungen, die wir abschließend interpretieren und einordnen. Vor allem nehmen wir grammatische und referenzsemantische Unterscheidungen vor, die u. a. den Numerus und die Referenzialität dieser Maskulina berücksichtigen und sich auf die geschlechtsübergreifende Rezeption auswirken. Auch Indefinitpronomen wie man, jemand, keiner werden berücksichtigt.
Kap. 6 thematisiert die Morphologie, vor allem die Wortbildung. Hier wird das breite Spektrum an morphologischen und morphosyntaktischen Verfahren der Geschlechtsspezifikation und der Geschlechtsabstraktion vorgestellt, z. B. (häufige) Feminin- und (seltene) Maskulinmovierungen (Köchin – Witwer), substantivierte Partizipien und Adjektive (Behinderte, Arbeitslose), Attribute wie weiblich / männlich und die Frage, wann und zu welchem Zweck welche Strategie gewählt wird. Dass und warum Diminution mehr mit weiblichem als mit männlichem Geschlecht zu tun hat, wird ebenfalls erhellt.
Kap. 7 befasst sich mit der Syntax. Zunächst werden syntaktische Verfestigungen in Form sog. Formulierungs- oder Sprachgebrauchsmuster erfasst, so das häufige Faktum, dass die (Ehe-)Frau syntaktisch hinter ihrem Mann herläuft und dabei in seinem Schatten bleibt, denn meist wird sie gar nicht (anonym) oder weniger individualisiert als er (etwa durch den bloßen Vornamen), z. B. Helmut Kohl und Frau (Hannelore). Die bei Katastrophenmeldungen zu lesende Wendung darunter auch Frauen und Kinder weist dagegen Verletzung oder Tod von Männern als verschmerzbar aus. Wir wenden uns auch sog. Binomialen (Koordinationen) zu, die – je nach Kontext – den Mann vor die Frau (Mann und Frau) oder die Frau vor den Mann stellen (Mama und Papa). Hier zeigen wir, dass soziale Geschlechterrollen die jeweilige Abfolge bestimmen und dass es diachron zu Veränderungen kommen kann. Auch die neue Methode des Word Embeddings wird gestreift, die semantischem Wandel empirisch nachgeht.
Kap. 8 adressiert den Kernbereich sprachlicher Bausteine, die Lexeme. Es klärt zunächst die Etymologie von Geschlecht sowie der wichtigsten Frauen- und Männerbezeichnungen. Dann wendet es sich der Pejorisierung und ihren Qualitäten zu, die viele Frauenbezeichnungen im Laufe ihrer Geschichte erfahren haben. Auch werden Geschlechterstereotype in Sprich- und Schimpfwörtern herausgearbeitet. Anschließend werden lexikalische Asymmetrien identifiziert, etwa dass ein Liebhaber etwas anderes ist als eine Liebhaberin, aber auch dass Mutter und Vater sich durch mehr als ihr Geschlecht unterscheiden. Abschließend wird das lexikografische doing gender in Wörterbüchern aufgezeigt, in denen oft jahrhundertealte Stereotypen unreflektiert überdauert haben. Nicht unerwähnt bleiben soll das linguistische doing gender, indem sich die Disziplin selbst an der Her- und Darstellung von Geschlecht beteiligt.
Kap. 9 befasst sich mit einer der größten Bühnen der Geschlechterdarstellung, den Personennamen. Bekanntlich verweisen Vornamen direkt auf ein bestimmtes Geschlecht, Unisexnamen werden selten gewählt. Geschlecht lässt sich dabei der Phonologie von Rufnamen entnehmen, d. h. es ist tief in diese Strukturen eingelassen. Bis ins 18. und 19. Jh. hinein war es üblich, die Familiennamen von Frauen zu movieren (die Lutherin). Dieser sprachlich markierten Zugehörigkeit zu einem Mann entspricht noch heute die Praxis, dass bei der Eheschließung in der großen Mehrzahl der Fälle die Frau den Namen des Mannes annimmt. Schließlich wird auch mit der dialektal gegebenen Möglichkeit der Neutralisierung weiblicher Rufnamen (das Heidi), aber auch von Familiennamen (das Merkel) ein namengrammatisches Thema aufgegriffen und der Ratio dahinter nachgegangen.
