Gerechtigkeit für Tiere - Martha Nussbaum - E-Book

Gerechtigkeit für Tiere E-Book

Martha Nussbaum

0,0
27,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Weltweit erleiden Tiere Ungerechtigkeit und Grausamkeit: sei es durch die Zerstörung ihrer Lebensräume, seien es die Qualen der industriellen Tierhaltung, Wilderei oder auch die Vernachlässigung von Haustieren, die wir angeblich so lieben. Martha Nussbaum entwickelt, ausgehend von ihrem grundlegenden Fähigkeitenansatz, eine neue philosophische, juristische und moralische Grundlage zum Schutz der Tiere. Von Delfinen bis Krähen, von Elefanten bis Tintenfischen schildert sie das Leben von Tieren mit Staunen, Ehrfurcht und Mitgefühl und weist den Weg in eine Welt, in der wir Menschen Freunde der Tiere sind und nicht Ausbeuter oder Nutzer. Jedes Tier muss die Chance haben, auf seine eigene Weise zu gedeihen, und wir haben die kollektive Pflicht, uns dem Leid der Tiere zu stellen und es zu beseitigen. Nussbaums bahnbrechende Theorie ist ein dringender Aufruf zum Handeln und ein Handbuch für Veränderungen in Politik und Recht, sodass wir unserer ethischen Verantwortung gerecht werden können.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 739

Veröffentlichungsjahr: 2023

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Im Andenken an Rachelund für all die Wale

Die englische Originalausgabe ist 2022 bei SIMON & SCHUSTER, New York, unter dem Titel Justice for Animals erschienen.

© 2022 by Martha Nussbaum

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme.

wbg Theiss ist ein Imprint der wbg.

© der deutschen Übersetzung 2023 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt

Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht.

Übersetzung: Manfred Weltecke, Dublin

Lektorat: Dietlind Grüne, Heidelberg

Satz: Arnold & Domnick, Leipzig

Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier

Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de

ISBN 978-3-8062-4559-2

Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:

eBook (PDF): ISBN 978-3-8062-4602-5

eBook (epub): ISBN 978-3-8062-4603-2

Menü

Buch lesen

Innentitel

Inhaltsverzeichnis

Informationen zum Buch

Informationen zum Autor

Impressum

Inhalt

Einleitung

1 Brutalität und Vernachlässigung

2 Die Scala Naturae und der „Uns-so-ähnlich“-Ansatz

3 Die Utilitaristen – Lust und Schmerz

4 Christine Korsgaards kantischer Ansatz

5 Der Fähigkeitenansatz

6 Empfinden und Streben: eine Arbeitsgrenze

7 Das Übel des Todes

8 Tragische Konflikte und wie man sie überwindet

9 Tiere, die mit uns leben und in unserer Nähe leben

10 „Wildtiere“ und die menschliche Verantwortung

11 Können Menschen und Tiere befreundet sein?

12 Die Rolle des Rechts

Schlussbetrachtung

Danksagung

Anmerkungen

Bibliografie

Register

Einleitung

Tiere sind weltweit bedroht.1 Der Mensch beherrscht die gesamte Welt: an Land, auf den Meeren und in der Luft. Kein nicht menschliches Tier entkommt der menschlichen Herrschaft. Häufig fügt diese Herrschaft den Tieren unrechtmäßig Schaden zu: sei es durch die barbarischen Grausamkeiten der Fleischindustrie, durch Wilderei und Jagd, durch die Zerstörung von Lebensräumen, die Verschmutzung der Luft und der Meere oder die Vernachlässigung von Haustieren, welche die Menschen angeblich lieben.

In gewisser Hinsicht ist dieses Problem uralt. Sowohl in westlichen als auch in nicht westlichen philosophischen Traditionen wird seit etwa zwei Jahrtausenden die Grausamkeit des Menschen gegenüber Tieren beklagt. Der Hindu-Kaiser Ashoka (ca. 304–232 v. Chr.), der zum Buddhismus konvertiert war, schrieb über seine Bemühungen, auf Fleisch sowie auf sämtliches Verhalten, das Tieren schadet, zu verzichten. In Griechenland verfassten die platonischen Philosophen Plutarch (46–119 n. Chr.) und Porphyrius (ca. 234–305 n. Chr.) ausführliche Abhandlungen, in denen sie die Grausamkeit des Menschen gegenüber Tieren beklagten, deren hohe Intelligenz und Fähigkeit zum sozialen Leben beschrieben und die Menschen dazu aufforderten, ihre Ernährung und ihre Lebensweise zu ändern. Doch im Großen und Ganzen sind diese Stimmen auf taube Ohren gestoßen, selbst in der vermeintlich moralischen Welt der Philosophen, und die meisten Menschen haben die meisten Tiere weiterhin wie Objekte behandelt, deren Leiden keine Rolle spielt – auch wenn sie bei ihren Haustieren manchmal eine Ausnahme machen. Unterdessen haben unzählige Tiere unter Grausamkeit, Entbehrungen und Vernachlässigung gelitten.

Wir tragen daher heute eine längst fällige moralische Verpflichtung: Wir müssen uns die Argumente anhören, die zu hören wir uns geweigert haben, uns um das kümmern, was wir gleichgültig ignoriert haben, und wir müssen auf der Grundlage des leicht zu erlangenden Wissens von unseren schlechten Verhaltensweisen handeln. Heute haben wir zudem Gründe dafür, etwas gegen das menschlich verursachte Unrecht an Tieren zu unternehmen, die die Menschen vor uns noch nie hatten. Erstens hat die menschliche Herrschaft über die Tiere in den letzten zwei Jahrhunderten exponentiell zugenommen. In der Welt von Porphyrius litten die Tiere, wenn sie zum Verzehr ihres Fleisches getötet wurden; bis zu diesem Zeitpunkt hatten sie jedoch ein ziemlich akzeptables Leben. Es gab keine Fleischindustrie, die diese Tiere heute züchtet, als wären sie bereits allein Fleisch, und sie unter schrecklichen Bedingungen auf engstem Raum isoliert einsperrt, bis sie sterben, bevor sie jemals ein tiergerechtes Leben geführt haben. Tiere wurden schon seit langer Zeit in freier Wildbahn gejagt, doch wurden ihre Lebensräume zumeist nicht als Wohngebiete des Menschen in Besitz genommen oder von Wilderern überfallen, die mit der Tötung eines intelligenten Wesens wie eines Elefanten oder eines Nashorns Geld verdienen wollten. In den Meeren hat der Mensch schon immer nach Nahrung gefischt, und Wale werden bereits seit langer Zeit wegen ihres kommerziellen Wertes gejagt. Das Meer war jedoch noch nicht voller Plastikmüll, der Tiere dazu verlockt, ihn zu fressen, und an dem sie dann ersticken. Ebenso wenig gab es Unternehmen, die überall im Meeresboden nach Öl bohrten. Sie verursachen dabei durch Bohrungen oder Schallkanonen zur Kartografierung des Meeresbodens eine Lärmbelästigung, die das Leben sozialer Lebewesen, deren wichtigstes Kommunikationsmittel der Gehörsinn ist, zunehmend erschwert. Vögel wurden als Nahrungsquelle erlegt, doch diejenigen, die entkamen, erstickten nicht an verschmutzter Luft oder starben durch tödlichen Aufprall an städtischen Wolkenkratzern, deren Lichter sie angelockt hatten. Kurz gesagt: Der Umfang der menschlichen Grausamkeit und Vernachlässigung hielt sich in relativ engen Grenzen. Heute tauchen ständig neue Formen von Tierquälerei auf – sogar ohne dass sie als solche erkannt werden, da ihre Auswirkungen auf das Leben intelligenter Wesen kaum berücksichtigt werden. Wir tragen also nicht nur die Altlasten der Vergangenheit, sondern auch eine neue moralische Schuld, die sich vertausendfacht hat und ständig weiter anwächst.

Da sich die Reichweite der menschlichen Grausamkeiten vergrößert hat, hat auch die Beteiligung so gut wie aller Menschen daran zugenommen. Selbst Menschen, die kein Fleisch aus Massentierhaltung verzehren, benutzen sehr wahrscheinlich Einwegplastikartikel, verwenden fossile Brennstoffe, die unter dem Meeresboden abgebaut werden und die Luft verschmutzen, wohnen in Gebieten, in denen einst Elefanten und Bären umherstreiften, oder leben in Hochhäusern, die für Zugvögel den Tod bedeuten. Das Ausmaß unserer eigenen Verstrickung in für Tiere schädliche Verhaltensweisen sollte jeden Menschen mit einem Gewissen zum Nachdenken darüber bringen, was wir gemeinsam tun können, um diese Situation zu ändern. Schuldzuweisungen sind weniger entscheidend als die Akzeptanz der Tatsache, dass die gesamte Menschheit die kollektive Pflicht hat, sich diesen Problemen zu stellen und sie zu lösen.

Bisher habe ich noch nicht über das Aussterben von Tierarten gesprochen, da es in diesem Buch um die Vernichtung und das Leiden einzelner Lebewesen gehen soll, von denen jedes von Bedeutung ist. Arten als solche erfahren kein Leiden. Dennoch findet Artensterben nie ohne größtes Leiden einzelner Lebewesen statt: den Hunger eines Eisbären, der auf einer Eisscholle verhungert, da er das Meer zur Jagd nicht überqueren kann; die Traurigkeit eines der Fürsorge und Gemeinschaft beraubten verwaisten Elefanten, dessen Artgenossen immer weniger werden; das Massensterben von Singvogelarten infolge des Mangels von sauberer Luft zum Atmen – ein grausamer Tod. Wenn menschliche Verhaltensweisen Tierarten auf ihr Aussterben zutreiben, leiden die davon betroffenen Tiere stets massiv und führen ein stark unterdrücktes, eingeschränktes Leben. Nebenbei bemerkt, sind die Arten selbst wichtig für den Erhalt von Ökosystemen mit biologischer Vielfalt, in denen Tiere gut leben können (mehr hierzu in Kapitel 5).

