Generation Allah. Warum wir im Kampf gegen religiösen Extremismus umdenken müssen - Ahmad Mansour - E-Book

Generation Allah. Warum wir im Kampf gegen religiösen Extremismus umdenken müssen E-Book

Ahmad Mansour

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Beschreibung

*** Über die Ursachen des Islamismus und Wege aus der Radikalisierung – DAS Buch zur aktuellen Debatte des Islamexperten und Psychologen Ahmad Mansour *** Warum zieht es Jugendliche in den Dschihad? Ist der Islam verantwortlich für den Terror? Und wie können wir uns dem religiösen Extremismus stellen? Bislang stehen Politik, Gesellschaft und besonders die Schulen diesen Fragen hilflos gegenüber. Kein Wunder, denn die Debatten werden falsch geführt, wie der renommierte Psychologe und Islamexperte Ahmad Mansour nachdrücklich zeigt. Mansour beantwortet diese Fragen mit beeindruckender Klarheit und Reflexion. Denn keiner kennt wie er beide Seiten. Bevor er den mühsamen Ausstieg schaffte, war er selbst radikaler Islamist. Jetzt arbeitet Ahmad Mansour in Berlin als Psychologe und betreut Familien von radikalisierten Jugendlichen. Vor dem Hintergrund seiner eigenen Erfahrungen und seiner konkreten Präventionsarbeit zeigt er beeindruckend, dass eine Deradikalisierung möglich ist und plädiert für eine Reform des praktizierten Islam.

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Ahmad Mansour

Generation Allah

Warum wir im Kampf gegen religiösen Extremismus umdenken müssen

FISCHER E-Books

Inhalt

[Widmung]1 Generation AllahÜber die Jugendlichen, die wir dringend erreichen müssenNur die Spitze des Eisbergs?Wie ich Islamist wurde2 Radikale VerführungDer Fremde an meinem Tisch – wenn Kinder sich radikalisierenDie Ursachen der RadikalisierungPsychische FaktorenAllgemeine und soziologische FaktorenDie Verantwortung der MuslimeWarum die Salafisten noch die besseren Sozialarbeiter sindRadikale Ideologie im InternetNicht jeder Radikale landet in Syrien. Drei Fälle extremistischer JugendlicherDem Islam zu einer Stimme verhelfenVom Wunsch, Prinzessin zu seinDie Welt soll sehen, wer er ist3 Prävention und Deradikalisierung – jetzt!Versagen auf ganzer LinieSchluss mit der Ihr-wir-DebatteSchule anders gestalten: neue Sozialarbeit und neue PädagogikBiographiearbeit als notwendiger Teil des LehrplansWissen über die politische Gegenwart vermittelnIslam im Unterricht an deutschen SchulenKritisches Denken lehrenGegennarrative im Internet schaffenVorbilder schaffenMit Hochglanzbroschüren und Mahnwachen löst man die Probleme nichtKomplexität erkennen, Konzepte entwickelnMut zur offenen DebatteEine reale Datenbasis erheben und danach handelnSoziale Teilbereiche dürfen nicht aufgegeben werdenIn Elternarbeit investierenInnerislamische DebatteWas uns bleibt, wenn alles zu spät ist: Deradikalisierung4 Wider den blinden Fleck in der Gesellschaft – zehn konkrete VorschlägeNachtrag: Helenas Geschichte – warum es sich lohnt, um jeden einzelnen zu kämpfen

In Liebe und Dankbarkeit für B. und C.

1Generation Allah

Über die Jugendlichen, die wir dringend erreichen müssen

Abid, ein begabter junger Mann aus Offenbach, hat ein gutes Abitur gemacht. Er war bei der Bundeswehr, jetzt studiert er Sozialarbeit. Sein Werdegang ist vielversprechend. Wie konnte es dazu kommen, dass er plötzlich die demokratischen Werte dieser Gesellschaft ablehnt? Was ist geschehen?

Helena, eine scheue, freundliche junge Frau, ist christlich-orthodox aufgewachsen. Innerhalb weniger Monate verwandelt sie sich vor den Augen ihrer alleinerziehenden Mutter in eine fromme Muslima, mit radikalen Ansichten und Vollverschleierung, deren größter Wunsch es ist, einen strenggläubigen Muslim zu heiraten, bis sie jeden Kontakt zur Familie abbricht. Wem ist sie begegnet? Was hat sie gesucht, was gefunden?

Jens, ein Junge aus einer Plattenbausiedlung in Berlin, war kein guter Schüler, aber ein Jugendlicher und junger Mann mit Träumen, der seine Freiheit liebte und nach Bedeutung in seinem Leben suchte. Im Laufe eines Sommers, als Aushilfsarbeiter bei einer Umzugsfirma, verändert er sich. Seitdem besucht er täglich eine Moschee, betet, fastet, zeigt Verständnis für fundamentalistischen Islamismus. Schließlich wandert er nach Syrien aus, schließt sich dem Islamischen Staat an und träumt vom Heldenleben und Tod im Dschihad. Woher kam sein Wandel? Was hat ihn gepackt?

Solche Biographien, auf die ich noch ausführlicher zurückkommen werde, gibt es inzwischen mehr und mehr in Deutschland, in ganz Europa und der gesamten westlichen Welt. Hier soll die Rede davon sein, welches die Ursachen dafür sind und was sich dagegen unternehmen lässt. Denn es ist höchste Zeit, dass unsere Gesellschaft nicht mehr die Augen verschließt, sondern sich mit den Abertausenden jungen Leuten befasst, die ich hier »Generation Allah« nenne.

 

Ortstermin in Nordhessen, Winter 2014, eine Stadt mit etwa 50000 Einwohnern. Ein Kollege und ich sind aus Berlin angereist, um Aufklärungsarbeit zu leisten.

Etwa zwanzig Jugendliche erwarten uns in einer Sporthalle. Die Temperaturen sind in den Tagen zuvor gefallen, und es hat geschneit. Die Teenager mit ihren Kapuzenpullovern, Schals, Baseballcaps, Kopftüchern und Nike-Schuhen lassen sich möglichst nah am Heizkörper an der Längsseite der Halle nieder. Ob sie Lust haben auf das Gespräch mit zwei Leuten, die aus Berlin gekommen sind, um mit ihnen über die Gefahren des Fundamentalismus und der Radikalisierung zu reden? Wir wissen es nicht. Aber immerhin heißen wir Ahmad und Cem, arabische und türkische Namen, das schafft Vertrauen und lockert die Atmosphäre.