Mit der Schreibung in Kap. 10 beschließen wir den systemlinguistischen Teil. Auch die Schreibung leistet einen beträchtlichen Beitrag zur Geschlechterunterscheidung. So hat sich die Substantivgroßschreibung bei Lexemen für Männer früher durchgesetzt als bei solchen für Frauen. Bei Bezeichnungen für Frauen existierte sogar eine negativ-evaluative Kleinschreibung für diejenigen, die man für Hexen hielt. Schließlich werden die verschiedenen (typo)grafischen Strategien binarisierender und nicht-binarisierender Sonderzeichen behandelt, die entweder Frauen und Männer sichtbar machen sollen (z. B. Schrägstriche oder Binnenmajusklen) oder Personen, die sich jenseits der Zweigeschlechtlichkeit verorten (Unterstriche, Sterne, Doppelpunkte).
Kap. 11, „Gender, Sozialisation, Kommunikation“, fragt danach, wie das Kind die Kategorie Gender erwirbt. Beim Hineinwachsen in eine Kultur begegnen dem Kind implizite und explizite Verfahren, die auf Gender hindeuten. In Westeuropa und Amerika ist eine kontextuelle Diversität beobachtbar, bspw. wird in Kindergartenstudien keine starke Genderdifferenzierung in Interaktion und Verhalten der Erzieher/innen gegenüber den Kindern mehr belegt. Gleichzeitig ist Gender Marketing zu einem unübersehbaren Faktor geworden: Die Produktwelt besonders für Kinder ist in den letzten Jahren einer absurden Zweiteilung ausgesetzt worden, gegen die die rosa und blauen Strampelhosen von vor 50 Jahren harmlos sind. In diesem Kapitel wird ein Überblick über Familieninteraktionen, Gender in Kindercliquen, in der Schule und im Konsumsektor gegeben.
In Kap. 12, „Gender in der Soziolinguistik“, rekapitulieren wir die Forschung zu Gender in der korrelationalen und interaktionalen Soziolinguistik. Sehr oft hat diese gezeigt, dass phonetische, syntaktische und auch pragmatische Variablen nicht nur eine Schichtenprägung aufweisen, sondern auch zwischen den Geschlechtern systematisch variieren. Die im englischen Sprachraum durchgeführten Studien zeigen, dass Menschen sich mittels einer bestimmten Aussprache oder eines Satzbaus mehr oder weniger unbewusst als einen sozialen Typus entwerfen. So spielt bspw. auch kulturelle Widerständigkeit in solche Selbstinszenierungen hinein. Die deutschsprachige Soziolinguistik ist im Hinblick auf die Integration sprachlicher Indices in eine soziale Semiotik viel zurückhaltender und liefert deshalb in Bezug auf Gender wenig Erhellendes.
In Kap. 13, „Gender im Gespräch“, wird kurz auf verschiedene Sprachverhaltensbereiche eingegangen, die in der nun fast fünfzigjährigen Geschichte der linguistischen Genderforschung als mehr oder weniger typisch für das eine oder andere Geschlecht angesehen wurden: Unterbrechungen, hohe Direktheitsstufen bei Aufforderungen und humoristischen Frotzelaktivitäten, Eingehen auf Themen, Herausstreichen eigener Kompetenzen usw. Dabei muss feministische Folklore an manchen Stellen zurückgewiesen werden, so die des Unterbrechens als männlicher Verhaltensstrategie. Als sehr relevant zeigt sich, dass jeweils gleiche Sprachverhaltensweisen oftmals von der sozialen Umgebung nicht gleich rezipiert werden. Tatsächlich ist beispielsweise die Autorität weiblicher Führungspersonen weniger gesichert als die männlicher. Die Statusdimension ist durchgängig mit Gender verquickt. Hohe Redezeiten und Themengestaltungen in Gesprächen sind primär mit Status verbunden. Auch die Genderdimensionen von Scherzkommunikation werden erhellt. Aus der Beobachtung, wer sich wem gegenüber welche Scherze erlauben kann und ob und wie diese von den Interagierenden goutiert werden, lässt sich die soziale Mikrostruktur einer Situation ablesen.
