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Das Alter bringt spezielle Erfahrungen und Herausforderungen, aber auch Probleme mit sich. Wann ist der richtige Zeitpunkt, um in Rente zu gehen? Soll man Anti-Aging-Produkte ablehnen oder sind sie willkommene Hilfsmittel, um selbstbestimmt zu altern? Warum scheinen manche mächtigen Männer so sehr auf jüngere Frauen fixiert zu sein? Die Philosophin Martha Nussbaum und der Jurist und Ökonom Saul Levmore gehen diesen Themen in je eigenen Essays nach, die sich zu einem Gespräch verbinden. Sie blicken auf literarische Figuren wie König Lear, analysieren populäre Filme und betrachten ihre eigenen Erfahrungen mit dem Älterwerden. Es entspinnt sich eine humorvolle, kluge und bereichernde Unterhaltung zwischen zwei Freunden, die zeigt, dass es sich lohnt, diese Lebensetappe bewusst und reflektiert anzugehen.
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Seitenzahl: 545
Veröffentlichungsjahr: 2018
Martha Nussbaum / Saul Levmore
Über die Liebe, das Leben und das Loslassen
Aus dem Englischen übersetzt von Manfred Weltecke
Für Rachel, Nathaniel und Eliot
Die amerikanische Originalausgabe erschien unter dem Titel Aging Thoughtfully. Conversations about Retirement, Romance, Wrinkels and Regret.
© 2017 Martha C. Nussbaum und Saul Levmore
Diese Ausgabe erscheint gemäß der Vereinbarung mit Oxford University Press in deutscher Erstübersetzung bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft, Darmstadt. Copyright der deutschen Übersetzung © 2018 Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
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wbg THEISS ist ein Imprint der wbg.
© 2018 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt
Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht.
Redaktion: Cana Nurtsch, Berlin
Satz: primustype Hurler, Notzingen Einbandgestaltung: Vogelsang Design, Aachen
Einbandabbildung: istock © Kalulu
Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de
ISBN 978-3-8062-3792-4
Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:
eBook (PDF): ISBN 978-3-8062-3829-7
eBook (Epub): ISBN 978-3-8062-3830-3
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Innentitel
Inhaltsverzeichnis
Informationen zum Buch
Informationen zu den Autoren
Impressum
Danksagungen
Einleitung
1 Lernen von König Lear
Altern und Kontrolle in König Lear – und die Gefährlichkeit von Verallgemeinerungen – Martha
Güterverteilung, Enterben und die Kosten der Pflege seit Lear – Saul
2 Richtlinien für den Eintritt in den Ruhestand
Müssen wir in den Ruhestand eintreten? – Saul
Kein Ende in Sicht – Martha
3 Mit Freunden älter werden
Über das Altern und die Freundschaft: ein Gespräch mit Cicero – Martha
Wofür sind Freunde gut? – Saul
4 Alternde Körper
Können Falten bezaubern? – Saul
Unsere Körper und wir selbst: Altern, Stigma und Abscheu – Martha
5 Der Blick zurück
Die Vergangenheit vorwärts leben: der gegenwärtige und zukünftige Wert rückwärtsgewandter Emotionen – Martha
Kein Bedauern und ein Lob der Lebensgemeinschaften von Senioren – Saul
6 Liebe und Sexualität jenseits des mittleren Lebensalters
Richard Strauss’ Lügen, Shakespeares Wahrheiten: alternde Frauen, Sex und Liebe – Martha
Die Abenteuer von Benjamin Franklin, Ivana Trump und die zurückgewiesenen Liebenden aller Zeiten – Saul
7 Ungleichheit und eine alternde Bevölkerung
Ungleichheit und die Armut älterer Menschen – Saul
Altern und menschliche Fähigkeiten – Martha
8 Großzügig sein
Paradoxien der Großzügigkeit (Lösungen eingeschlossen) – Saul
Altern und Altruismus – Martha 246
Sachregister
Danken möchten wir vor allem der juristischen Fakultät der Universität Chicago für die Schaffung eines idealen Arbeitsumfelds und für kritische Gespräche, die uns sehr geholfen haben. In der vorletzten Phase der Entstehung des Manuskripts hatten wir das Glück, ausführliche Kommentare von Douglas Baird, William Birdthistle und Emily Dupree zu erhalten, die großzügigerweise das gesamte Buch gelesen haben. Für schriftliche Kommentare zu bestimmten Kapiteln danken wir Brian Leiter und Lior Strahilevitz. Und für fachkundige Unterstützung möchten wir uns schließlich bei unseren Forschungsassistenten Emily Dupree, Nethanel Lipshitz und Alex Weber bedanken.
In diesem Buch geht es um das bewusste Leben und bestimmt nicht um das Sterben – ob würdevoll oder auf andere Weise. Zu altern bedeutet Erfahrungen zu sammeln, Weisheit zu erlangen, zu lieben, zu verlieren und sich in der eigenen Haut immer wohler zu fühlen, wie viel sie auch an Straffheit verlieren mag. Beim Älterwerden geht es noch um viele andere Dinge. Für manche Menschen könnte es um Reue, um Sorgen, um das Anhäufen von Dingen und um Bedürftigkeit gehen. Es kann auch um ehrenamtliche Arbeit, um Verständnis, Hilfeleistung, Neuentdecken, Vergeben und – mit zunehmender Häufigkeit – um Vergessen gehen. Für diejenigen, die keine finanziellen Sorgen haben, kann es um den Rückzug aus dem Arbeitsleben und die Weitergabe des Vermögens gehen sowie andererseits um das Sparen und Ausgeben von Geld in den vorangehenden Jahren. Viele dieser Überlegungen beziehen sich auf Menschen, die sich selbst noch nicht als Alternde sehen. Doch diese jungen Freunde, Verwandten und Kollegen betrachten die Älteren häufig als Schatztruhen der Weisheit oder als wandelnde Warnungen. Dieses Streben, in den Falten das Gute, oder sei es nur die Weisheit, zu finden, ist mindestens so alt wie Cicero, dessen Werk in unserer sich rasant wandelnden Welt ebenso relevant ist, wie es vor 2000 Jahren war.
Wenn wir, anders als andere Arten, aus unseren Fehlern und Erfolgen lernen, sie aufzeichnen und verbreiten, und zwar auf eine Weise, die die Grenzen der menschlichen Erfahrung erweitern und das Leben nachfolgender Generationen verbessern, dann können wir vielleicht auch Fortschritte im persönlichen Bereich erwarten. Wir haben Fortschritte in der Landwirtschaft, in der Herstellung von Waren und in der Luftfahrt gemacht. Es ist weniger klar, dass uns dies in Bezug auf das Eingehen von Partnerschaften, die Kindererziehung und die Wahl unserer politischen Führer gelungen ist. Vielleicht liegt das daran, dass sich die Probleme in diesen Bereichen ständig verschieben und sich durch schrittweisen wissenschaftlichen Fortschritt im Laufe der Zeit nicht meistern lassen. Das Altern fällt zwischen diese wissenschaftlichen und zwischenmenschlichen Herausforderungen. Im Durchschnitt leben wir länger und angenehmer als unsere Vorfahren. Wir haben mehr Auswahlmöglichkeiten, und von diesen Möglichkeiten handelt dieses Buch.
Wenn wir akzeptieren, dass Altern eine Zeit des Lebens ist, so folgt daraus, dass es etwas ist, das wir gemeinsam haben. Jeder von uns altert auf seine oder ihre Weise, doch wir können von den Erfahrungen anderer lernen. Während sie altern, können sich die Interessen, Verhaltensweisen und Vorlieben von Menschen ändern – häufig auf eine Weise, die die gemeinsamen Erfahrungen bestätigt. Konkurrieren wir, wenn wir älter werden, mehr oder weniger? Sind wir mehr oder weniger spirituell? Sparsam? Bedürftig? Neidisch? Tolerant? Großzügig? Wir benötigen möglicherweise Freunde, die uns helfen, diese Veränderungen zu erkennen und darüber nachzudenken, ob sie wünschenswert sind. Wenn eine isolierte Person beobachtet und reflektiert, ist es schwierig zu erkennen, ob sie selbstbezogener geworden ist, Kritik besser akzeptiert, anderen mehr Angst einflößt oder unzumutbarere Forderungen an die Mitglieder der Familie stellt. Zur Selbsterkenntnis könnten daher Freundschaften und Gespräche erforderlich sein, und wir hoffen, in diesem Buch in dieser Beziehung ein Beispiel zu sein.
Wir zeigen verschiedene Perspektiven auf Themen, die im Zusammenhang mit dem Altern stehen, mit dem Ziel, das Gespräch untereinander und mit unseren Lesern fortzusetzen. Einige unserer Kapitel sollen Familien dabei helfen, sinnvolle Gespräche über Dinge zu führen, die sie besprechen sollten, bevor Invalidität oder Tod dazwischenkommen. Wir ermutigen zu Nachdenklichkeit und Kommunikation über Themen, die oft als peinlich oder vertraulich angesehen werden. Nur wenige Menschen sprechen mit Außenstehenden über die Probleme, mit denen sie bei der Weitergabe von Eigentum an ihre Kinder konfrontiert sind, insbesondere wenn die Kinder sich in unterschiedlichen finanziellen Verhältnissen befinden, schwierig waren oder geschieden wurden. Ebenso sprechen nur wenige Menschen ernsthaft über philosophische Fragen, wie etwa über das Wesen der eigenen Sehnsucht nach immerwährendem Einfluss. Schließlich sind sich die meisten Menschen der physischen Veränderungen während des Alterns durchaus bewusst, und dennoch ist es ihnen unangenehm über ihren Körper zu sprechen. Dies könnte etwas mit der Art der neu entfachten Liebe und der neuen Liebesbeziehungen unter reiferen Partnern zu tun haben. Wir beschäftigen uns in den folgenden Kapiteln mit solchen Themen. Einer von uns nähert sich ihnen als Philosoph und der andere als Anwalt und Ökonom, der dazu neigt, Dinge in Bezug auf Anreize zu betrachten, doch wir teilen die Überzeugung, dass eine akademische Perspektive praktische Früchte trägt.
