Gentleman auf Zeit - Sebastian Barry - E-Book

Gentleman auf Zeit E-Book

Sebastian Barry

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Beschreibung

Jack McNulty ist ein Gentleman auf Zeit, ein Ire, der vorübergehend als Offizier im Dienst der britischen Armee steht. Er hat als Ingenieur in Afrika gearbeitet, als Bombenentschärfer in London sein Leben riskiert, den Torpedoangriff eines deutschen U-Boots überlebt und als UN-Beobachter die Unabhängigkeit Ghanas begleitet. Es ist 1957, die britischen Truppen sind endgültig abgezogen, doch Jack zögert seine Abreise hinaus, er »lungert in Afrika herum wie ein abgehalfterter Missionar«. Bevor er nach Sligo und zu seinen Kindern zurückkehrt, will er reinen Tisch machen mit seiner Vergangenheit, denn Jack McNulty ist auch ein Feigling, ein Waffenschmuggler, Trinker und Glücksspieler, der seine einst so schöne und geistreiche Frau Mai um Erbe, Gesundheit und Leben gebracht hat. Getrieben von Reue, schreibt Jack seinen Lebensroman, die Geschichte eines Mannes, der sich schuldig gemacht hat, eine Elegie auf eine große, verlorene Liebe.

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Sebastian Barry

GENTLEMAN AUF ZEIT

Aus dem Englischen von Petra Kindler und Hans-Christian Oeser

RomanSteidl

Titel der englischen Originalausgabe

»The Temporary Gentleman«,

erschienen bei Faber and Faber Limited, London 2014

Copyright © Sebastian Barry, 2014

Dieses Buch wurde veröffentlicht mit Unterstützung von:

1. Auflage 2017

© Copyright für die deutsche Ausgabe:

Steidl Verlag, Göttingen 2017

Alle deutschen Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Glenewinkel

Gestaltung: Victor Balko

Umschlaggestaltung unter Verwendung von

Isotype-Piktogrammen von Gerd Arntz

Steidl

Düstere Straße 4

37073 Göttingen

steidl.de

ISBN 978-3-95829-424-0

Für Jacquie Burgess,

schön und klug

Hic amor, haec patria est.

Vergil, Aeneis

Gedenke mein, doch ach!, vergiss mein Los.

Nahum Tate, Dido and Aeneas

Erstes Kapitel

»Was für eine wunderschöne Nacht! Man käme nicht auf den Gedanken, dass irgendwo gerade Krieg ist.«

Diese wahrlich nicht prophetischen Worte auf dem breiten nachtdunklen Deck unseres Versorgungsschiffs mit Kurs auf Accra kamen aus dem Mund eines jungen Second Lieutenant der Marine. Er war ein kleiner, rundlicher Mann, von der Sonne des Tages rot versengt. Ich war froh, einen irischen Akzent zu hören, und fragte ihn, woher er komme. Aus Donegal, entgegnete er mit jenem besonderen Überschwang, den Iren an den Tag legen, wenn sie einander zufällig im Ausland begegnen. Dann sprachen wir über Bundoran im Sommer, einen Ort, in dem mein Vater oft mit seiner Band aufgetreten war. Es war ein Vergnügen, eine Weile belanglos mit ihm zu plaudern, während tief unter uns die Motoren brummten.

Die Fracht bestand aus achthundert Mann samt Offizieren, alle auf dem Weg in verschiedene Gegenden Britisch-Afrikas. Es gab den Lärm der kleinen Parlamente aus Kartenspielern und die improvisierten Varietés der Whiskytrinker, und in einer segensreichen Welle fegte sogar ein angenehmer maulwurfgrauer Lufthauch über das Schiff. Wir konnten die afrikanische Küste ausmachen, eine unruhige, aber exakte Linie. Einzige Beleuchtung waren die fröhlichen Lichter des Schiffs und die philosophisch ernsten Lichter Gottes am Firmament. Ansonsten bot das Land vor uns nur Finsternis, einen selbstbewussten Pinselstrich tiefschwarzer Tinte.

Seit Tagen schon war ich bester Laune gewesen, da ich auf das Siegpferd des Middle Park Stake-Rennens in Nottingham gesetzt hatte. Immer wieder steckte ich die Hand in meine rechte Hosentasche und klimperte mit ein paar Half Crowns, einem Teil meines Gewinns. Der Rest befand sich in einer Innentasche meiner Uniform – ein Bündel hübscher frischer Banknoten. Auf Heimaturlaub war ich kurz in Nottingham gewesen; bei den wenigen Tagen, die mir gewährt worden waren, hätte sich die lange Fahrt durch England und Irland bis nach Sligo nicht gelohnt.

Frankreich war an Hitler gefallen, und bizarrerweise waren Kolonien wie die Goldküste plötzlich von einem neuen Feind umzingelt, den Truppen Vichy-Frankreichs. Niemand wusste, was geschehen würde, wir aber wurden schleunigst dorthin verlegt, um an Ort und Stelle zu sein und, falls nötig, Brücken zu sprengen, Kanäle zu fluten und Straßen unpassierbar zu machen. Wir hatten gehört, dass die Kolonialregimenter mit frischen Rekruten aufgestockt würden, Tausenden von Goldküstenbewohnern, die herbeieilten, das Empire zu verteidigen. Tom Quaye, den ich damals noch nicht kannte, war vermutlich um diese Zeit dazugestoßen.

Da stand ich also mit ordentlich Geld in der Tasche und dachte an nichts Besonderes, wie stets ein wenig berauscht von der Seeluft, ein wenig verliebt in einen unbekannten Küstenstrich und in das faszinierende Land, das dahinterlag. Zudem hatte ich fast eine ganze Flasche Scotch intus, auch wenn ich fest wie ein verwurzelter Baum dastand. Es war ein Augenblick ungetrübten Hochgefühls. Mein rotes Haar – dasselbe rote Haar, das Mai zuerst auf mich aufmerksam gemacht hatte, denn nicht ich hatte sie auf jenem schlichten, schmucken Innenhof der Universität angesprochen, sondern sie mich mit ihrer neckischen Frage: »Ich nehme an, die sind gefärbt?« –, mein rotes Haar also war straff aus der Stirn gekämmt und wurde von der Leutnantsmütze wie von einem Topfdeckel herabgedrückt, meine Wangen hatte mein Offiziersbursche Percy Welsh glatt rasiert, meine Unterwäsche war frisch gestärkt, meine Hose gebügelt, und meine Schuhe sandten Leuchtsignale zum Mond zurück, als sich plötzlich direkt vor meinen Augen die gesamte Backbordseite des Schiffs aufzubäumen schien, ein mächtiger Schwall Wasser, ein regelrechter Geysir, eine schaudernde Explosion, ein ohrenbetäubendes metallisches Kreischen und eine gewaltige Säule aus roten Flammen, so groß wie die Fackel der Freiheitsstatue. Mit einem Mal war der junge Lieutenant aus Donegal neben mir auf dem Schiffsdeck so tot wie die Tümmler, die man am Strand von Enniscrone sieht, wenn ein Sturm sie angespült hat; ein scharfkantiges Geschoss aus umherfliegendem Metall hatte ihn gefällt. Von unter Deck stürzten Männer herauf, quollen wie brodelnde Melasse aus den Türöffnungen; überall Rufe und Fragen, selbst dann noch, als die riesige Fontäne verdrängten Wassers in sich zusammenbrach, sich aufs Deck ergoss und uns platt walzte, als wären wir Teigklumpen. Zwei meiner Pioniere versuchten, mich vom Deck zu klauben, das von dem Einschlag zersplittert und durchlöchert war, und jetzt regneten weitere Schiffsteile herab, klappernd und krachend, triumphal und tödlich.