Unter den Jugendlichen machen Getränke und Pizza die Runde, Mädchen mit und ohne Kopftuch teilen schwesterlich. Manche der Jungs tragen Bart und kleine, runde Kopfbedeckungen. Andere wollen in ihrem Hiphop-Look offenbar vor allem lässig erscheinen. Was wird uns hier erwarten? Wie jedes Mal bei solchen Workshops sind wir gespannt, neugierig und ein bisschen nervös. Mal sehen, was wir ausrichten können.

Wir möchten »Gedankenpflanzer« sein im Garten der Aufklärung, wir wollen gern säen, manchmal auch jäten. Ernten wird, das wünschen wir uns, die Zivilgesellschaft, die zivilisierte, die demokratische Gesellschaft, zu der diese Jugendlichen gehören. So sehen wir unseren Job. Aber wir sind noch viel zu wenige, wir haben oft nur sehr begrenzt Zeit für unsere Aufträge, denn es gibt einfach viel zu viele Orte, an denen wir überall zugleich sein müssten.

Es hätte sich bei diesem nordhessischen Jugendzentrum um so gut wie jede andere Stadt oder Ortschaft in Deutschland handeln können. Die Geschichten ähneln einander landauf, landab. In diesem Fall hatte die Sozialarbeiterin des Zentrums uns eine besorgte, beinahe schon alarmierende E-Mail geschrieben. Zum Hintergrund: 99 Prozent der Jugendlichen, die das Zentrum regelmäßig besuchen, haben einen muslimischen Hintergrund. Stolz seien sie und ihr engagierter Mitarbeiter darauf, dass zu ihnen auch viele Mädchen kämen. Das ist keine Selbstverständlichkeit. Häufig gestatten Familien mit islamisch-patriarchalem Wertesystem ihren Töchtern nämlich überhaupt nicht, so etwas wie einen Jugendtreff zu besuchen, wo sie Jungen begegnen, flirten und von »fremden Leuten« beeinflusst werden könnten. Hier jedoch scheint das anders zu sein.

Beim Lesen der E-Mail, die uns die Sozialarbeiterin geschrieben hatte, war jedoch ein uns vertrautes Bild entstanden. Irritierende Entwicklungen bereiteten den Verantwortlichen Sorge. In jüngster Zeit häuften sich offen antisemitische Äußerungen bei den Jugendlichen. Mit Entsetzen hatte die Sozialarbeiterin erlebt, wie Jugendliche die Nachricht von Anschlägen auf jüdische Einrichtungen in Europa regelrecht beklatschten. Und auch wenn die Anwesenheit von Mädchen im Treff an sich normal sei, tauchten jetzt bei männlichen und sogar bei weiblichen Besuchern des Zentrums immer öfter fragwürdige Rollenzuweisungen zwischen den Geschlechtern auf. »Bedecke dich Schwester, bevor du auf ewig zur Nahrung für das Höllenfeuer wirst.« Solche und ähnliche Mahnungen waren plötzlich zu hören. Einige Jungen weigerten sich inzwischen, gemeinsam mit Mädchen Tischfußball zu spielen, zu kochen, Videos anzusehen oder Musik zu hören. Andere sympathisierten mit den Salafisten, besuchten ihre Vorträge und waren begeistert von den Videos deutscher Islamisten aus Syrien und dem Irak, die sie sich auf ihren Smartphones ansahen.

Insgesamt hatte die Sozialarbeiterin den Eindruck gewonnen, die Fixierung auf vermeintlich »religiöse Fragen« habe sich unter den Jugendlichen im Lauf der vergangenen Jahre massiv verstärkt. Manche der Jugendlichen in ihrem Zentrum würde sie persönlich sogar längst als »radikal« bezeichnen. Und jetzt wisse sie nicht weiter.

Was die Sozialarbeiterin uns skizziert hatte, mag sich für manche Ohren fremd anhören, vielleicht kaum glaubhaft. Aber so wie in ihrem Jugendzentrum sieht es heute an Tausenden von Orten in Deutschland aus, wo viele muslimische Familien leben. Radikalisierung, Abschottung, religiöser Fundamentalismus sind besonders unter jungen Leuten auf dem Vormarsch. Nur wollen viele der verantwortlichen Erwachsenen oft nicht genau hinsehen. »Das sind pubertäre Marotten«, meinen sie, »das geht vorbei.« Oder: »Ach, die wollen doch nur angeben!« Oder: »Wenn ich einen solchen Verdacht über meine Schule, meinen Jugendclub äußere, dann verlieren wir unseren guten Ruf.«

Die Nachricht der Sozialarbeiterin ist ein gängiges Beispiel für Ratlosigkeit und Überforderung angesichts einer Situation, mit der Leute wie sie, aber auch Lehrer, Pädagogen, Ausbilder und Erzieher in allen Teilen des Landes tagtäglich konfrontiert sind. Ursache dafür sind Entwicklungen, die sich in den vergangenen Jahren kontinuierlich verschärft haben.

Jede Woche erreichen mich ähnliche Sorgen und Klagen auch von Schulleitern und Schulleiterinnen, von Lehrern und Lehrerinnen auf der Suche nach Hilfe und Angeboten, die sie bei ihren Anstrengungen unterstützen bei ihrem Kampf um die menschliche und demokratische Integrität von Jugendlichen, die unserer Gesellschaft verlorenzugehen drohen. Denn viele Tausende junger Menschen entfernen sich gerade immer weiter von den Werten und Vorstellungen der Demokratie. Sie driften ab, und die Erwachsenen erkennen nicht, warum sie diese Jugendlichen nicht mehr erreichen.

Häufig sind die Nachrichten und Hilferufe, die mich erreichen, in einem zornigen bis wütenden Duktus verfasst. Solche Lehrer und Sozialarbeiter haben es satt, von einer Fortbildung zur nächsten geschickt zu werden. Sie haben Veranstaltungen besucht, auf denen furchtbar viel geredet und Flipchart nach Flipchart vollgeschrieben wird mit Phrasen, die ihnen helfen sollen, die Jugendlichen vom Pfad der Radikalisierung abzuhalten. »Wertschätzung«, »Verständnis«, »Ignorieren«, »Ermutigen«. Das ist alles gut gemeint, führt aber nicht zu Erfolgen. Die Lehrer und Sozialarbeiter absolvieren solche Programme, meist ohne konkret für ihre tägliche Arbeit Nutzen daraus ziehen zu können.

Zwei Tendenzen fallen mir in diesem Kontext immer wieder auf. Entweder besteht an einer Institution die Neigung zur Verharmlosung: Das Verhalten sei für Teenager völlig normal, im Grunde kaum der Rede wert. Oder es existiert eine Inflation der Panikmache: Um Himmels willen, es sind lauter potentielle Terroristen unter uns! Da wird dann nicht mehr individuell und detailliert hingesehen, sondern jeder Jugendliche, der sich religiös äußert, pauschal als gefährlich abgestempelt.