Andere Themen sind leicht zur Sprache zu bringen, und für diese versuchen wir, breite philosophische und an Strategien orientierte Perspektiven bereitzustellen. Wir sprechen über das allzu vertraute Problem, Dinge – einschließlich anderer Leute – zu leiten und zu bewältigen, die man nicht vollständig kontrollieren kann. Wir betrachten Altern, genau wie Kindheit, junges Erwachsenenalter und mittleres Alter, als einen Lebensabschnitt. Es hat seine eigenen Rätsel, die nach Reflexion verlangen. Es hat sowohl seine eigenen Genüsse und Freuden als auch Schmerzen. Doch nur wenige über das Alter nachsinnende Werke gehen auf die Rätsel ein, die diese Zeit des Lebens aufgibt; vielleicht deshalb, weil Menschen nicht dazu neigen, das Altern als eine Chance zu betrachten. Unser Ziel ist es, einigen der komplizierten und faszinierenden Fragen nachzugehen, die diese Zeit des Lebens uns stellt. In diesen Fragen geht es mehr um leben als um beenden.
Die Form unseres Buches ist von Ciceros De Senectute (Über das Altern) inspiriert. Dieses im Jahr 45 v. Chr. geschriebene Werk ist als ein Gespräch mit Ciceros bestem Freund Atticus gestaltet, an den er Tausende erhalten gebliebener Briefe adressiert hat. Die beiden waren in ihren Sechzigern, und Cicero, der Atticus dieses Werk in einem Vorwort widmet, sagt, dass sie – obwohl sie noch nicht so alt seien (Römer waren ein gesundes Volk) – im Voraus ernsthaft über dasjenige nachdenken sollten, was das Leben für sie noch bereithält. Die Arbeit sei als eine Ablenkung gedacht, weil beide sich Sorgen über Politik und über Angelegenheiten ihrer Familien machten.
Cicero erfindet einen kleinen Dialog, in dem ein wirklich alter Mann, Cato, der zum Zeitpunkt des Dialogs dreiundachtzig Jahre alt ist – gesund, aktiv, noch immer ein politischer Führer, ein berühmter Gastgeber und Freund sowie ein begeisterter Landwirt –, mit zwei Männern in ihren Dreißigern spricht, die ihn bedrängen, um Auskunft über diesen Lebensabschnitt zu bekommen. Da sie alle möglichen negativen Dinge über das Älterwerden gehört haben, möchten sie wissen, wie er auf einige Einwände antworten würde, die generell gegen diese Lebensphase erhoben werden: dass es ihr an Kreativität fehle, dass der Körper zu nichts mehr fähig sei, dass es keine Freuden mehr gebe, dass der Tod eine ständige, angstbesetzte Präsenz habe. Obwohl sie noch jung sind, so sagen sie, wissen sie, dass sie – wenn sie das Glück haben, dorthin zu gelangen – Cato nachfolgen werden, und fragen nach seiner Innenansicht ihres gemeinsamen Ziels. Cato geht gerne darauf ein, denn eine der großen Freuden des Alters, sagt er, ist das Gespräch mit jüngeren Menschen. In Gestalt seines Cato hat Cicero stets ein größeres Publikum im Blick – Gespräche über viele Themen mit Lesern unterschiedlichen Alters und, wie sich herausstellte, in vielen verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten.
Unser Buch wurde, wie das Ciceros, durch eine Reihe von Gesprächen zwischen Freunden in ihren Sechzigern über den Teil des Lebenszyklus veranlasst, in den wir eintreten. Auch wir haben die Erfahrung gemacht, dass über das Altern zu sprechen angenehm und hilfreich ist, und dass das Thema durch philosophische, juristische und ökonomische Reflexionen wirklich bereichert wird. Wir bieten unseren Lesern Essays zu verschiedenen Aspekten dieses Lebensabschnitts an und zeigen, wie Analyse und Argumentation unterhaltsam sein und Einsichten gewähren können. Wir haben das Glück, über eine dialogische Korrespondenz zu verfügen, mit divergierenden Persönlichkeiten und den Ansätzen unterschiedlicher Disziplinen. Jedes Kapitel umfasst zwei Aufsätze; entweder antwortet der eine auf den anderen, oder er geht an ein bestimmtes Thema auf andere Weise heran. Wie Cicero hoffen auch wir, Leser verschiedener Altersgruppen in ein vielseitiges Gespräch zu verwickeln. Die unsere Diskussion eröffnenden Essays sind durch den ersten Akt von Shakespeares König Lear angeregt, in welchem der alternde König eine Reihe von Fehlentscheidungen über seinen Rückzug aus dem aktiven Leben, die Verteilung seines Vermögens und über familiäre Beziehungen trifft. Es ist ein Werk, das eine Erörterung des Älterwerdens nur schwer umgehen kann. Neuere Aufführungen haben den Schwerpunkt auf das Thema des Alterns gelegt, und in einer Reaktion auf eine solche Inszenierung führt Martha Gründe dafür an, warum es ein Fehler ist, das Stück als einen Kommentar zu Demenz oder einem anderen universalen, die Individualität auslöschenden Merkmal des Alterns anzusehen. Es handelt stattdessen vom Altern einer ganz bestimmten Art von Person, die es gewohnt ist, zu dominieren und die Kontrolle zu haben. Solche Menschen werden durch das Älterwerden leicht aus der Bahn geworfen, wenn sie keine Vorsorge getroffen und sich keiner Selbstprüfung unterzogen haben. In einem begleitenden Essay greift Saul das Thema der Kontrolle auf und untersucht die Strategien, mit denen Menschen ihr Älterwerden instrumentalisieren, um andere zu kontrollieren, und mit denen sie – über ihr Versprechen, ihren Besitz zu verteilen – zu Liebe und Fürsorge ermutigen oder sie begrenzen.
Kapitel 2 wendet sich dem eher alltäglichen Thema des Eintritts in den Ruhestand zu. Die Vereinigten Staaten von Amerika stellen insofern fast eine Ausnahme dar, als sie einen Zwang zum Ausscheiden aus dem Arbeitsleben und die Diskriminierung aus Altersgründen für illegal erklären. Saul legt im Zuge seiner Argumente gegen die dominante amerikanische Sichtweise Gründe für so etwas wie eine Rückkehr zur Vertragsfreiheit vor. Seine Darlegungen führen uns durch die Geschichte der Pensionspläne und des sinkenden, nun aber erneut steigenden durchschnittlichen Rentenalters. Der Aufsatz erläutert, warum politische Kräfte wünschenswerte Veränderungen wahrscheinlich verhindern werden, mit der möglichen Ausnahme einer zusätzlichen Besteuerung von wohlhabenderen älteren Arbeitnehmern. Martha hat an all dem größte Zweifel. Sie vertritt die Auffassung, dass das derzeitige System alternden Menschen mehr Würde gibt. Außerdem lässt es jüngere und alternde Menschen erwarten, dass Menschen, während sie älter werden, produktiv und engagiert bleiben, und diese Gewohnheiten und Erwartungen haben positive Auswirkungen auf ihr psychisches Wohlbefinden und die Beziehungen zwischen den Generationen.
Wir haben gesagt, dass unser literarisches Modell Cicero ist, und in Kapitel 3 wenden wir uns seinen beiden Essays Über das Altern und Über die Freundschaft zu. Martha findet sie in Bezug auf beide Themen sowie bezüglich ihrer Schnittmenge scharfsinnig beobachtet, entdeckt aber noch weitere Einsichten in den Briefen, die Cicero mit seinem besten Freund Atticus austauschte: Sie enthalten das tagtägliche Beziehungsnetz einer echten Freundschaft. Als Antwort wendet sich Saul Ciceros Darstellung der Art und Weise zu, auf die Freundschaft in den verschiedenen Altersstufen das Leben bereichert, und er legt seine eigene Einschätzung einiger der schwierigen Fragen dar, die dabei auftreten. Wann sollte ein Freund aus Freundschaft etwas tun, das moralisch zweifelhaft oder mit einem persönlichen Risiko verbunden ist? Und wann sollte ein Freund einem Freund sagen, dass es Zeit ist, sich aus dem aktiven Berufsleben zurückzuziehen?
Der alternde Körper wird stigmatisiert, und alternde Menschen schämen sich oft für ihn. Es gab einmal eine Zeit, so stellt Martha in Kapitel 4 fest, in der die Babyboomer-Generation sich mutig körperlicher Abscheu und Scham entgegenstellte. Das klassische Handbuch Our Bodies, Ourselves forderte Frauen auf, sich nicht vor ihren Körpern zu verstecken, sondern sie ohne Scham kennenzulernen und sie vielleicht sogar zu lieben. Wohin ist diese mutige Herausforderung der Konventionen verschwunden? Und ist es nicht sinnvoll, dasselbe radikale Anti-Scham-Projekt in einem anderen Kontext noch einmal zu verfolgen? Saul stimmt ausnahmsweise zu und behauptet, dass Falten und ein kahler Kopf sogar bezaubern könnten. Er erkundet das Thema der kosmetischen Chirurgie, die Popularität von verschiedenen Anti-Aging-Verfahren und die Wahrscheinlichkeit, dass die Häufigkeit chirurgischer Interventionen von den Gemeinschaften abhängen könnte, in denen wir leben, wenn wir älter werden.