Das Aussterben von Arten würde auch ohne menschliches Zutun stattfinden, und selbst in solchen Fällen könnten wir aufgrund der Bedeutung der biologischen Vielfalt Gründe dafür haben, einzugreifen, um es aufzuhalten. Wissenschaftler sind sich jedoch darin einig, dass das heutige Artensterben tausend- bis zehntausendmal umfangreicher ist als die natürliche Aussterberate.2 (Bezüglich der wahren Situation herrscht beträchtliche Unsicherheit, da wir nicht wissen, wie viele Arten es tatsächlich gibt, insbesondere bei Fischen und Insekten.) Weltweit sind derzeit etwa ein Viertel der Säugetiere und über vierzig Prozent der Amphibien vom Aussterben bedroht.3 Dazu gehören mehrere Bärenarten, der Asiatische Elefant (gefährdet), der Afrikanische Elefant (vom Aussterben bedroht), der Tiger, sechs Walarten, der Grauwolf und viele weitere Arten. Nach den Kriterien des Artenschutzgesetzes der USA (Endangered Species Act) sind insgesamt mehr als 370 Tierarten gefährdet oder vom Aussterben bedroht, Vögel nicht mitgerechnet. Die Liste für Vögel hat eine vergleichbare Länge. Asiatische Singvögel gelten als Luxusgüter und sind aufgrund des lukrativen Handels mit ihnen in freier Wildbahn so gut wie ausgestorben.4 Zahlreiche andere Vogelarten sind in jüngster Zeit ebenfalls ausgestorben.5 Das internationale Abkommen CITES (Washingtoner Abkommen), das Vögel (und viele andere Lebewesen) schützen soll, ist indessen wirkungslos und wird nicht durchgesetzt.6 Noch einmal: Das Thema dieses Buches ist nicht die Geschichte dieses massenhaften Aussterbens, doch das Leiden einzelner Lebewesen findet vor dem Hintergrund der menschlichen Gleichgültigkeit gegenüber der biologischen Vielfalt statt.

Es gibt noch einen weiteren Grund, warum die moralischen Ausflüchte der Vergangenheit jetzt ein Ende haben müssen. Wir wissen heute wesentlich mehr über das Leben der Tiere als noch vor fünfzig Jahren. Wir wissen viel zu viel, als dass wir die oberflächlichen Ausreden der Vergangenheit ohne Scham weiterhin vorbringen könnten. Porphyrius und Plutarch (und vor ihnen Aristoteles) wussten eine Menge über die Intelligenz und die Empfindsamkeit von Tieren. Doch die Menschen neigen dazu, zu „vergessen“, was die Wissenschaft der Vergangenheit eindeutig erwiesen hat. Über viele Jahrhunderte hinweg hielten die meisten Menschen, einschließlich der meisten Philosophen, Tiere für „rohe Bestien“, für Automaten ohne subjektives Erleben der Welt, ohne Gefühle, ohne Gemeinschaftssinn, ja vielleicht sogar ohne Schmerzempfinden.

In den letzten Jahrzehnten haben jedoch Forschungsarbeiten in allen Bereichen der Tierwelt explosionsartig zugenommen. Eines der größten Vergnügen bei der Arbeit an diesem Buch war die intensive Beschäftigung mit diesen Arbeiten. Wir wissen heute nicht nur mehr über Tiere, die schon lange eingehend studiert wurden – wie Primaten und Haustiere –, sondern auch über Tiere, die nur schwer zu erforschen sind – über Meeressäuger, Wale, Fische, Vögel, Reptilien und Kopffüßer.

Was genau wissen wir? Wir wissen – nicht nur durch Beobachtung, sondern ebenso durch sorgfältig entwickelte Experimente –, dass alle Wirbeltiere sowie zahlreiche wirbellose Tiere ein subjektives Schmerzempfinden haben und ganz allgemein über eine eigene, subjektive Weltsicht verfügen: Es gibt so etwas wie eine bestimmte Art, auf die sich die Welt ihnen darstellt. Wir wissen, dass alle diese Tiere zumindest einige Emotionen empfinden (wobei Angst die allgegenwärtigste ist), und dass viele Tiere über Emotionen wie Mitgefühl und Trauer verfügen, die ein komplexeres „Erfassen“ einer Situation erfordern. Wir wissen auch, dass so unterschiedliche Tiere wie Delfine und Krähen zur Lösung komplizierter Probleme fähig sind und lernen können, Werkzeuge dafür zu verwenden. Wir wissen, dass Tiere über komplexe Formen der Sozialstruktur und des Sozialverhaltens verfügen. Erst in jüngster Zeit haben wir gelernt, dass diese sozialen Verbände nicht einfach nur der Kontext sind, in dem ein mechanisch vererbtes Repertoire ausagiert wird, sondern Orte des komplizierten sozialen Lernens. So unterschiedliche Tierarten wie Wale, Hunde und zahlreiche Vögel geben wichtige Teile des Verhaltensrepertoires ihrer Art nicht nur auf genetischem Wege, sondern auch durch ihr Verhalten in ihren Gemeinschaften an ihre Jungen weiter.

Ich werde mich in diesem Buch sehr auf diese Forschungsergebnisse stützen. Was für Konsequenzen haben sie für die Ethik? Offensichtlich ganz beträchtliche. Wir können nicht mehr die übliche Grenze zwischen unserer eigenen Art und „den Tieren“ ziehen – eine Grenze, die dazu bestimmt war, Intelligenz, Emotionen und Empfindungsvermögen vom dumpfen Leben eines „gefühllosen Tieres“ zu unterscheiden. Ja, wir können noch nicht einmal mehr eine Gruppe von Tieren, die wir bereits als „uns ähnlich“ erkennen – Affen, Elefanten, Wale, Hunde –, klar von anderen Tieren abgrenzen, die als unintelligent gelten. In der realen Welt nimmt Intelligenz vielfältige und faszinierende Formen an. So haben Vögel, die sich auf einem ganz anderen Weg als der Mensch entwickelt haben, zahlreiche ähnliche Fähigkeiten ausgebildet. Selbst ein wirbelloses Tier wie der Tintenfisch verfügt über erstaunliche Fähigkeiten intelligenter Wahrnehmung: Ein Tintenfisch kann einzelne Menschen erkennen, und er kann komplexe Probleme lösen, indem er einen seiner Arme – ausschließlich mithilfe seiner Augen – durch ein Labyrinth lenkt, um an Nahrung zu gelangen.7 Haben wir all dies einmal erkannt, kann es für unser ethisches Denken wohl kaum folgenlos bleiben. Ein „dumpfes Tier“ in einen Käfig zu sperren, scheint nicht falscher zu sein, als einen Stein in ein Terrarium zu legen. Doch wir tun damit etwas anderes. Wir deformieren die Existenz intelligenter und auf eine komplexe Weise empfindungsfähiger Lebenswesen. Jedes dieser Tiere strebt danach, sich vollständig zu entwickeln, und jedes von ihnen verfügt über soziale und individuelle Fähigkeiten, die es ihm ermöglichen, in einer Welt, die Tiere vor schwierige Herausforderungen stellt, ein gutes Leben zu führen. Der Mensch vereitelt dieses Streben – und das scheint falsch zu sein. (In Kapitel 1 werde ich diese moralische Intuition zu einer rudimentären Vorstellung von Gerechtigkeit weiterentwickeln.)

Doch obwohl es an der Zeit ist, unsere ethische Verantwortung gegenüber den anderen Tieren zu akzeptieren, haben wir nur wenige intellektuelle Werkzeuge, um einen sinnvollen Wandel zu bewirken. Der dritte Grund, aus dem wir uns heute damit auseinandersetzen müssen, was wir den Tieren antun, besteht darin, dass in diesem Zusammenhang zwei der besten Methoden des menschlichen Fortschritts, das Recht und die politische Theorie, uns bislang keine oder nur wenig Hilfe bieten. Wie dieses Buch zeigen wird, hat das Recht – sowohl das nationale als auch das internationale – zwar ziemlich viel über das Leben von Haustieren zu sagen, doch sehr wenig über das aller anderen Tiere. In den meisten Ländern verfügen Tiere auch nicht über das, was Juristen als „Klagebefugnis“ bezeichnen, d. h. die Möglichkeit, einen Rechtsanspruch geltend zu machen, wenn ihnen Unrecht widerfährt. Natürlich können Tiere selbst keinen Rechtsanspruch geltend machen, doch das können die meisten Menschen ebenso wenig, wie etwa Kinder oder Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen, aber – um die Wahrheit zu sagen – auch fast alle anderen Menschen, da sie nur über geringe juristische Kenntnisse verfügen. Jede und jeder von uns braucht einen Anwalt, um unsere Ansprüche durchzusetzen. Doch alle Menschen, die ich erwähnt habe, zählen – einschließlich der Menschen mit lebenslangen kognitiven Beeinträchtigungen –, und sie können mithilfe eines fähigen Anwalts einen Rechtsanspruch geltend machen. So, wie wir die Rechtssysteme der Welt gestaltet haben, verfügen Tiere nicht über dieses einfache Privileg. Sie zählen nicht.

Das Recht wird von Menschen gemacht, und dabei stützen sie sich auf die vorhandenen Theorien. Waren diese Theorien rassistisch, so waren es die Gesetze auch. Schlossen die Theorien über Sexualität und die Unterschiede zwischen den Geschlechtern Frauen aus, so taten dies auch die Gesetze. Und es ist nicht zu leugnen, dass weltweit die meisten politischen Überlegungen der Menschen auf den Menschen ausgerichtet sind und Tiere ausschließen. Selbst Theorien, die vorgeben, Unterstützung im Kampf gegen Misshandlung zu bieten, sind zutiefst fehlerhaft, da sie auf einem unzureichenden Bild vom Leben und Streben der Tiere beruhen. Als Philosophin und politische Theoretikerin, die sich auch intensiv mit Fragen des Rechts und seiner Lehre befasst, hoffe ich, mit diesem Buch einen Wandel herbeizuführen. Ich lege darin eine philosophische Theorie vor, die auf einer sachgemäßen Sichtweise des Lebens der Tiere beruht und dem Recht kompetente Empfehlungen gibt.