»Das war ein verfluchter Torpedo«, sagte mein Sergeant, ein kleiner Mann aus Cornwall namens Ned Johns, der in Zündschnüren bewandertste Mann, mit dem ich je zusammengearbeitet habe – eine gänzlich überflüssige Bemerkung. Vermutlich kannte er das genaue Fabrikat und Gewicht des Torpedos, aber falls dem so war, ließ er nichts verlauten. In der nächsten Sekunde begann sich das riesige Schiff nach Backbord zu neigen, und ehe ich Ned Johns packen konnte, schlitterte er das neue Gefälle hinab, schmetterte gegen die Reling, sammelte sich, stand auf, blickte sich zu mir um und wurde dann über die Reling aus meinem Blickfeld geschleudert. Ich wusste, tief unter der Wasserlinie war ein Leck geschlagen worden. Ich konnte es geradezu in meinem Körper spüren, in meiner Magengrube hallte es wider: Aus dem Schiff war etwas Lebenswichtiges herausgerissen, in den Tiefen eines Maschinen- oder Frachtraums Unheil angerichtet worden.

Mein anderer Gehilfe, Johnny »Fats« Talbott, ein Mann, der so dünn war, dass man ihn, wie der bedauernswerte Ned Johns einmal gesagt hatte, als Ersatzkabel hätte verwenden können, gebrauchte mich jetzt wahrhaftig als eine Art Poller, aber es nutzte nichts, denn mit zeitlicher Verzögerung schien das Schiff auf seine Verwundung zu reagieren und richtete sich zitternd wieder auf; in einer grotesken und unmöglichen Bewegung bäumte sich die Reling fast vier Meter empor, was den armen Johnny, da er sich gegen eine Kraft aus der anderen Richtung gewappnet hatte, völlig unvorbereitet traf, und schon schoss er an mir vorüber und riss dabei das Hosenbein meiner Uniform ab, sodass meine kostbaren Half Crowns in alle Himmelsrichtungen davonflogen.

Da stand ich also einen seltsam stillen Moment lang mit einem der Welt entblößten Bein da, die Mütze unerklärlicherweise noch an ihrem Platz, und war so gründlich durchnässt, dass ich das Gefühl hatte, zu hundert Prozent aus Meerwasser zu bestehen. Von Gott weiß woher, vielleicht sogar aus dem Inneren des Schiffs oder vermutlich eher von der Seite der Kommandobrücke, bewegte sich plötzlich eine Eisenleiter voller Männer an mir vorbei – wie Waldaffen klammerte sich etwa ein Dutzend rufender und schreiender Menschen an ihr fest –, als wäre sie ein vom Dämon dieses Angriffs geschobener Leiterwagen, überquerte das verwüstete Deck und kippte in die aufgewühlte finstere See dahinter. In diesem Augenblick brüllte alles: der hohe nächtliche Himmel voll blinkender Sterne, der immense, makellos silberne Servierteller des Meeres, das in Stücke gerissene Schiff, die gekränkten und versehrten Männer – und dann herrschte voreilig Stille, die kürzeste Herrschaft jeglicher Stille in den Reichen der Stille; einen Augenblick lang war das gesamte Panorama, die ferne Küste, das Deck, das Meer, still wie ein Gemälde von Rauch, Feuer, Blut und Wasser, als habe jemand das Bild soeben in seinem Atelier vollendet und betrachte es nun eingehend, begutachte es und sei eben im Begriff, letzte Hand anzulegen, und dann spürte ich, wie mich das ganze Schiff verließ, wie es unter meinen Stiefeln so jählings sank, dass sich zwischen ihm und mir eine Sekunde lang ein Zwischenraum auftat. Glich ich nicht einem Engel, einem geflügelten Mann in der Schwebe? Dann brach die Schwerkraft den Bann, die Schwerkraft zerstörte die verfluchte Illusion, und zusammen mit dem Schiff ging ich jämmerlich und brüllend unter, das Deck krachte ins Wasser, es durchschlug die geheiligten Fluten, so wie ein Kind aus Sligo im Winter eine vereiste Pfütze zertritt, genau so ein Geräusch machte es, als zerbreche etwas Festes, etwas Eisiges, eigentlich Glas, aber dann doch nicht Glas, unendlich weiches und empfängliches Wasser, die Tiefen, die gefürchteten Tiefen, der Grund, weshalb Fischer niemals schwimmen lernen, möge das Wasser uns rasch empfangen, möge es kein Strampeln, kein Hoffen, kein Schwimmen geben, nein, lockere deine Gliedmaßen, sei gefasst, setze dein Vertrauen in Gott, bete rasch zu deinem Erlöser, und das tat ich, geradeso wie ein Fischer von den Aran Islands, und empfahl meine Seele Gott und sandte über Europa hinweg ein letztes Liebeszeichen an Mai, an Mai und an meine Kinder, die nachtbeschmutzte Küste Afrikas hinauf, über die Kanaren, über den alten Herrenstiefel England und den uralten Säuglingskörper Irland hinweg, sandte ihr mein letztes Liebeswort, ich liebe dich, ich liebe dich, Mai, es tut mir leid, es tut mir leid.

