Gert - Unter Piraten - Harald Jacobsen - E-Book

Gert - Unter Piraten E-Book

Harald Jacobsen

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Beschreibung

Diese werkgetreue Umsetzung als Roman umfasst den kompletten Inhalt aus den Kolibri-Comicheften 1-24 von Hansrudi Wäscher. Gert Randolf ist ein dreizehnjähriger Junge, der im frühen 15. Jahrhundert in Lübeck lebt. Wie viele Jungen in seinem Alter träumt er davon, einst selbst als berühmter Kapitän zur See zu fahren und wilde Abenteuer zu erleben. Gert ahnt nicht, wie schnell sein Wunsch in Erfüllung gehen soll. Als er Kapitän Stürmer, einem Weggefährten Störtebekers, einen Wunsch erfüllt, zieht der Pirat den Jungen in ein großes Abenteuer. Gert wird Schiffsjunge und kämpft nicht nur gegen Orkane und Haie, sondern auch gegen Meuterer. Er findet neue Freunde und bewährt sich in schweren Kämpfen. Auch sein Freund Peter, der ihn in diese Abenteuer begleitet, muss sich beweisen. Am Ende geht es um einen sagenhaften Schatz des berüchtigten Piraten Claus Störtebeker.

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Seitenzahl: 207

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IMPRESSUM

Originalausgabe Mai 2020

Charakter und Zeichnung: Gert © Hansrudi Wäscher / becker-illustrators,

unter Zuhilfenahme von inhaltlichen Einfällen von Rasmus Jagelitz

Text © Harald Jacobsen

Copyright © 2020 der E-Book-Ausgabe Verlag Peter Hopf, Petershagen

Korrektorat: Andrea Velten, Factor 7

Redaktionelle Betreuung: Ingraban Ewald

Umschlaggestaltung: etageeins, Jörg Jaroschewitz

Hintergrundillustration Umschlag: © fyletto – depositphotos.de

ISBN ePub 978-3-86305-162-4

www.verlag-peter-hopf.com

Hansrudi Wäscher wird vertreten von Becker-Illustrators,

Eduardstraße 48, 20257 Hamburg

www.hansrudi-waescher.de

Alle Rechte vorbehalten

Die in diesem Roman geschilderten Ereignisse sind rein fiktiv.

Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Begebenheiten, mit lebenden oder verstorbenen Personen wäre rein zufällig und unbeabsichtigt.

INHALT

VORWORT

PROLOG

EINS

ZWEI

DREI

VIER

FÜNF

SECHS

SIEBEN

ACHT

NEUN

ZEHN

ELF

ZWÖLF

DREIZEHN

VIERZEHN

FÜNFZEHN

SECHZEHN

SIEBZEHN

ACHTZEHN

NEUNZEHN

ZWANZIG

EINUNDZWANZIG

 

 

HARALD JACOBSEN

Gert – Unter Piraten

 

 

VORWORT

 

Kaum ein Jahr, nachdem Walter Lehning die aus Italien übernommenen Streifenhefte als »Piccolos« erfolgreich an den Westdeutschen Kiosken etabliert hatte, versuchte er sich ab Herbst 1954 an einem weiteren ungewöhnlichen Format: Die »Kolibris«, Ausgaben etwa in Vokabelheftgröße, schilderten, wiederum auf 32 Seiten und meist 1-2 Bildern pro Seite, weitere spannende Comic-Abenteuer in Fortsetzungen.

Neben Lizenzausgaben (»Falkenauge«, »Der schwarze Reiter«) war hier auch Hansrudi Wäscher, der sich in dieser Zeit immer mehr zum Erfolgsgaranten und »Mann für alle Fälle« des Verlags entwickelte, von Anfang an mit einer neuen Serie vertreten: »Jörg« hieß zunächst die Reihe, die, für ihre Entstehungszeit, ziemlich realistisch in einer der düstersten Epochen Deutscher Geschichte, dem 30-jährigen Krieg, angesiedelt war. Eben dieser Realismus war es aber auch, der das baldige Ende dieser Serie besiegelte – denn so etwas musste in den 1950er Jahren die gefürchtete »Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften« auf den Plan rufen! Also wurde »Jörg« schon mit Heft 20 abgebrochen, ohne dass das Versprechen des Untertitels, »vom Trossbuben zum General«, auch nur annähernd eingelöst werden konnte …