Ich habe gesagt, dass es von entscheidender Bedeutung ist, diese Dinge sachgerecht anzugehen: Die Theorie (unterstützt durch die Ergebnisse der aktuell besten Wissenschaft) muss auf einer korrekten Sichtweise eines vielfältigen Spektrums von Tierleben basieren und untersuchen, wie Tiere danach streben, sich vollständig zu entwickeln, und wie dies durch verschiedene menschliche Verhaltensweisen vereitelt wird. Im Folgenden möchte ich zunächst dazu einladen, fünf Tiere genauer zu betrachten, die für die geografischen Bereiche bzw. Kontexte stehen, in denen Tieren Schaden zugefügt wird: an Land, im Meer, in der Luft, in Fleischfabriken und der Haustierhaltung.

Meine Beispiele decken nur den kleinsten Ausschnitt dessen ab, was einem Tier zustoßen kann, und auch nur eine kleine Auswahl von Tierarten. Ich werde zunächst beschreiben, wie das jeweilige Tier sein eigenes Leben führt und sich dabei optimal entwickelt, und im Anschluss daran, wie das Tier durch die ungerechte Behandlung durch den Menschen zu Schaden kommt.

Nicht menschliche Tiere werden häufig wie bloße Sachen und nicht wie individuelle, empfindungsfähige Wesen behandelt, und ein Aspekt dieser verdinglichenden Behandlungsweise ist die Verweigerung eines eigenen Namens; daher bestehen Wissenschaftler heute darauf, den einzelnen Tieren, die sie untersuchen, Eigennamen zu geben. Ich schließe mich dieser Praxis hier an, indem ich im Folgenden die Namen real existierender Tiere verwende sowie fiktiven Tieren Namen gebe.

In all meinen Fallbeispielen hatten die Tiere ein gutes Leben, als ich (oder andere) sie beobachtete und beschrieb – mit Ausnahme von Lupa, die sowohl schlechte als auch gute Zeiten erlebt hat. Meine zweite Darstellung ist zwar hypothetisch, doch basiert sie auf allzu häufigen unheilvollen Ereignissen im Leben von Tieren dieser Art.

Die Elefantenmutter: die Geschichte von Virginia

Virginia ist eine sensible Elefantenkuh in Kenia, die von der Elefantenforscherin Joyce Poole in ihren Memoiren Coming of Age With Elephants beschrieben (und benannt) wird.8 Virginia hat große bernsteinfarbene Augen. Wenn sie Musik hört, die ihr gefällt, bleibt sie ganz still stehen, und ihre Augenlider senken sich. Joyce Poole verbringt ihre Tage mit der gesamten Muttertiergruppe und stellt fest, dass Virginia – die kleiner ist als das ältere Muttertier Victoria – eine besondere Vorliebe für Joyce’ Gesang hat; zu ihren Lieblingsliedern gehört „Amazing Grace“. Oft geht Virginia auf Wanderschaft und durchstreift dabei riesige Grasflächen, während ihre riesigen Füße geräuschlos über den Boden des kenianischen Amboseli-Nationalparks stapfen. Ihr erst vor Kurzem geborenes Baby läuft unter ihrem Bauch, beschützt vom massiven Körper seiner Mutter. (Elefantenkühe sind wunderbare Mütter, die ihre Jungen äußerst intensiv beschützen und sogar dafür bekannt sind, ihr Leben zu opfern, um junge Elefanten vor Gefahren zu retten.)

Stellen Sie sich nun etwas vor, das passieren könnte, ja, häufig auch tatsächlich geschieht. Virginia liegt auf der Seite, tot, ihre Stoßzähne und ihr Rüssel wurden mit einer Machete abgehackt oder mit einer Säge abgetrennt, ihr Gesicht ist ein blutiges rotes Loch. (Der Elfenbeinhandel floriert trotz vieler Versuche, ihn einzudämmen, und der Markt für Tiertrophäen wie Schwänze und Rüssel wächst und gedeiht fast ungehindert: Es ist noch nicht einmal verboten, solche Trophäen in die USA einzuführen.) Die anderen Weibchen versammeln sich um Virginia und versuchen vergeblich, ihren Körper mit ihren Rüsseln anzuheben. Schließlich streuen sie, nachdem sie diese Versuche aufgeben haben, Erde und Gras auf ihren Körper.9 Das Elefantenbaby ist verschwunden – höchstwahrscheinlich wurde es mitgenommen, um es an einen Zoo in den USA zu verkaufen, der es mit der Herkunft nicht so genau nimmt.10

Der Buckelwal: Hals Geschichte

Hal Whitehead ist ein bedeutender Walforscher, der sich vor allem mit dem Gesang der Wale befasst;11 daher habe ich seinen Namen einem Buckelwal gegeben, der gut singen kann. Er gehört zu einer Gruppe, die ich von einem Walbeobachtungsboot in der Nähe des Great Barrier Reefs in Australien aus beobachtet habe. Unser kleines Walbeobachtungsboot schneidet durch die unruhige Brandung. In der Ferne tauchen mehrere Gruppen von Buckelwalen auf, die die Wasseroberfläche durchstoßen und mit ihren Schwänzen und Brustflossen schlagen. Ihre riesigen Rücken glänzen in der Sonne. Einer von ihnen ist Hal. Über das Hintergrundgeräusch des Bootsmotors hinweg hören wir den Gesang der Wale. Die Klangmuster sind zu komplex, als dass unsere Ohren sie erfassen könnten, aber wir wissen, dass der Gesang der Buckelwale eine komplizierte melodische Struktur und eine enorme Vielfalt aufweist und sich ständig ändert – manchmal offenbar aus reiner Gewohnheit und aus Interesse an Neuem. Eine Variation, die von hier stammt, kann in einem Jahr bis nach Hawaii gelangen, da sich die Wale gegenseitig imitieren. Der Klang ist für uns wunderschön und zutiefst geheimnisvoll.

Sehen wir uns Hal an, wie er jetzt aussieht: Er wurde tot an einen Strand auf den Philippinen gespült.12 Sein einst gesunder Körper ist ausgemergelt. In seinem Inneren fanden Forscher rund 195 Kilo Plastikmüll, darunter Tüten, Becher und andere Einwegartikel. (Bei einem anderen Wal, der in ähnlicher Weise an Plastik erstickt war, fand man unter den Abfällen auch ein Paar Flipflops aus Plastik.) Hal ist verhungert. Plastik gibt den Walen ein Gefühl der Sättigung, aber keine Nahrung. Irgendwann ist kein Platz mehr für echte Nahrung. Ein Teil des Plastiks in Hals Magen befand sich dort so lange, dass es verkalkte und zu einem Plastikziegel wurde. Er wird nicht mehr singen.

Die Sau: die Geschichte der Kaiserin von Blandings

Da ich im wirklichen Leben kein Schwein kenne, das gut behandelt wird, habe ich mich für eine vom Leben inspirierte Fiktion entschieden. Kein ausgedachtes Schwein ist mächtiger und beeindruckender als die Kaiserin von Blandings in den Romanen von P. G. Wodehouse, eine prächtige schwarze Berkshire-Sau in hervorragender Verfassung, die zahlreiche Medaillen gewinnt. Da Wodehouse ein berühmter Freund und Fürsprecher der Tiere war, ist klar, dass seine fiktive Beschreibung auf liebevoller Beobachtung beruht. Die Kaiserin von Blandings wird auf dem Anwesen von Blandings Castle wie ein geliebtes Haustier gepflegt. Sie liebt ihren Trog, in dem ihr Pfleger Cyril Wellbeloved ihr stets leckeres Futter anbietet. Als Wellbeloved jedoch wegen Trunkenheit und Ordnungswidrigkeiten für kurze Zeit ins Gefängnis muss, vermisst die Kaiserin ihn und verliert ihren Appetit. Ihre menschliche Familie, insbesondere der Schweinen sehr zugetane Lord Emsworth, sorgt sich hilflos um ihr Wohlergehen und lockt sie mit verschiedenen Leckereien, doch vergeblich. Durch eine glückliche Fügung taucht James Belford auf Blandings auf, und sein Geschick im Umgang mit Schweinen, das er während eines Arbeitsaufenthalts auf einer Farm in Nebraska entwickelt hat, stellt die gewohnte gute Laune der Kaiserin wieder her. Sie isst mit Genuss und gibt dabei „eine Art schluckendes, gurgelndes, blobberndes, matschiges, lustiges Geräusch“ von sich, das Lord Emsworth hoch erfreut. Kurz darauf erhält sie ihre erste Silbermedaille bei der 87. Landwirtschaftsschau in Shropshire in der Klasse der fetten Schweine.13

Stellen wir uns nun ein anderes Leben für die Kaiserin vor: Statt sich in der freundlichen Umgebung von Blandings Castle und in der sanften Welt von P. G. Wodehouse, in der alle Lebewesen mit Liebe und Humor behandelt werden, optimal zu entwickeln, hat die Kaiserin das Schicksal, Anfang des 21. Jahrhunderts auf einer Schweinefarm in Iowa zu leben.14 Gerade schwanger, wurde sie in einen „Kastenstand“ gezwängt, ein enges Metallgehäuse von der Größe ihres Körpers, ohne Einstreu, mit einem Boden aus Beton- oder Metallstäben, damit die Fäkalien in die darunter liegenden „Lagunen“ abfließen können. Sie kann nicht gehen, sich nicht herumdrehen, ja, sich noch nicht einmal hinlegen. Kein freundlicher „Schweineflüsterer“ spricht mit ihr; keine schweinebegeisterten Menschen bewundern und lieben sie; keine anderen Schweine oder anderen Nutztiere grüßen sie. Sie ist einfach nur eine Sache, eine Zuchtmaschine. Die meisten der rund sechs Millionen Sauen in den USA leben in Massentierhaltungsbetrieben, und die beschriebenen Käfige werden in fast allen Bundesstaaten verwendet, obwohl sie in neun Bundesstaaten und in mehreren Ländern verboten sind.15 Kastenstände führen zu einem Verlust von Muskel- und Knochenmasse aufgrund von Bewegungsmangel. Die Käfige zwingen die Schweine, dort zu koten, wo sie leben, was Schweine, die sehr saubere Tiere sind, verabscheuen. Und Käfige berauben diese sozialen Tiere jeglicher Geselligkeit.16