Mit eisernem Willen schlug der Ozean über mir zusammen, und der sagenhafte Sog des sinkenden Schiffs zog mich hinab, als zerrten hundert Dämonen an meinen Beinen, wir sanken hinab, hinab, unser stattlicher, in Belfast gebauter Truppentransporter, die schlaffen Körper der bereits Ertrunkenen, die zahllosen Dokumente und Kriegspläne, die Sardinendosen, die wir in Algier geladen hatten, das fabelhafte Wehrmaterial, die nagelneuen Lastwagen, der Reifenvorrat, die dreiundfünfzig Pferde, die Holzpfähle, die Bohlen, die Kisten mit sorgsam verstautem Sprengstoff, wir alle sanken hinab, hinab zu Neptun, ausgelöscht in einem Augenblick ohne Ruhm oder Feigheit, in einem Akt göttlicher Fügung oder wunderlicher Physik, die gewaltige Masse Metall unerwartet besiegt, bezwungen, zerschmettert, zerstört, total im Arsch, wie Ned Johns sagen würde, und ich spürte all das Wasser um mich her, als befände ich mich im Leib eines Körperwesens, als wäre dies sein Blut und als wären die wissenschaftlich erklärbaren Kräfte, die hier wirkten, seine Sehnen und Muskeln. Und es verstopfte mir den Mund und fand die geheimen Wurmwindungen meiner Ohren, und es wollte in mich eindringen, doch mit instinktivem Übermut hatte ich einen letzten großen Atemzug getan, genommen, geraubt, und den trug ich in meiner Brust, in meinem Herzen, als meine singende Antwort, mit mir hinab, und mit dem Donnern des Meeres donnerten jetzt meine Ohren, ich glaubte, das Schiff selbst aufschreien zu hören mit einem irren Vokabular des Schmerzes, als könnte ein Mensch diese Sprache, die gellenden Todesschreie eines Schiffs, irgendwo erlernen. Und all das, als stünde ich noch an Deck, doch das konnte ja nicht sein, und dann war mir, als drehe das Schiff sich seitwärts, wie ein Riese in seinem Bett, und ich hatte keine andere Wahl, als die Bewegung mitzumachen, ich war wie ein Lachs, der in einem Wasserfall nach Stellen sucht, wo er sich an Griffen aus bloßem Wasser zu den Kiesbänken emporarbeiten kann, und jetzt glaubte ich, vom Deck aus über die Seite zu stürzen, beschleunigt von einer unbekannten Kraft, die schneller war als das Schiff selbst, und ich schleifte an Metall entlang, ich spürte lange Seegräser und Seepocken, das konnte doch gar nicht sein, aber so fühlte es sich an, und in dem Moment, da das Schiff ganz umkippte, so stellte ich es mir jedenfalls vor, denn wie hätte ich es wissen können, in der tiefsten Finsternis, der dunkelsten, tiefsten Finsternis aller Zeiten, einem Zustand vollkommener Leere, spürte ich plötzlich den Kiel des Truppentransporters, etwas Breites und Rundes und Gutes, den geheiligten Kiel, des Seemanns Fundament der Hoffnung, den Garanten seines Schlafes zwischen den Wachen, jedoch alles verkehrt herum, am verkehrten Ort, mit Gewalt seinem angestammten Platz entrissen, und genau in diesem Augenblick, genau in diesem Augenblick kam der Kiel mit einem gewaltigen Stöhnen, einem unheimlichen und bedrohlichen Seufzen, einer Art Stille als dem schlimmsten aller Geräusche der Schöpfung, zum Halt und bewegte sich zurück in die andere Richtung, wie die Wirbelsäule eines Walfischs, als wäre das Schiff zum Fisch geworden, und da ich mich am Kiel festhielt, auf ihm ritt wie eine Fliege auf einem Sattel, wurde ich zurück in die andere Richtung geschleudert, von einem trägen Katapult durchs Wasser geschossen – Mr Cannonball vom Wanderzirkus in Enniscrone höchstpersönlich –, und in meinem Kopf flackerte meine Kindheit, flackerte mein ganzes Leben auf, und dann schien ich mich in den Wanten des kleinen Vormasts zu befinden, und ich rollte meinen Körper zu einer straffen Kugel zusammen, wieder rein instinktiv, ohne jeden Gedanken, und als sich das versenkte Schiff schließlich langsam wieder drehte, sein Verderben zumindest in einem ballettartig graziösen Bogen suchte, wälzten mich die aufgewickelten Segel wieder und wieder herum, verliehen mir eigenartige Geschwindigkeit, ungeahnte Willenskraft, und ich streckte mich wieder, wie ein Liebhaber, der siegreich dem Ehebett entsteigt, und ich breitete die Arme aus und drosch mit ihnen auf den Ozean ein, und schwamm, und schwamm, suchte nach der Wasseroberfläche, betete um sie, war in meiner Atemnot schon eine Meile geschwommen, bereit, mir Kiemen wachsen zu lassen, um dies zu überleben, und dann war er über mir, der schlichte Himmel, Gottes blanke Lichter in den heiteren Häfen der Sternbilder, und wie ein gieriges Kind griff ich mir irgendetwas, irgendein Bruchstück, ein verwüstetes und kostbares Trümmerteil, und so trieb ich denn dahin, festgeklammert, halb von Sinnen, eine Minute lang ohne Erinnerung, o Mai, Mai, eine Minute lang ganz Nichtsein und Dasein, ein ausgelöschtes und zerstörtes, ein grotesk erneuertes Wesen.

Durch Gottes Gnade waren wir in jener Nacht in einem Schiffsverband unterwegs. Durch Gottes Gnade und aus einem Grund, der nur dem Kapitän und seinen zusammengekauerten Matrosen bekannt war, verschwand das U-Boot in den Tiefen des Meeres – nicht, dass irgendeiner von uns es gesehen hätte. In meiner Nähe drehte eine von Maschinengewehren starrende Korvette bei, in stürmischer Dankbarkeit vernahm ich zuversichtliche Stimmen, in der Dunkelheit streckten sich Arme nach mir aus, zogen mich aus dem Chaos, und ich sackte, plötzlich nur noch erschlafft und erschöpft, vor den Stiefeln meiner Retter zusammen, sank zu Boden neben anderen Überlebenden, einige von ihnen mit dunkel blutenden Wunden, ein paar andere vollkommen nackt, weil ihnen die Kleider vom Leib gesogen worden waren.

Da lag ich nun, so eben noch pochend lebendig, triumphierend, von Grauen erfüllt. Ich merkte, wie ich meine Innentasche nach dem Bündel Banknoten abtastete, als schaute ich einem anderen zu, als wäre ich zwei Personen, und ich lachte über die Torheit meines anderen Selbst.

Am folgenden Morgen fuhren wir in den Hafen von Accra ein.