Allerdings starteten Wäscher und sein damaliger Co-Texter Rasmus Jagelitz dann auch ebenso schnell und nahtlos eine Nachfolgeserie: »Gert« hieß der Lübecker Junge, der auf abenteuerliche Weise in den Besitz einer Schatzkarte gelangte und den Schatz dann schließlich, nach großen Gefahren und 24 Kolibri-Heften, bergen konnte. Ein Grundplot, den die Autoren ganz offensichtlich einem der wohl bekanntesten Abenteuerromane aller Zeiten, Robert Louis Stevensons »Treasure Island«, entlehnt hatten.

Diese Anlehnung und das Ausweichen das unverfänglichere Seefahrt- und Piratengenre wurde der Reihe des Öfteren angekreidet, meines Erachtens jedoch völlig zu Unrecht: Denn einerseits ist es eben nur das Grundmotiv, das »Gert« mit der »Schatzinsel« gemeinsam hat, die einzelnen Handlungsabläufe und Charaktere sind ganz eigenständig gestaltet und mindestens ebenso spannend wie im Buch des berühmten Schotten. Das fängt damit an, dass Wäscher / Jagelitz ihre Geschichte in eine andere Zeit verlegen und auf den populärsten deutschen Seeräuber aller Zeiten, Störtebeker, Bezug nehmen. Zudem bekommt einen gleichaltrigen Gefährten, den dicklichen und etwas ungeschickten Peter, der dem Ganzen eine Humor-Dimension hinzufügt, sowie einen »großen, starken Freund«, den Matrosen Steffen, an die Seite gestellt – kluge Entscheidungen, die vielfältigere Interaktionen und packende Wendungen ermöglichen. Die Auseinandersetzungen auf dem Schiff, während der Reise zur Schatzinsel, stellen bei dieser Version sicherlich den erzählerischen Höhepunkt dar.

Vor allem aber, und das darf man nicht unterschätzen, markiert »Gert« m. E. den Wendepunkt in Wäschers Werk, an dem er endgültig davon Abstand nahm, historisch exakt verortete Geschichten erzählen zu wollen, und sich stattdessen ganz auf die Schilderung fiktiver, purer Abenteuer zu konzentrieren, deren Grenzen nur noch von seiner aber eigentlichen grenzenlosen Fantasie gebildet wurden. Aus meiner Sicht war das eine goldrichtige Entscheidung, denn genau darin lag seine Stärke, die ihn bis heute als Comic-Autor so unvergleichlich macht! So betrachtet, nimmt der »Gert« schon ein wenig von dem vorweg, was die HRW-Fans einige Jahre später an Serien wie »Nick«, »Tibor«, »Falk« oder dem »Sigurd« der Großbände begeistern sollte!

Vielleicht aber kommt dieser Reiz, diese Spannung der für Wäscher-Verhältnisse kleinen Serie in der vorliegenden Roman-Fassung, die von Profi-Autor Harald Jacobsen glänzend adaptiert wurde und mit der Verleger Peter Hopf seinem Ziel, zumindest den ganzen »Lehning-Wäscher« in dieser Form zu publizieren wieder ein Stück näher kommt, sogar besonders gut zur Geltung: Vor den Lesern liegt nicht mehr und nicht weniger als eine schnörkellose, packende Piratengeschichte, die auch 65 Jahre nach Entstehen der Comic-Vorlage nichts von ihrem Charme eingebüßt hat.

Viel Vergnügen damit!

 

Ingraban Ewald

März 2020

 

 

 

PROLOG

 

Diese Geschichte spielt zu der Zeit, als es noch Seeräuber gab und man von Dampfschiffen nichts wusste. Auf der Erdkugel gab es noch manches Land und manche Insel, die keines Menschen Fuß je betreten hatte. Damals lebte in Lübeck ein Junge von 13 Jahren, Gert Randolf, der, wenn er es nur irgendwie einrichten konnte, am Hafen war. Dort schaute er dem bunten Treiben zu. Sein sehnlichster Wunsch war, auch einmal auf einem großen Schiff zu fahren, viele Abenteuer zu erleben und endlich als geachteter Kapitän heimzukehren.