Der Fink: die Geschichte von Jean-Pierre

Der bedeutende Flötist Jean-Pierre Rampal (1922–2000), hat viele Werke aufgenommen, in denen der Klang eines zwitschernden Vogels durch die Flöte wiedergegeben wird. Deshalb habe ich meinen geschickten Finken, dem ich auf der Website des Cornell Laboratory of Ornithology zuhöre, nach ihm benannt. Jean-Pierre ist ein männlicher Hausfink.17 Er hat direkt über dem Schnabel leuchtend rote Federn, die am Hinterkopf in rot-graue Farben übergehen. Unterhalb des Schnabels wird das Rot zu Rosa und Weiß, während der Unterbauch grau gestreift ist. Seine Flügel sind grau und weiß gestreift. Jean-Pierre erzeugt ein schnelles, aus kurzen Tönen bestehendes Trillern, das mit einem auf- oder abwärts gerichteten Legato endet.18 Jean-Pierre mit den zarten Farbabstufungen in seinem Gefieder und seiner aktiven und intelligenten Interaktion mit anderen Vögeln ist faszinierend anzusehen – und vor allem hinreißend anzuhören, wenn er seine komplizierten Trillerkompositionen von sich gibt. Er singt unermüdlich.

Sehen wir uns Jean-Pierre an, wie er jetzt aussieht: Nachdem er mit geschwächten Lungen nach Luft schnappte, liegt er tot auf dem Boden unter dem Baum, auf dem er einst so flüssig sang. Man geht davon aus, dass jedes Jahr Tausende von kleinen Zugvögeln (Finken, Spatzen und Grasmücken, das sind die Arten, die 86 Prozent der nordamerikanischen Landvogelarten ausmachen) an den Folgen von Luftverschmutzung sterben. Ozon schädigt die Atmungsorgane der Vögel und auch die Pflanzen, die jene Insekten anlocken, welche von Vögeln gefressen werden. In diesem Fall gibt es eine gute Nachricht: Programme zur Verringerung der Ozonverschmutzung im Rahmen des Gesetzes zur Reinhaltung der Luft (Clean Air Act) haben auch den Vögeln geholfen. Schätzungen zufolge haben diese Programme in den letzten vierzig Jahren den Verlust von 1,5 Milliarden Vögeln verhindert, was fast zwanzig Prozent des heutigen Vogelbestands in den USA entspricht. Für Jean-Pierre kam diese Hilfe jedoch zu spät. Wie Hal wird er nie wieder singen.

Der Hund: die Geschichte von Lupa

Lupa ist eine Hündin, die misshandelt wurde und eine Zeitlang in der Wildnis lebte, bevor sie ein glückliches Zuhause bei den Princeton-Professoren George Pitcher und Ed Cone fand. Pitcher beschreibt diese Geschichte in seinem Buch The Dogs Who Came To Stay.19 Lupa rennt ohne Leine über den Golfplatz von Princeton und überholt dabei ihren Gefährten, den Philosophen George Pitcher, und seinen Gast, mich – aber nicht ihren Sohn Remus, der – einer Fährte folgend – vor ihr herspringt und dann zu ihr zurückkehrt. Sie ist ein dicklicher Hund mittlerer Größe, teils Deutscher Schäferhund, teils unbekannt; er ist schlank und klein, mit kürzerem Fell und weniger ausgeprägten Schäferhundmerkmalen. Beide Hunde haben ein glänzendes Fell und spielen fröhlich. Obwohl Lupa mir gegenüber sehr schüchtern ist, zeigt sie sich bei George sehr anhänglich – Remus ist uns beiden gegenüber anhänglich und verspielt. Die Hunde gedeihen offensichtlich prächtig in ihrer Lebensgemeinschaft mit George und seinem Partner Ed sowie im Kontakt mit verschiedenen Tieren und Menschen, die sie besuchen kommen.

In diesem Fall liegt die schlimme Geschichte in der Vergangenheit. Lupa war eine Zeitlang eine wilde Hündin, bevor George und Ed sie fanden, als sie sich unter einem Schuppen auf ihrem Grundstück versteckte, um dort einen Wurf Welpen zur Welt zu bringen. Sie war in keinem guten Zustand – das Leben in der Wildnis ist hart für Hunde –, und auf ihr Leben davor konnte man aufgrund ihrer ängstlichen Reaktionen schließen. Bestimmte Dinge machten ihr stets Angst, auch noch nach längerer Zeit: eine erhobene Hand, ein Telefonanruf von einem bestimmten Telefon im Erdgeschoss aus. Alle neuen Menschen mussten sich bei Lupa über einen langen Zeitraum bewähren, und nur wenige bestanden diese Prüfung. Sie zog sich am liebsten unter den Konzertflügel zurück. Grausamkeit und Vernachlässigung waren ihr fest ins Gedächtnis eingeschrieben. Remus hingegen kannte nur das gute Leben.

Ich hätte Geschichten von so vielen anderen Tieren erzählen können: von Katzen, Pferden, Milchkühen, Hühnern, Delfinen, allen Arten von großen Landsäugetieren. Wir werden noch mehr über den Tintenfisch, über Vögel aller Art und über Fische hören. Und für die Tiere, die ich „porträtiert“ habe, hätte ich mir andere Hindernisse für ihre Entfaltung vorstellen können: bei Elefanten den Hunger aufgrund ihres schrumpfenden Lebensraums, da der Mensch in ihre Gebiete vordringt; bei Walen die Störung ihres normalen Lebens durch Meereslärm, einschließlich des Sonarprogramms der US-Marine, das die Wanderungen und ihr typisches Fortpflanzungsverhalten durcheinanderbringt; bei Nutztieren die Gesamtzahl der Institutionen und Praktiken, aus denen die Massentierhaltung besteht; bei Vögeln den Abschuss durch Freizeitjäger; bei Hunden die Geburt und das frühe Leben in einer Massenzucht mit all den damit verbundenen Krankheiten, die Züchtung speziell für Kämpfe oder einfach nur die Langeweile aus Mangel an Bewegung und Aufmerksamkeit. Die Geschichten von Brutalität und Vernachlässigung lassen sich beliebig fortsetzen.

Der Gegensatz zwischen einem sich vollständig entfaltenden und einem beeinträchtigten Leben ist ein Kerngedanke dieses Buches. Er ist das Herzstück des Gerechtigkeitsbegriffs; so werde ich es in Kapitel 1 darlegen. Und das sachgerechte Reflektieren über diesen Gegensatz ist der Schlüssel zur Entwicklung einer nachvollziehbaren Theorie der Gerechtigkeit für Tiere. Ich werde darlegen, was an den drei führenden Theorien zu diesem Thema falsch ist: die Missachtung dieses Gegensatzes und der verschiedenen Formen, in denen er sich in den unterschiedlichen Leben von Tieren zeigt. Ich werde eine neue theoretische Grundlage für das Nachdenken über Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit gegenüber Tieren entwickeln. Sie beruht auf der Fähigkeit des Tieres, seine ihm eigene Form des Lebens zu realisieren, und ich werde Argumente dafür vorbringen, dass sie – da sie den Gegensatz zwischen einem voll entwickelten Leben und einem in seiner Entfaltung behinderten Leben in den Mittelpunkt stellt – in der Lage ist, mit Herausforderungen fertigzuwerden, die andere Theorien nicht bewältigen können. Theorien leiten das Handeln, und schlechte Theorien leiten das Handeln schlecht. Ich glaube, dass die vorherrschenden Theorien in diesem Bereich fehlerhaft sind und dass meine Theorien das Handeln besser leiten werden.

Für mich ist dieses Buch aber auch ein Werk der Liebe und mittlerweile auch der konstruktiven Trauer – der Versuch, das Engagement eines Menschen weiterzuführen, den die Welt tragischerweise verloren hat. Meine Tochter Rachel Nussbaum war meine Mentorin und meine Inspiration, als ich relativ spät im Leben begann, mich für die leidvolle Situation nicht menschlicher Tiere zu interessieren. Nach ihrer Promotion und einer kurzen Lehrtätigkeit in deutscher Geistesgeschichte beschloss sie, ihrer Leidenschaft für Tiere zu folgen und Jura zu studieren. Sie hatte das Glück, an der Universität von Washington studieren zu können, deren Lehrplan eine Fülle von Kursen zum Tierrecht und zu verwandten Themen anbietet. Inzwischen lebten sie und ihr Mann in Seattle, in der Nähe von Orten, die sich gut dafür eignen, Wale und Orcas zu beobachten, die ihre größte Leidenschaft waren. Noch mehr Glück hatte sie, als sie ihren Traumjob bekam: Sie arbeitete als Anwältin bei der Tierrechtsorganisation „Friends of Animals“ in der Wildlife Division in Denver, die von dem großartigen Tierrechtsexperten Michael Harris geleitet wird. Fünf Jahre lang befasste sie sich mit den rechtlichen Problemen von Wildtieren, darunter Elefanten, die in US-Zoos verschleppt wurden, Wildpferde, die von Viehzüchtern erlegt werden sollten, gefährdete Bisons und viele andere wilde Tiere. Sie übernahm Mandate und sagte vor bundesstaatlichen Gesetzgebungsinstanzen aus, die erwogen, tierfreundliche Gesetze zu erlassen.