Nach vielen Enttäuschungen in der Praxis und ergebnislosen Fortbildungen suchen Pädagogen und Erzieher jetzt nach neuen, wirksamen Konzepten, mit denen sie Jugendlichen individuell begegnen und mit ihnen wirklich ins Gespräch kommen können. Dazu müssen Gedanken frei ausgetauscht und Argumente ohne Angst vorgebracht werden können, in gegenseitigem Respekt. Auch wenn das Wort »Respekt« durch seinen inflationären Gebrauch in jugendlicher Szenesprache schon abgenutzt ist, sein Kerninhalt bleibt. Erst wenn jemand bereit und in der Lage ist, direkt anzusprechen, was er sieht und befürchtet, ist die Bedingung für die Möglichkeit eines respektvollen Dialogs gegeben.

Schulhöfe und Jugendtreffs sind kein diplomatisches Parkett. Junge Leuten suchen nach Wahrheit und Authentizität, sie wollen wahrgenommen werden, im Wortsinn. Damit muss in unserem Land begonnen werden, besonders, wenn es um gefährliche Tendenzen zur Radikalisierung geht, wie sie jetzt überall auftauchen. So wie hier, in Nordhessen.

Mein Kollege und ich legen für Workshops im Vorfeld kein festes Programm fest. Wir sondieren erst einmal das Terrain, finden heraus, welche Themen diese Jugendlichen in dieser Turnhalle, in dieser Schulklasse oder jenem Jugendclub umtreiben. Wir hören ihnen zu, erfahren, was sie bewegt, und fangen danach an zu fragen, zu diskutieren, mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Dieser Weg ist produktiver und fruchtbarer, als mit einer fertigen PowerPoint-Präsentation anzukommen. Vorausgeschickte Ankündigungen schüren Erwartungen oder Ängste, und gerade Jugendliche mit starren Positionen reagieren darauf eher mit Abwehr.

In der Sporthalle erklären wir der Gruppe kurz, wer wir sind. Alle Augen blicken auf uns, manche mit Neugier, manche mit Misstrauen oder aufgesetzter Langeweile. »Was wollen die Typen hier schon ausrichten?«, scheinen manche sich zu fragen. Erstaunt verfolgen die zwanzig Augenpaare, wie wir auf dem zerkratzten Parkett der Halle Zettel verteilen, mit Wörtern, die als Anregung für Gespräche, Aussagen oder Fragen dienen. Darauf zu lesen sind Begriffe wie »Identität«, »Religion«, »Islamfeindlichkeit«, »Salafismus«, »Islamischer Staat«, »Dschihad«, »Gleichberechtigung«, »Diskriminierung«, »Rassismus«, aber auch: »Erwachsenwerden«, »Menschenrechte«.

»Ihr entscheidet, worüber ihr am liebsten sprechen wollt!«, erklären wir nach einer Vorstellungsrunde, in der jeder seinen Namen und sein Alter genannt hat. Wie jetzt hier in der Sporthalle gruppieren sich die Jugendlichen meistens recht schnell um diejenigen Begriffe, die sie besonders brennend interessieren. Halblaut debattieren sie erst mal untereinander, wir halten uns zurück. Nach und nach melden sich dann die ersten Mädchen und Jungen in der großen Runde zu Wort. Auffallend viele hier wollen ihre Ansichten zu Islamismus oder zum Islamischen Staat loswerden.

Wir sammeln das Gesagte ein, indem wir Stichworte aufschreiben, zunächst ganz ohne zu kommentieren. »Mich macht das unglücklich, dass in den Medien die Muslime immer alle so aussehen, als wären sie Terroristen!«, beklagt sich Emine, »dabei haben doch Terroristen mit dem Islam überhaupt gar nichts zu tun!« Salim beeilt sich zu ergänzen: »Die ganze Berichterstattung über Islam und Terror ist irgendwie total übertrieben. Das ist krass! Der IS ist nur irgendeine kleine Sekte irgendwo im Irak. Die machen doch nicht mit den Salafisten gemeinsame Sache!« Sein Kumpel Bader neben ihm streckt die Hand hoch: »Überhaupt«, ruft er, »was der IS tut, passiert nur, weil Amerika und Europa im Irak und in Syrien so viele Verbrechen begangen haben, das hat das alles ausgelöst!« »Genau!«, pflichtet Samira, ein Mädchen mit Kopftuch und ausdrucksstark geschminkten Augen, bei: »Warum wird ausgerechnet jetzt so viel über das Thema geredet? Warum nicht vor vier Jahren, als das Assad-Regime angefangen hat, so viele Leute umzubringen? Dagegen hat keiner was unternommen. Jetzt, plötzlich, nur weil eine Gruppe im Namen der Religion auftritt, da interessiert es den Westen, und er will sie bekämpfen. Jetzt scheint das alles einfach, weil man sagt, man ist gegen die Islamisten.«

Ein Teil der Gruppe ist sich einig in seiner Haltung: Diese Jugendlichen sind beleidigt, sehen sich und ihre Religion zu Unrecht denunziert und wollen sich darum umso fester an ihren Glauben binden, wie zum Trotz, in einer Jetzt-erst-recht-Haltung. Einige sind auch zornig auf die IS-Täter und islamistischen Attentäter. »Ich bin echt wütend auf die Islamisten, weil die meine Religion missbrauchen«, sagt Erkan, ein Sechzehnjähriger mit Brille. »Die benutzen einfach die Religion von meiner Familie und von uns allen. Die tun uns echt keinen Gefallen!«

Im Lauf der Diskussion verblüfft uns hier, wie so oft, die Leidenschaft der Jugendlichen, ihre Freude daran, ihre Meinung sagen zu können, ohne dafür angegriffen zu werden. Auch wenn es kontrovers wird, dürfen sie sagen, was sie denken. Sie genießen es, sich zu ihren Einstellungen bekennen zu können, ohne dafür schief oder misstrauisch angeschaut zu werden. Meistens ist es gar nicht nötig, irgendjemanden zum Mitdiskutieren aufzufordern. Je freier die Atmosphäre wird, desto klarer wird spürbar: Alle haben etwas zu sagen! Indirekt ist daran auch abzulesen, dass sie schon eine ganze Weile darauf warten mussten, dass jemand den Mut hatte, mit ihnen die heißen Eisen anzufassen. Es hilft natürlich, dass mein Kollege und ich beide muslimischer Herkunft sind. Das verleiht uns von der ersten Sekunde an einen Vorschuss an Glaubwürdigkeit. Den müssen wir dann aber auch einlösen.