 

 

 

EINS

 

Eines Tages, als Gert gerade wieder einmal müßig am Hafen das bunte Treiben betrachtete, ereignete sich ein seltsamer Vorfall. Er pfiff leise vor sich hin und beobachtete die Schauerleute, die eines der Schiffe entluden.

»He, Junge. Kannst du mir eine Gefälligkeit tun? Willst du?«, rief ein Mann vom Oberdeck.

Gert schaute hinauf zum Rufer. War er gemeint? Sein Herz raste vor Aufregung. Tatsächlich. Der elegant gekleidete Herr schaute ihm direkt in die Augen.

»Ja, gern. Kann ich aufs Schiff kommen?«, erwiderte er.

»Meinetwegen«, lautete die lapidare Antwort des Rufers.

Gert eilte zur Planke, wartete dort eine Lücke bei den geschäftigen Schauerleuten ab und war dann mit wenigen Sätzen auf dem Oberdeck. Dort stand ein hochgewachsener Mann mit einem gezwirbelten Oberlippenbart, der Gert aus funkelnden Augen forschend musterte.

»Wie heißt du?«, fragte er.

»Gert Randolf.«

Der prüfende Blick schüchterte Gert zwar ein wenig ein, aber er hielt stand.

»Also gut, Gert! Ich bin der Kapitän dieses Schiffes und heiße Stürmer. Wir sind vor ein paar Stunden aus England gekommen«, sagte er.

Sie mussten einem Schauermann Platz machen, bevor der Kapitän weitersprechen konnte.

»Hier habe ich eine sehr wichtige Nachricht für einen Freund von mir. Da ich das Schiff nicht verlassen will, ehe die Ladung gelöscht ist, suche ich einen schnellen, verlässlichen Boten, der sich in Lübeck auskennt«, sagte er.

In seiner Rechten hielt Kapitän Stürmer einen Umschlag, der mit einem Wachssiegel versehen worden war.

»Das bin ich, Herr Kapitän!«, versicherte Gert eifrig.

Er musste einen weiteren forschenden Blick über sich ergehen lassen, bevor Kapitän Stürmer sich entschieden hatte.

»Nun gut! Hier hast du einen Schilling. Lauf und bring das Schreiben Herrn Stones, den du in der Hafenkneipe ›Zum Walfisch‹ findest«, erklärte er und überreichte Gert den Umschlag.

Der schob die Münze schnell in seine Hosentasche und ging von Bord. Gert eilte flink wie ein Wiesel an den geschäftigen Menschen im Hafen vorbei. Er kannte die Kneipe und wählte den kürzesten Weg dorthin. Er war glücklich, für einen Kapitän den Auftrag ausführen zu dürfen.

 

 

Wenig später erreichte Gert die Kneipe. Deftige Gesänge aus rauen Männerkehlen tönten bis hinaus auf die schmale Gasse davor. Gert wich einem Matrosen aus, der torkelnd durch die Eingangstür trat. Sein Herz hämmerte erneut in seiner Brust, doch dieses Mal mehr aus Angst als vor Aufregung. Gert hatte aber ein Versprechen abgegeben, also betrat er kurz entschlossen den verräucherten Gastraum. Sein Blick blieb an einem von der Decke baumelnden Schwertfisch hängen, während er wegen des beißenden Tabakrauches zu husten begann. Gert zuckte zusammen, als eine derbe Hand sich schwer auf seine Schulter legte.

»Hallo, was hat sich denn da für ein seltsamer Vogel zu uns verirrt?«, rief eine dunkle Männerstimme.

Gert fuhr herum und erwiderte den spöttischen Blick eines Mannes, der nach Matrosenart ein Tuch auf dem Kopf gebunden hatte.

»Komm her, sollst auch einen Schnaps haben«, rief ein anderer Mann mit einem Grinsen im Gesicht.

Gert hustete erneut.

»Gebt ihm Milch, Herr Wirt. Da kommt ein Säugling«, mischte sich der Matrose lautstark ein und ließ anschließend ein höhnisches Gelächter hören.