Die Zeit des Alterns ist natürlicherweise eine des Zurückblickens, eine Zeit, in der wir das vergangene Leben sowohl für unsere eigenen Zwecke als auch für jüngere Menschen untersuchen und neu bedenken, weil jüngere Menschen glauben, dass wir Weisheit zu bieten haben. Manchmal führt dieser rückwärtsgewandte Blick zu Reue. In Kapitel 5 befasst sich Martha mit dem Thema rückwärtsgewandter Gefühle und der Beziehung zwischen Reue und den verwandten Gefühlen Trauer und Zorn. Im Allgemeinen erscheinen solche Emotionen sinnlos, da man die Vergangenheit nicht ändern kann. Anhand von Eugene O‘Neills Theaterstück Eines langen Tages Reise in die Nacht und Michel Butors Roman L‘Emploi du temps (deutsche Übersetzung: Der Zeitplan) betont sie die Gefahr, die darin besteht, es der Vergangenheit zu erlauben, das eigene Leben zu bestimmen. Ein der Gegenwart verhafteter Lebensansatz, mit hedonistischem Eifer ohne jegliche Introspektion, ist jedoch ebenso unattraktiv. Eine solche Tendenz zum Leben in der Gegenwart sieht Martha in vielen Ruhestandsgemeinschaften. Saul macht sich zwar für die Verteidigung dieser Gemeinschaften stark, aber er deutet an, dass sie sich in nachfolgenden Generationen verändern werden. Generell bezweifelt er, dass viele der Menschen, die Gefangene der Vergangenheit sind, lernen können zukunftsorientiert zu sein.
Wie steht es um die Liebe im Alter? Einige Leute, und besonders junge, halten das Altern für eine Zeit, in der sich Menschen nicht verlieben, aber sie haben sicher Unrecht. Martha verfolgt dieses Thema in Kapitel 6. Sie beginnt mit Strauss’ Oper DerRosenkavalier und kehrt dann zu Shakespeare zurück, dessen Romeo und Julia sowie Antonius und Kleopatra einen aufschlussreichen Gegensatz zwischen der Liebe in der Jugend und im fortgeschrittenen Alter bieten. In der Oper findet eine reife, einsame Frau sexuelles Vergnügen mit einem 17-jährigen Jungen. Dieses Paar bietet die Gelegenheit, über Missverständnisse in Bezug auf das Liebesleben reifer Frauen nachzudenken. Zusätzlich, und um die Diskussion aus den Höhen der klassischen Poesie in die tägliche Realität herunterzuholen, erörtert Martha einige aktuelle Filme, unter anderem Madame Mallory und der Duft von Curry (The Hundred-Foot Journey), mit der 68-jährigen Helen Mirren in einer der Hauptrollen, und Wenn Liebe so einfach wäre (It’s complicated), in dem Meryl Streep und Alec Baldwin als alternde Liebhaber ihre einstige Anziehungskraft neu entdecken (wobei Steve Martin eine weniger signifikante, jedoch letztlich erfolgreiche romantische Rolle spielt). Saul führt das Gespräch mit einer ausführlicheren Diskussion über „Abstandspaare“ weiter, bei denen es einen signifikanten Altersunterschied zwischen den Partnern gibt. Er zieht Lehren aus prominenten Paaren, die dieser Beschreibung entsprechen, und vertritt die Auffassung, dass wir romantische Ablehnung als eine gute Sache ansehen können, auch wenn wir Paare feiern, deren Beziehung von Dauer ist. Das Kapitel endet mit einigen Spekulationen über die Zukunft von Paaren wie denjenigen, die in der Strauss-Oper vorkommen, bei denen die Frau wesentlich älter ist als der Mann.
Ein Großteil dieses Buches handelt von Menschen, die wohlhabend genug sind, um über den Eintritt in den Ruhestand im richtigen Alter nachdenken, Besitz für Kinder in finanziell unterschiedlichen Umständen hinterlassen und ihr körperliches Erscheinungsbild mit Hilfe von Injektionen und Chirurgie verbessern zu können, aber es gibt viele alternde Menschen, die ums Überleben kämpfen. Kapitel 7 setzt sich offen mit der Realität der großen Vermögensungleichheit auseinander. Saul untersucht den Umfang des Problems in Bezug auf in Armut lebende ältere Menschen. Er sorgt sich um all diejenigen, die für den Ruhestand keine finanziellen Rücklagen geschaffen haben, und entwirft einen bedenkenswerten Plan für den Aufbau einer umfangreicheren obligatorischen Komponente in der Sozialversicherung. Marthas Ansatz hat weniger mit dem zu tun, was politisch durchführbar ist, und mehr mit politischer Philosophie. Sie stützt sich auf ihren eigenen „Fähigkeitenansatz“ und skizziert, was eine gerechte Gesellschaft den älteren Menschen bieten sollte. Dabei führt sie einen kritischen Vergleich der finnischen und amerikanischen Vorgehensweisen (und ihrer Mängel) bezüglich älterer Menschen durch.
Kapitel 8 wendet sich schließlich den Vermächtnissen zu, die wir vielleicht hinterlassen möchten. Saul untersucht zwei Paradoxa. Das erste betrifft die Frage, ob man Geld verschenken sollte, sobald man es sich leisten kann, oder ob man Philanthropie aufschieben sollte, um mehr über die dadurch potenziell Begünstigten in Erfahrung zu bringen. Die Diskussion erklärt Teile der modernen Optionstheorie und stützt sich auf seine Erfahrungen im Fundraising. Das zweite Paradoxon kehrt zu der Frage zurück, ob man alle einem nahestehenden Menschen auf gleiche Weise berücksichtigen, oder ob man ihre finanziellen Verhältnisse im Blick haben sollte. Das Kapitel bietet denjenigen, die zwar die konventionelle Gleichverteilung durchbrechen wollen, aber Angst haben, einen Familienstreit herbeizuführen, eine neue Strategie. Martha beendet das Kapitel mit Überlegungen zum Altruismus und über Wege, sich selbst zu verewigen. Sie stellt und beantwortet die gewichtige Frage, wie wir über unseren Beitrag zum Leben einer fortdauernden Welt denken sollten.
Diese 16 Essays sind eher dazu bestimmt, die Diskussion darüber, wie wir alle auf bewusste Weise älter werden können, zu provozieren als sie erschöpfend zu beantworten. Wir hoffen, dass unsere Leser die veränderte Perspektive, die das Alter mit sich bringt, genießen, so wie wir selbst es tun. Themen wie König Lears Vermächtnisse, der obligatorische Eintritt in den Ruhestand, plastische Chirurgie, Philanthropie und Liebe bei großem Altersunterschied sehen einfach sehr viel anders aus, wenn man den Punkt, ab dem man diesen Problemen erstmals begegnet, um etwa ein halbes Jahrhundert überschritten hat. Wir haben versucht, an diese und andere Themen auf neue Weise heranzugehen und zu zeigen, dass das Nachdenken darüber und die Auseinandersetzung damit nicht nur praktisch sind, sondern auch zu den großen Vergnügen des Älterwerdens gehören.
Worin besteht das Wesen von Lears Verletzbarkeit und warum ist er so unglücklich darüber? Was sollten wir aus Lears Fehler bei der Wahl zwischen seinen Töchtern lernen, und hätte er besser wählen oder sie gleich behandeln sollen? Wann ist es ratsam, erwartete Erbschaften zurückzuhalten? Wie lernt man, Kontrolle abzugeben?
Altern und Kontrolle in König Lear – und die Gefährlichkeit von Verallgemeinerungen
Martha
Aufführungen von König Lear sind heutzutage wie besessen von der Thematik des Alterns. So, wie in der Nachkriegszeit die Betonung auf Leerheit, Sinnverlust und völliger Zerstörung lag (in Peter Brooks denkwürdiger Inszenierung mit Paul Scofield, jedoch auch in unzähligen anderen seither), ist es in unserer Zeit das Thema des Alterns, das populär geworden ist, und dies kann vielleicht sogar teilweise erklären, warum die Popularität des Stückes in letzter Zeit so stark zugenommen hat. Inszenierungen folgen den Voreingenommenheiten des Publikums, für das sie bestimmt sind. Heute machen sich viele oder sogar die meisten Zuschauer einer Shakespeare-Inszenierung persönlich Sorgen über das Altern, pflegen einen alternden Verwandten, oder es trifft gleich beides auf sie zu. Wir sollten auch die große Anzahl ausgezeichneter älterer Schauspieler erwähnen, die die Rolle spielen wollen und von ihren extremen körperlichen Anforderungen nicht abgeschreckt werden. Laurence Olivier (der 76 Jahre alt war, als er die Rolle spielte), Ian McKellen (68), Stacy Keach (68), Christopher Plummer (72), Sam Waterston (71), John Lithgow (69), Frank Langella (76), Derek Jacobi (72) und kürzlich Glenda Jackson (80). Wir sind offensichtlich weit entfernt von Shakespeares eigenem Lear, Richard Burbage, der die Rolle mit 39 Jahren spielte, und noch weiter von Gielgud, der erst 29 Jahre alt war. (Scofield war übrigens erst 40 Jahre alt, aber das war ohne Belang, weil diese Inszenierung das Thema Alter nicht betonte.)
Ein Meisterwerk gewährt neue Einsichten, wenn es mit einer neuen Akzentsetzung auf die Bühne gebracht wird, und Lear bildet keine Ausnahme. Ich kritisiere Regisseure daher also nicht dafür, dass sie sich entschieden haben, das Thema des Alterns zu betonen, und das Stück, in dem Lear nach Liebesbezeugungen fragt und dann sein Königreich unter den beiden Töchtern (Goneril und Regan), die ihm schmeicheln, aufteilt und die eine (Cordelia), die ihn wirklich liebt, enterbt, erkundet Themen wie Enteignung, Verlust und schließlich Wahnsinn, den Shakespeare eindeutig mit Lears fortgeschrittenem Alter in Verbindung bringt. Dennoch gibt es da etwas, das bei dieser gemeinsamen Art und Weise der Akzentsetzung fehlt: Einige Entscheidungen der Regisseure führen uns weg von den Einsichten über das Altern, die das Stück wirklich bereithält. Beginnen wir mit einem repräsentativen Beispiel.