Uns fällt auf, dass trotz der lebhaften Debatte ein paar Mädchen sehr schweigsam sind, als das Thema Islamismus aufs Tapet kommt. Mein Eindruck ist, dass sie sich nicht recht trauen zu sagen, was sie denken. Lieber würden sie wohl über die Begriffe »Identität« und »Zukunft« sprechen, die generell bei Mädchen in den Workshops beliebt sind. Aus ihren Nebenbemerkungen kann ich heraushören, dass sie befürchten, sie könnten bei den Übrigen für »unislamisch« gelten, wenn sie etwas Kritisches äußern. Sie scheinen den Druck bereits zu kennen, den salafistisch Gesinnte ausüben, in der Schule, zu Hause oder in der Freizeit – etwa, weil sie kein Kopftuch tragen, weil ihre Schminke »haram«, also »sündhaft« ist, weil ihre Jeans zu eng anliegen oder Ähnliches. Bislang denken diese Mädchen offensichtlich noch anders. Ihre Zurückhaltung enthält eine gute Portion Skepsis und Ablehnung. Aber offenbar trauen sich diese Mädchen bereits nicht mehr, öffentlich für ihre Meinung einzutreten und Fragen zu stellen.

Neben mich hat sich ein etwas molliger Junge mit Baseballcap und Hiphop-Klamotten gesetzt, der mir schon anfangs aufgefallen war. Sein Name ist Jusuf. Jusufs Körper scheint ständig in Bewegung zu sein, wie von einer permanenten Unruhe befallen. Viele der anderen Jungen hat er begrüßt, indem er sie abklatschte oder ihnen quer durch die Halle etwas zugerufen hat. Er ist, so mein Eindruck, immer ein wenig zu laut und wirkt dabei fahrig.

An der Diskussion beteiligt Jusuf sich nicht. Stattdessen merke ich, wie er sich neben mir regelrecht zu winden scheint, er fühlt sich ganz offenbar unwohl in seiner Haut oder aber in seiner Umgebung. Er sendet Signale seiner Unzufriedenheit, indem er diejenigen, die ihre Stimme erheben, missbilligend anblickt. Ihm ist anzusehen, dass er zu gern etwas sagen würde, sich aber nicht hervorwagt. Je weiter die Diskussion voranschreitet, desto unruhiger wird Jusuf. Immer wieder sieht er auch mich prüfend an.

Irgendwann springt er dann über seinen Schatten. »Entschuldigung«, wendet er sich direkt an mich. »Bist du eigentlich wirklich Muslim?« Ich frage ihn zurück: »Ist das wichtig?« Und er antwortet prompt: »Ja, das ist sehr wichtig.« Ich frage: »Und du?« Er antwortet, fast ein wenig empört über die Frage: »Natürlich bin ich Muslim, al-Hamdu li-Llāh!«, also: Gott sei Dank. »Also, was ist nun mit dir?«, hakt er nach. »Ich bin Muslim«, erkläre ich freundlich. »Aber sag doch mal: warum ist die Frage denn so wichtig?«

Er windet sich wieder ein bisschen und räumt dann ein, dass ihm das, was wir hier gerade machen, »irgendwie komisch« vorkäme. Was er damit meine? »Der Islam ist doch gar nicht so, wie ihr es darstellt. Ihr als Muslims solltet Gott fürchten und dafür sorgen, dass der Islam gut dargestellt wird. Aber ihr sagt, wir reden über den Islam. Und was tut ihr dann? Ihr redet über Terror. Ihr vermischt das. Das ist nicht richtig!«

Nun verstehe ich, was Jusuf so ungehalten macht. Er ist der Überzeugung, dass sich unser Workshop gegen den Islam richtet, dass wir Leute von ihrer Religion abbringen wollen.

Dabei haben wir uns als Workshopleiter bis jetzt weitgehend aus der Diskussion herausgehalten und die Jugendlichen miteinander sprechen und ihre Argumente austauschen lassen. Wir haben den Islam nicht bewertet, ihn erst recht nicht verurteilt. Wir stellen nur Fragen zu dem, was die Jugendlichen sagen, hinterfragen und fordern von den Jugendlichen auf diese Weise, nachzudenken und ihre Meinung mit Argumenten zu verteidigen. Jusuf hat das anders wahrgenommen. Allein die Tatsache, dass Tabufragen und Tabuthemen offen angesprochen werden, hat ihn, wie es scheint, schon so stark verunsichert, dass er sich und seine Religion angegriffen fühlt.

Nachdem der Bann dann aber gebrochen ist und Jusuf weiß, dass ich Muslim bin, beteiligt er sich nun auch und will mitreden. Sogar dann, als im Lauf des Nachmittags noch die Rede auf heikle Fragen nach Identität, Sexualität und Gleichberechtigung kommt, ist Jusuf ständig, teils auf fast aggressive Weise engagiert. Er argumentiert häufig im Zorn gegen die Meinungen anderer. So beklagt er beispielsweise, die meisten Mädchen besäßen keinen Respekt mehr vor Gott, alte Menschen würden nicht mehr so geachtet, wie es sich gehört. Etwas stimme nicht mit der Welt, die früher besser gewesen sei!

Wiederholt preist er dann das »großartige Werk« der Salafisten in Deutschland. »Das sind richtig gute Muslime, die Menschen von Drogen befreien!«, beharrt er. »Die verhindern, dass es hier andauernd nur Raubüberfälle gibt!« Ein paar Mal redet Jusuf sich regelrecht in Rage. »Jetzt, seit es die Salafisten gibt, gehen Leute wieder in die Moschee! Die trinken keinen Alkohol mehr, nehmen kein Tilidin und so einen Mist mehr, die gehen nicht mehr in Spielhöllen!« Er versteht nicht, dass ihm nicht alle zustimmen. »Was wollt ihr denn noch?«, fragt er. »Wie könnt ihr Salafisten als Terroristen darstellen?«

Mit der Zeit werden Jusufs Beiträge zu einem Problem für die Gruppe, die den vorherigen Austausch so genossen hatte. Er hat sich sozusagen zum Sprachrohr ihres Gewissens gemacht, sie fühlen sich nicht mehr frei. Besonders die zurückhaltenderen Mädchen. Mein Eindruck ist, dass Jusuf sich gerade in einer Art Kriegszustand mit der Gesellschaft insgesamt befindet, mit unserer kleinen Gruppe hier und nicht zuletzt mit sich selbst.

Als Jusuf die anderen wiederholt aggressiv angeht, verstummen sie nach und nach. Eine Diskussion, die erst ganz munter gelaufen ist, kommt zum Erliegen, das genaue Gegenteil dessen, was wir beabsichtigen.