In Kap. 14, „Fernsehen, Radio und Printmedien“, stellen wir interdisziplinäre Zugänge zu verschiedenen Bereichen der massenmedialen Kommunikation vor. Frauen sind noch immer viel weniger nachrichtenwürdig als Männer, was die Machtverteilung in der Welt unmittelbar ausdrückt. Männer in bedeutenden Positionen dominieren nach wie vor die Massenmedien. So rekreieren Fernsehen, Radio und Zeitungen assoziative Verbindungen von Männlichkeit und Macht. Unterhaltungs- und Wettkampfshows wie „Germany’s next Topmodel“ und die Werbung werden etwas genauer betrachtet, z. B. die Entwicklung der Radiowerbung unter Einschluss der Analyse einiger Spots. Vor allem in der TV- und Bühnencomedy finden sich graduell unterschiedlich starke Inszenierungen widerständiger weiblicher Typen, deren Spektrum sich enorm erweitert hat. Wir arbeiten bei der Beschreibung komischer Figuren weiterhin mit dem Ansatz der sozialen Indexikalisierung.
Im letzten Kap. 15 wird danach gefragt, inwieweit die durch die Neuen Medien geschaffenen vielfältigen Kommunikationsmöglichkeiten mit z. T. spezifischer sprachlicher Ausgestaltung Geschlechtsunterschiede in der Nutzung aufweisen, welche Stilisierungen von Gender sich herausgebildet haben und ob die sprachlichen Handlungsmöglichkeiten im Netz die Binarität der Geschlechter verstärken oder zu ihrer Auflösung beitragen. Einbezogen werden auch Analysen multimodaler Texte, da visuelle Daten Aufschluss darüber geben können, wie die Gestaltung des Köpers zu Genderkonstruktionen beiträgt. Hier wird vor allem auf die Funktion und Gestaltung von Selfies eingegangen. Berücksichtigt werden neben (internet-)linguistischen Arbeiten Forschungsergebnisse aus den Medienwissenschaften.
1Am 29.12.2022 berichtete die Berliner Zeitung, dass es 137 Einträge mit der Angabe „divers“ im Berliner Melderegister gebe. Das seien 0,0037 Prozent der rund 3,7 Millionen Einwohner(innen) von Berlin.
2Wichtig ist: Geschlecht wird in dieser Einführung niemals für Genus verwendet, auch wenn dies in der öffentlichen und leider auch in der linguistischen Diskussion immer wieder passiert. Zur „begrifflichen Kontamination“ (Irmen / Steiger 2005, 217) von Geschlecht in der Bedeutung von Genus sowie zur „Sexualisierung der Grammatik“ (218) s. Irmen / Steiger (2005), Hornscheidt (1998) und Doleschal (2002).
Den Basisgedanken einer gesellschaftlichen Konstruktion von Geschlecht stützen wir auf Berger / Luckmanns (1966 / 1987) Sicht, nach der in der Alltagswelt die Vis-à-vis-Situation zentral ist, in der Menschen in Aktion, Reaktion und Gegenreaktion miteinander interagieren (Reziprozität). Die / der Andere ist dabei als anderes Subjekt wahrzunehmen und bildet ein Spiegelbild für die eigene Ich-Wahrnehmung. Die Vis-à-vis-Interaktion ist dynamisch und flexibel, folgt aber vorgeprägten sozialen Typisierungen, die im Laufe der Geschichte spezifische Prägungen erfahren haben. In solche Prägungen wird ein Kind zunächst hineingeboren. Eine historische Perspektive auf soziale Typisierung ist somit von Belang. Der Basisgedanke der gesellschaftlichen Konstruktion verleugnet in unserer Lesart keine biologischen Gegebenheiten, sondern beleuchtet deren Aus- oder Umbau, Unterstreichung und (Ir)Relevantsetzung.
Die sogenannten Baby X-Studien zeigen eindrücklich, dass und wie die Erwachsenen das gesellschaftliche Gendersystem an das Kind herantragen (mehr in Kap. 10). Erwachsene fahren mit dem zunächst von der Genitalienbestimmung ausgehenden Sortiervorgang für das Kind fort, indem sie z. B. das Schreien eines männlichen Babys eher als Ausdruck von Aggression hören als das Schreien eines weiblichen: Als den Erwachsenen in einem viel zitierten Experiment erzählt wurde, dass ein kleines Mädchen schreie, interpretierten sie dasselbe Schreien desselben Kindes eher als Ausdruck von Angst (Condry / Condry 1976).
Man hört derzeit manchmal die Kritik, in den Anfängen der Geschlechterforschung sei diese essentialistisch vorgegangen (Kerner 2007); sie sei von einer biologischen Essenz ausgegangen und habe aus dieser psychische Eigenschaften und Verhalten abgeleitet. Wir werden sehen, dass diese Kritik auf die linguistische Forschung nicht zutrifft. Zumindest weite Teile der sprach- und kommunikationswissenschaftlichen Geschlechterforschung standen von Anfang an eher in einer durch George Herbert Mead geprägten, interaktionssymbolischen Tradition und in einer sozialkonstruktivistischen.