Eine vielgelobte Chicagoer Inszenierung von King Lear aus dem Jahr 2014 beginnt auf folgende Weise:1 Der Schauspieler Larry Yando spielt den König in einer mehr oder weniger modernen Inszenierung als alternden Tycoon. Er befindet sich in seiner eleganten Schlafzimmer-Suite, trägt einen teuren Morgenmantel und spielt einige Lieder von Frank Sinatra auf seiner noblen Stereoanlage an. Mit der Launenhaftigkeit eines langweilige Spielsachen wegwerfenden Kindes verwirft er „That’s Life“, „My Way“ und „Witchcraft“ – wobei er voller Frustration jedes Mal eine Fernbedienung aus Plastik zerschlägt, und von den aufmerksamen Dienern, die ihn umgeben, stets eine andere bekommt. (Diese wiederholte grundlose Zerstörung enthält eine unzutreffende Anspielung: Tycoons erreichen – anders als erbliche Monarchen – ihre Stellung nicht, indem sie verschwenderisch sind, und das Lied ließe sich leicht wechseln, ohne die Fernbedienung zu zerstören.) Schließlich kommt er zu „I’ve Got the World on a String“. Zufrieden tanzt er hocherfreut umher. Als Partner hat er nur sich selbst, aber er ist von großer Beweglichkeit. Chris Jones, der Kritiker des Chicago Tribune, merkt hierzu an, dies sei „eine billige Wahl, denn diejenigen, die, wie Lear, es nötig haben zu glauben, dass sie die Welt an ihren Fäden halten, entlarven sich selten durch die Vorliebe zu einem so offensichtlichen Text.“2
Aber Lear ist glücklich, und abgesehen von einer gewissen manischen Angst in seiner Gesamthaltung zeigt er keine Anzeichen des Alterns. Abgesehen von der ungeschickten Auswahl der Lieder ist es eine fesselnde Darstellung eines lieblosen, pedantischen Mannes, der zwar altert, aber noch sehr gesund ist: betört von seiner eigenen Macht, daran gewohnt, zu bekommen, was er will, immer und von jedem.
Nur wenige Augenblicke später fällt es Lear jedoch schwer, sich an die Namen seiner Schwiegersöhne zu erinnern – und als er nach Worten ringt, die ihm nicht einfallen wollen, steht auf seinem Gesicht ein Ausdruck des Entsetzens, während sich die Zerstörung der beginnenden Demenz offenbart. Es ist ein atemberaubender Augenblick. Doch ist es eine überzeugende Interpretation des Stückes? Die Regisseurin Barbara Gaines informiert uns im Programmheft, dass Lear von uns allen handelt, die wir entweder selbst altern, einen alternden Verwandten haben, oder auf die beides zutrifft. Im 4. Akt der 7. Szene beschreibt sich Lear selbst tatsächlich als „80 und mehr“ und gibt so sein Alter ziemlich exakt an. Yando sagte der Chicago Sun-Times jedoch, er spiele Lear „in meinem Alter, nicht 80-jährig“. Yando ist zu dem Zeitpunkt 58 Jahre alt. Was wir sehen, ist also eine extrem früh beginnende Demenz. (Dies passt schlecht zu der Art und Weise, auf die sich Yando in späteren Akten bewegt, mit dem Schlurfen eines sehr alten Mannes; doch wie dem auch sei – momentan geht es mir um den ersten Akt.) Also: ist es plausibel oder aufschlussreich, Lear als ein Stück über eine früh beginnende Demenz zu inszenieren?3
Zu tun, was Gaines und Yando tun, ist schon fast zu einem Klischee geworden: den Verfall und die geistige Hinfälligkeit in die Anfangsszene des Stückes zu verlegen. Tatsächlich wurde das Darstellungsmittel, die Namen zu vergessen, bereits von Plummer verwendet, obwohl ich nicht weiß, ob er es erfunden hat. R. A. Foakes, der Herausgeber der Arden-Ausgabe des Stückes, stellte in der Tat fest, dass es zu einem Markenzeichen der Inszenierungen in den 1990er-Jahren geworden ist, Altersschwäche gleich in der Eröffnungsszene des Stückes zum Thema zu machen: Es ist wahrscheinlich, dass Lear darin als „ein zunehmend bedauernswerter Alter“ erscheint, der „in einer gewalttätigen und feindseligen Umwelt gefangen“ ist.4 Die Popularität des auf diese Weise hervorgehobenen Altersthemas hat zu einer Flut von Inszenierungen des Stücks geführt, da seine mehr als nur ein wenig narzisstischen Zuschauer sich gerne mit ihrer eigenen Zukunft beschäftigen, sei diese nah oder fern. Der Kritiker der Los Angeles Times, Charles McNulty, meldet in einem treffend formulierten Aufsatz Zweifel an der Weisheit dieses gesamten Trends an, den er auf plausible Weise dem Älterwerden der Generation der Babyboomer zuschreibt. Er erklärt, es könne an der Zeit sein, Versuche, das Stück zu inszenieren, generell auszusetzen.5
Also, was passt nicht an Yandos Gedächtnisverlust? Ein offensichtliches Problem ist, dass er im Text überhaupt nicht vorkommt. Erst als er in der Heidelandschaft steht, zeigt Lear ein seelisches Ungleichgewicht, und dann ist es eine Art „Wahnsinn“. Doch er passt, angesichts seiner sprachlichen Eloquenz und seiner Einsichten in die Natur der Menschen und ihrer Welt, gewiss nicht zu dem allzu bekannten Klischee der Alzheimer-Erkrankung. Eine sachgerechtere Kritik an Gaines – denn natürlich können und sollten Regisseure Dinge, die nicht direkt im Text vorkommen, in das Stück einfügen, wenn es dadurch anschaulicher gemacht wird – wäre in der Tat, dass dadurch, dass Lear von Anfang an in die Alzheimer-Schublade gesteckt wird, es ziemlich schwierig ist, den Lear der Eröffnungsszene mit dem zwar geistesgestörten, aber zutiefst einsichtsvollen Lear, der sich später zeigt, in Verbindung zu bringen. Dies ist ein Grund dafür, warum Yandos Darstellung dieser späteren Szenen die Zuschauer und Kritiker weniger beeindruckt hat als seine Darstellungsleistung in der Anfangsszene.
Im ersten Akt – und meine Betrachtung in diesem Essay beschränkt sich auf den ersten Akt – sind es Goneril und Regan, bei denen es sich nicht gerade um die vertrauenswürdigsten Zeugen handelt, die auf Lears Älterwerden eingehen – und zwar auf eine Weise, die nicht im Geringsten auf eine von Alzheimer verursachte Demenz hindeutet. Erstere sagt: „Du siehst, wie launisch sein Alter ist.“ (1.1.290) – aber sie bezieht sich darauf, dass er auf eine emotional unberechenbare Weise Cordelia enterbt, was, wie immer wir es erklären wollen, wohl kaum auf Demenz zurückzuführen ist. Letztere antwortet: „Es ist die Schwäche seines Alters: doch hat er sich von jeher nur schlecht gekannt.“ (294–95). Sie präzisiert daher den Altersbezug sofort durch eine Anspielung auf ein seit Langem bestehendes Problem – und dringt damit, wie wir sehen werden, zum Kern der Sache vor. Selbst die Töchter deuten nicht darauf hin, dass er an Demenz oder geistiger Schwäche leidet: höchstens an emotionaler Unbeständigkeit, und das, so vermuten sie, sei wahrscheinlich schon von jeher durch seinen Charakter verursacht worden.
Um zu erkennen, warum dies die angemessene Fragerichtung ist, betrachten wir Lears frühere menschliche Beziehungen, wie der erste Akt sie offenlegt. Gegenüber seinen Töchtern – selbst Cordelia, die er zu bevorzugen scheint – verhält er sich formell, kalt, dominierend, manipulativ. Er möchte starre Reden hören, die Unterordnung zum Ausdruck bringen. Was er mit Sicherheit nicht will, ist irgendeine Beteiligung an gegenseitiger Zuneigung.6 Was Freundschaft betrifft, gibt es nichts, was auch nur in die Nähe käme. Er hat weder eine Frau, noch erinnert er sich an die, die er irgendwann gehabt haben muss. In seiner Beziehung zu Kent – sowohl vor als auch nach seinem Fall – ist Lear der befehlende Herrscher, dazu entschlossen, Ungehorsam zu bestrafen, obwohl er (später) bereit ist, einen loyalen Untergebenen zu akzeptieren. Die einzige Beziehung, die die Möglichkeit von Freundschaft und Gegenseitigkeit bietet, ist diejenige zu dem Narren, dem (im Gegensatz zu den meisten wirklichen Hofnarren) königliche Macht gleichgültig ist. Es ist das Reifen dieser Beziehung im weiteren Verlauf des Stückes, das dazu führt, dass Lear als menschliches Wesen sichtbar oder sogar erst zu einem solchen wird.
Altern, Kontrolle und Selbsterkenntnis
Das größte Problem an einem Alzheimer-erkrankten Lear in der ersten Szene des ersten Aktes besteht darin, dass eine solche Darstellung uns hindert, eines der eindringlichsten Themen des Stückes zu verstehen: die Auswirkung plötzlicher Machtlosigkeit auf eine Person, die von ihrer eigenen Macht und eingebildeten Unverwundbarkeit vollkommen abhängig war. Denn Regan hat recht: Lear kannte sich selbst nicht und besaß noch nicht einmal ein grundlegendes Verständnis seiner eigenen Menschlichkeit. Er hatte sich als König für eine Art Gott gehalten, der alles und jeden kontrollieren könne. Daher ist er auf das Alter, das Kontrollverlust und Pflegebedürftigkeit mit sich bringt, schlichtweg nicht vorbereitet. Es ist schlecht für den eigenen Lebensweg in dieser Welt, wenn man glaubt, ein König zu sein; und wenn man einer ist, ist es sehr wahrscheinlich, dass man sich selbst nur oberflächlich kennt und also nicht versteht, dass man ein abhängiger und verletzlicher Mensch ist.