Weitere Gäste des ›Walfisch‹ schauten Gert mit verhangenen Augen an. Zum Glück hatte er sich mittlerweile ans Dämmerlicht gewöhnt, und der Husten war auch vorbei. Dafür setzte ihm der schwere Alkoholdunst sehr zu, sodass er kaum einen klaren Gedanken fassen konnte. Trotzdem setzte Gert sich in Bewegung. Er kam jedoch nicht sehr weit, denn nach nur wenigen Schritten stellte sich ihm ein bärenstarker Matrose in den Weg. Er schaute aus tückischen Augen hinab in Gerts Gesicht, der mit flauem Gefühl in der Magengrube die breiten Schultern sowie die schwieligen Fäuste des Matrosen zur Kenntnis nahm.

»Was willst du hier, hm? Das ist ein Lokal für Männer und nicht für Babys«, sagte der Mann.

Es klang wie das bedrohliche Grollen eines nahenden Gewitters. Gert sammelte seinen Mut und gab Antwort.

»Ich soll diesen Brief hier Herrn Stones übergeben. Der Kapitän …«, setzte er an.

Bevor er zu Ende sprechen konnte, riss ihm der Matrose blitzschnell das Schreiben aus der Hand.

»So! Jetzt habe ich den Brief. Nun gib ihn doch Herrn Stones, wenn du kannst!«, höhnte er und feixte dabei herausfordernd.

Sein spöttisches Lachen traf Gert ins Mark. Eine wilde Wut erfasste den Jungen, der sich mit einem Satz auf den Matrosen stürzte. Seine Fäuste trommelten auf den Magen des viel größeren Mannes ein.

»Gebt das Schreiben her! Es gehört nicht Euch!«, brüllte Gert dabei.

Doch der Matrose wankte nicht einmal. Stattdessen verhöhnte er weiter aus vollem Hals die sinnlosen Bemühungen des Jungen.

»Das ist zum Lachen! Da will eine Maus einen Elefanten angreifen«, stieß der Matrose zwischen wieherndem Gelächter hervor.

Er war so von sich überzeugt, dass er triumphierend in die Runde schaute. Ehe der Matrose sich versah, sprang Gert hoch und griff sich das Schreiben aus der Rechten des Mannes.

»Herr Stones! Herr Stones!«, rief er und zwängte sich eilig zwischen den eng stehenden Tischen hindurch.

Gerts Blick huschte über die Gesichter der Gäste.

»Warte, Bürschchen!«, brüllte der Matrose wutentbrannt.

Er versuchte, dem Jungen zu folgen, doch Gert war wesentlich kleiner und flinker. Dennoch kam er ihm gefährlich nahe. Gerade als der Matrose seine Pranke nach der schmalen Schulter des Jungen ausstreckte, meldete sich ein Mann mit einer auffälligen Narbe an der rechten Wange zu Wort.

»Was gibt es? Hier bin ich«, sagte er.

Voller Erleichterung streckte Gert dem Mann das Schreiben hin.

»Mit Verlaub, Herr Stones. Ich soll Ihnen dieses Schreiben von Kapitän Stürmer überbringen«, stieß er aufgeregt hervor.

Dabei spürte er den heißen Atem des wütenden Matrosen in seinem Nacken und duckte sich unwillkürlich. Gert rechnete jeden Augenblick damit, dass er dessen grobe Faust zu spüren bekam.

»Treyser, lasst den Jungen in Ruhe! Ihr wisst doch, dass ich Eure derben Späße nicht mag«, wandte Herr Stones sich barsch an den Matrosen in Gerts Rücken.

Der brummte etwas Unverständliches, zog sich dann aber tatsächlich zu Gerts Erleichterung zurück. Stones schob den Jungen mit einer Hand vor sich her zu einer Tür im hinteren Bereich der Kneipe.

»Ah – Kapitän Stürmer? Ist er wieder hier? Warum kommt er nicht selbst?«, fragte er gleichzeitig.

Offenbar bemerkte er die Verwirrung bei Gert, denn er legte seinen Arm um den Jungen.

»Nun, egal. Komm, folge mir hier hinein. Ich will die Nachricht lesen. Vielleicht kannst du eine Antwort überbringen«, plauderte er weiter, während er den Jungen ins Hinterzimmer schob.

An der Tür wandte Herr Stones sich um, warf prüfende Blicke zurück in den Gastraum, bevor er sie schloss. Gert betrachtete die Regale an den Wänden, auf denen Flaschen mit Schnaps neben Trinkgefäßen lagerten. Durch ein schmales, vergittertes Fenster rieselte Tageslicht in den Raum. Nachdem Herr Stones die Tür geschlossen hatte, deutete er auf einen Stuhl vor einem aus massivem Holz gezimmerten Tisch.