Sozialkonstruktivismus in der Geschlechterforschung
In dieser Tradition geht man davon aus, dass Kinder durch eine historisch vorgeprägte Sicht auf soziale Typen indirekt ihre Selbstwahrnehmung lernen. Das heißt nicht, dass man sie als eine „black box“ sieht, auf die das gesellschaftlich vorherrschende Genderbild einfach projiziert wird. Prägungen gehen aber entlang gängiger Vorstellungen von weiblichem und männlichem Verhalten vonstatten, die die Kinder in ihren jeweiligen Lebenswelten verstärken oder abmildern können. Im Zusammenhang mit der Interpretation ihrer Äußerungen und ihres Verhaltens bilden sie entsprechende Gefühle auch in Bezug auf sich selbst aus.
In den Sozial- und Kommunikationswissenschaften stellt sich bei allen sozialen Kategorien, denen im Alltag Relevanz zugeschrieben wird, die Frage, wie dies geschieht (Kotthoff 2002a). In keiner (bekannten) Kultur bleibt es bezüglich folgenschwerer sozialer Kategorien grundsätzlich nur beim Konstatieren physischer oder psychologischer Differenzen. Auch der sozialen Kategorie Alter liegt beispielsweise zunächst ein physiologischer Prozess zu Grunde. Darüber hinaus wird gesellschaftlich relevant gesetzt, dass beispielsweise ein Kind ab einem gewissen Alter laufen lernt; Alter ist mit Verhaltensstandards verbunden; Jugendliche markieren den Übergang von der Kindheit zum Jugendalter aktiv, indem sie sich anders kleiden und anderen Aktivitäten nachgehen (auch gehört Rauchen oft als semiotische Anzeige des Verlassens des Kind-Status dazu; Eckert 2014). In konservativ-islamischen Milieus soll das geschlechtsreife Mädchen sein Haar verbergen. Mit dem Erreichen der Menstruation und Gebärfähigkeit wird nun über ein Kopftuch in der Öffentlichkeit die Relevanz von Alter, Religion und Geschlecht gleichzeitig semiotisch demonstriert. In vielen Gesellschaften leistet beispielsweise das Auftragen von Make up die gekoppelte Anzeige von Alter und Weiblichkeit. Genauso wie es eine große Bandbreite an Möglichkeiten gibt, die Kategorie Alter über den Körper hinaus oder gegen ihn gerichtet (das Ziel der Kosmetikindustrie) semiotisch kundzutun, bietet auch das soziale und kulturelle Geschlecht (Gender), die Möglichkeit, in graduell abgestufter Relevanz inszeniert zu werden.
In den Sozialwissenschaften arbeiten wir zur Erfassung der Relevantsetzung mit dem Konzept des doing gender, das auf Harold Garfinkels „Agnes-Studie“ (1967) fußt. Agnes (Pseudonym) wurde 1958 an das Medical Center der University of California Los Angeles überwiesen. Sie besaß weder Eierstöcke noch Gebärmutter. Die männlichen Genitalien, die für Agnes einen grausamen Schlag des Schicksals darstellten, wurden ihr entfernt. Um die Operation herum wurde das Lernen weiblicher Verhaltensweisen zentral. Agnes war fortwährend damit beschäftigt, sich als Frau zu präsentieren und dies zu routinisieren. Diesen Vorgang nennt Garfinkel (1967, 118) „passing“. Ihr Geschlecht verlangt nun eine Ausübung, die Kinder meist ohne hohe Bewusstheit allmählich erwerben. Diese Ausübung („doing“) von Femininität verlangt beispielsweise als weiblich geltende Kleidungs- und Haarstile und Arbeit an der Stimme (Kap. 3). „Doing“ (tun) erfasst zunächst die Alltagsbeobachtung, dass Geschlecht einer Inszenierung bedarf, wenn es bemerkbar sein und Konsequenzen haben soll, die für alle interpretierbar sind.