Janet Adelman, erkenntnisreich wie immer, sagt, was für Lear erschreckend sei, als er plötzlich erkennt, dass seine Töchter Macht über ihn haben, ist: „zu erkennen, dass er nicht nur auf erschreckende Weise von weiblichen Kräften außerhalb seiner selbst abhängig ist, sondern auch eine ebenso schreckliche Weiblichkeit in sich selbst“ trägt.7 Unter Weiblichkeit versteht sie Passivität, Nicht-Kontrolle und vor allem das Angewiesensein auf andere. Wie der Narr kurz darauf sagt, hat Lear seine Töchter zu seinen Müttern gemacht (1.4.163) und ist dennoch völlig unvorbereitet, ein bedürftiges Kind zu sein oder zuzugeben, dass er eins ist.
Man macht es sich viel zu einfach, wenn man Alzheimer hier zum Problem erklärt. Das ist eine Macht, die von außerhalb der Persönlichkeit zuschlägt. Es könnte jedem passieren und passiert jedem auf mehr oder weniger ähnliche Weise. Es hat nichts damit zu tun, wie man sein Leben bisher geführt hat, und die Krankheit lässt die eigene Identität in kurzer Zeit verblassen. Lears Problem besteht aber darin, dass er, während er immer noch er selbst ist, nämlich ein nörgelnder und manchmal gewalttätiger Mann, der es gewohnt ist, keine Beziehungen zu führen, in denen er nicht die Kontrolle hat, plötzlich feststellt, dass sich die Dinge in ihr Gegenteil verkehrt haben – und dass er auf Machtlosigkeit vollkommen unvorbereitet ist. Kontrolle macht aber seine Identität aus, weshalb die plötzliche Weigerung seiner Umgebung, ihn zu verehren und ihm zu dienen, das Innerste des Menschen trifft, der er zu sein glaubt. „Kennt mich hier jemand?“, fragt er (nach Gonerils hartem Einwand gegen sein Gefolge). Er meint, ihn zu kennen bedeute, seine totale Macht und sein Recht, zu tun, was er will, anzuerkennen. Aber er benutzt das königliche „Wir“ nicht mehr – und erkennt damit stillschweigend an, dass er an Autorität verloren hat. „Nein, das ist nicht Lear“, fährt er fort. „Wer kann mir sagen, wer ich bin?“ (1.4.217–21). In den dazwischen liegenden Zeilen sagt er von sich selbst: „Sein Kopf muss schwach sein, oder seine Denkkraft im Todesschlaf“. Kommentatoren interpretieren diese Zeilen auf plausible Weise so, dass er versucht sich selbst zu versichern, dass all dieses respektlose und ungehorsame Verhalten nur ein Traum sein könnte: „Ha, bin ich wach? Es ist nicht so.“ Allzu bald stellt er jedoch fest, dass Missachtung und Respektlosigkeit kein Traum, sondern Realität sind.
Keiner von uns ist auf Machtlosigkeit wirklich vorbereitet, aber Machtlosigkeit begegnet uns allen in verschiedenen Formen, wenn wir älter werden. (Am wenigsten betroffen sind vielleicht diejenigen, die tatsächlich an Alzheimer leiden, da sie bald nicht mehr wahrnehmen, was ihnen fehlt.) Aber für diejenigen, die ihre Identität durch die Kontrolle über andere definieren, kommt die Machtlosigkeit als verheerenderer Schock. Man kann nicht mehr sein, der man war, und dann muss man irgendeine andere Identität erfinden, eine andere Art, weiterzuleben. Yandos hervorragende Eröffnungssequenz zeigt einen Mann, der dieses Drama auf eine subtile und aufschlussreiche Weise hätte spielen können, indem er einen Machtverlust darstellt, der zu einer neuen Art der Suche nach dem Selbst führt. Die zweite Hälfte des Stückes zeigt den Beginn einer solchen Suche – allerdings erst, nachdem Lear durch den Zusammenbruch seiner früheren Identität teilweise verrückt geworden ist.
Solch eine quälende Suche stellte Yando tatsächlich dar, als er 2012 in der Chicagoer Inszenierung von Angels in America Roy Cohn, einen vergleichbaren Charakter, spielte, für die er verdientermaßen die höchste schauspielerische Auszeichnung Chicagos gewann. In Yandos Cohn, einer erfolgreicheren Gesamtleistung, und zwar ohne dass dem Publikum eine moralisierende Botschaft gefüttert wurde, sahen wir, wie sich der allmähliche körperliche Verfall und der bevorstehende Tod auf einen an totale Macht gewöhnten Mann auswirken (die Macht, andere zu verführen oder zu zerstören, die Macht, die Wahrheit zu schaffen und zu vernichten, eine schier körperliche Freude an der eigenen Destruktivität) – und die Ergebnisse faszinierten zutiefst, als wir schreckliche Angst, Boshaftigkeit und schließlich sogar einen Schimmer von Mitgefühl in der Seele eines bösartigen Mannes ohne Selbsterkenntnis umherwirbeln sahen.
Ich wünschte, Gaines hätte Yando erlaubt, Lear als Roy Cohn zu spielen. Dann hätten wir etwas über das Altern gelernt, statt ein sentimentalisiertes und verallgemeinertes Bild gezeigt zu bekommen, welches das Älterwerden zu etwas Mitleiderregendem macht und verwässert, statt zu dem moralischen Spiegel, der es in Wahrheit ist, und der moralischen Herausforderung, die es darstellt.
Nutzen und Missbrauch philosophischer Verallgemeinerungen
An dieser Stelle möchte ich mich einem Problem meines Berufes, der Philosophie, stellen. Die Philosophen lieben universale Verallgemeinerungen sehr, oft viel zu sehr. Nun, wenn wir nichts verallgemeinern würden, wären wir natürlich niemals in der Lage, etwas zu lernen oder andere zu unterrichten. Wenn die Vergangenheit jemals als Wegweiser für die Zukunft oder die Erfahrung einer Person für eine andere dient, dann deshalb, weil einige Arten von Verallgemeinerung nützlich sind. Nietzsche stellte fest, dass eine Spezies, die nicht verallgemeinern kann, schnell aussterben würde: Sie würde vor dem neuen Raubtier nicht davonlaufen, weil sie seine Ähnlichkeit mit einem vorigen nicht erkennen würde. Ferner widmen sich sämtliche Wissenschaften leidenschaftlich der Verallgemeinerung; doch sie prüfen auch immer wieder, welche der in einem konkreten Fall vorhandenen zahlreichen Faktoren ein Ergebnis wirklich erklären.
Unser Vergnügen an großen Werken der Literatur wie König Lear hängt ebenfalls mit Verallgemeinerung zusammen. Wenn wir annähmen, dass es sich bei der Geschichte von Lear lediglich um eine kuriose Begebenheit handelte, die sich tatsächlich einmal zugetragen hat, fände sie in uns nicht den Widerhall, den sie hervorruft. Wie Aristoteles sagt, ist die Dichtung „philosophischer“ als die Geschichtsschreibung, weil uns die Geschichtsschreibung sagt, dass dieses oder jenes Ereignis tatsächlich passiert ist, während uns Dramen Dinge vor Augen führen, „die [im Leben eines Menschen] passieren könnten“.8
Unser Interesse an Lear ist ein Interesse am Studium der allgemeinen Form menschlicher Möglichkeiten. Wir wollen Muster erkennen, die im Leben von Menschen, die uns wichtig sind, wiederkehren könnten.
Wir wissen allerdings nur zu gut, dass einige Formen der Verallgemeinerung die Realität verschleiern und den Fortschritt blockieren. Klischees über Frauen, ethnische Minderheiten, Muslime, Juden und andere benachteiligte soziale Gruppen waren eine wichtige Strategie, um ihre Unterordnung festzuschreiben. Im Jahr 1873 hat Myra Bradwell in Illinois ein Gesetz angefochten, das es Frauen verbot, als Anwältinnen zu praktizieren (was sie in Iowa bereits taten). Myra Bradwell hatte bereits ein juristisches Studium und eine praktische Ausbildung absolviert und praktizierte de facto als Anwältin, erhielt jedoch in Illinois keine Zulassung. Der Oberste Gerichtshof, der dieses Verbot der juristischen Praxis von Frauen aufrechterhielt, bot einige, durch religiöse Frömmigkeit gestützte Stereotypen auf: „Die natürliche und angemessene Ängstlichkeit und Zartheit“, die das weibliche Geschlecht auszeichneten, machten es „für viele Berufe des bürgerlichen Lebens offenbar untauglich (…). Das vorrangige Los und die Mission der Frau“ bestehe darin, „die edlen und huldvollen Ämter einer Frau und Mutter zu übernehmen“. Das sei „das Gesetz des Schöpfers.“9 Richter Bradley ging so weit, einzuräumen, dass es viele Frauen gebe, die unverheiratet seien und daher als Ausnahmen von dieser allgemeinen Regel angesehen werden könnten. (Myra Bradwell war verheiratet.) Er gelangte jedoch zu dem Schluss, dass das Gesetz „an die allgemeine Verfassung der Dinge angepasst“ werden müsse und „nicht auf Ausnahmefällen beruhen“ dürfe.
So etwas passiert ständig, besonders bei Gruppen, die über weniger Macht verfügen. Eine beschreibende Verallgemeinerung wird vorgebracht, ohne Beweise und sogar angesichts deutlicher Gegenbeweise, und wird dann als Vorwand benutzt, Konformität durchzusetzen. Alternde Menschen, die schon lange Opfer abwertender Stereotypen sind, sollten, wie ich in einem anderen Kapitel noch ausführen werde, bei jeglichen Verallgemeinerungen misstrauisch sein. Da wir so wenig darüber wissen, was außergewöhnlich ist und was nicht, und da sich unser Wissen ständig ändert, scheint es besonders angebracht zu sein, sich in demütiger Weise auf spezielle Fälle zu beschränken.