Zweites Kapitel

Jetzt haben wir das Jahr 1957, und nach vielem Kommen und Gehen bin ich wieder in Accra. Der Krieg ist seit zwölf Jahren vorbei. Aus der Goldküste ist Ghana geworden, das erste Land Afrikas, das seine Unabhängigkeit erlangt hat. Als vormaliger UN-Beobachter verfolgte ich all das mit großer Faszination und Begeisterung – die enorme Höflichkeit der abziehenden Briten, die wunderbaren Reden, die ciceronischen Phrasen. Wir verstehen uns sehr gut darauf, abzuziehen. Gleichwohl sind für den Augenblick noch Überreste der alten Verwaltung und ein Gouverneur vor Ort. In dem klaren neuen Fluss gibt es dunkle Strömungen, und anscheinend lautet die Devise sachte, sachte, aus Furcht vor altem Hass und vor alten Rechnungen, die noch zu begleichen sind – wie es ja auch in Irland in den Zwanzigern der Fall war.

Bald werde ich nach Sligo zurückkehren. Es ist so seltsam, in einem befreiten Land zu sein, und doch nicht ganz so seltsam, da auch meine Heimat einst befreit wurde. Ich hatte kein Verständnis von Freiheit. Heute verstehe ich sie besser, jedenfalls ein bisschen. Ich habe dieses kleine verputzte Haus gemietet, dessen Außenwände wie bei einem der örtlichen Tempel mit einem alten Muster aus Wirbeln und Quadraten verziert sind. Es ist kein Tempel, sondern das bescheidene, einfache Quartier eines untergeordneten Amtsträgers, Mr Peter Oko, der froh war, sein Zweithaus an diesen weißen Mann vermieten zu können, solange der bei der UNO in Lohn und Brot stand; nun bleibt er sogar noch länger, während viele von seiner Sorte, »die anderen«, die Afrika dreihundert Jahre lang heimgesucht hatten, ihre Koffer gepackt und das Weite gesucht haben. Als ich vor mehr als einem Jahr hier ankam, wurde er mir von einer Dame, deren Name mir entfallen ist, in dem Brief der UNO als »der liebenswürdige Mr Oko, der Ihnen bei allem behilflich sein wird« beschrieben. Und er hielt, was sie versprochen hatte. Er war ein Drittel kleiner als ich, mit einem pennygroßen kahlen Fleck auf dem schönen Scheitel, sprach Englisch fließender als so mancher Ire und sorgte dafür, dass ich während meiner gesamten Vertragszeit stets auf dem Laufenden und anständig untergebracht war. Obgleich vermutlich nur wenige Jahre älter als ich, nannte er mich seinen »Sohn«, im Sinne von »Mr McNulty, mein Sohn«, und wuchs mir, wie alle seine Mitbürger in der Stadt, ans Herz. Und ich kannte Accra aus der Zeit lange vor dem Krieg, als es nur aus Wellblechdächern und Ameisenhügeln bestand und europäische Ehefrauen zur Verzweiflung brachte, die die alte Verwaltungszentrale in verzweifelten Briefen unentwegt um Auskunft über Kleider, über Hüte und, besonders dringlich, über moskitosichere Strümpfe baten, während wir, allen möglichen Gefahren ausgesetzt, auf unserem abgelegenen Kolonialposten herumlungerten.

Die englischsprachige Lokalzeitung, der Accran Clarion, dessen Umfang von zwanzig Seiten auf ein einziges Blatt zusammengeschrumpft ist, berichtet, dass es hier und da noch ein paar kleinere Unruhen gibt, dass beispielsweise die alten Streitigkeiten zwischen Britisch-Togoland und der Goldküste, an deren Beseitigung ich und andere noch vor wenigen Monaten gearbeitet hatten, wieder aufflammen. Wenn die Männer in ihren neuen Uniformen auftauchen und mich auffordern, Ghana zu verlassen, werde ich natürlich gehen müssen. Aber bisher stört noch nichts die wundervolle Atmosphäre hier am Rande der Stadt, wo die Häuser in leuchtend grüne Felder mit begeistert wachsendem Gemüse übergehen. Ich kann den Atlantik zwar nicht sehen, aber ich kann ihn riechen, eine halbe Meile entfernt, diese dunstige und endlos ausgedehnte Fläche mit ihren unermesslichen Tiefen und ihren mitunter furchterregenden Wassermassen. So ist es mir ganz recht, ihn nicht vor Augen zu haben. Schon als ich es, ich meine das Haus, letztes Jahr mit Mr Oko inspizierte und er umherflitzte, um mir seine Herrlichkeiten und Eigenarten vorzuführen, dachte ich: »Aber Mai wäre gerne nah am Meer gewesen, um zu schwimmen.« Und der nächste Gedanke rief mir in Erinnerung, dass sie hier nicht mit mir leben würde.

Mai.

Und ich werde nach Irland zurückgehen, ich muss, ich muss, ich habe dort Verpflichtungen, nicht zuletzt meinen Kindern gegenüber.

1922. Da war sie, das erste Mal, dass ich sie sah – in ihren schwingenden schwarzen Röcken, das hübsche Köpfchen auf einem langgliedrigen Körper, segelte sie über den Schlackenweg der Universität, von Baumstämmen erst verdeckt, dann freigegeben, sodass sie vor meinen Augen dahinschwirrte wie eine abspulende Filmrolle, ein von Sonnenlicht halb zunichtegemachter Schatten unter den berühmten Platanen. Ihre Bluse, unter der sich deutlich die sanft wogenden Brüste abzeichneten, so weiß, dass sie ein heller Schild im Unterholz war. Und ich selbst noch ganz jung, in einem Alter, da das Gehirn keinen wirklichen Gedanken an Vergangenheit oder Zukunft zu dulden scheint – da Zeit und Welt still stehen. Ich beobachtete sie von unterhalb des dunklen Torbogens, der zum Innenhof führte. Es war mein erstes Jahr an der Universität, und es war die Zeit des Bürgerkriegs.

Sie hatte viele Freunde, an erster Stelle ein wundervolles Mädchen namens Queenie Moran, das im College äußerst beliebt war, doch niemanden aus meinem eigenen, vermutlich sehr männlich geprägten Umfeld, technikbegeisterte Jungs bei den angehenden Ingenieuren und jene düsteren, unergründlichen Burschen, die Licht nur aus den fernen Galaxien der Mathematik und Physik empfingen. Ihre Freundinnen waren die neuen Mädchen des Jahrhunderts, die die Universität furchtlosen Schrittes betreten hatten und mit der Zuversicht eines Cortés oder Magellan über die Wege des College rauschten. Mitunter sah man sie in einem kleinen Schwarm dieser Frauen, die laut und lebhaft redend aus den Vorlesungen kamen und sich der Blicke, die einsame Männer in ihre Richtung warfen, sehr wohl bewusst waren. Und dann gab es in ihrem Umkreis jene Sorte Jungs, die sich einer Gruppe Frauen anschließen können, ein ganz eigenes Talent, Söhne von Ärzten oder von Angehörigen der neuen Regierung, Jungs, über deren Köpfen der Rauch des Sieges und der Unterwerfung hing.