Der Soziologe Garfinkel verfolgte, wie sich die Transfrau Agnes nach ihrer Operation (vom Mann zur Frau) auf allen Ebenen des Verhaltens in das kulturelle Frau-Sein im Kalifornien der sechziger Jahre einübte, darunter auch das Gesprächsverhalten. Zunächst einmal hatte Agnes sich nach der Entscheidung, als Frau leben zu wollen und nach Operationen, mittels Kleidungs- und Körpergestaltungssemiotik als erkennbare Frau umstilisiert. Auf dieser Ebene liegen auch heute noch die auffälligsten Genderstilisierungen.
Auf dem Terrain des Gesprächsverhaltens musste und wollte Agnes z. B. lernen, sich in argumentativen Gesprächen nicht durchzusetzen, sondern stattdessen einzulenken, was sie und ihr Umfeld als typisch für Frauen erkannt hatte. Vor allem ihr Freund lehrte sie, nicht zu insistieren und nicht so stark ihre Meinung zu verteidigen, weil das unweiblich sei. Ihr soziales Umfeld fungierte dabei als Ratgeber für das Aufführen von Frau-Sein. Sie musste und wollte es lernen, sich von Männern bestimmte Höflichkeiten angedeihen zu lassen und andere selbst zu praktizieren. Agnes hörte auf, Frauen zur Zigarette Feuer zu geben und hielt stattdessen selbst einem Mann sichtbar ihre der Anzündung harrende Zigarette hin, damit dieser sein Feuerzeug zücke. Agnes verwendete viele Euphemismen, weil sie das als frauentypisches Sprechen empfand. Garfinkel diskutierte Verhaltensweisen, die damals noch gemeinhin als natürlich galten, als in kultureller Praxis wechselseitig erzeugtes „accomplishment“ (Leistung). Die Komponenten der Genderpraxis konnten in Agnes’ Umfeld gut in ihrer Machart und Bedeutung erkannt werden.
Der Gedanke der interaktiven Wechselseitigkeit ist für die gesamte Ethnomethodologie sehr bedeutungsvoll. Ayaß (2007) verdeutlicht, dass auch Garfinkel selbst am doing gender rund um Agnes beteiligt war, weil auch er sie genderspezifisch behandelte (z. B. sie durch spezifische Höflichkeiten als Frau bestätigte und sich selbst gleichzeitig als Mann).
Ayaß (2008, 152) widmet der Rezeptionsgeschichte dieser klassischen Studie, die diesseits- und jenseits des Atlantiks lange ignoriert wurde, einige Ausführungen. Mit Hirschauer (1993b, 58) konstatiert Ayaß, dass „ein Gutteil feministischer Grundlagenforschung außerhalb der Frauenforschung stattfand.“ Butlers theoretisches Buch „Gender Trouble“ lese sich wie ein spätes Echo auf Garfinkels und Goffmans Studien. Allerdings nehme Butler gar nicht zur Kenntnis, dass ihre wesentlichen Thesen von der sozialen Konstruiertheit des Geschlechts bereits bei Garfinkel zu finden seien, der solche Prozesse auch empirisch rekonstruiert habe. Wir möchten diese bedenkliche wissenschaftsgeschichtliche Unterschlagung, der sich auch in der Folge Forscher/innen blind angeschlossen haben (z. B. betreibt Villa 2003 in ihrer Einführung in Butlers Werk keine Richtigstellung bezüglich der Entwicklung konstruktivistischen Denkens über Gender), nicht fortsetzen und kommen auf andere Kritikpunkte an dem einflussreichen Buch „Gender Trouble“ später zurück.
Hirschauer (1993a) hat etwa dreißig Jahre später mittels einer ethnografischen Studie darüber, wie die Transition sowohl von Frau zu Mann wie von Mann zu Frau vor sich geht, sehr genau beschrieben, was medizinische und psychologische ExpertInnen leisten, um diese durch ihr professionelles Engagement eine soziale Wirklichkeit werden zu lassen. Dabei belegt er mit einer Fülle ethnografischer Daten die allgemeine These, „daß die medizinische Konstruktion der Transsexualität ein immanenter Bestandteil der zeitgenössischen Konstruktion der Zweigeschlechtlichkeit ist“ (ebd., 9). Gerade weil die Trennung der Geschlechter im Alltag immer weniger gelebt werde, erweise sich die „Geschlechtsidentität“ als „letzte Bastion des Glaubens an ein wahres Geschlecht“ (1993, 115). Dieser Glaube findet sich nicht nur bei Stimmexperten und Kosmetikerinnen, die beim passing zu Werke gehen.