Was sollte ein Philosoph also tun? Erstens sollten wir zwischen normativen und deskriptiven Verallgemeinerungen unterscheiden. Bei meinen Ausführungen über Lear habe ich auf eine Weise normativ verallgemeinert, die seit Platon und Aristoteles in der Ethik geläufig ist. Diese Lebensmuster sind tugendhaft und andere unmoralisch. Diese Art von Leben gedeiht und diese weniger. Menschen, die gerne andere kontrollieren – eine an sich problematische Eigenschaft –, werden mit zunehmendem Alter mit besonderer Wahrscheinlichkeit unangenehme Überraschungen erleben. Und diese Überraschungen, wie zum Beispiel der Verlust von Liebe und Verbundenheit, sind menschlich bedeutsam. Sie geben allen von uns Gründe – auch wenn sie bislang noch anfechtbar sind – nicht zu versuchen, so zu leben.
All das scheint in Ordnung, solange Arroganz nicht an die Stelle von Dialog tritt. Wir alle benötigen Ideale und Ziele, und normative Verallgemeinerungen sind unerlässlich, wenn wir darüber nachdenken, welche Möglichkeiten und Chancen für Menschen wirklich wichtig sind. Eine Theorie der Menschenrechte oder verfassungsmäßigen Freiheiten ist höchst allgemein, eine Form normativer Verallgemeinerung, doch das scheint so in Ordnung, weil Menschen durch Rechte nicht zu Konformität gezwungen, sondern ihnen stattdessen bestimmte geschützte Möglichkeiten gegeben werden. Das ist der Weg, den ich in Kapitel 7 einschlagen werde, wo es um wirtschaftliche Ungleichheit im Alter gehen wird. Ich werde dafür argumentieren, dass bestimmte „Fähigkeiten“ – wichtige Möglichkeiten – für alle Bürger von so zentraler Bedeutung sind, dass sie den Status verfassungsmäßiger Garantien haben sollten.
Wir sollten jedoch vorsichtig sein, wenn die normative Theorie auf einer übertriebenen oder dubiosen deskriptiven Verallgemeinerung beruht, und es ist im Bereich deskriptiver Verallgemeinerungen, dass Stigmatisierung und Diskriminierung mit besonders hoher Wahrscheinlichkeit unser Urteil verzerren. Richter Bradley gelangte zu der normativen Schlussfolgerung, dass es für Frauen schlecht sei, als Anwältinnen zu arbeiten, weil er bereits von bestimmten stark verallgemeinerten, deskriptiven Behauptungen überzeugt war, wie etwa: Nur wenige Frauen können als Anwältin arbeiten. Die meisten Frauen wollen Ehefrauen und Mütter sein. Ehefrauen und Mütter können keine Anwältinnen sein. Wenn sie lernen, wie ein Anwalt zu argumentieren, macht Frauen dies Männern ähnlich und schlechter geeignet für die Ausführung ihrer familiären Aufgaben. Wie wir inzwischen wissen, ist jede dieser Behauptungen falsch.
Aber ausdrücklich die Falscheste ist – wie wir jetzt sehen – die Behauptung, dass es nur einen einzigen „Weg“ geben soll, der für Frauen bestimmt ist. Dies ist das Leben einer Frau, so hat ihre Lebensgeschichte auszusehen. Es ist gleichgültig, dass Sie, Myra Bradwell, eine verheiratete Anwältin, etwas anderes machen: Wir schieben das beiseite. Nein, wir behaupten einfach, dass Frau und Mutter zu sein, und nur das, die richtige Beschreibung der Rolle einer Frau ist. In diesem Fall ist das Beharren auf alternativlosen Beschreibungen keineswegs unschuldig, wenn es um versteckte oder nicht so versteckte normativen Ideen geht: So wollen wir (Männer), dass Frauen sind; dies ist es, wozu wir sie machen wollen.
Selbst in einer wohlwollenden und vollkommen nicht-normativen Form wirkt ein solcher einziger „Weg“ wie eine absurde Lüge, sobald Frauen das Recht beanspruchen, ihr eigenes Schicksal zu wählen und Individuen zu sein. Kürzlich besuchte ich eine Darbietung des eindringlichen Liederzyklus Frauenliebe und -leben von Schumann. Diese Geschichte einer „Frau“ ist eine singuläre und einfache Geschichte: Sie verliebt sich, sie bekommt einen Heiratsantrag, sie nimmt ihn an, sie heiratet, sie hat erst Angst vor Sex und ist dann glücklich, sie hat ein Baby, und sie erlebt dann durch den Tod ihres Mannes tiefe Trauer (da ein romantischer Liederzyklus traurig enden muss). Die Geschichte erscheint heute als lächerlich, wenn auch rührend. Die Aufführung, die ich besuchte, unterschied sich durch den sehr interessanten Umstand, dass die Lieder untypischerweise von einem Bariton gesungen wurden. (In der Welt der Lieder haben Frauen in der Regel Transgender-Privilegien, Männer jedoch nicht: Eine Sopranistin kann die Winterreise singen, aber Männer singen diesen „weiblichen“ Zyklus im Grunde nie.) Und dieser männliche Sänger leitete, ohne auch nur eine Pause zu machen, direkt in die gleichfalls bekannte männliche Lebensgeschichte über und sang Schumanns Dichterliebe. Wie in mehr als einem romantischen Liederzyklus ist die männliche Lebensgeschichte ebenfalls stereotypisch und einfach, wenn auch anders als die weibliche: Er verliebt sich, er gewinnt ihre Liebe, ihre Eltern protestieren jedoch, weil er arm ist; sie verheiraten sie mit einem reichen Mann und sie fügt sich der Entscheidung. Also geht er fort, irrt umher und stirbt schließlich. Die Fragen, die Matthias Goernes kühne, beide Geschlechter umfassende Aufführung uns stellen ließ, lauteten: Wessen Geschichte gehört wem? Ist eine dieser Geschichten die Geschichte einer konkreten Person? Sind beides nicht symmetrische Lügen, wenn auch von großer Schönheit? Niemand in diesem Publikum wurde von den deskriptiven Stereotypen getäuscht, und wir wurden eingeladen, sie als zwei ihrem jeweiligen Ort und ihrer jeweiligen Zeit verhaftete Geschichten anzusehen, aber gewiss nicht als Geschichten konkreter Personen in Vergangenheit oder Gegenwart. (Schumann selbst hatte ein glückliches Leben, bis er vorzeitig an den Komplikationen einer unbehandelten bipolaren Störung starb; seine geliebte Frau Clara war eine der begabtesten Pianistinnen und Komponistinnen der Geschichte sowie eine kompetente Geschäftsfrau, die die Hauptverdienerin der Familie war und ihre eigenen Konzertreisen mit viel Geschick organisierte. Das Einzige, was aus dem Zyklus über das Leben einer Frau auf sie zutrifft, ist, dass sie ihn überlebt hat – um 40 Jahre!)
Das Problem mit Erzählungen über das Altern ist, dass es bislang zu wenige von ihnen gibt, um uns die große Vielfalt im Alterungsprozess aufzuzeigen, also zu wenige, um uns so skeptisch zu machen, wie wir es Halbwahrheiten gegenüber sein sollten. Aristoteles’ Vorstellung der Tragödie war es nicht, dass eine von ihnen uns sämtliche menschlichen Möglichkeiten aufzeigt. Wie könnte sie das leisten? Seine Ansicht ist, dass uns stattdessen jede Tragödie einige menschliche Möglichkeiten veranschaulicht. Wenn wir uns daher immer wieder neue Tragödien anschauen (wie es die Griechen taten, und zwar jedes Jahr ziemlich viele), werden wir unser Verständnis der menschlichen Möglichkeiten erweitern und die Vielfalt der möglichen Interaktionen zwischen Charakteren und Umständen verstehen. Wir müssen also die Suche nach Erzählungen über das Älterwerden fortsetzen, um unser Verständnis zu erweitern.
Aber im Prinzip verstehen das die meisten von uns, wenn sie sich mit literarischen Werken beschäftigen. Lear verführt Menschen nur zu unklugen Verallgemeinerungen, weil es sich um ein Stück von Shakespeare handelt und weil es nur relativ wenige große literarische Werke über das Altern gibt. Aber wenn jemand wie ich sagt: „Halt: Lear ist ebenso wenig ein Durchschnittsmann wie Kleopatra eine Durchschnittsfrau ist“, werden die Leser dem wahrscheinlich zustimmen und bedenken, dass wir in den meisten Fällen innerhalb der literarischen Kategorien von Menschen – Frauen, Männer, Jugendliche, Könige und so weiter – eine große Vielfalt anerkennen. Zum Beispiel erkennen wir leicht eine zentrale Tatsache von Shakespeares historischen Dramen, die jeder Bürger in einer erblichen Monarchie kennt: Könige erfahren ihr Königsein und spielen ihre Rolle auf sehr unterschiedliche Weise, mit gewichtigen Konsequenzen für Millionen von Menschen.
Wenn wir uns den Werken der Philosophie zuwenden, eröffnet sich ein viel schwierigeres Problem. Philosophen sind keine kreativen Künstler, die eine Geschichte nach der anderen schreiben. Sie sind auch keine Historiker, die über die verschiedenen Ereignisse berichten, die tatsächlich stattgefunden haben. Sie sind durch und durch Generalisten. Wir sind nicht überrascht, dass Cicero nur ein Werk mit dem Titel Über das Altern schrieb, dass Simone de Beauvoir (1908–1986) ebenfalls nur ein Buch über das Altern schrieb, wenn auch ein wesentlich umfangreicheres. Gewiss: Philosophen greifen Themen wiederholt auf, aber sie schreiben normalerweise nicht einen Text nach dem anderen mit dem einfachen Ziel, die menschliche Vielfalt innerhalb eines Themas auszuleuchten. Diese Singularität der Aussage kann eine Tugend sein, kann klären und klassifizieren, aber sie kann auch eine Gefahr darstellen.