In der Kaffeepause schlage ich Jusuf vor, ein paar Schritte vor die Tür zu gehen, um mich ein bisschen mit ihm allein zu unterhalten. Wir stehen am Rand des zugeschneiten Fußballfeldes neben der Turnhalle, frieren und plaudern. Ich erkundige mich, wie es ihm im Leben so geht, was er macht, welche Pläne er hat und was seine bisherige Geschichte ist. Zu meinem Erstaunen stellt sich dabei heraus, dass er keineswegs ein fanatischer Frommer ist, ja dass er noch nicht einmal betet. Er würde das zwar gern tun, wie er mir beteuert. Aber irgendwie will es ihm nicht gelingen. Irgendeinen Widerstand überwindet er da nicht.

Jusuf kommt, das wird schnell klar, aus sehr schwierigen Verhältnissen. Gerade versucht er sich zum wiederholten Mal an einer Ausbildung, er hat eine Lehre zum Einzelhandelskaufmann begonnen. Sport will er eigentlich treiben, unbedingt sogar, um abzunehmen. Er trägt fast immer eine dicke Tasche mit sich herum mit Sportsachen, Klamotten für die Hiphop-Gruppe, den Büchern für seine Ausbildung – eine Tasche voller Hoffnungen und Wünsche. Es ist zu spüren, wie sehr er versucht, anzukommen im Leben, es in den Griff zu kriegen und zufrieden mit sich und seinem Körper zu werden.

Doch während ihm all das nicht recht zu glücken scheint und er überall zwischen den Stühlen zu sitzen meint, unsicher, unzufrieden, hat er jetzt eine feste Größe für sich entdeckt: religiös aufgeladene Ideologie. Im Internet lädt er sich salafistische Inhalte herunter; statt Sport zu machen und zu lernen, identifiziert er sich mit Salafisten wie andere mit Comichelden. Einschüchternd wirkt sein rabiates Reden in der Gruppe dennoch – wie sollten die anderen die Quelle seiner Ideologie auch einschätzen können? Sie erkennen aber den autoritären Duktus, der kein offenes Gespräch zulässt. Und sie kuschen, weil sie das von zu Hause kennen, wo kein freier Austausch möglich ist. So kann Jusuf die Gruppe tyrannisieren und sich dabei mit seinen Salafisten-Superhelden gleichsetzen, ein paar Momente lang genießen, dass er Macht zu haben scheint, Einfluss, im Mittelpunkt steht und Anerkennung bekommt.

Jusuf ist ein typisches Beispiel für einen Angehörigen der Generation Allah. Für diese Jugendlichen ist Religion nicht nur zu einer identitätsstiftenden Größe geworden, sondern Religion ist so etwas wie ihr persönlicher unantastbarer Gral. »Über Religion redet man nicht, und wenn, dann nur Gutes!« Religion dürfe man nicht mit weltlichen Problemen in Verbindung bringen, sagen sie. Auf keinen Fall darf man sie in einen Kontext mit dem Terrorismus bringen. Negative Seiten des Islam darf man nicht erwähnen.

Man muss hinnehmen, was der Koran sagt, was der Imam sagt, was die frommen Texte verkünden, auch das, was einem nicht gefällt: Hinnehmen, annehmen – so die fromme Haltung. Unsere Religion, meinen und sagen sie, ist das Wertvollste, was wir haben. So lautet das Credo dieser Jugendlichen, für die »Religion« bisweilen eine Mischung aus Talisman und Fetisch zu sein scheint. »Ohne diese Religion wären wir verloren. Ohne diese Religion wären wir nichts«, erklären ihnen die Imame der Salafisten. »Deshalb müsst ihr diese Religion verteidigen.«

Weil Jusufs Weltbild diese Züge aufweist, ist er bewusst in unseren Workshop gekommen. Als er erfuhr, dass es sich hier um eine offene, kritische Debatte handeln würde, sah er es als seine Aufgabe, den anderen klarzumachen, dass solche Offenheit an sich gefährlich ist, dass sie nicht sein darf. Er wollte dafür sorgen, dass die anderen von ihm hören: Man darf religiöse Themen, Thesen und die religiöse Praxis nicht in Frage stellen, nicht diskutieren. Dennoch ist Jusuf, der wetternde Redner, da draußen vor der Sporthalle dann doch ganz froh darüber, dass er nach seinem Leben gefragt wird, nach seiner Geschichte. Es scheint ihn auch zu freuen, dass ich mich für seine Einstellung interessiere und, ganz einfach: dass ihm mal einer zuhört. Das scheint er nicht zu kennen, denke ich, als wir da draußen stehen und uns die Füße im Schnee warm treten.

Im zweiten Teil des Workshops geht es noch mehr zur Sache, und die Gespräche werden persönlicher, die Konfliktlinien deutlicher. Die meisten Jugendlichen haben Vertrauen geschöpft und berichten nun sehr offen von ihren Erfahrungen. Zwei Mädchen mit Kopftuch, Layla und Zehra, erzählen, dass sie oft von jungen Neonazis in der Fußgängerzone schikaniert werden. Auch die zuvor stillen Mädchen, Sema und Meryam, melden sich zu Wort und teilen mit, was sie sich wegen ihres Make-ups von Eltern oder Jungs auf dem Schulhof vorwerfen lassen müssen.

Dann kommt das Gespräch auf die Hölle, die gerne als Drohszenario von Eltern und Verwandten in muslimischen Familien gebraucht wird. »Wenn du dich so schminkst wie eine Schlampe, kommst du in die Hölle!« »Wenn du nicht tust, was dein Vater sagt, wirst du in der Hölle brennen!« Die meisten kennen solche schauerlichen Drohungen und die Ängste, die sie auslösen. Erstaunlich viele der Jugendlichen finden es aber völlig normal, dass ihre Eltern regelmäßig mit drastischen Strafen drohen. »Sonst würde doch kein Mensch an etwas glauben und sich keiner an die Regeln halten!«, wirft Tarek in die Runde. Zustimmung auf vielen Gesichtern.

Noch immer haben mein Kollege und ich kaum Stellung bezogen, sondern haben vor allem aufmerksam die Debatte verfolgt und nur gelegentlich kleine Verständnisfragen gestellt. Auch jetzt stellen wir weiterhin im Grunde nur Fragen, die oft erstauntes Lachen hervorrufen. Solche Fragen haben viele noch nie gehört. »Woher wisst ihr, wie die Hölle aussieht? Ist das ein Ort oder ein Zustand? Braucht Allah oder Gott die Hölle? Gibt es Glaube ohne Angst?« Ihr Lachen lässt durchaus erkennen, dass es ihnen gefällt, dass wir nicht einfach nur betroffen oder bestürzt sind oder sie behandeln, als seien sie Kinder. Sie finden es gut, wie wir sie durch Nachfragen herausfordern, scheinbar feststehende Gegebenheiten zu hinterfragen.