Und sie sprach mit ihrer Mutter und bewegte sie dazu, ihre Leidenschaft und ihr Engagement für Wildtiere zu teilen. Ihre hingebungsvolle Arbeit für die Verbesserung des Lebens misshandelter und leidender Kreaturen war anspruchsvoll und wunderbar. Sie inspiriert mich noch heute. Wir begannen, gemeinsam eine Reihe von Artikeln über den rechtlichen Status von Meeressäugern und allgemeinere Fragen der Beziehungen zwischen Wildtieren und dem Menschen zu schreiben. (Ich lieferte die philosophische Theorie, indem ich meinen Fähigkeitenansatz in eine neue Richtung lenkte. Sie lieferte die Fakten und das juristische Fachwissen.)20

Rachel starb im Dezember 2019 im Alter von 47 Jahren an einer medikamentenresistenten Pilzinfektion nach einer erfolgreichen Organtransplantation. Es stellte sich heraus, dass das Spenderorgan einen strukturellen Defekt aufwies, der dazu führte, dass es eine Infektion „streute“ und in den Körper pumpte. Der Defekt konnte erst bei der Autopsie festgestellt werden. Da aber zuvor bereits klar war, dass das Spenderorgan aus irgendeinem Grund seine Funktion nicht erfüllte, wurde ein Termin für eine erneute Transplantation festgesetzt. Ein Organ wurde gefunden, und sie sollte gerade in den Operationssaal gebracht werden, als man eine Pilzinfektion entdeckte, die sich als medikamentenresistent erwies. Zwischen der ersten Transplantation und ihrem Tod vergingen nur fünf Monate. Während dieser Zeit besuchten ihr Ehemann Gerd Wichert und ich sie fast täglich im Krankenhaus – mit einer Ausnahme: Zu einem Zeitpunkt, als es ihr wirklich gut ging und sie kurz davor war, nach Hause geschickt zu werden, ermutigte sie mich, nach London zu reisen, um unseren letzten gemeinsamen Vortrag vor der Human Development and Capability Association zu halten. Sie unterhielt sich in einem transatlantischen Telefonat mit ihren HDCA-Freunden und freute sich darauf, im nächsten Jahr dabei zu sein. In jenen Tagen hatten wir auch viele Gespräche über die Tiere, die wir liebten. Glücklicherweise war dies noch vor dem Ausbruch von Covid-19, sodass ihr Vater und ihr Chef von „Friends of Animals“, Gerd und mich oft bei Besuchen begleiten konnten, und an ihrem letzten Tag waren wir alle bei ihr.

Solange ich lebe, werde ich das Funkeln in ihren grünen Augen und ihr subversives Lächeln vor mir sehen. Wir waren wie ein Paradebeispiel von Gegensätzen: ich mit blondem Lockenhaar, sie mit sehr kurzen schwarzen Haaren; ich in femininen, bunten Kleidern, sie in schwarzen Hosenanzügen; doch in unseren Herzen waren wir zutiefst miteinander verbunden.

Dies ist kein Buch über diese Tragödie. Dieses Buch ist anders: Es blickt nach vorne und versucht, die Angelegenheiten, die Rachel am Herzen lagen, durch eine Theorie voranzubringen, die sie kannte und unterstützte. Diese Theorie, eine Version meines Fähigkeitenansatzes, beurteilt Gerechtigkeit anhand der Frage, ob Menschen (oder in diesem Fall empfindungsfähige Tiere) durch Gesetze und Institutionen in die Lage versetzt werden, ein Leben zu führen, in dem sie sich voll entwickeln können, definiert durch eine Liste von Wahl- und Handlungsmöglichkeiten, die das Lebewesen in seinem politischen und rechtlichen Kontext hat (oder nicht hat). An der Universität von Denver, in der Nähe ihres Arbeitsplatzes, hat Rachel sogar Vorlesungen über den Fähigkeitenansatz gehalten. Sie hatte den kurzen Exkurs über tierrechtliche Fragen unter Verwendung dieses Ansatzes gelesen, den ich 2006 für mein Buch Die Grenzen der Gerechtigkeit geschrieben hatte. Wir haben oft über das Projekt dieses Buches gesprochen, und ich habe ihr sogar einige Entwürfe gezeigt, insbesondere das Kapitel über wilde Tiere. Auch unsere gemeinsam verfassten Arbeiten spielen in diesem Buch eine bedeutsame Rolle, insbesondere in den Kapiteln über das Recht und über die Freundschaft zwischen Mensch und Tier. Ich habe daher das Gefühl, dass sie durch mich spricht und ich die Stimme weitergebe, die ich geliebt habe.

Der römische Philosoph und Staatsmann Cicero, dessen Tochter Tullia starb, als sie nur wenig jünger war als Rachel, brachte seine tiefe Trauer zum Ausdruck, indem er in seinem – wie sich herausstellte – letzten Lebensjahr plante, einen Schrein zu ihrem Gedenken zu errichten. Ich hoffe, dass ein Buch, welches die Dinge, für die sich Rachel eingesetzt hat, in der Welt lebendig hält und andere dazu anregt, ihnen zu folgen, ein noch besserer Ausdruck von Liebe und Trauer sein kann als dieser Schrein – da es ihre Werte veranschaulicht und weltweit verbreitet.

Was ist der Fähigkeitenansatz (FA), und warum sollten sich Anwälte, die sich für Tiergerechtigkeit einsetzen, dafür interessieren?21 Es ist leicht zu sagen, was dieser Ansatz nicht ist. Er stuft Tiere nicht nach ihrer Ähnlichkeit mit dem Menschen ein oder strebt nach besonderen Privilegien für diejenigen, die als „uns am ähnlichsten“ gelten, wie dies einige andere verbreitete theoretische Ansätze tun. Der FA sorgt sich um den Fink und das Schwein ebenso wie um den Wal und den Elefanten, und er legt dar, dass die menschliche Lebensform schlichtweg irrelevant ist, wenn wir darüber nachdenken, was die einzelnen Tierarten benötigen und was ihnen zusteht. Was zählt, ist ihre je eigene Lebensform. So wie der Mensch danach strebt, die charakteristischen Güter eines menschlichen Lebens genießen zu können, so strebt der Fink nach dem Leben eines Finken und der Wal nach dem Leben eines Wals. (Und für beide ist der Raum für eine individuelle Differenzierung ein Teil des Lebens, nach dem sie streben.) Wir sollten unsere Perspektive erweitern und hinzulernen, statt uns denkfaul Tiere als minderwertige Menschen vorzustellen, die nach einem Leben streben, das unserem eigenen ähnlich ist. Nach dem FA sollte jedes empfindungsfähige Lebewesen (das in der Lage ist, eine subjektive Sicht auf die Welt zu haben sowie Schmerz und Freude zu empfinden) die Möglichkeit haben, sich in der für dieses Lebewesen charakteristischen Lebensform zu entfalten. Dem FA geht es auch nicht nur um Schmerz- und Lustempfindungen wie dem gegenwärtig bekanntesten Ansatz in der Frage der Gerechtigkeit für Tiere. Er beruht auf dem klassischen Utilitarismus des britischen Philosophen Jeremy Bentham aus dem 18. Jahrhundert und wurde von dem zeitgenössischen australischen Philosophen Peter Singer aktualisiert. Schmerz ist sehr, sehr wichtig und eine der Hauptursachen für Ungerechtigkeit und Leid im Leben von Tieren. Doch er ist nicht die einzige. Tiere bedürfen auch der sozialen Interaktion, oft in einer großen Gruppe von Artgenossen. Sie benötigen viel Platz, um sich bewegen zu können. Sie brauchen Spiel und Anregung. Sicherlich sollten wir Schmerzen, die keinen Nutzen bringen, vermeiden; doch wir sollten auch an die anderen Aspekte des sich vollständig entwickelnden Lebens eines Tieres denken. Wir würden uns nicht für ein schmerzfreies Leben entscheiden, wenn dies bedeuten würde, dass wir auf Liebe, Freundschaft, Aktivität und die anderen Dinge verzichten müssten, die uns wichtig sind. Die Bedürfnisse von Tieren sind ebenso vielfältig. Mangelhafte Theorien führen zu mangelhaften Empfehlungen.

Das umfassende Anliegen dieses Buchs ist es, zu erklären, warum wir eine neue Theorie benötigen, um der Politik und der Gesetzgebung den Weg zu weisen, wenn wir versuchen, unserer ethischen Verantwortung gegenüber den fünf von mir beschriebenen Tieren und so vielen anderen gerecht zu werden – und warum der FA die beste Grundlage für ethische und politische Interventionen in Bezug auf Verhaltensweisen ist, die diese Leben zerstören und behindern.

Ich beginne in Kapitel 1 damit, dass ich darüber spreche, was Gerechtigkeit bedeutet, und einige Fähigkeiten darlege, die wir Menschen besitzen und die es uns ermöglichen, Ungerechtigkeit zu erkennen und darauf zu reagieren. In den folgenden drei Kapiteln untersuche ich drei fehlerhafte Theorien, die derzeit in der Rechtswissenschaft und der Philosophie in Gebrauch sind: eine auf den Menschen ausgerichtete Theorie, die ich den „Uns-so-ähnlich-Ansatz“ nenne und die versucht, (ausschließlich) Lebewesen zu helfen, die dem Menschen sehr ähnlich sind; die utilitaristische Theorie von Jeremy Bentham, John Stuart Mill, Henry Sidgwick und Peter Singer, die sich auf Lust- und Schmerzempfinden konzentriert und andere Aspekte des Lebens eines Tieres auf Quantitäten von Lust und Schmerz reduziert (obwohl Mill hier von den anderen abweicht); und schließlich der kantische Ansatz der Philosophin Christine Korsgaard, der große Fortschritte in Bezug auf die Achtung der Würde des Lebens von Tieren macht, aber – so lautet meine Behauptung – bei einigen Schlüsselaspekten hinter dem Geforderten zurückbleibt.