»Hier sind wir ungestört. Setz dich. Ich will lesen, was es gibt«, sagte er.

Gert kam der Aufforderung nach und blieb stumm, während Herr Stones das Siegel am Brief erbrach und den Inhalt studierte. Sein wacher Blick huschte über die Zeilen, von deren Inhalt er jedoch kein Wort an Gert verriet. Kapitän Stürmer forderte Stones darin auf, sich den Jungen genau anzusehen. Er vermutete, dass Gert sich für einen nicht näher bezeichneten Zweck ausgezeichnet eignen würde. Der Kapitän wies Stones weiter an, den Jungen irgendwie gefügig zu machen und um Schlag neun Uhr am vereinbarten Treffpunkt zu erscheinen. Herr Stones faltete das Schreiben schließlich wieder zusammen und verbarg es unter seinem Wams.

»Der Kapitän hat mir eine sehr wichtige geschäftliche Mitteilung gemacht«, erklärte er vage Gert gegenüber.

Der erhob sich und machte Anstalten, das Hinterzimmer zu verlassen. Auch Herr Stones stand auf und hielt Gert mit einer Geste zurück.

»Willst du schon gehen? Warte doch! Du musst doch deinen Botenlohn bekommen«, rief er.

Gert schüttelte abwehrend den Kopf.

»Danke. Aber Kapitän Stürmer hat mir bereits einen Schilling geschenkt«, erklärte er.

Zu seiner Verblüffung lachte Herr Stones amüsiert auf.

»Einen Schilling?«, fragte er und lachte erneut.

Gert schaute Herrn Stones fragend an.

»Das ist wahrlich wenig. Nun ja, Stürmer ist ein Geizkragen. Ich will dir fünf blanke Goldstücke geben. Das ist mir die Nachricht wert«, sagte der.

Gert mochte sein Glück kaum fassen. Fünf Goldstücke? Das war ein kleines Vermögen für einen dreizehnjährigen Jungen wie ihn.

»Fünf Goldstücke? Oh … Danke, Herr Stones«, stammelte er fassungslos.

Doch da legte der Mann mit der Narbe seine Rechte auf den Oberarm von Gert und drückte ihn zurück auf den Stuhl.

»Langsam, junger Mann. Noch hast du sie nicht. Erst wirst du mit mir ein Glas Rum trinken, wie das richtige Seeleute tun«, erklärte Herr Stones.

Für Gert tat sich ein Dilemma auf. Er hatte noch nie einen Schluck Rum getrunken, aber er wollte natürlich Herrn Stones nicht verärgern. Außerdem gehörte es ja wohl zum Leben eines Seemannes dazu, wie der Mann mit der Narbe eindeutig gesagt hatte. Also schluckte Gert seine Bedenken hinunter und ließ Herrn Stones gewähren.

 

*

Schon kurze Zeit später war der arme Junge so betrunken, dass er mit dem Kopf auf der Tischplatte den ungewohnten Rausch ausschlief. So bemerkte er nicht, wie Herr Stones ihm hinterlistig einen Beutel mit Geld in die Hosentasche praktizierte. Gert wurde erst wieder halbwegs wach, als Herr Stones die Tür des Hinterzimmers aufriss und sich in gespielter Aufregung an die anderen Gäste wandte.

»Hilfe! Hilfe! Diebe! Fasst ihn«, brüllte er aus Leibeskräften.

Gert rieb sich die Augen, suchte nach dem angeblichen Dieb. Doch außer ihm war nur noch Herr Stones im Hinterzimmer. Er stand verwirrt auf, versuchte sich einen Reim über diese Aufregung zu machen.

»Was schreit Ihr so? Was gibt’s?«, wollten die alarmierten Gäste wissen.

Als mehrere von ihnen ins Hinterzimmer kamen, deutete Herr Stones anklagend auf den völlig überrumpelten Gert.

»Da, dies saubere Bürschchen hat mich bestohlen! Mir fehlt ein ganzer Beutel Geld. Durchsucht ihn doch!«, beschuldigte der Mann ihn.

Schlagartig wurde Gert wieder nüchtern, erfasste die ungeheuerliche Anschuldigung voller Schrecken.