Dass sie in der Grattan Road wohnte, fand ich heraus, indem ich ihr eines Abends, als sie die Küstenstraße entlangeilte, wie ein Detektiv oder Dieb in einigem Abstand nach Hause folgte. Es beeindruckte mich, dass sie sich nicht umsah, kein einziges Mal. Die wie dunkles Glas schimmernde Fläche der Bucht zu ihrer Linken und das Gewirr kleiner Cottages und größerer Häuser zu ihrer Rechten schienen sie hilfreich bis nach Salthill zu geleiten.

Sie entschwand zwischen alten, mit Granitkugeln verzierten Torpfosten. Ich wusste, dass die Kugeln mit unsichtbaren Metallstacheln befestigt sein mussten, und hoffte, dass ihr Vater nicht mit ähnlichen Stacheln bewehrt war, denn das Haus kündete von beträchtlichem Status und erheblicher Pracht. Ich sah, wie sie die große Eingangstür öffnete, eintrat, sich ihres Hutes und ihres scharlachroten Mantels entledigte, ihren rechten Stiefel wie eine Eiskunstläuferin nach hinten schwang und die Tür zutrat, ohne noch einmal in den trüben Abend hinauszublicken.

Da sie mich nicht zuerst ansprach, musste ich ihr immer wieder über den Weg laufen. Eine andere Methode, die ich anwenden könnte, fiel mir nicht ein. Ich positionierte mich in ihrer Nähe, als sie aus einer ihrer Wirtschaftsvorlesungen kam. Ich hatte sie hineingehen sehen und die Stunde vertrödelt – dann warf ich mich ihr mehr oder weniger in den Weg. Angsterfüllt, aber mannhaft.

»Ich nehme an, die sind gefärbt?«, sagte sie mit Blick auf meine roten Haare. »Wer bist du überhaupt? Wo ich auch hingehe, tauchst du auf wie ein Springteufel, wie ein Jack-in-the-box.«

»Nun ja, jetzt, wo du’s erwähnst, ich heiße tatsächlich Jack.«

»Welcher von den Jacks bist du denn?«, fragte sie, als gäbe es hundert Jacks in ihrem Leben.

»Jack McNulty«, sagte ich. »John Charles McNulty.« Dann, als würde es der Aufklärung dienen, fügte ich hinzu: »Ingenieurwesen.«

Sie schwieg einen Augenblick. Plötzlich merkte ich, dass auch sie nervös war. Ich bin mir nicht ganz sicher, woher ich das wusste, aber ich wusste es. Natürlich war sie nervös, schließlich war sie erst neunzehn und wurde von einem schüchternen Rotschopf behelligt, dem sie noch nie zuvor begegnet war.

»Das ist doch mal ein Anfang. Ich bin Mai Kirwan«, sagte sie, als sei der Name jedermann hinlänglich bekannt und als gebe sie ihm jetzt nur ein Gesicht.

Dann, als wären wir Diplomaten an irgendeiner Staatsgrenze, streckte sie ihre behandschuhte Hand aus. Der Handschuh war aus orangefarbenem Leder. Ich starrte die Hand einen Moment lang an, dann beeilte ich mich, sie behutsam zu schütteln. Sie lächelte mich an und lachte.

»Ich werde dir hier bestimmt öfter über den Weg laufen«, sagte sie; vielleicht hatte sie keinen Vorrat von Floskeln, die uns weitergebracht hätten.

»Das wirst du«, sagte ich, »das wirst du«, und dann war sie in einer angenehm duftenden Parfümwolke an mir vorbei und verschwunden.

So fing es an.

Jetzt ist es Abend auf den fransigen Feldern. Tom Quaye war den ganzen Tag über hier und hat einen köstlichen Fischeintopf mit Okra und Palmnüssen gekocht. Er singt unentwegt Lieder auf Ewe vor sich hin und spricht ausgezeichnetes Englisch, das ihm vor Jahren ein irischer Geistlicher beigebracht hat. Sein Englisch hat sogar einen leichten Roscommon-Einschlag, was mir Heimweh bereitet. Mr Oko hatte Tom entdeckt. Er ist der ideale Hausbursche für mich, da er im Krieg dem Goldküstenregiment angehört hat. Er überlebte die Schrecken Burmas und brachte es bis zum Sergeant Major. Ein großer, muskulöser Mann, der Schuhe verschmäht; und tatsächlich haben, wenn ich mich recht entsinne, Unteroffiziere des Goldküstenregiments nicht immer Schuhe getragen, nicht einmal bei Paraden. Er ist so alt wie ich, und zwar, wie ich seinen akribisch geführten Unterlagen entnehmen konnte, auf den Monat genau.

Als er aus dem Krieg heimkehrte, gab es einige Unstimmigkeiten wegen der Rente; er und seine Kameraden veranstalteten einen Protestmarsch durch Accra, und die Polizei tötete etliche von ihnen. Nicht gerade eine schöne Art, sich für die Verteidigung des Empire zu bedanken. Aber er verliert nicht allzu viele Worte darüber und kümmert sich mehr darum, einen anständigen Eintopf hinzubekommen oder was immer er gerade erledigt. Die Ameisen hinausfegen. Die Whiskygläser polieren. Er macht einfach weiter. Leben. Kostbares Leben.

Ich zahle ihm zwei Shilling pro Tag, das ist ein Shilling weniger, als Eneas in den zwanziger Jahren zu Hause in Irland erhalten hatte, bei der Royal Irish Constabulary, die sein Verderben war. »Das olle Todesurteil«, wie Eneas es fast liebevoll nannte, in bester irischer Manier von seinem eigenen Sandkastenfreund Jonno Lynch über ihn verhängt. Eneas lebt jetzt irgendwo im Exil, ich weiß nicht, wo. Leicht verdientes Geld ist eine trügerische Sache.

In der Armee, erzählt mir Tom, habe man ihm einen Shilling pro Tag gezahlt, die meisten anderen Nationalitäten hätten allerdings zwei bekommen. Und von seinem Sold sei auch noch ein Drittel zurückbehalten worden, das ihm nach dem Krieg als eine Art Bonus ausgezahlt werden sollte. In seinem Fall habe dieser sich auf 23 Pfund belaufen, für drei Jahre an der Front, einschließlich Burma. Eine Rente, sagt er, werde nur an Verwundete gezahlt, eigentlich sei’s nur ein Almosen. Tausende von Soldaten fänden keine Arbeit, deswegen hätten sich alle zu Nkrumah bekannt. Am meisten Hoffnung könne man sich auf eine Stelle bei der Polizei machen, aber das wollte Tom nicht, erst recht nicht, nachdem diese Herrschaften auf ihn geschossen hatten. Er sagt, er sei sehr froh gewesen, als Mr Oko ihm die Nachricht zukommen ließ, bei mir gebe es eine Art Beschäftigung, wobei ich mir nicht sicher bin, ob er eigentlich weiß, dass sie möglicherweise nur von kurzer Dauer ist. Ich nehme an, für den Augenblick genügt es.