Altern ist offensichtlich ein Thema, bei dem Verallgemeinerungen mit Gefahren verbunden sind. Erstens gibt es, sogar in einem noch wesentlich höheren Maße als im Kindes- oder Jugendalter, viele unterschiedliche Lebensgeschichten. Manche Menschen sind gesund bis in die Neunziger; andere befallen schon viel früher gefährliche oder tödliche Krankheiten. Manche Menschen werden nicht dement, obwohl sie ihr hundertstes Lebensjahr überschritten haben. Andere erkranken bereits in den Fünfzigern an einer Demenz. Darüber hinaus existieren viele verschiedene Arten von Demenz. Manche Menschen können zwar geistige Arbeiten ausführen, aber ihren Weg von A nach B nicht finden. Bei anderen ist der Rückgang der geistigen Fähigkeiten umfassender. Dann gibt es so viele charakterliche Unterschiede, wie uns der Fall Lears zeigt; und wie wir noch sehen werden, haben wirtschaftliche und soziale Umstände (Armut oder Wohlstand, erzwungene Pensionierung oder fortgesetzte Arbeit) einen großen Einfluss auf die Gesundheit, das Gefühlsleben und die allgemeine Produktivität. In diesem Buch versuchen Saul und ich unseren Lesern diese unterschiedlichen Wege aufzuzeigen, da sowohl Individuen als auch Gesellschaften Entscheidungen treffen müssen, während die Bevölkerungen altern.
Zweitens ist das Älterwerden, wie wir noch oft sagen werden, Gegenstand einer weit verbreiteten, ja praktisch universalen sozialen Stigmatisierung. Die Sozialgeschichte des Alterns ist beladen mit Klischees, von denen die meisten alternde Menschen herabwürdigen, indem sie ihnen Hässlichkeit, Inkompetenz und Nutzlosigkeit zuschreiben. Diese Stereotypen dringen auch in das Bewusstsein der alternden Menschen selbst ein und verfälschen ihre Selbstwahrnehmung und Selbsteinschätzung. Man denke an Myra Bradwell. Zu ihren Lebzeiten glaubten die meisten Menschen, einschließlich der meisten Frauen, dass Frauen, und vor allem jene, die verheiratet sind, nicht Anwältin sein könnten. Heute glauben fast alle zum Mittelstand gehörenden weißen und asiatischen Frauen, dass sie, auch wenn sie verheiratet sind, selbstverständlich Anwältinnen sein können, wenn sie hart arbeiten und über ein akademisches Talent verfügen, und praktisch sämtliche juristischen Fakultäten und Anwaltskanzleien stimmen ihnen zu. In dem Maße, in dem afro- und lateinamerikanische Frauen diese Selbstwahrnehmung nicht teilen, lässt sich dieser Unterschied auf irrige ethnische Vorurteile zurückführen, die bei potenziellen Arbeitgebern allmählich verschwinden, wenn auch etwas langsamer als aus der Mentalität möglicher Aspiranten. Wie könnten, da die modernen Gesellschaften gerade erst damit begonnen haben, ihre Vorstellungswelt hinsichtlich des Alterns neu zu bewerten, jegliche Verallgemeinerungen frei vom Einfluss von Stereotypen sein?
Und endlich ist eines der unheilvollsten aller Klischees über alternde Menschen, dass sie über keine Handlungsmacht verfügten, dass sie nur Opfer des Schicksals seien. Natürlich spielt das Schicksal eine Rolle, und normalerweise wissen wir nicht, wo oder wann. Aber es gibt auch viel Raum für aktive Entscheidungen, wie uns die Geschichte Lears mit ihren schlechten Entscheidungen und deren noch schlimmeren Folgen ermahnt. Wenn man alternden Menschen durch die Art, wie man sie beschreibt, ihre Handlungsmacht und Entscheidungsfreiheit raubt, entmenschlicht und objektiviert man sie auf eine besonders beleidigende Weise.
Wie könnte ein Buch über das Altern dem Problem der unklugen deskriptiven Verallgemeinerung entgegentreten, wenn nicht durch die Betrachtung einer kaleidoskopischen Vielfalt von Werken? Ein Weg bestünde darin, Literatur und Geschichte (und empirische Daten, wo solche existieren) dazu zu verwenden, eine Palette von Beispielen zu liefern, die dann auf ihre möglichen Gemeinsamkeiten untersucht werden könnten. Ein anderer Weg wäre das Schreiben in Dialogform, sodass die Schlussfolgerungen einem bestimmten Charakter oder bestimmten Charakteren und nicht unbedingt dem Autor zuzuschreiben wären. Die Versuchung der vorschnellen Verallgemeinerung geistert jedoch durch beide von mir angeführten Werke, welche die einzigen bedeutenden philosophischen Abhandlungen der abendländischen Tradition über unser Thema sind.
Auf den Text von Cicero werde ich in Kapitel 3 genauer eingehen. Cicero sieht das Problem und geht bis zu einem gewissen Punkt sehr gut darauf ein. Über das Altern ist voll von lebhaften Diskussionen über die Vielfalt der Reaktionen auf das Altern. Das Buch verwendet die Dialogform, um die Grenzen der darin zum Ausdruck gebrachten Verallgemeinerungen zu kommentieren: Cato wird behutsam für einige seiner Besessenheiten bespöttelt (zum Beispiel, was die Förderung der Gesundheit durch Gartenarbeit betrifft). Doch ich werde behaupten, dass Ciceros Briefe uns viel mehr vom wirklichen Wesen und der Vielfalt des Alterns zu erkennen geben, von Komplexitäten, die die Abhandlung aus dem Blickfeld fernhält.
Als meinem Paradebeispiel für die Gefährlichkeit philosophischer Verallgemeinerungen möchte ich mich nunmehr jedoch Beauvoirs La Vieillesse zuwenden (das ins Englische irreführend mit The Coming of Age übersetzt wurde, obwohl es lediglich Das Alter bedeutet).10 Das Buch wurde 1970 veröffentlicht. 1974 folgten ihm Gespräche, die schließlich als Les Adieux veröffentlicht wurden, wobei es sich um eine Reihe von Dialogen mit Jean-Paul Sartre (1905 – 1980) handelt. (Ins Deutsche übersetzt als Die Zeremonie des Abschieds und Gespräche mit Jean-Paul Sartre.)11
Das Alter ist ein sehr umfangreiches Buch: In der englischen Übersetzung hat es 585 Seiten, im Gegensatz zu Ciceros prägnantem Text von etwa 50 Seiten. Wie in Das andere Geschlecht stellt Beauvoir gern alle möglichen Beispiele aus Literatur und Geschichte zusammen, die sie nicht besonders gut sortiert, was einen chaotischen Eindruck machen kann. Doch wie in jenem berühmten Buch liefert sie auch in Das Alter jede Menge nützliche Informationen. Der erste Teil des Buches ist wertvoll, da er empirische Tatsachen über das tatsächliche Leben alternder Männer und Frauen in Frankreich liefert, speziell solcher, die nicht wohlhabend sind, und insbesondere über die deprimierenden Bedingungen in Pflegeheimen.
In der zweiten Hälfte des Buches wendet sich Beauvoir der subjektiven Erfahrung des Alters zu.12 Wie die finnische Philosophin Sara Heinämaa in einer überzeugenden und einsichtsvollen Interpretation ausführt, lehnt sie sich eng an die phänomenologische Methode Edmund Husserls an, die den Philosophen bei der Suche nach wesentlichen Verallgemeinerungen auf die Introspektion verweist. Das man jemandem etwas zu verdanken hat, ist jedoch keine Entschuldigung. Husserls Methode mag einige Phänomene sehr gut beleuchten, aber es muss dennoch gefragt werden, ob sie sich auf dem Gebiet des Alterns, einem wahren Minenfeld von Gefahren, ebenfalls bewährt. Ich werde meine Schlussfolgerung im Voraus verkünden: Dies ist eines der groteskesten berühmten philosophischen Werke, die ich jemals gelesen habe. Es ist grotesk aus allen drei Gründen, die ich angeführt habe: Es tritt die Vielfalt mit Füßen, es wertet kontingente und abfällige Klischees auf, und es beraubt alternde Menschen ihrer Handlungsfähigkeit.
Beauvoir hat darüber, wer ich bin, das Folgende zu sagen. (Sie gibt nicht genau an, über welches Alter sie spricht, aber die Analyse in Teil I scheint mit dem 65. Lebensjahr einzusetzen, dem Alter, in dem man traditionellerweise zum Eintritt in den Ruhestand gezwungen wurde.) Altern ist weder graduell noch fortschreitend: Es kommt in Form einer plötzlichen Erkenntnis. Der grundlegende Inhalt dieser „Überraschung“, „Metamorphose“ oder „Offenbarung“ ist, dass sich die Art und Weise, wie man früher von anderen erlebt wurde, eine Art und Weise, die Teil der eigenen subjektiven Identität geworden ist, plötzlich dramatisch zum Schlechteren verändert hat. Auf einer Ebene mag man sich innerlich noch jung fühlen, doch indem man plötzlich die Geringschätzung der Gesellschaft wahrnimmt, erlebt man eine dramatische subjektive Veränderung, da dieses Gesehenwerden auch ein Teil dessen darstellt, wer man subjektiv ist.