Die alten Griechen haben es auch nicht viel anders gemacht, wenn sie philosophisch diskutiert haben. »Mäeutik« nannten sie die Kunst, durch philosophische Fragen und Aussagen das Wissen, das bereits im anderen vorhanden ist, ans Licht zu bringen. Übersetzt heißt »Mäeutik« Hebammenkunst. Wie Hebammen wollten sie der Wahrheit zur Geburt verhelfen. Auf unsere Weise probieren wir das nachzumachen.

Konfrontiert mit unseren Fragen, fühlen sich die Jugendlichen ernst genommen als vollwertige Menschen, die bereit sind, Verantwortung für ihre Haltungen zu übernehmen. Selbst Jusuf verändert sich im Laufe des Tages. Er besteht zwar weiterhin auf seinen Standpunkten und lässt kaum anderes gelten, aber sein Ton hat sich merklich entspannt, er ist weniger aggressiv und scheint anderen ab und zu neugierig zuzuhören. »Neugier« ist auch eine tolle Vokabel für das, worum es uns geht: Die Gier, das Begehren nach etwas Neuem, nach der Möglichkeit Altbekanntes in anderem Licht sehen zu können.

Als wir nach vielen Stunden unsere Sachen packen und die letzten, jetzt kalt gewordenen Pizzaecken verteilt werden, nähert sich zögernd ein schlaksiger Teenager, etwa sechzehn, siebzehn Jahre alt, Orabi. Ob er mich noch etwas fragen dürfe. Natürlich darf er. »Stimmt es«, fragt er, »dass ich als Muslim keine Atheistin heiraten darf, weil ich dadurch unrein werde?« Ich brauche ihm nur kurz in die Augen zu schauen, um zu erkennen, wie verliebt er gerade ist. Und wie hin- und hergerissen er ist zwischen seinem Glauben und der starken Emotion für ein Mädchen. »Es ist völlig in Ordnung«, erkläre ich, »aus Liebe zu heiraten. Was zählt, ist nicht der unterschiedliche Glaube. Wichtig ist der Respekt vor den Unterschieden. Und überhaupt: Die Liebe hat schließlich keine Religion.« Erfreut nickt der Junge, erleichtert, wenn auch noch immer ein bisschen unsicher. Im Stillen wünsche ich ihm Glück für seinen Weg. Dass er mich überhaupt gefragt hat, halte ich für ein gutes Zeichen: Er hatte offenbar das Gefühl, dass er uns vertrauen kann und dass wir etwas zu sagen haben.

Nach dem herzlichen Abschied von allen sind wir auf dem Weg zum Parkplatz, wo unser Auto steht. Da läuft uns in letzter Minute noch ein Mädchen hinterher, Ayşe. Als sie vor mir steht, sehe ich, dass sie Tränen in den Augen hat. Sie war eine der Schüchternen unter den Workshop-Teilnehmern, aber immerhin hatten wir von ihr erfahren, dass sie kurz vor dem Abitur steht. Sie holt tief Luft, um sich so weit zu beruhigen, dass sie sprechen kann. »Ich muss dich noch etwas fragen …«, fängt sie an. Dann bricht es aus ihr heraus, wenngleich leise: »Was ist denn nun wichtiger, Familie oder Bildung?«

Was für eine Frage?! Was für ein sinnloses Dilemma, in das dieses Mädchen offenbar hineinmanövriert wurde. Aber ich weiß genau, wovon sie spricht. Während sie das Abitur herbeisehnt, um endlich studieren zu können und aus dem Haus zu gehen, fangen ihre Eltern plötzlich an, emotionalen und sozialen Druck auf sie auszuüben. Sie soll sich verloben, um möglichst bald heiraten zu können. Sie soll an die Ehre der Familie denken. Von Universität und einer studierten Tochter wollen die Eltern nichts wissen. »Du willst uns doch keine Schande machen? Familie ist viel wichtiger!«

Ich antworte ihr, dass beides gut ist und sich nicht ausschließen muss, Familie und Bildung. Aber dass Bildung sie unabhängig mache und sie dadurch ihrer Familie und den eigenen Kindern später viel mehr anbieten könne, ein Vorbild sei. Und wie bei Orabi drücke ich im Stillen die Daumen für sie.

Ein paar Wochen darauf treffe ich Jusuf bei einem anderen Workshop wieder. In der Zwischenzeit hat er ein paar Artikel von mir gelesen, er hat sich darüber informiert, mit wem er es zu tun hat. Allerdings habe ich das Gefühl, dass er gar nicht so ganz begriffen hat, was er gelesen hat. Er wiederholte, was er irgendwo aufgeschnappt hatte. »Stimmt es, dass du einen neuen Koran schreiben willst?«, erkundigt er sich. Ich sehe ihn erstaunt an. »Wieso sollte ich den Koran ändern wollen? Es gibt ihn seit fast 1400 Jahren. Warum sollte ich ihn neu schreiben? Was ich aber sehr wohl will, ist, den Koran neu zu interpretieren, ihn neu zu lesen, aus heutiger Sicht.« Jusuf schüttelt widerwillig den Kopf. »Wie soll das gehen? Was im Koran steht, ist eindeutig. Das hat Gott so gesagt, durch den Propheten. Da kann man nichts interpretieren. Man kann nicht einfach den Islam verändern, so wie es einem eben passt, weil man gerade bestimmte Bedürfnisse hat.« Er echauffiert sich: »Das ist nicht in Ordnung!« Gott selbst, sagt er, würde doch vor denjenigen warnen, die die Religion an ihre Triebe anpassen wollten.