Irgendwo landeinwärts hat Tom eine Frau und Kinder, die er nie sieht – irgendwo weiter oben am Volta, er hat den Namen des Dorfes erwähnt, aber ich habe ihn mir nicht gemerkt. Offenbar erlaubt seine Frau ihm nicht, zu ihnen zu kommen. Er hat mir erzählt, dass er ihr regelmäßig eine Nachricht sendet und darum bittet, seine Söhne und Töchter sehen zu dürfen. Der Überbringer der Nachricht muss einen Bus nehmen, zwanzig Meilen zu Fuß gehen und dann noch zweimal ein Boot mieten. Das ist sehr teuer für Tom. Doch ihre Antwort lautet jedes Mal nein. Es war befremdlich, sein sonst so zuversichtliches, »männliches« Gesicht vollkommen aufgelöst zu sehen, als er darüber sprach.

Es dauerte ein paar Monate, bis er sich mir anvertraute. Ich hatte ihm einen Stuhl angeboten, aber er wollte sich nicht setzen, sondern stand einfach nur da und erzählte mir von seiner Frau.

»Ich bete darum, dass sie mir eines Tages sagt, ich soll kommen«, sagte er.

Auf meinem neuen Schreibtisch – den ich im labyrinthischen Kaufhaus Kingsway in Accra gekauft habe, wo ich mir einen Weg durch ein Meer von Hausfrauen bahnen musste – steht ein altes Foto von mir in einem von Fliegeneiern übersäten Rahmen. Ein pausbäckiger Knirps von sechs Jahren am Strandhill Beach, mit einem hölzernen Spaten und jenem frostigen Lächeln, das kleinen Jungen oft zu eigen ist. Den Spaten strecke ich voller Stolz dem Fotografen entgegen. Meinem Vater mit seiner Brownie-Kamera. Natürlich sehe ich mich selbst, wenn ich das Foto betrachte, aber auch ihn sehe ich noch vor mir, wie er in seinem schwarzen Anzug im Sand steht, mit gerunzelter Stirn durch den Sucher späht und doch zugleich lächelt. Mitunter vereinte sich in ihm etwas Widersprüchliches, wie Regenschauer bei Sonnenschein.

Als wir noch klein waren, Eneas, Tom und ich – Teasy kam später –, pflegte mein Vater abends ins Zimmer zu kommen und sich in »den großen Vogel«, wie er es nannte, zu verwandeln. Er stellte sich neben unser Bett und breitete die Arme aus, und wir machten, dass wir unter den Decken verschwanden, alle drei nebeneinander in dem einzigen Bett. Mit zugekniffenen Augen, halb verängstigt und halb närrisch vor Entzücken fühlten wir, wie sich »der große Vogel« langsam, langsam auf uns niederließ, und dann spürten wir den menschlichen Kuss, den er jedem von uns auf die Stirn drückte.

Als ich zehn war, bat ich ihn, nicht länger der große Vogel zu sein, und sah, wie sein Gesichtsausdruck, noch während er einwilligte, seine veränderten Gefühle spiegelte. Das Dumme war, dass er sich ohne den großen Vogel nicht zu dem Kuss vorarbeiten konnte, und so mussten Tom, Eneas und ich darauf verzichten.

Meine Mutter, klein, schwarz gekleidet, als wäre sie bereits Witwe, war der Grundstein, auf dem meine Stabilität ruhte wie eine Brücke auf einem Pfeiler. Wenn sie, als ich klein war, bisweilen eine gewisse Schroffheit an den Tag legte, so war dies nur eine Gewohnheit, die von ihr Besitz ergriffen hatte. Und es gab Zeiten, besonders wenn mein Vater mit seiner kleinen Band in Roscommon oder Mayo unterwegs war, da nahm sei einen am Arm und erzählte lauter Dinge, lustige, lebendige und bestürzende Dinge, kleine Wahrheiten, oder Geschichten aus ihrer Jugend, aus der Zeit vor ihrer Ehe. Und manchmal stellte sie sich in der winzigen »guten Stube« auf die Kaminplatte und zeigte uns einen ihrer Tänze, die sie mit großer Geschicklichkeit und Gewandtheit vollführte. Und wenn sie die Schuhsohlen auf dem schwarzen Schiefer klappern ließ, starrten ihre Kinder sie verblüfft an.

Meinen Vater sprach sie nur selten direkt an, vielmehr nannte sie ihn »er« und »ihn« – sogar wenn er neben ihr in der Koje lag. Eine seltsame Angewohnheit.

Ihre gelegentliche Verdrießlichkeit wurzelte in ihrem Entsetzen darüber, dass ein Geheimnis mit ihr verbunden war, etwas Anrüchiges, die unbekannte Geschichte ihrer wahren Herkunft. Sie war von den Donnellans großgezogen worden, hatte aber irgendwann herausgefunden, dass sie nicht deren Kind war. Dies zerrte an ihrem Innersten. Mitunter grauste es ihr vor sich selbst, und ihre große Angst – das Wort »Angst« beschreibt nicht ihr ganzes Leid – bestand darin, dass sie unehelich war, was in der Seele eines Menschen damals wie heute eine kleine Grube der Pein bilden konnte. Nicht, dass sie jemals mit mir darüber gesprochen hätte, nicht einmal, als ich ein junger Mann war. Vielmehr war es Pappy, der mir davon erzählte, in häuslichem Flüsterton.

Mein Vater wiederum liebte nichts mehr, als mit seiner Band auf Tournee zu gehen. Ausstaffiert mit seinem besten Anzug, den Strohhut zur Seite geschoben, verstaute er seine Instrumente, und oft auch mich, auf dem Pferdekarren. Ich galt als geschickt, wenn ein Rohrblatt geschliffen oder eine Saite ausgewechselt werden musste. Um das Erscheinungsbild der Band nicht zu beeinträchtigen, wurde auch ich mit einem kleinen, von ihm formvollendet genähten Gehrock ausgestattet, an dem selbst die winzigen Blechknöpfe nicht fehlten.

Aber mein Vater war auch der Schneider der Irrenanstalt von Sligo, das war sein eigentlicher Beruf.