»Was soll ich sein? Ein Dieb?«, kam es heiser über seine Lippen.

Bevor er sich widersetzen konnte, packte einer der Matrosen den Jungen. Einer der anderen Gäste durchsuchte Gerts Taschen und hielt gleich darauf einen Beutel mit klimpernden Münzen in die Höhe.

»Tatsächlich! Da ist der Beutel«, rief er aus.

Gert starrte voller Unglauben darauf. Er verstand nicht, was hier gerade mit ihm geschah.

»O, du undankbares Geschöpf! Bestiehlst deinen besten Freund!«, brach es aus dem sichtlich erschütterten Herrn Stones hervor.

Für Gert brach eine Welt zusammen. Er, ein Dieb? Niemals!

»Glaubt mir, ich habe nicht gestohlen. Ich weiß nicht, wie das Geld in meine Tasche kommt!«, rief er voller Entsetzen.

Doch sein nach Hilfe flehender Blick traf nur versteinerte Mienen. Mit der Entdeckung des Beutels in seiner Hosentasche war für die Männer der Beweis seiner Schuld erbracht. Voller Scham senkte Gert den Kopf.

»O, dieser abgefeimte Lügner! Komm, sofort zur Wache mit dir!«, stieß Herr Stones hervor und packte den zutiefst erschütterten Gert am Arm.

Der ließ sich willenlos ins Freie führen. Erst, als sie dort in der Gasse vorm ›Walfisch‹ standen, drehte Gert sich voller Panik zu Herrn Stones um. Es war spät geworden. Im Schein einer Laterne schaute er seinem Peiniger ins Gesicht.

»Lasst mich, Herr Stones. Ich habe es wirklich nicht getan! Bringt mich bitte nicht zur Wache«, beschwor er ihn.

In seiner Panik bemerkte Gert nicht das triumphierende Aufleuchten in den heimtückischen Augen des Mannes. Für Stones war der Plan aufgegangen, und daher mimte er nun den Nachsichtigen.

»Hm – man sollte wirklich kein Mitleid mit dir haben, aber ich habe ein zu weiches Herz. Also gut. Wenn du mir einen Gefallen tun willst, werde ich von einer Anzeige absehen«, sagte er.

Ein heller Strahl der Hoffnung ließ Gerts Augen aufleuchten.

»O ja. Ich will alles tun, was Ihr verlangt. Aber bringt mich nicht zur Wache«, antwortete er sofort.

Herr Stones quittierte es mit einem zufriedenen Lächeln.

»Gut. Ich wusste, dass du ein vernünftiger Junge bist. Komm jetzt. Es ist gleich neun Uhr«, sagte er.

Gehorsam folgte Gert ihm durch das Gewirr von Gassen und vernahm gerade, wie die Uhr der Marienkirche neunmal schlug, als sie an einer kleinen Kreuzung anhielten. Aus dem Schatten eines großen Lagerhauses löste sich die Gestalt eines Mannes. Als er in den Schein einer Laterne trat, erkannte Gert ihn.

»Da seid Ihr ja«, stellte Kapitän Stürmer fest.

Nicht nur die anhaltende Betäubung durch den ungewohnten Alkoholkonsum, auch die tief empfundene Scham über den Vorwurf, ein Dieb zu sein, hinderten Gert am klaren Denken. Der Kapitän entzündete eine Handlaterne und hielt sie so, dass ein kleiner Spalt im Tor zum Lagerhaus erkennbar wurde. Vielleicht gerade breit genug, um einen Jungen von Gerts Statur hindurchgleiten zu lassen. Das große Gebäude lag ruhig in der es umgebenden Dunkelheit. Außer den beiden Männern und Gert ließ sich kein anderes Lebewesen in der Gasse blicken. Nicht einmal eine der vielen streunenden Katzen Lübecks.

»Höre, was wir dir jetzt sagen!«, verlangte Herr Stones.

Gert hob den Blick. Gleichzeitig drückte ihm der Kapitän die Laterne in die Hand.

»Hier! Nimm!«, befahl er.

Herr Stones deutete auf den Spalt am Tor.

»Du kletterst hier hinein. Das Lagerhaus gehört Kapitän Stürmer. Er hat aber leider seinen Schlüssel vergessen. Es besteht also keine Gefahr«, sagte er.