In den beiden zentralen Kapiteln 5 und 6 lege ich sodann meine eigene Theorie dar und vertrete die Auffassung, dass Tiere Rechte besitzen, d. h. einen auf Gerechtigkeit beruhenden Anspruch auf ein Leben, in dem sie sich vollständig entwickeln können. Ich zeige, was dies in Bezug auf meine eigene Theorie bedeutet. Im Anschluss daran erörtere ich das Schlüsselkonzept der Empfindungsfähigkeit und begründe, warum Gerechtigkeit nur für Tiere gilt, die über eine Anschauung der Welt verfügen, und nicht für solche, die keine besitzen, ebenso wenig wie für Pflanzen.

In Kapitel 7 geht es um die Frage, ob einem Tier durch den Tod immer ein Schaden zugefügt wird, und damit um die immer wieder erörterte philosophische Frage, ob der Tod uns schadet. Kapitel 8 befasst sich mit „tragischen Konflikten“ zwischen zwei ethisch bedeutsamen Pflichten – ein Problem, auf das wir bei der Förderung des Wohlergehens von Tieren häufig stoßen – und fragt, wie wir sie lösen können, damit wir den Schaden verringern, den wir vorübergehend anrichten müssen, um knifflige Probleme zu lösen, wie sie beispielsweise im Zusammenhang mit Tierversuchen auftauchen.

Kapitel 9 und 10 befassen sich dann mit den beiden Haupttypen von Tieren in unserer Welt: Tieren, die mit uns und in unserer Nähe leben, und „wilden Tieren“, für die dies nicht gilt und die sich nicht als mit dem Menschen symbiotische Tiere entwickelt haben – die meiner Meinung nach dennoch gar nicht wirklich wild sind, da alle Tiere in von Menschen beherrschten Räumen leben. In jedem Fall stelle ich die Frage, was der FA dazu zu sagen hat, wie Recht und Politik mit diesen Tierleben umgehen sollten.

Kapitel 11 wendet sich dem wichtigen Ziel der Freundschaft zwischen Menschen und anderen Tieren zu und zeigt, wie solche Freundschaften entstehen können – sogar mit „wilden“ Tieren. Ich behaupte, dass das Ideal der Freundschaft uns helfen wird, die vor uns liegenden Aufgaben positiv zu sehen. Kapitel 12 wendet sich schließlich dem Recht zu – den bestehenden nationalen wie auch internationalen Gesetzen mit ihren zahlreichen Mängeln – und fragt, über welche juristischen Ressourcen wir verfügen, um einen besseren Weg zu finden.

Wir Menschen können und müssen bessere Antworten finden. Das Recht kann und muss besser werden. Nach meiner Auffassung ist die heutige Zeit die Zeit eines großen Erwachens: Wir werden uns unserer Verwandtschaft mit einer Welt bemerkenswerter intelligenter Lebewesen bewusst und verstehen, dass wir für unseren Umgang mit ihnen wirkliche Verantwortung übernehmen müssen, um eine wahrhaft globale Gerechtigkeit zu erreichen, die alle empfindungsfähigen Wesen umschließt. Ich hoffe, dass dieses Buch dazu beitragen wird, dieses Erwachen zu lenken, indem es ihm moralische Dringlichkeit verleiht und eine theoretische Struktur gibt sowie mehr Menschen dazu inspiriert, sich für die Gerechtigkeit für Tiere einzusetzen, ebenso wie Rachels Leidenschaft für Meeressäuger mich neugierig und bereit gemacht hat, mich auf eine schwierige Reise zu begeben, die sich als lohnender erwiesen hat als jede andere Reise in meinem Leben – mit Ausnahme des Abenteuers der Mutterschaft.

1 Brutalität und Vernachlässigung: Ungerechtigkeit im Leben von Tieren

Tieren geschieht durch uns Unrecht. Dieses Buch zielt darauf ab, diese Aussage zu bestätigen sowie eine wirksame theoretische Strategie vorzuschlagen, um Ungerechtigkeit zu identifizieren und Abhilfemaßnahmen zu empfehlen: eine Version meines „Fähigkeitenansatzes“.

In diesem Kapitel werde ich zunächst auf unsere alltägliche, vorphilosophische Vorstellung von Ungerechtigkeit eingehen, die nach meiner Auffassung darin besteht, dass jemand danach strebt, etwas einigermaßen Bedeutsames zu erreichen, und von jemand anderem daran gehindert wird – und zwar zu Unrecht, sei es böswillig oder fahrlässig.

Dieser Gedanke bringt uns bereits auf die Spur meines Fähigkeitenansatzes, denn in diesem geht es zentral um sinnvolle Aktivitäten und um die Bedingungen, die es einem Lebewesen ermöglichen, diesen ohne Beeinträchtigung oder Behinderung nachzugehen oder, mit anderen Worten, ein sich vollständig entwickelndes Leben zu führen. Im Gegensatz zu anderen Ansätzen, die sich in einer Engführung auf Schmerzen als das in erster Linie Schlechte konzentrieren, richtet dieser Ansatz sein Augenmerk auf zahlreiche verschiedene Arten von sinnvoller Aktivität (einschließlich Bewegung, Kommunikation, sozialer Bindungen und Spiel), die sämtlich durch das Eingreifen anderer blockiert werden können, und auf viele Arten dieser unrechtmäßigen Blockierung, sei es durch böse Absicht oder durch Unachtsamkeit.

In diesem Kapitel werde ich zunächst Tiere, die ein gutes Leben führen, mit Tieren vergleichen, die in ihrem Streben behindert werden, um so eine elementare Erklärung von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit vorzubereiten. Als Nächstes werde ich unsere gewöhnliche vorphilosophische Vorstellung von Ungerechtigkeit betrachten, um zu zeigen, warum die Tiere in meinen Beispielen ungerecht behandelt wurden. Nachdem ich die Idee der unrechtmäßigen Behinderung einer bedeutsamen Aktivität entwickelt habe, werde ich drei Fähigkeiten untersuchen, über die sämtliche Leser dieses Buches verfügen und die die Tiere unserer Aufmerksamkeit und Fürsorge anempfehlen: Staunen, Mitgefühl und Empörung. Diese drei Emotionen sind zugleich Ressourcen: Wenn sie angemessen entwickelt und kultiviert werden, helfen sie uns, den umfassenderen ethischen und philosophischen Rahmen der Rechte von Tieren besser zu verstehen.

Diejenigen, die bezweifeln, dass Tiere einen Anspruch auf eine gerechte Behandlung haben und diesen auch einfordern dürfen, müssen bis zur Darlegung meiner Theorie in Kapitel 5 warten, wo ich meine Argumentation für diesen entscheidenden Punkt vorstelle, da verschiedene Theorien unterschiedliche Antworten auf diese Frage geben. Um jedoch meinen wesentlichen Punkt in aller Kürze wiederzugeben: Alle Tiere, die menschlichen und die nicht menschlichen, leben auf diesem zerbrechlichen Planeten, von dem wir in Bezug auf alles, was wichtig ist, abhängig sind. Wir haben es uns nicht ausgesucht, hier zu sein. Wir haben uns hier vorgefunden. Wir Menschen glauben, dass wir, weil wir uns hier vorgefunden haben, das Recht besitzen, den Planeten zu nutzen, um uns zu ernähren, und Teile davon als unser Eigentum zu betrachten. Doch wir sprechen anderen Tieren das gleiche Recht ab, obwohl ihre Situation genau dieselbe ist. Auch sie haben sich hier vorgefunden und müssen versuchen, so gut es geht, zu leben. Mit welchem Recht sprechen wir ihnen das Recht ab, den Planeten zu nutzen, um zu leben, so wie wir dieses Recht beanspruchen? In der Regel wird hierfür kein einziges Argument vorgebracht. Ich glaube, dass jeder Grund, der unseren eigenen Anspruch auf die Nutzung des Planeten zu unserem Überleben und Wohlergehen stützt, auch ein Grund für die Behauptung ist, dass Tiere das gleiche Recht haben.1

Zunächst müssen wir jedoch über eine funktionierende Vorstellung von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit verfügen. Diese zu erarbeiten, ist das Vorhaben für dieses Kapitel. Um damit beginnen zu können, benötigen wir einige Beispiele: Fälle, die uns über die Komplexität und die beeindruckenden Aktivitäten eines Tieres staunen lassen und ein schmerzliches Mitgefühl wecken, verbunden mit einer handlungsorientierten Empörung darüber, was aus diesem Tier in einer Welt der menschlichen Brutalität und Vernachlässigung geworden ist.

Tiere, die gedeihen, und Tiere, deren Entwicklung eingeschränkt wird

In der Einführung habe ich fünf konkrete Tiere vorgestellt, die zu leben versuchen, dabei jedoch auf verschiedene Weise blockiert und frustriert werden. Ich habe zunächst die gesunde Aktivität des Tieres beschrieben, das seiner typischen Lebensform nachgeht, und sodann das gleiche Tier, das durch menschliche Misshandlung in Bedrängnis gerät.

Virginia, die Elefantenmutter, genoss die freie Bewegung und die Geselligkeit in ihrer weiblichen Gruppe, zusammen mit den kleinen Elefantenbabys, welche die Gruppe gemeinsam aufzieht. Dann wurde sie von Wilderern angegriffen und getötet, um an das Elfenbein ihrer Stoßzähne zu gelangen, ihr Gesicht wurde entstellt und ihr Baby der Gruppe entrissen, um es an einen Zoo zu verkaufen, der ihm nicht die Möglichkeit bieten wird, sich vollständig zu entwickeln.

Der Buckelwal Hal genoss die freie Bewegung, die soziale Interaktion mit der Gruppe seiner Artgenossen und das Singen. Nachdem er Plastikmüll verschluckt hatte, verhungerte er, weil dieser seinen Verdauungstrakt verstopfte, und er wurde an der Küste angespült.

Die Kaiserin von Blandings hatte ein glückliches Leben auf Blandings Castle, gut gefüttert und umsorgt von Menschen, die Schweine liebten und ihre besonderen Persönlichkeiten und Bedürfnisse verstanden. Auf einer Schweinefarm in Iowa erlebte sie ein ganz anderes Leben: eingesperrt in einen Kastenstand, gezwungen, in der Nähe ihrer eigenen Fäkalien zu fressen, jeglichen sozialen Lebens und jeder freien Bewegung beraubt.