Jedes Jahr veranstalteten die Angestellten dort ein Tanzvergnügen, verbannten die Verrückten in die hintersten Nischen des riesigen Gebäudes und schleppten die alten Sitzbänke aus dem Anstaltssaal. Und so stand ich denn mit gezücktem Taschenmesser und Ersatzsaiten hinter einem improvisierten Podium. Ich hatte einen privilegierten Blick auf die schwingenden Ärsche der Musiker und ihre wippenden Strohhüte. Ihre Körper schlängelten und wanden sich wie Algen im Meer, während sie ihr Abendprogramm herunterspielten und die kleine Schar der Feiernden sich in demokratischem Strudel über die gewaltige Trommel der Holzdielen wälzte. Die Wildheit des Ganzen hatte etwas Manisches, als könnte in einer Irrenanstalt nur etwas Manisches Ausdruck finden. Die Tänzer fuchtelten mit den Armen wie Hurlingspieler, schwangen in ausschweifenden Bewegungen die Beine. Bei den Set Dances wurden normalerweise nüchterne und verzagte Frauen förmlich in die Luft geschleudert. Und mit offenem Mund und aufgerissenen Augen stand ich begeistert dabei, während mein Vater seine Geige peitschte oder das Cello mit dem Bogen bearbeitete, als versuche er, sich selbst zu zersägen.

Und dann, wenn alles vorbei war und der zusammengewürfelte Haufen von Tänzern sich nach Hause verzogen hatte, aßen wir in dem kleinen Hinterzimmer große weiße Sandwiches, die Konfitüre ein Blutfleck auf dem Brot, und tranken Gläser mit kalter, kalter Milch, und die einzige Musik waren die herüberdringenden Schreie und Klagen der Insassen, die in den Räumen des widerhallenden Gebäudes tobten oder trauerten.

Neben dem kleinen Foto von mir selbst steht, inzwischen ein echtes Relikt, eine Daguerreotypie meines Großonkels Thomas McNulty, der von einer Bande Komantschen in der Prärie von Zentraltexas skalpiert worden war. Er war Soldat der US-Kavallerie gewesen. Das Bild ist so verblasst, dass ich ihn in seiner blauen Uniform eben noch ausmachen kann. Mein Vater ist nach ihm benannt, mein Bruder ebenfalls, was die Bezeichnungen Old Tom und Young Tom erforderlich machte. Diese Fotografie ist der Grund, weshalb ich als kleiner Junge Soldat werden wollte.

Das war unser bisschen »Ahnengeschichte«, davon gab es in meiner Familie nicht allzu viel. Mein Vater hat mir auch höchst feierlich anvertraut, wir seien einst Butterexporteure in Sligo gewesen und hätten eine Villa namens Lungey House bewohnt, gleich um die Ecke von unserem Haus in der John Street. Da war das alte Herrenhaus längst eine wenig reizvolle, verrottende Ruine. Mit noch innigerer Vertraulichkeit erzählte er mir, bis zur Zeit Cromwells sei unser Vorfahre Oliver McNulty Häuptling seines Stammes gewesen, habe dann aber seine Ländereien an einen zum Protestantismus übergelaufenen Bruder verloren.

Obwohl es für diese Geschichte keine Belege gab, meinem Vater galt sie als glaubwürdige und wichtige Schilderung wahrer Begebenheiten. Und ich leitete daraus unweigerlich das Bild ab, das ich mir von meinem Platz in der Welt machte, und stellte nichts davon jemals in Frage.

Drittes Kapitel

Gestern Abend habe ich Tom Quaye wieder einmal meine Indian geliehen, weil er zu einer Tanzveranstaltung in Osu wollte. Er wohnt in einer kleinen Wellblechhütte irgendwo hinter den Palmen, nur eine Minute entfernt. Der Anzug, den er trug, war so elegant, dass er die Eingeborenen westlich des Shannon sprachlos gemacht hätte.

Er liebt dieses Motorrad einfach, genau wie ich.

»Also, Major«, sagte er, »wenn Sie nicht wollen, dass ich mit dem Motorrad fahre, sagen Sie’s einfach. Nur weil ich mich draufsetze, heißt das noch lange nicht, dass ich glaube, es gehört mir.«

Ich wusste genau, was er meinte.

Ich habe ihm schon ein paarmal gesagt, dass ich jetzt, nach Kriegsende, auf den Titel Major eigentlich kein Anrecht mehr habe, aber er beherzigt es nicht.

Er legt mir gegenüber eine wohltuende Fürsorglichkeit an den Tag. Ich frage mich, womit ich das auslöse. Ich bilde mir immer ein, dass es mir gelingt, meine Gefühle zu verbergen, aber nein, offenbar bin ich für ihn ein offenes Buch. Anders kann ich mir Tom Quayes Freundlichkeit, die mir aufrichtig erscheint – ich meine, es ist nicht die »Freundlichkeit« eines Angestellten –, nicht erklären.

»Demnächst nehme ich Sie mal mit, damit Sie sich die Highlife-Musik anhören«, sagte er heute Morgen. »Highlife-Musik tut einem Mann gut. Sie können fahren, und ich sitze hinten«, sagte er, als wäre er nicht ganz sicher, dass dies der Fall sein würde.

Dann, als wolle er die Frage vorerst nicht weiter erörtern, sang er leise, rasch und sehr melodisch:

Ghana, we now have freedom,

Ghana, land of freedom,

Toils of the brave and the sweat of their labours,

Toils of the brave which have brought results.

Danach hob er ein imaginäres Saxophon an den Mund, und wenn er nicht das Ebenbild meines Bruders Tom war, vor Jahren in seinem Tanzsaal in Strandhill, weiß ich nicht, wer es sein könnte. Die bloße Erinnerung daran, die sich über das aktuelle Bild schob, brachte mich zum Lachen.

»Pass lieber auf, Tom«, sagte ich, »sonst singe ich noch Faith of Our Fathers. Dann wird’s dir leidtun.«

»Ich finde, ein Mann muss singen. Wozu sind wir auf dieser Erde, wenn nicht, um zu singen? Zu singen und zu tanzen. Andernfalls ist alles nur yeye«, sagte er, in Pidgin verfallend. »Ich sag Ihnen, seit sie meine Frau mich verlassen, wenn ich nicht singen, würd ich crazy werden.«

Kresy, so sprach er es aus, kresy. Reinstes Roscommon. Reinstes Ghana.