Gert hörte aufmerksam zu.

»Pass auf! Drinnen wirst du Fässer, Ballen und alle möglichen Waren finden. Die kümmern dich aber nicht. In einer Ecke stehen drei Kisten. Auf diese musst du achten. Eine davon trägt ein schwarzes Kreuz. Hier hast du ein Brecheisen. Öffne die Kiste damit«, befahl er Gert.

Der nickte und schaute dann zum Kapitän, der ihn am Oberarm gepackt hatte und sich zum Jungen hinüberbeugte.

»Ja, öffne diese Kiste. Darin wirst du ein in Segeltuch geschlagenes Paket finden. Dieses bringst du uns. Wir warten hier auf dich!«, sagte er mit gebieterischer Stimme.

Vermutlich lag es an der kühlen Abendluft, dass Gerts Sinne sich langsam klärten. Er ahnte auf einmal, dass hier etwas nicht stimmte.

»Aber … Nein!«, protestierte er daher.

Da packte ihn Herr Stones mit festem Griff an der Schulter und funkelte Gert warnend an.

»Keine Widerworte, Junge. Sonst melde ich dich der Wache. Du weißt, wie man Diebe zu behandeln pflegt. Nun rasch ans Werk!«, mahnte er mit kalter Stimme.

Gerts Widerstand brach umgehend in sich zusammen, und so drückte er sich mit der Laterne in der Hand durch den Spalt. Im begrenzten Schein davon versuchte er sich zunächst im Lagerhaus zu orientieren. Gert ging neben mehreren Kisten in die Hocke und suchte nach dem schwarzen Kreuz.

 

*

Gleichzeitig standen die beiden Männer im Schatten des Gebäudes und warteten auf die Rückkehr des Jungen.

»Ich will hoffen, dass der Junge den Diebstahl ausführt. Sollte er dabei erwischt werden, so sind wir beide außer Verdacht«, kommentierte Herr Stones mit einem harten Lachen die Situation.

Da legte Kapitän Stürmer seine Rechte auf die Schulter seines Kumpans.

»Das Paket enthält den Nachlass des Schiffszimmermannes der ›Anna‹, die vor fünf Jahren vor unserer Küste gesunken ist«, sagte er.

Herr Stones nickte mehrfach.

»Die ›Anna‹ war ein Seeräuberschiff unter Führung von Störtebeker. Irgendwo im südlichen Ozean hat er seine Schätze auf einer Insel versteckt, und das Paket, das der Junge uns bringen soll, enthält den Plan und die Seekarten«, rief ihm der Kapitän in Erinnerung.

»Wir wären gemachte Leute, wenn es uns gelänge, ein Schiff auszurüsten und den Schatz zu heben«, warf Herr Stones mit gieriger Stimme ein.

»Ja. Aber nur, wer den Plan hat, kann Hoffnung haben, den Platz zu finden«, sagte Kapitän Stürmer.

 

*

Im Lagerhaus war Gert endlich bis zu den drei Kisten vorgedrungen, die er suchen sollte. Im Schein der Handlaterne entdeckte er das schwarze Kreuz und atmete erleichtert auf. Er stellte die Laterne auf einer Tonne ab, nahm die Brechstange zur Hand und versuchte, den zugenagelten Deckel aufzuhebeln. Es war viel schwerer als erwartet, sodass Gert seine Anstrengungen deutlich verstärken musste. Die Muskeln seiner Arme begannen bereits zu brennen, und der Schweiß lief ihm in die Augen, als plötzlich der Deckel mit einem knirschenden Geräusch aufsprang. Schwer atmend ließ Gert das Eisen fallen und begann, den Inhalt der Kiste zu durchwühlen. Dann fand er das Gesuchte und richtete sich auf. Da ist das Paket, nun will ich schnell zurück zum Kapitän, dachte er voller Erleichterung. Gerade als Gert zur Laterne greifen wollte, tauchte neben einem der Kistenstapel eine Gestalt auf. Erschrocken fuhr Gert zurück und ließ dabei das Bündel fallen.

»Halt! Was tust du da? Wie kommst du in mein Lagerhaus?«, wollte der Unbekannte wissen.

Mit einem schnellen Satz war er heran und umklammerte mit eisernem Griff das rechte Handgelenk des Jungen.