Nur kurz nach Erscheinen von Garfinkels Studie hat Erving Goffman die Betrachtungsweise von Geschlecht innerhalb der Soziologie und den Kommunikationswissenschaften weiter revolutioniert. Er kritisiert im „Arrangement der Geschlechter“ (1977) die Sozialwissenschaften, welche bis dato die Prozesse der fortlaufenden Geschlechterkonstruktion kaum erforscht hätten. Für viele Wissenschaftler/innen war die Bedeutung des Faktors Geschlecht ein Phänomen, welches im Rahmen von Rolle, Privileg und Benachteiligung erfassbar schien. Mit der Untersuchung von „Rollenverhalten“ seien sie, so Goffman, der immensen Bedeutung des geschlossenen Bündels an Glaubensvorstellungen und Praktiken nicht gerecht geworden, welche geltend gemacht werden, um das gesellschaftliche Arrangement der Geschlechter als natürliches auszugeben und abzusichern.
Goffman ist hauptsächlich in seinem Buch „Gender Advertisement“ (1976, dt. „Geschlecht und Werbung“ 1981) und in seinem Aufsatz „The Arrangement between the Sexes“ (1977, dt. 1994) auf die Methoden der Geschlechterstilisierung eingegangen. Wir verdanken ihm die Betrachtungsweise von Geschlecht als naturalisiertem Ordnungsfaktor von Interaktionen, eine Konzeption, welche weit reichende theoretische und empirisch-forschungspraktische Ausblicke auf Fragen von Geschlechterverhältnissen und Kommunikation eröffnete.
Seine Genderanalysen fügen sich konsequent in seine Studien zu Interaktionsritualen ein. Sein Forschungsprogramm lässt sich als das Studium der direkten und unmittelbaren Interaktion umreißen, wie es Knoblauch (1994) im Vorwort zur Herausgabe seiner Schriften zu Gender herausgearbeitet hat. Im Zusammenhang mit der Erforschung der Interaktionsordnung hat er sich auch Fragen der Darstellung von Männlichkeit und Weiblichkeit gewidmet; diese Darstellungen implizieren immer auch normative Zuweisungsakte für die gesellschaftlichen Plätze der Individuen. Verschiedentlich ist Goffman dem Vorwurf begegnet, er analysiere nicht die Gesellschaft mit ihren Schichten-, Klassen- und Einkommensstrukturen, sondern Verhalten von Individuen. Dieser Vorwurf könnte potentiell auch die Genderanalysen betreffen. Kaum je ist bei ihm die Rede davon, dass Männer weltweit den Großteil der Produktionsmittel besitzen und Frauen schlechter bezahlt werden und außerdem in der Regel die Familienarbeit auf ihren Schultern lastet. Hier gilt, was er in der „Rahmen Analyse“ süffisant zu bedenken gab: „Persönlich halte ich die Gesellschaft in jeder Hinsicht für das Primäre und die jeweiligen Beziehungen eines einzelnen für das Sekundäre; die vorliegende Untersuchung beschäftigt sich nur mit Sekundärem (22 ff.).“
Goffman geht davon aus, dass sich die Verhaltenssymbolik der Geschlechter zu einem gewichtigen Teil an der Mittelschichts-Idealversion des Eltern-Kind-Komplexes orientiere. Zu diesem humanen Grundmuster gehöre das hilflose Kind und der es beschützende Erwachsene. Da Goffman glaubt, dass Männlichkeitsrituale sich eher am Elternstatus orientieren und Weiblichkeitsrituale eher am Kindstatus, belasse ich es bei der Redeweise „der Erwachsene“. Wir zählen ein paar Bereiche auf, in denen Rituale des Genderismus Elemente aus dem Eltern-Kind-Komplex in Szene setzen.
•Das Kind ist bewegungsmäßig instabil. Es wird vom Erwachsenen gestützt. Weibliche Kleidung (Stöckelschuhe, enge und komplizierte Röcke) ritualisiert Instabilität.
•Der Erwachsene erklärt dem Kind die Welt; er belehrt und das Kind nimmt die Belehrungen an. In unserer Berufswelt gelangen Frauen seltener in die Positionen und Institutionen, welche die Welt erklären.
•Das Kind darf sich emotional freier ausdrücken als der beherrschte Erwachsene. Es darf weinen, herumalbern und euphorische Bewegtheit ausdrücken. Starke Gefühlsbewegungen gelten bei uns als unmännlich, aber durchaus als weiblich.