Dann sieht er mich wieder mit diesem prüfenden, fast schon wütenden Blick an, den ich schon aus dem ersten Workshop kenne. Ob es denn wahr sei, dass ich Unzucht in der Gesellschaft haben wolle? Wie er darauf komme, will ich wissen. »Das steht in deinen Artikeln«, gibt er zurück und holt zu einer längeren Rede aus: »Du bist jedenfalls dagegen, dass man Scham empfindet und Jungfrau bleibt. Und das heißt doch, du willst, dass jeder seine Sexualität frei auslebt. Wir sehen aber doch, was das mit einer Gesellschaft macht. Das zerstört Familien. Alle reden heute von offenen Beziehungen, als ob das völlig normal wäre! Aber das macht alles kaputt. Und am Ende haben wir eine Welt, in der kaum noch Kinder geboren werden. Und die wenigen, die geboren werden, werden psychisch krank, weil sie keine richtigen Eltern haben, die sich um sie kümmern.«

Jusuf hält kurz inne und nimmt dann neu Anlauf: »Diese Gesellschaft zerstört sich selbst«, wettert er. »Deshalb ist doch die Religion so wichtig, um das zu verhindern.« Ich müsse doch selbst sehen, was passiere, wenn man die Religion vergesse. »Heute haben sogar die Mädchen, die Kopftuch tragen, einen Freund und schaffen es, mit ihm zu schlafen, ohne ihre Jungfräulichkeit zu verlieren, indem sie Oral- oder Analsex haben.« Eine sündhafte Welt voller schlimmer Dinge malt er mir aus. »Es geht nicht darum, in den Augen des Vaters oder des Bruders rein zu bleiben.« Er spricht jetzt ruhig, aber eindringlich. Ich denke bei mir, dass da womöglich schon ein kleiner Prediger heranwächst. »Es muss darum gehen«, erklärt Jusuf, »Gott gegenüber rein zu bleiben. Wir müssen alles dafür tun, dass die Zerstörung uns nicht erreicht, gerade uns Muslime, denen von Gott die wunderbaren Werte gegeben wurden, um die Familie zu schützen: Dass man als Mann und Frau für ewig zusammenbleibt, dass man den Kindern eine heile Welt schafft, in der keine Unzucht herrscht, keine Nacktheit, keine Pornos propagiert werden.« Er hat das Wichtigste gesagt und weist mit der Hand in meine Richtung: »Das willst du alles abschaffen?«

Nun bin ich es, der kurz tief Luft holen muss. »Das stimmt doch so nicht«, erwidere ich. Und dann versuche ich, ihm meine Position zu erläutern. Natürlich bin ich auch Muslim. Natürlich werde ich meinen Kindern bestimmte Werte vorleben. Und wenn ich sage, dass Sexualität nicht tabuisiert werden soll, dann geht es darum, dass Jugendliche neugierig sein dürfen. Dass es wichtig ist, eine gesunde Beziehung zu seinem Körper und zum anderen Geschlecht zu entwickeln. Das bedeutet aber noch lange nicht, dass jeder mit jedem schlafen soll oder dass ich dazu aufrufe, dass alle überall und immerzu ihre Sexualität frei ausleben sollten. Sondern mir geht es darum, dass die Tabuisierung der Sexualität dazu führt, dass verklemmte, gehemmte Menschen, deren natürliches Leben und Lieben unterbunden wurde, ein Gewaltpotential entwickeln gegen sich und andere, dass Männer die Frauen nur als Sexualobjekt wahrnehmen und Frauen wiederum die Männer nur als Gefahr sehen. Dass Angst statt Glück entsteht.

»Das ist es, was nicht gesund ist«, sage ich zu Jusuf. »Und das ist es doch, was fatale Folgen hat, die wir auch in unserer Gesellschaft sehen. Kinder zum Beispiel, die nicht in der Lage sind, das andere Geschlecht als Mensch wahrzunehmen. Wenn die Liebe da ist und Respekt zwischen zwei Menschen herrscht, dann dürfen sie auch selbst darüber entscheiden, miteinander zu schlafen, egal ob Mann und Frau oder Mann und Mann oder Frau und Frau. Das ist die Freiheit, und das soll uns keine Angst machen.«

»Bei unserem Workshop«, sage ich zu Jusuf, »waren wir in einem Raum zusammen, Jungen und Mädchen, und wir haben uns angesehen, geredet, zugehört. Dabei hat es keinen Gruppensex gegeben oder irgendwelche sexuellen Übergriffe, wir haben diskutiert, es haben doch nicht alle nur daran gedacht, über die anderen herzufallen.« Jusuf winkt ab. »Ich weiß, wie Jungs ticken.«

Er hält mich für naiv. Ich hoffe trotzdem, dass er sich dann und wann an unsere Diskussion erinnert und dass sich sein starres Denksystem lockert. Jusuf ist im Moment in einer alten und einer neu konstruierten Tradition und Religion gefangen. Er wiederholt einfach wie ein kleiner Automat, was er gehört hat und was ihm beigebracht wurde. Außerdem kompensiert er mit seiner religiösen Ideologie die zahlreichen Unsicherheiten in seinem Leben.

Das ist charakteristisch für die Generation Allah. Plakative Normen der Religion werden genauso wiedergegeben, ohne Differenzierung, ohne Reflexion, ohne Zweifel, ja ohne die Erlaubnis des Zweifelns. Für die Angehörigen der Generation Allah, die genau wie Jusuf häufig noch nicht einmal beten, können kleine, zwanghafte Riten zu Ersatzhandlungen werden, etwa keine Fruchtgummis mit Gelatine zu essen, da sie Schweinefleisch enthalten, und allen gegenüber zu betonen, wie wichtig es sei, sich halal, also »rein« und nach der religiösen Vorschrift zu ernähren. Dann noch offensiv von sich zu sagen: »Ich bin Muslim!« ersetzt durchdachte Inhalte und erhält einen höheren Stellenwert als der eigentliche Glaube, das Spirituelle.

Tauchen dann noch gewiefte Salafisten vor der Schule oder im Jugendzentrum auf und bestätigen diese aus ideologischen Versatzstücken zusammengebastelte Identität mit ihrem drastischen Fundamentalismus, dann haben sie mit Jungen wie Jusuf leichtes Spiel.

Wo es in gesellschaftlichen Debatten um die Radikalisierung von Jugendlichen geht, ist häufig von »Jugendkultur« die Rede. Inwieweit diese Klassifizierung überhaupt sinnvoll ist, wird im Verlauf dieses Buches diskutiert. Fürs Erste genügt zumindest die Erkenntnis, dass man, wenn überhaupt, in diesem Zusammenhang von zwei verschiedenen Formen der Jugendkultur sprechen muss:

Zum einen gibt es eine breite Masse von Jugendlichen, für die ihre Religion in jüngster Zeit immer mehr an Bedeutung gewonnen hat, und zwar fast einzig und ausschließlich als elementarer Baustein ihrer Selbstkonstruktion, ihrer Identität. Auf die Frage, wer sie seien, woher sie kämen, was sie ausmache, höre ich sehr häufig als einzige Antwort: »Ich bin stolzer Muslim!« In religiösen Fragen kennen sie sich jedoch wenig bis gar nicht aus. Frage ich also weiter, was denn beispielsweise die Scharia sei, wissen die meisten dieser »stolzen Muslime« keine Antwort, außer dass es eigentlich das einzig Richtige sei, nach ihr zu leben.