Machen wir hier eine Pause. Woher stammt die Plötzlichkeit? Vielleicht denkt sie an eine erzwungene Pensionierung, die die soziale Bedeutung eines Menschen gewiss plötzlich verändern kann, doch dies ist ein rein zufälliges Phänomen, und wohl kaum eines, das uns das Wesen von irgendetwas erschließt. Und warum, so würde ich gerne wissen, sollte ich es einer französischen Philosophin, die sieben Jahre jünger ist, als ich es jetzt bin (69), erlauben, mir den Sinn meines Lebens als Philosophin im 21. Jahrhundert mitzuteilen? Ich erkenne meine eigenen Erfahrungen darin überhaupt nicht wieder, ebenso wenig wie die meiner Freunde in ähnlichem Alter. Dies liegt zum Teil daran, dass sich viele Dinge verändert haben, da wir ein besseres Verständnis von Gesundheit und Ernährung entwickeln. Doch es ist auch so, dass es schon immer eine große Mannigfaltigkeit gab. Beauvoir beansprucht eine wesentliche Einsicht, indem sie versucht, mich dazu zu bringen, zu sagen: „Oh je, so muss ich mich fühlen, ob es mir bewusst ist, oder nicht.“ Verzeihung: nein. Es tut mir leid, dass sie nicht glücklich ist, aber warum sagt sie nicht einfach: „Ich mache folgende traurige Erfahrungen?“ Was mich selbst betrifft, so fühle ich mich gesund und kräftig, und ich wurde wahrscheinlich nie mehr bewundert als jetzt, obwohl ich zugeben muss, dass mir nicht mehr so viel an der Ehrerbietung anderer liegt, wie mir nach Beauvoir daran liegen müsste.
Richter Bradley würde sagen: „Aber Martha, Hillary und ein paar andere sind Ausnahmefälle, wir können Gesetze nicht auf Ausnahmen gründen.“ Es tut mir leid, ich lehne das vollkommen ab. Die meisten Menschen meines Alters, die ich kenne, sind kraftvoll und stehen mitten in sie umfassend beanspruchenden Lebensaktivitäten, seien es solche meiner Art oder nicht. Natürlich wurden einige von Krankheiten heimgesucht, aber das kann in jedem Alter passieren, wie Cicero zu Recht bemerkt. Beauvoirs Wesensbehauptungen verraten nicht nur eine irritierende Neigung der Franzosen, anderen Menschen zu sagen, worin die richtige Art und Weise besteht, dies oder jenes zu sein (eine Frau, ein Bürger).13 Sie haben ein tieferes Problem. Zufälligerweise entsprechen sie nur allzu gut bekannten abfälligen Klischees der Gesellschaft, und mittlerweile, da es jetzt genug alternde Menschen gibt, die diese Stereotypen in Frage stellen, beginnen wir sie als das zu erkennen, was sie sind. Geteilte Erfahrungen bestärken sich gegenseitig, und die Generation der Babyboomer hat sich schlicht geweigert, sich durch diese Fiktionen von gestern definieren zu lassen.
Ich halte ihr Buch daher für noch schlimmer als nur grotesk: Ich sehe es als einen Akt der Zusammenarbeit mit sozialer Stigmatisierung und Ungerechtigkeit. Es ist, als ob ein Jude ein Buch schreiben würde, welches behauptet, das Wesen der Juden bestehe darin, dass sie das Leben als körperlich schwache, unheroische, zu Kreativität unfähige Wesen erleben, die lediglich zu niederträchtigen Intrigen, nicht aber zu tiefen Einsichten fähig sind. Doch halt: Das Buch wurde bereits geschrieben – von Otto Weininger! Weiningers Geschlecht und Charakter (1903) war einst die Bibel der europäischen Intellektuellen, und die Tatsache, dass er selbst Jude war, veranlasste viele Menschen dazu, ihm zu glauben, als er ihnen das Wesen der Juden erklärte. Dennoch handelt es sich um ein Stück grotesker Propaganda. Man könnte sich auch ein Buch eines Afroamerikaners vorstellen, der sagt, Afroamerikaner erlebten sich selbst als im Wesentlichen gewalttätig, bereit zu vergewaltigen und zu töten. Nochmals halt: Auch dieses Buch wurde bereits, zumindest teilweise, geschrieben, und zwar in dem Abschnitt der Autobiographie des Richters Clarence Thomas, in dem er zugibt, dass er sich mit Richard Wrights gewalttätigem Helden Bigger Thomas identifiziert.14 Kurzum: Wir sollten Verallgemeinerungen nicht einfach deshalb glauben, weil ihr Autor zur stigmatisierten Gruppe gehört. Solche Beschreibungen können durch „adaptive Präferenzen“ oder sogar durch Selbsthass beeinträchtigt werden.
Das dritte und größte Problem mit Beauvoirs behaupteten Einsichten in das Wesen des Alters ist ihr düsterer Fatalismus, der der alternden Person keinerlei Handlungsfähigkeit zugesteht. Das Alter kommt als eine Metamorphose. Es stößt einem einfach zu. Ciceros Gesprächspartner Cato ist viel scharfsinniger: Er sieht ein, dass man sich in gewisser Weise sein Schicksal schafft, durch die eigene Disziplin, regelmäßiges körperliches Training, Ernährung, Lesegewohnheiten, Gespräche und Freundschaften. Selbst der alternde Körper ist keine rein faktische Gegebenheit: Er umfasst vielmehr eine Reihe von Möglichkeiten, die man auf viele verschiedene Arten verwirklichen kann. Wenn Menschen älter werden, müssen sie möglicherweise regelmäßiger trainieren, um das gleiche Maß an Muskelfitness zu erhalten. Aber diese Idee, die bereits Cato hatte, unterscheidet sich völlig von Beauvoirs Vorstellung eines einheitlichen Schicksals, das jeder passiv erleidet. Natürlich kann man sich nicht unsterblich machen, aber man kann viel tun, um glücklicher, kräftiger und aktiver zu sein.
Das Absprechen von Handlungsfähigkeit bringt möglicherweise eine eigenartige europäische Lebenseinstellung zum Ausdruck, ebenso wie meine Betonung von Arbeit und körperlichem Training sehr amerikanisch ist. Aber auch diese Beobachtung bezichtigt dieses die Wahrheit entstellende Buch der Lüge. Wenn sie einfach gesagt hätte: „Als Französin einer bestimmten Epoche wurde ich dazu erzogen, so und so zu denken“, könnte ich ihr kaum etwas vorwerfen – obwohl mir auffällt, dass selbst in Frankreich Frauen in meinem Alter nicht mehr eine solche Einstellung zu haben scheinen. Was mich betrifft, so bin ich froh, dass ich in einem Land lebe, in dem, wenn man mit einer Laufverletzung zu einem Physiotherapeuten geht, dieser einem nicht sagt: „Sie sind zu alt, um zu laufen“, sondern „Sie machen zu wenig Grundtraining, und wie wäre es mit einer Kräftigung der Fußgelenke?“ Trotzdem, hätte sie ihre Erfahrung einer ungerechten Hintergrundkultur zugeschrieben, hätte ich mich kaum beschweren können. Wenn sie hingegen vorgibt, mir zu sagen, wer ich bin und wie ich mein Leben wahrnehme, muss ich dem Beispiel jener Muslime folgen, die gegen Terrorakte protestiert haben, und antworten: „Nicht in meinem Namen.“
Beauvoir sieht einen schmalen Weg der Handlungsfähigkeit – jedoch nur für einige Menschen. „Es gibt nur eine Lösung, wenn das Alter keine lächerliche Parodie unserer früheren Existenz sein soll, und die besteht darin, weiterhin Ziele zu verfolgen, die unserem Leben einen Sinn geben: die Hingabe an Individuen, an Gruppen, an gute Zwecke sowie an soziale, politische, intellektuelle oder kreative Arbeit“. Diese Beschreibung scheint es den meisten Menschen, ja allen, die nicht an einer schweren Demenz leiden, zu ermöglichen, einen Weg zur Ausübung ihrer Handlungsfähigkeit zu finden. Und sie fügt hinzu, dass eine Art, eine Zukunft zu haben, darin besteht, einen Beitrag für zukünftige Generationen zu leisten. In Das Alter gibt es jedoch bereits Hinweise darauf, dass sie diesen Ausweg nur als Möglichkeit für außergewöhnliche Menschen wie Künstler und Denker sieht. „Das Leben der Mehrzahl alter Menschen ist unfruchtbar, und sie verbringen es in Isolation, Wiederholung und Langeweile.“15Ihre Position wird in der Zeremonie des Abschieds noch klarer. Sartre vertritt die Position, dass Menschen durch jede Art von kooperativer Aktivität einen politischen oder sozialen Beitrag zu künftigen Generationen leisten können. (Er bestreitet, dass Künstler und Intellektuelle einen derartigen Beitrag leisten: Ihre Werke, so behauptet er, seien auf persönliche und nicht auf gesellschaftliche Ziele gerichtet.) Beauvoir besteht darauf, dass eine die Generationen überschreitende Zukunft nur für außergewöhnliche Persönlichkeiten wie Künstler und Intellektuelle möglich ist.16
Ich würde sagen, dass beide sich unverantwortlicher Verallgemeinerungen schuldig gemacht haben: Beauvoir durch die persönliche Bedeutung, die sie intellektueller Arbeit beimisst, Sartre dadurch, dass er politischem Handeln so verhaftet ist. Beide sind in ihrer abgehobenen Art des Bohémiens kurzsichtig. Keiner von beiden glaubt, dass die Unterstützung der Erziehung von Kindern und Enkelkindern ein sinnvoller Weg ist, etwas zur Welt beizutragen. (Sie lehnt die Idee brüsk ab, er erwähnt sie nicht einmal.) Und wie steht es um generationenübergreifende Freundschaften mit jüngeren Kollegen, mit Studenten, den Kindern und Enkeln anderer Menschen? Was ist mit der Sorge um den Planeten und nichtmenschliche Tiere? Was ist mit der Arbeit, die weniger außergewöhnliche Menschen regelmäßig in alle möglichen wertvollen Projekte, an die sie glauben, investieren: durch ehrenamtliche Arbeit und Fundraising während ihres Lebens oder in Form von Vermächtnissen nach ihrem Tod? In Kapitel 8 werde ich auf Altruismus eingehen, aber es scheint höchst seltsam, dass sie diese Fälle nicht berücksichtigen. Vielleicht schien es einfach zu kapitalistisch auf dem Sterbebett ein Gespräch über Geld zu führen.