•Der Erwachsene muss immer bereit sein zur Selbstverteidigung, Frauen und Kinder nicht. Männer bewaffnen sich auch in Bedrohungssituationen mehr als Frauen.
An der Dramatisierung (Relevanzzuspitzung) der sexuierten Sozialordnung in alltäglichen Begegnungen sind viele Verhaltensdimensionen beteiligt, z. B. kann ich mich mehr oder weniger genderisiert kleiden oder mich mehr oder weniger im Sinne kultureller Stereotype verhalten. Ich kann als Frau eine hohe Stimme mit starker Behauchung für mich einspielen oder auch nicht (Kap. 3).
Ähnlich wie die Ethnomethodologie geht Goffman davon aus, dass der Zugang zu gesellschaftlichen Positionen, Rängen und Funktionen kein ausschließlich exogener Faktor der Kommunikation ist, sondern endogen in der sozialen Begegnung mitproduziert wird. Ich bin also in Bezug auf meine Rolle gesellschaftlich nicht ausschließlich durch äußere Faktoren festgelegt, sondern produziere sie selbst im Austausch mit. Daher rührt das starke Interesse der sozialkonstruktivistischen Richtungen an Interaktionen.
Rekonstruktion der Genderrelevanz: Hier lässt sich nachzeichnen, dass beispielsweise eine junge Frau in einem Prüfungsgespräch kaum zu Wort kam, weil der ältere, männliche Professor die Themen selbst ausformulierte. Wenn wir nur diesen einen interaktionalen Kontext analysieren, können wir die Struktur des Gesprächs beschreiben, wissen aber nicht, ob hier tatsächlich Genderkategorien die institutionellen Kategorien überschrieben haben. Wusste die junge Frau nichts, so dass der Professor selbst reden musste? Tritt der Professor gegenüber männlichen und weiblichen Studierenden unterschiedlich auf? Wenn wir sagen, dass Gender aus einem Bündel an Typisierungen besteht, müssen wir diese personen- und situationenübergreifend nachweisen.
In „Das Arrangement der Geschlechter“ erläutert Goffman Geschlecht als eine Angelegenheit institutioneller Reflexivität. Das heißt, dass das soziale Geschlecht so institutionalisiert wird, dass es genau die Merkmale des Männlichen und Weiblichen entwickelt, welche angeblich die differente Institutionalisierung begründen. Sein durchgängiges Argument lautet, dass die körperlichen Unterschiede zwischen den Geschlechtern als solche keine große Bedeutung haben für die Fähigkeiten, die wir für die Bewältigung der meisten Aufgaben im Alltag brauchen. Warum also, lautet dann die Frage, lassen Gesellschaften irrelevante Unterschiede sozial so bedeutsam werden, dass sich die ganze Arbeitsteilung darauf aufbaut? Diese Institutionalisierung von zwei Geschlechtern schließt immer auch normative Zuweisungsakte für die gesellschaftlichen Plätze der Individuen ein. Unterschiedliche Zugangsmöglichkeiten zu gesellschaftlichen Positionen sind darin eingeschlossen. Wenn beispielsweise weibliche Wesen als zart gelten, kann die Kleidung dies unterstreichen (was sie bis heute in vielen Kulturen tut). Man erlaubt weiblichen Kindern kein lautes Herumbrüllen, weil es nicht zu den Annahmen passt, die man sich bereits gebildet hat. Zur Zartheit passt Turnen besser als Fußball. Solche Prozesse der Verstetigung nennt Goffman „Institutionalisierung“.
Die Institutionalisierung der Geschlechtlichkeit lässt sich an bestimmbare biologische Merkmale rückbinden. Der Verankerungsprozess biologischer Differenz ist aber in allen seinen Schattierungen sozial. Obwohl die kulturellen Ausdrucksformen des Männlichen und des Weiblichen kaum etwas mit der Biologie zu tun haben, liefert diese dennoch die Grenzlinien, woran Semiotiken rückgekoppelt werden. Der Code des Geschlechts prägt die Vorstellungen der Menschen von ihrer Natur, nicht umgekehrt. Genau diesen Gedanken schreibt Butler (1988) sich originär selbst zu. Insofern entspricht Goffmans Sicht auch derjenigen postmoderner Theorien. Universal beobachtbar ist die Tatsache, dass Menschen sich eine Natur konstruieren. Beobachtbar ist auch, dass natürliche Phänomene (Schwangerschaft, Alter, Körpergröße, Geburt, Tod) in diese Konstruktionen eingehen. Goffman gibt diese Begriffe nicht auf und verleugnet auch nicht ihre Materialität. Damit unterscheidet er sich von Butlers frühen Arbeiten. Sie hatte zunächst die Performanz des sozialen Geschlechts als so zentral gesetzt, dass auch das biologische Geschlecht als von dieser Performanz gestaltet gesehen wurde (Butler 1991, zur Kritik daran Kotthoff / Wodak 1997). Auch bei Goffman werden Geschlecht und Gender einander nicht dichotomisch gegenübergestellt. Das biologische Geschlecht wird auch hier nicht für das Substrat gehalten, woran die Konstruktion von Gender anknüpft.