Der Islam, Muslim zu sein, bedeutet für diese Jugendlichen also keineswegs Religiosität, sondern es ist für sie identitätsstiftend, dieser Religion anzugehören. Es macht sie besonders in dieser Gesellschaft. Wer sich nun fragt, was bei diesen Jugendlichen so anders ist als bei ihren muslimischen Großvätern und Großmüttern, die auch anders waren in unserer Gesellschaft, aber nicht radikal, der muss sich einen wesentlichen Unterschied klarmachen. Die Mehrheit der sogenannten Gastarbeitergeneration hatte immer den Plan, eines Tages, spätestens im Rentenalter, wieder in die alte Heimat zurückzukehren. Diese Jugendlichen jedoch sind hier geboren und sehen ihre Zukunft hier in Deutschland, fühlen sich aber nicht als Teil der Gesellschaft und haben mit dem Merkmal, Muslim zu sein, eine neue Gruppe geschaffen, die für sie identitätsstiftend wirkt, in der man sich verbunden fühlen kann mit seinesgleichen und von der man andere ausschließen kann, so wie sie sich selbst ausgeschlossen fühlen.

Jene breite Masse an Jugendlichen ist nicht per se radikal, sie bietet aber den Radikalen einen fruchtbaren Boden für ihre Propaganda. Ich bezeichne diese einschneidende gesellschaftliche Entwicklung – denn um eine solche handelt es sich – als eine, die hinführt zur Generation Allah.

Zum anderen lässt sich im Auftreten von manifest radikalisierten Jugendlichen beobachten, dass sie sich einen bestimmten Code zulegen, was Kleidung oder Sprache angeht, und dass nicht zuletzt dadurch die Gruppenzugehörigkeit zelebriert wird. Der erhobene Zeigefinger ist eines dieser charakteristischen Zeichen. Genauso der Gebrauch arabischer Worte, wie etwa »Akhi«, mein Bruder, oder der abwertende Ausspruch »kaffer«, was ungläubig meint. Besonders auffällig ist bei den jungen Männern der lange Bart.

Um zwischen diesen beiden Phänomenen unter Jugendlichen in der Diskussion unterscheiden zu können, schlage ich vor, mit Blick auf das breite soziale Phänomen der gestiegenen Bedeutung der Religion unter Jugendlichen, wie wir sie an der Generation Allah beobachten können, den Begriff der »kulturellen Strömung unter Jugendlichen« zu verwenden. Demgegenüber sind mit einer »radikalen« oder auch »salafistischen Jugendkultur« dann jene Erscheinungen gemeint, die man in Habitus und Kleidung von tatsächlich radikalisierten Jugendlichen beobachten kann.

Nur die Spitze des Eisbergs?

Beinahe täglich erreichen uns Meldungen über die Verbrechen des Islamischen Staates. Der radikale Islamismus hat durch die Gewalttaten dieser Terrorgruppe eine neue Dimension erreicht. Kaum ein anderes Thema beschäftigt uns derzeit so intensiv – und es ist, leider, nicht anzunehmen, dass es damit bald ein Ende haben wird. Es steht außer Zweifel, dass wir uns mit diesem Thema auseinandersetzen müssen. Aber wie soll diese Auseinandersetzung auf fruchtbare Weise geschehen? Wie kann sie zu Ergebnissen führen, die langfristig helfen?

Natürlich ist uns seit langem klar, dass wir auch in Deutschland von der Gefahr des islamischen Radikalismus betroffen sind. Und das nicht nur, weil die Möglichkeit von innereuropäischen Anschlägen immer präsenter wird und mit den Attentaten von Paris im Januar 2015, jenem in Kopenhagen oder auch dem Terror in Brüssel im Jahr zuvor eine grausame Aktualität bekommen hat.

Betroffen sind wir aber vor allem deshalb, weil der Islamismus auch bei uns Wurzeln schlägt. Vor den Schulen und in Fußgängerzonen werben Salafisten für ihre Sache – und ihre Propaganda zeigt Wirkung.

Die Anzahl junger Menschen, die bereit sind, für ihre radikalen Überzeugungen in den Krieg zu ziehen, steigt beständig. Die offizielle Schätzung, wonach knapp 700 junge Männer und Frauen von Deutschland aus in den Dschihad gezogen sind, ist ganz sicher zu niedrig. Man muss momentan mindestens von einer Zahl zwischen 1500 und 1800 ausgehen. Auch die Zahl der Salafisten ist gestiegen. Sie liegt derzeit meiner Einschätzung nach bei etwa 10000 Menschen. Das sympathisierende Umfeld ist aber noch um ein Vielfaches größer.

Wenn wir also von Radikalen reden, dann sollten wir zunächst einmal fragen: Von wem genau sprechen wir da überhaupt? Meiner Ansicht nach muss man, wenn man auf die Radikalen blickt, zwischen drei Gruppen unterscheiden: Ganz oben stehen Gruppierungen wie Al-Qaida und der IS, deren Schreckenstaten wir auch in Europa bei Anschlägen wie in Paris oder Kopenhagen erleben. Zu diesen extrem gefährlichen und gewalttätigen Gruppierungen gehören ebenfalls Boko Haram, die in Nigeria unglaubliche Gräuel verüben, oder Al Shabaab, die in Somalia wüten, die Hamas und die Hisbollah.

Eine Stufe darunter stehen die Muslimbrüder. Auch ein Islamverständnis, wie es der türkische Staatspräsident Erdoğan vertritt, gehört in diese Kategorie.

Sehen müssen wir vor allem aber, was ganz unten in dieser Pyramide das Fundament bildet. Das nämlich sind diejenigen, die ich die Generation Allah nenne. Menschen, die unter uns leben, Jugendliche, die vielleicht sogar den Salafismus ablehnen, deren Denken und mitunter auch Handeln aber nicht mit den Werten unserer Gesellschaft übereinstimmen und nicht mit der Demokratie vereinbar sind. Diese Generation Allah bildet die Basis für den Radikalismus. Und diese Basis ist breit.

Wenn ich in diesem Buch von der »Generation« Allah spreche, dann meine ich diejenigen, die vielleicht nicht im Fokus des Verfassungsschutzes sind, weil sie sich nicht durch gewalttätige Aktionen oder explizit antidemokratisches Verhalten als Gefährdung für unsere Gesellschaft offenbart haben, für die aber ideologische Inhalte und Werte Teil ihrer Identität geworden sind. Mitunter mögen es nur Teilideologien sein, aber bereits diese legen den Grundstein für ein Denken, das allzu leicht in Islamismus umschlagen kann.