Jean-Pierre flog früher frei umher, gab wunderbar trillernde Gesänge von sich und genoss die soziale Interaktion mit anderen Finken. Doch die verschmutze Luft kostete ihn sein Leben.

Die Geschichte Lupas ist eine Geschichte, die sich von Schmerz zu Glück und von Ungerechtigkeit zu einem blühenden Leben wendet. Früher von einem grausamen Menschen geschlagen, wurde sie eine streunende Hündin, die auf der Straße ihr Auskommen suchte. Doch dann fand sie ein langes und glückliches Leben bei Menschen, die sie freundlich, liebevoll und mit Respekt behandelten, ihr eine exzellente medizinische Versorgung und viel Auslauf boten und auch ihren Welpen Remus adoptierten (sowie ein gutes Zuhause für die anderen Geschwister fanden), sodass Lupa die Gesellschaft eines anderen Hundes ebenso wie die von Menschen hatte.

Dies sind lediglich fünf von Millionen von Geschichten, die man erzählen könnte. Die Geschichten von Brutalität und Vernachlässigung ließen sich endlos fortsetzen, doch sie geben uns auch so schon das Anschauungsmaterial, das wir benötigen, um uns mit den Ideen von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit auseinanderzusetzen. In all diesen Geschichten sehen wir ein blühendes Leben – und bezeichnenderweise geht es in jeder von ihnen um freie Bewegung, soziales Leben und die Realisierung von Fähigkeiten, die für jede der beschriebenen Arten typisch sind. Im Gegensatz dazu sehen wir dann, wie diese Fähigkeiten behindert, die Bewegungsfreiheit blockiert und der soziale Austausch unmöglich gemacht werden.

Der Gegensatz zwischen einem blühenden und einem eingeschränkten Leben ist die zentrale intuitive Idee dieses Buches. Allerdings stellt nicht jede Einschränkung eine Ungerechtigkeit dar, gegen die wir vorgehen sollten. Wenden wir uns also der Frage nach Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit zu.

Gerechtigkeit: die grundlegende intuitive Idee

Was bedeutet es, Ungerechtigkeit zu erleiden? Wann stellen Beeinträchtigungen des Lebens nicht nur Beeinträchtigungen dar, sondern auch ein Unrecht, für das wir jemanden zur Rechenschaft ziehen können und das wir, wenn möglich, wiedergutmachen oder zumindest in Zukunft verhindern sollten?

Hier komme ich zu den allergrundlegendsten Intuitionen meiner Theorie, bei denen es wirklich sehr schwierig ist, noch weiter zu argumentieren. Ich will jedoch versuchen, die Grundgedanken auszuformulieren, da sie uns im Folgenden leiten werden. Was bedeutet es für ein Lebewesen, Ungerechtigkeit zu erleiden und auf Gerechtigkeit basierende Ansprüche zu haben?

Stellen wir uns ein Tier vor: Da auch ein hypothetisches Tier, das uns als Beispiel dient, einen Namen haben muss, nennen wir es Susan. Susan lebt ihr Leben: Sie plant, handelt, stellt Beziehungen her und geht all den Dingen nach, die für ein Tier von Susans Art von Bedeutung sind. Susan nutzt ihre sinnlichen und intellektuellen Fähigkeiten. Sie strebt nach Dingen und begehrt sie. Sie bewegt sich auf sie zu und versucht, sie zu erlangen. Hierbei stößt Susan auf Hindernisse, die ihren Bemühungen im Wege stehen. Einige von ihnen sind unwichtig: Sie vereiteln Absichten, die nur am Rande eine Rolle spielen und nicht von zentraler Bedeutung für ihr Leben sind. Zu den ernsteren Hindernissen gehören einige, die auf körperliche Einschränkungen zurückzuführen sind, für die niemand verantwortlich zu sein scheint: Susan wird von einer Krankheit heimgesucht; ein schwerer Sturm verwüstet ihre Behausung. Bisher scheint Susan keine Ungerechtigkeit erlitten zu haben, obwohl sie kleineres und größere Leid erfahren hat.

Nehmen wir jedoch an, dass Susan durch ein anderes Wesen oder durch eine von einem anderen Wesen herbeigeführte Situation beeinträchtigt wird. Selbst dann hat Susan möglicherweise kein Unrecht erlitten, wenn das andere Wesen nichts Falsches getan hat – es ging lediglich seinen eigenen Angelegenheiten nach und stieß zufällig auf Susan oder konkurrierte mit ihr. Es nahm etwas zu essen, das Susan haben wollte. Oder es hat sein Leben und das seiner Familie zu Recht verteidigt, indem es sich gegen Susan wehrte und sie dabei verletzte.

Nehmen wir nun jedoch an, dass Susans Behausung von einem anderen Lebewesen, das es besser wusste und besser hätte machen können, absichtlich zerstört wurde. Nehmen wir an, Susan sei absichtlich eingesperrt und getötet worden, zusammen mit Tausenden ihrer Artgenossen. Das ist das Los der meisten Hühner auf der Welt und vieler Schweine und Kälber. Nehmen wir an, Susan sei – wie die Kaiserin von Blandings – in einen Metallkäfig gesperrt und dazu gezwungen worden, ihren Kot durch Gitterstäbe in eine übel riechende Grube zu entleeren, während sie durch den Bewegungsmangel krank geworden sei. Nehmen wir an, ihr Gesicht sei wie das von Virginia mit einer Machete zu einem blutigen Brei zerhackt worden, um den Elfenbeinhandel zu befriedigen, hinter dem eine illegale, weltweit operierende kriminelle Organisation steckt. Nehmen wir an, sie sei, wie Lupa, von jemandem geschlagen worden, der behauptete, sie sei sein Besitz. Nun sind wir im Bereich der Ungerechtigkeit angekommen, denn jetzt werden Susans Bemühungen durch Interventionen vereitelt, die unrechtmäßig erscheinen. Wäre Susan ein Mensch, würden wir schnell zu dem Schluss gelangen, dass es sich um Ungerechtigkeit handelt.

Die Fälle von Hal und Jean-Pierre scheinen anders gelagert zu sein, denn es liegt bei ihnen keine vorsätzliche Handlung vor, die den Schaden verursacht hat. Wäre Hal harpuniert worden (eine grausame Praxis, die von der Internationalen Walfangkommission nicht mehr erlaubt, in Japan aber dennoch praktiziert wird, das wegen dieser Frage aus der Kommission ausgeschieden ist), dann könnten wir uns schnell darauf einigen, dass das Fehlverhalten vorsätzlich war.

Selbst wenn Hal durch das von der US-Marine entwickelte Sonarprogramm mit guten Absichten in seinem normalen Lebensvollzug beeinträchtigt worden wäre – ein US-Gericht hat das Programm wegen unrechtmäßiger Beeinträchtigung der Aktivitäten der Wale gestoppt.2 Würde die Marine also trotz des Gerichtsentscheids weitermachen, so würde sie ein vorsätzliches Unrecht begehen. Doch der Fall von Hal, dem gestrandeten Wal, der an menschlichem Müll erstickt ist, ist komplizierter. Gewiss, wir Menschen waren vielleicht etwas gedankenlos, was den Verbleib des Plastikmülls betrifft: Doch reicht das aus, um von Fahrlässigkeit zu sprechen? Und wer trägt die Verantwortung? Selbst wenn uns dieses Mal keine Schuld trifft: Was ist dann mit der Zukunft? Sind wir uns nun, da wir den gestrandeten Wal gesehen haben, darüber im Klaren, dass wir das nächste Mal schuldig sein werden – auch wenn sich der Müll draußen in den Meeren befindet und diese sehr schwer zu reinigen sind?3

Der an Luftverschmutzung erstickte Jean-Pierre ist ein ähnlich schwieriger Fall: Die Abfallprodukte unserer industriellen Produktion schaden zahlreichen Arten, auch unserer eigenen; doch ab wann ist dies ein unrechtmäßiger Schaden? Und wer ist schuld daran? Unser Rechtssystem (insbesondere das Gesetz zur Reinhaltung der Luft) ringt mit dieser Frage, wenn die Betroffenen Menschen sind, doch einklagbare Maßnahmen zum Schutz vor Umweltverschmutzung im Rahmen des Gesetzes zum Schutz von Zugvögeln sind ein politisch umstrittenes Thema (siehe Kapitel 12).

Wenn Susan Hal wäre, würden ihre Freunde allerdings darauf hinweisen, dass es bereits Gesetze gibt, welche die Schädigung von Meeressäugern verhindern sollen, und dass diese Schädigung vielleicht nicht böswillig, aber doch eindeutig vorhersehbar und fahrlässig war, auch wenn sie nicht einem einzelnen Täter angelastet werden kann. Die Meere sind gesetzlich auf bedauerlich schlechte Weise geschützt, aber es ist prinzipiell möglich, diese Art der Müllverklappung gesetzlich zu regeln, wenn die einzelnen Nationen zusammenarbeiten würden. Auch die Luftverschmutzung wurde durch Gesetze eingeschränkt, und wer gegen diese Gesetze verstößt – und sei es auch nur fahrlässig und nicht vorsätzlich –, handelt unrechtmäßig. Sind Vögel etwas anderes? Zeit und Politik werden die Antwort geben, aber ich weiß, was ich denke.

Unrecht beinhaltet demnach, dass Susan danach strebt, etwas zu bekommen, das für ihr Leben zumindest einigermaßen bedeutsam ist, und es beinhaltet nicht nur ihre Einschränkung, sondern auch das Fehlverhalten eines anderen, sei es vorsätzlich oder fahrlässig.