Goffman (1977, 1979) und Garfinkel (1967) arbeiteten kulturgebundene Methoden der Geschlechterstilisierung empirisch so heraus, dass der Beschreibung der Phänomenbereiche viel Raum gegeben wird, z. B. derjenige der höflichen Etikette, der Frauen als das zartere Geschlecht symbolisiert und Männer als das robustere. Wie nebenbei gerät das robustere Geschlecht eher an die Schalthebel der Macht. Daran konnte die Genderlinguistik anknüpfen. Mit ihren historischen Analysen dazu, dass Männerbezeichnungen in der Entstehung der Großschreibung von Substantiven früher groß geschrieben wurden als Frauenbezeichnungen (Kap. 10), oder Studien dazu, dass Väter in der Familie mehr Imperative von sich geben als Mütter (Kap. 11), absolviert sie dabei vornehmlich ein sozialwissenschaftlich-rekonstruktives Programm, kein philosophisch-dekonstruktives.
Innerhalb der Ethnomethodologie wird zwischen sozialen Kategorien im Fokus der Aufmerksamkeit und Habitualisierungen, die nur mehr im Hintergrund des Handelns der Menschen mitlaufen, unterschieden. Viele Kategorien sind genderisiert. Das Zuschreiben bringt eine Kategorie hervor oder lässt sie mitlaufen. Im Zentrum des Konzepts der „Mitgliedschaft in einer sozialen Kategorie“ stehen zwei Beobachtungen:
1.Personen werden in Gesprächen mit Hilfe bestimmter Mitgliedschaftskategorien als Zugehörige bzw. Mitglieder bestimmter Gruppen erkennbar gemacht und klassifiziert.
2.Diese Zugehörigkeitskategorien sind ihrerseits in jeweils übergeordnete Kategoriensammlungen integriert, deren einzelne Kategorien zusammengehören:
„Bezeichnungen wie ‚Lehrer‘, ‚Franzose‘ oder ‚Mozartfan‘ erscheinen in dieser Perspektive als Vehikel der Darstellung von Mitgliedschaft bzw. Zugehörigkeit. Bezeichnungen wie ‚Beruf‘ oder ‚Nation‘ erscheinen als die jeweils übergeordneten ‚category sets‘, auf die die Teilnehmer bei dieser Darstellungsarbeit zurückgreifen können. Beide Beobachtungen geben zusammengenommen Anlass für eine Reihe von Fragen, die darum kreisen, wie Mitgliedschaftskategorien in Gesprächen eingesetzt werden und wie sie die Anfertigung und das Verstehen ‚sinnvoller‘ Beschreibungen von Personen und Handlungen, Situationen und Ereignissen ermöglichen und nahelegen2“ (Hausendorf 2002, 27).
Der Reiz dieses von Hausendorf grob umrissenen Konzepts liegt darin, Zugehörigkeit bzw. Mitgliedschaft in einer sozialen Kategorie nicht als ein Phänomen von immer gleicher Relevanz zu behandeln, sondern als eines, das von den Mitgliedern einer Gruppe systematisch erzeugt wird. Spreckels (2006) zeigt beispielsweise, wie eine Mädchenclique bestimmte andere Mädchen als „Britneys“ (in Anlehnung an den Popstar Britney Spears) klassifiziert und unter sich eine Abgrenzung von diesem stark geschminkten und sexy gekleideten Typus betreibt.
Bei Kindern wird die Mitgliedschaftskategorie Mädchen oder Junge zunächst durch Erwachsene hervorgebracht, indem sie den Kindern vergeschlechtlichte Namen geben (Kap. 9