Eigentlich sollte ich gar nicht hier in Ghana sein. Ich sollte zu Hause in Sligo sein und mich um meine Kinder kümmern. Ich sollte dort sein, und sei’s nur am Rande, bereit zu helfen, bereit zu raten. Das ist es, was ein Vater tun kann. Stattdessen lungere ich hier in Afrika herum wie ein heruntergekommener Missionar ohne Kirche oder Bestimmung und zögere nur die Stunde meines Aufbruchs hinaus. Kein Wunder, dass Mr Oko mit seinem freundlichen Gesicht mich so seltsam gemustert hat, als ich ihm erzählte, ich hätte vor, noch ein Weilchen zu bleiben. Weshalb sollte ich? Meine Arbeit hier ist beendet.

Aber mein Herz, mein Herz ist gebrochen. Ich weiß es. Seit fast vier Jahren schleppe ich mich mit diesem gebrochenen Herzen durchs Leben, aber es wird nur schlimmer und schlimmer, wie ein Motor mit einem vernachlässigten Defekt, der alle anderen Teile in Mitleidenschaft zieht. Ich muss versuchen, es zu reparieren, es bleibt mir nichts anderes übrig. Ich muss noch einmal alles Revue passieren lassen und dorthin zurückkehren, wo es zerbrach, und den Gott der guten Dinge bitten, mich zu heilen, falls das möglich ist. Alles offen und ehrlich in diesem alten Protokollbuch der aufgelösten Gold Coast Engineering and Bridge-Building Company festhalten. Dann wird der Mann, der nach Irland zurückkehrt, ein besserer Mann, ein geheilter Mann sein. Darum bete ich jetzt.

Vor einer Stunde bin ich vom Schreibtisch aufgestanden und auf die Veranda hinausgetreten. Ein kleines Windchen hüpfte durch die bleierne Stimmung des Hofes, ein Wind, der, wenn ich mich recht entsinne, die bevorstehende Regenzeit ankündigt.

»(What Did I Do to Be So) Black and Blue« … Wie unerhört ehrlich. Das war Louis Armstrong, ausgerechnet hier in Accra, letztes Jahr, als der Kessel der Freiheit brodelte. Schwebte vom Himmel herab wie ein schwarzer Gott. Ein großes Freiluftkonzert in Osu. Satchmo lächelte unaufhörlich. Wie sehr Tom es genossen hätte, dabei gewesen zu sein, mein Bruder Tom, meine ich. Tom Quaye war vermutlich dort, ich muss ihn fragen. Die weißen Ehefrauen lachten entzückt über den schieren Wohlklang des Ganzen, ein paar Zentimeter entfernt von den schwarzen Ehefrauen, die ebenso entzückt lachten.

Am Wochenende nach meinem ersten Gespräch mit Mai fuhr ich im Austin nach Sligo zurück – ich erinnere mich noch an die fragwürdigen »Abkürzungen« über Hochmoorstraßen und den staubigen Kuchengeruch der Ledersitze – und erzählte meiner Mutter von ihr. Und sagte, wie hoffnungslos es sei, wie unmöglich.

»Warum nimmst du sie nicht mit in die Laterna Magica-Vorführung, du amadán«, sagte meine Mutter. Sie war in der guten Stube und klebte gerade kleine Zeitungsausschnitte und andere Dinge, die ihr Interesse geweckt hatten, in ein Sammelalbum. In dem kleinen Zimmer herrschte Dunkelheit, aber jene eigentümliche Dunkelheit, in der man irgendwie alles erkennen kann, als hätten wir uns kurzzeitig in Katzen verwandelt. Immer wenn ich an meine Mutter denke, fällt mir diese Dunkelheit ein. Wahrscheinlich sitzt sie auch jetzt, während ich dies schreibe, noch dort.

»Was?«, fragte ich.

»Die Laterna Magica-Vorführung, Jack.«

»Mam, Mam, es gibt keine Laterna Magica-Vorführungen mehr, es heißt ›Kino‹.«

Meine Mutter war nicht alt, aber sie gab sich ältlich. Sie hatte prachtvolles rotes Haar. Sie war erst siebzehn, als sie mich zur Welt brachte. Tom hatte eine Stelle im Lichtspielhaus von Sligo, also wusste sie sehr wohl, was ich meinte. Vielleicht zog sie die alten Dinge vor.

»Grundgütiger, was weiß ich schon über die modernen Zeiten? Aber eins sag ich dir, Jack, wenn sie dich erst mal ein kleines bisschen kennenlernt, ist alles in Butter.«

»Nie im Leben wird sie mit jemandem wie mir ins Kino gehen«, sagte ich.

Und so lauerte ich ihr abermals auf, als wäre ich der Räuber Dick Turpin höchstpersönlich.

Als sie mich sah, sprach sie nicht, sondern stieß nur ein kurzes ha aus, wie um zu sagen: Hab ich’s mir doch gedacht, dass du hier bist. Vielleicht sogar erhofft? Jedenfalls machte sie einen munteren, vergnügten Eindruck und schien recht erfreut, mich zu sehen. Das Herz rutschte mir in die polierten schwarzen Stiefel, dann schnellte es wieder empor bis zu dem Trilby auf meinem Kopf. In jenem Moment hatte ich nicht das geringste Interesse an Geologie oder Ingenieurwesen – eine Woche zuvor noch die beiden großen Leidenschaften meines Lebens. Jetzt gab es für mich nur noch die Wissenschaft von Mai.

Ihre Schultern in dem dunkelblauen Kleid ließen mich erbeben – nur innerlich, wie ich inständig hoffte. Es war die sinnverwirrende Kombination von harten Knochen und möglicherweise nachgiebiger Anmut. Ihr Busen unter der bestickten Knopfleiste des Mieders hob und senkte sich. Es machte mich benommen. Ihre schwarzen Augen, ihr Haar, schwarz wie die Sorge. Ihre Haut, die man, glaube ich, als olivfarben bezeichnen könnte, aber so zart, dass ich ganz wild darauf war, sie zu berühren, mit hoffnungsloser Hand ihre Wange zu streicheln, auch wenn ich meine Hände fest an die Seiten gedrückt hielt. Oliven an alten mediterranen Hängen, vom Deck meines Schiffes erblickt, als ich, ein junger Spund, in der Handelsmarine diente, ehe ich überhaupt auf den Gedanken verfiel, zur Universität zu gehen …

»Nun?«, sagte sie mit dem ihr eigenen Anflug von Güte, den ich allmählich wiedererkannte, einer Zutat, einer heilsamen Dosis Güte, die der Wildheit beigemischt war.

»Ich wollte fragen, ob du vielleicht Lust hast, am Samstag mit mir die Vorstellung im Gaiety anzusehen? Rin Tin Tin.«

Mir war, als spräche ich nicht einmal mehr Englisch. Ich war überrascht, dass sie mich zu verstehen schien.

»Rin Tin Tin«, sagte sie wie jemand, der ein heiliges Glaubensbekenntnis spricht. »Ich mag Rin Tin Tin.