»Wer bist du? Was hast du in meinem Lagerhaus zu suchen?«, verlangte der Mann erneut nach einer Antwort.

»Ich sollte … ich dachte … dieses Paket …«, stotterte Gert voller Panik.

Die dunklen Augen des herrschaftlich gekleideten Mannes funkelten ihn verärgert an.

»Was? Rede endlich deutlich!«, forderte er drohend.

Gert kämpfte mit den Tränen. Am liebsten wäre er zu Hause bei seinen Eltern. Doch er fand die erforderliche Kraft, um nach dem Bündel zu greifen und es in die Höhe zu halten.

»Herr Stones und Kapitän Stürmer, die draußen warten, haben mich hierhergeschickt, um aus der Kiste dieses Paket zu holen. Sie sagten, das Lagerhaus gehört Herrn Stürmer, der den Schlüssel vergessen hatte. Er brauchte aber das Paket augenblicklich«, erklärte Gert mit immer sicherer werdender Stimme.

Der Unbekannte hatte mittlerweile seinen Griff gelöst und lauschte aufmerksam den Worten des Jungen. Im blakenden Licht der Handlaterne glitzerte seine Halskette, die auf einen gewissen Wohlstand hindeutete.

»Ich kenne keinen Stones und keinen Stürmer. Dieser Speicher gehört mir, und du bist der abgefeimteste Einbrecher, der mir je untergekommen ist«, stieß der Mann hervor.

Gerts aufkeimende Hoffnung verflog sofort wieder, und erneut packte ihn eine Mischung aus Wut und Scham. Bevor er etwas erwidern konnte, packte der Mann ihn am Kragen und stieß Gert in einen verschließbaren Verschlag.

»Marsch! Hier hinein mit dir. Ich will mich inzwischen mit den Burschen befassen, die nach deinen Worten draußen warten«, sagte er dabei.

Gert kämpfte um sein Gleichgewicht, und als er es gefunden hatte, wandte er sich zur offenen Tür um.

»Glauben Sie mir doch. Ich sage die Wahrheit!«, flehte er.

Der Mann musterte den Jungen mit ausdrucksloser Miene.

»Das will ich feststellen«, erwiderte er dann knapp.

 

*

Vor dem Lagerhaus warteten Stones und Stürmer unterdessen immer noch auf die erfolgreiche Rückkehr Gerts. Plötzlich fuhr Stones mit gefurchter Stirn herum. Er hob mahnend eine Hand in die Höhe.

»Stürmer. Ich höre Stimmen. Gert ist entdeckt worden. Wir müssen uns aus dem Staub machen«, stieß er hervor.

Als die beiden Männer sich zur Flucht abwendeten, kam Hansen mit erhobenem Degen angerannt. Aber Stürmer und Stones verschwanden gerade noch rechtzeitig in der Dunkelheit.

»Schnell fort, eher er uns entdeckt«, raunte Stürmer im Laufen seinem Kumpan zu.

Hansen bemerkte die Schatten zwar noch, musste aber schnell die Verfolgung aufgeben. Er konnte die Gestalten nicht mehr erspähen. Er nahm den Degen herunter und kehrte zum Tor an seinem Lagerhaus zurück. Im schwachen Schein des Mondes untersuchte er es, so gut es ging. Durch diesen Spalt scheint der Junge eingestiegen zu sein, dachte er bei dessen Anblick. Möglich ist’s immerhin, dass er die Wahrheit spricht. Nun, wollen sehen. Ich werde ihn zu seinen Eltern bringen, fasste er innerlich einen Entschluss und kehrte zurück ins Innere des Schuppens. Wenig später brachte Kaufmann Hansen, der wahre Eigentümer des Lagerhauses, Gert zur elterlichen Wohnung.

 

*

Kurz darauf stand ein am Boden zerstörter Gert vor seinem Vater, einem angesehenen Bürger der Stadt.

»Sie bringen meinen Sohn? Was hat er wieder angestellt?«, fragte der den Kaufmann.

Hansen erzählte, was vorgefallen war. Gert stand mit gesenktem Kopf zwischen den Männern. Kaum hatte der Kaufmann seinen Bericht beendet, wandte der Vater sich mit erboster Miene an seinen Sohn.

»Und was hast du dazu zu sagen, Gert?«, wollte er wissen.