Bis jetzt scheint das Opfer von Ungerechtigkeit kein Mensch sein zu müssen, sondern es kann ebenso ein nicht menschliches Tier sein. Ungerechtigkeit hängt von der Handlung ab, die gegen ein empfindungsfähiges Wesen gerichtet wird, und nicht von der Art dieses Wesens: Susan könnte ein Mensch, ein Schwein oder ein Elefant sein. (In Kapitel 6 werde ich die Frage aufwerfen, ob alle Tiere Unrecht erleiden können oder nur einige, und diese Abgrenzung näher bestimmen.) In den meisten Fällen von vorsätzlichem Unrecht ist der Täter ein Mensch, denn Menschen sind in einer Weise zu vorsätzlicher Böswilligkeit fähig, wie es nur wenige Tiere sind. Wir werden jedoch später sehen, dass der Mensch nicht das einzige ethische Lebewesen ist und auch nicht das einzige Lebewesen, dem Pflichten zugewiesen werden können. Dies wird später wichtig sein, wenn es darum gehen wird, eine überzeugende Theorie einer Gemeinschaft aus mehreren Tierarten aufzustellen.

Manchmal handelt es sich bei scheinbar zufälligen Ereignissen bei näherem Hinsehen um Unrecht, da eine schuldhafte Fahrlässigkeit vorliegt. Das ist aus der Welt der Menschen bestens bekannt. Sie bekommen eine Krankheit, gegen die es einen bekannten Impfstoff gibt, doch Ihr Arzt hat Ihnen gesagt, dass Impfstoffe schädlich sind. Sie haben einen schweren Autounfall, der auf einen Fehler des Fahrzeugherstellers zurückzuführen ist. Sie bekommen eine Vergiftung durch verdorbene Lebensmittel, weil die Kontrollen fehlerhaft waren. Hier tut sich die gesamte Landschaft der Schadenshaftung vor uns auf. Während der Covid-19-Pandemie sind die Zusammenhänge zwischen Leid und Schuld noch komplizierter und undurchsichtiger geworden. Wie viele Menschen wären nicht gestorben, wenn Tests effizienter durchgeführt worden und Lockdowns strenger gewesen wären? (Sehr viele, wie sich am Fall Neuseelands zeigt.) Wie viele wären darüber hinaus nicht gestorben, wenn sie nicht ihr Leben lang von Krankheiten und Behinderungen betroffen gewesen wären, die mit Armut zusammenhängen, wie Diabetes und Unterernährung? Liegt hier eine Schuld vor, und, wenn ja, wen trifft sie? Wer ist schuld daran, dass Menschen aufgrund von Falschinformationen keine lebensrettenden Impfungen erhalten? Die Person selbst, weil sie leichtgläubig war und mangelndes Interesse an wissenschaftlichen Erkenntnissen hatte? Diejenigen, die Falschinformationen verbreiten? Beide Gruppen? Das kann man immer fortführen. Wann immer Menschen Verantwortung tragen oder tragen sollten und wo immer es Medien gibt, die sich um Wahrheit und zuverlässige Informationen bemühen sollten, beginnen Schäden wie Unrecht auszusehen: Sie hätten den Schaden vorhersehen müssen, und sie hätten ihn angesichts ihrer Macht abwenden können. Der Fall von Hal sieht danach aus, und der von Jean-Pierre auch.

Es gibt auch Fälle, in denen an irgendeiner Stelle Fahrlässigkeit vorzuliegen scheint, die genau festzustellen aber schwierig ist. Wie verhält es sich zum Beispiel mit Schäden, die Lebewesen in „der Natur“ erleiden, wenn Menschen vor Ort sind und helfen könnten, etwa wenn Elefanten aufgrund einer Dürre verhungern, weil die Vegetation, von der sie sich ernähren, verdorrt ist? (Die Nutzung des umliegenden Landes durch den Menschen ist wahrscheinlich eine der Hauptursachen dieser Dürre.) Was ist, wenn Tiere durch eine Krankheit verkrüppeln, von der wir wissen, wie man sie heilen kann? (Einem Tiger im Brookfield Zoo von Chicago wurde erfolgreich die Hüfte operiert. Bei einem Tiger in einem Naturschutzgebiet, das von Menschen überwacht und kontrolliert wird, der aber dennoch „wild“ ist, kann ein chirurgischer Eingriff vorgenommen werden oder auch nicht.) Und was ist mit Raubtieren? Sollten wir versuchen, ein Rudel wilder Hunde davon abzuhalten, ein Reh zu töten und zu fressen, wenn wir das können, da wir wissen, dass wir einen Haushund oder eine Hauskatze mit ziemlicher Sicherheit von ähnlichen Angriffen abhalten würden?

Es ist also sehr schwer herauszufinden, wann und von wem Unrecht begangen wird, doch die allgemeine Intuition sollte allmählich klarer hervortreten: Ungerechtigkeit setzt wesentlich ein Streben nach bedeutsamen Zielen voraus, das nicht nur durch Unglück, sondern auch durch unrechtmäßige Vereitelung, egal ob fahrlässig oder vorsätzlich, blockiert wird. Zu einer solchen Beeinträchtigung gehört oft auch das Zufügen von Schmerzen, die fast jede normale Aktivität eines Organismus (Wahrnehmen, Essen, Bewegen, Lieben) behindern.

Fürs Erste nehme ich einmal an, Sie seien davon überzeugt, Tiere könnten nicht nur Schaden erleiden, sondern auch Unrecht im Sinne einer unrechtmäßigen Vereitelung eines bedeutsamen Strebens. Im Folgenden werde ich Gründe dafür nennen, warum Sie dies denken sollten, aber ich hoffe, dass die genannten Beispiele Sie bereits für diese Auffassung empfänglich gemacht haben.

Der Mensch und die Spuren seiner Lebensform sind allgegenwärtig: an Land, wo er die Lebensräume großer Säugetiere stark reduziert und das Wasser verbraucht, das diese Tiere benötigen; in der Luft, wo er die Flugbahnen der Vögel, ja selbst die Luft, die sie atmen, verändert; in den Meeren, wo er den Lebensraum von Säugetieren und Fischen auf vielfältige Weise verändert. Die Allgegenwärtigkeit der menschlichen Herrschaft über die Welt hat zur Folge, dass die menschliche Verantwortung in Bereiche vordringt, die wir bisher nur als „Wildnis“ und „Natur“ betrachteten. Wo beginnt die Gerechtigkeit, und wo endet sie?

Dieses Buch wird sich nicht mit jedem schwierigen Fall befassen, doch es wird versuchen zu zeigen, wie die Vorstellung eines sich vollständig entfaltenden Lebens von Tieren und dessen Einschränkung uns helfen kann, mit den schwierigen Fällen besser umzugehen als andere, mit ihr konkurrierende Theorien. Ich werde dafür argumentieren, dass wir Menschen kollektiv dafür verantwortlich sind, die wichtigsten Lebensaktivitäten der Lebewesen, mit denen wir diesen Planeten teilen, zu unterstützen, indem wir einerseits die unrechtmäßige Beeinträchtigung so vieler dieser Aktivitäten beenden, und andererseits die Lebensräume schützen, damit alle empfindungsfähigen Lebewesen (alle, die eine Sicht der Welt haben, für die Dinge von Bedeutung sind) – eine Gruppe, die alle Wirbeltiere und viele wirbellose Tiere einschließt – eine reale Möglichkeit haben, ein sich voll entfaltendes Leben zu führen. Diese Möglichkeit, bedeutsamen Aktivitäten nachzugehen, ist das, was ich mit „Fähigkeiten“ meine, woraus folgt, dass wir gemeinsam die zentralen Fähigkeiten unserer Mitgeschöpfe unterstützen sollten.

Staunen, Mitgefühl, Empörung: der Seele die Augen öffnen

Ich habe versucht, bei der Beschreibung der Fälle ein Gefühl dafür zu wecken, dass ein Unrecht begangen wurde. Um es noch einmal zu sagen: Dies ist das Anliegen des gesamten Buches, denn ich versuche, meine Leser davon zu überzeugen, dass viele menschliche Handlungen gegenüber Tieren eine Form unrechtmäßiger Vereitelung ihrer Lebensziele sind. Jeder weiß, dass die Aktivitäten des Menschen den Tieren viel Leid und viele andere Beeinträchtigungen zufügen, doch geben viele Menschen nicht zu, dass dies moralisch falsch ist. Sie meinen, wir hätten das Recht, so weiterzumachen wie bisher, obwohl es vielleicht schön wäre, etwas mehr Mitgefühl zu zeigen. Selbst John Rawls, der größte Gerechtigkeitsphilosoph des 20. Jahrhunderts, vertrat die Ansicht, dass es tugendhaft sei, Tiere mit Mitgefühl zu behandeln, sie aber weder gerecht noch ungerecht behandelt werden könnten.

Zu einem späteren Zeitpunkt, wenn ich meine eigene Theorie vorlegen werde, werde ich meine Argumentation dafür, dass Tiere Rechte haben, entfalten. Doch bevor sich Menschen für ein philosophisches Argument interessieren, müssen sie dazu motiviert werden, sich um Tiere zu sorgen. Über welches Rüstzeug verfügen wir Menschen, das uns dabei helfen könnte, dieses Ziel zu erreichen? Einige Menschen haben bereits eine liebevolle Beziehung zu einigen Tieren; diese Liebe kann der Ausgangspunkt für ein umfassenderes Mitgefühl sein. Doch bestehende liebevolle Beziehungen allein reichen nicht aus, denn Menschen lieben, was sie kennen, aber allzu oft nicht all die Millionen von Tieren, die sie nicht kennen – ebenso sind menschliche Eltern, die ihre eigenen Kinder lieben, nicht immer motiviert, sich dafür einzusetzen, den Hunger von Kindern und sexuellen Kindesmissbrauch in der ganzen Welt zu bekämpfen. Was sonst also kann uns noch helfen? Welche Gefühle besitzen das Potenzial, unseren Blick über unser alltägliches Umfeld hinaus zu weiten?

Mit meinen Beschreibungen habe ich versucht, ein Gefühl des moralisch gestimmten Staunens zu wecken, das zu einem moralisch ausgerichteten Mitgefühl führen kann, wenn das Streben von Tieren zu Unrecht vereitelt wird, und zu einer vorausschauenden Empörung