Mordsregatta - Harald Jacobsen - E-Book

Mordsregatta E-Book

Harald Jacobsen

3,8

Beschreibung

Während der Kieler Woche wird ein Toter aus der Förde gezogen, er wurde Opfer eines Gewaltverbrechens. Ausgerechnet jetzt, wo Kommissar Frank Reuter gerade begann, sich seiner Exfrau langsam anzunähern! Wieder einmal hat der Beruf Vorrang, und so begibt sich Reuter auf die Suche nach dem Mörder des jungen Bootsbauer-Azubi. Seine Ermittlungen führen schnurstracks zum Kollegen des Toten, dem Freund seiner Tochter. Ist etwa seine eigene Familie in den Fall verwickelt?

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Harald jacobsen

Mordsregatta

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2013 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75/20 95-0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Sven Lang

Herstellung: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

Die Boote jagten durch die leichte Dünung der Kieler Förde, kämpften um die besten Positionen vor der Wendetonne. Er hatte sein Ziel erreicht. Bernd Claasen befand sich mitten im Hauptfeld, womit sein sehnlicher Wunsch in Erfüllung gegangen war. Seit vielen Jahren hatte der 18-Jährige sein Talent genutzt und auf eine Teilnahme an den Regatten der Kieler Woche hingearbeitet.

Die Gischt sprühte Salzwasser in seine Augen, sodass die Bindehäute extrem gereizt wurden. Die Lippen waren bereits aufgesprungen und zeigten erste blutige Risse. Doch von alldem bemerkte Bernd nichts mehr. Selbst das Eindringen des salzigen Fördewassers in die große Wunde an der linken Schläfe veranlasste ihn zu keiner Reaktion. Die Iris seiner Augen war bereits so stark eingetrübt, dass sie mit dem Grau des Meerwassers übereinstimmte.

Kapitel 1

Auf dem Begleitboot herrschte ausgelassene Stimmung. Der Wettergott meinte es dieses Jahr sehr gut mit den Seglern und Besuchern der Kieler Woche. Außer einigen weißen Quellwolken störte nichts den tiefblauen Himmel, von dem die Junisonne an diesem Samstagvormittag auf die Menschen hinunterschien.

»Das war ein schöner Einfall von dir«, sagte Karin.

Frank erwiderte das warme Lächeln seiner Frau. Exfrau, korrigierte er sich innerlich sofort. Seit gut zwei Jahren waren sie getrennt, weil Karin die häufige Abwesenheit des Hauptkommissars nicht mehr ertragen hatte.

»Ja, sogar bei Petrus konnte ich ein gutes Wort einlegen«, antwortete Frank.

Er selbst machte sich wenig aus dem Segelsport, während Karin eine begeisterte Seglerin war und daher seine Einladung zur Teilnahme an der Regattabegleitfahrt ohne Zögern angenommen hatte. Für Frank Reuter war es ein weiterer Schritt, seiner Exfrau zu beweisen, dass er sich geändert hatte. Er wollte mehr Zeit für sie und die gemeinsame Tochter in seinem Leben zulassen.

»Jasmin zieht leider die Clique vor«, sagte Frank.

»Die Wakeboarder sind einfach viel cooler, Frank. Wie sieht es denn aus, wenn Jasmin einen Nachmittag mit ihren alten Eltern auf einem Begleitschiff verbringt?«

Frank stimmte gutmütig in das Lachen von Karin ein und erfreute sich an dem Blitzen ihrer braunen Augen. Immer wieder hob sie das Fernglas hoch, um das Rennen der 49er zu verfolgen.

»Die ersten Boote nähern sich der Wendetonne«, kommentierte Karin.

Frank zeigte pflichtgemäß sein Interesse und hob seinerseits das Fernglas an, um einen Blick auf die Segelboote zu werfen. Er spürte durchaus ein gewisses Prickeln beim Anblick der prall gebauschten Gennaker. Die Regattasegler nutzten den Wind aus, um mit möglichst großer Segelfläche viel Fahrt in ihr Boot zu bekommen. Zwei hatten sich ein wenig abgesetzt und jagten vor dem Wind mit hoher Fahrt auf die orangefarbene Wendetonne zu. Das übrige Regattafeld lag dicht beisammen, sodass oftmals kaum ein erkennbarer Abstand zwischen den einzelnen Booten zu sehen war.

»Es bleibt mir ein Rätsel, wie die Segler so hervorragend manövrieren können«, sagte Frank. Er wollte seine Begleiterin dazu bewegen, über ihre Leidenschaft zu sprechen.

Karin behielt die Boote weiter im Blick, während sie antwortete.

»Die Grundlagen des Trainings sollte man schon beherrschen. Jahre des Trainings und ein wenig Talent sind außerdem erforderlich.«

»Dann wird es vermutlich mit meiner ersten Regattateilnahme in diesem Leben nichts mehr«, erwiderte er seufzend.

»Man muss ja nicht gleich an Wettkämpfen teilnehmen. Es macht auch eine Menge Spaß, wenn man zu seinem Vergnügen segelt.«

Karins Reaktion fiel erwartungsgemäß aus und genau darauf hatte Frank gebaut.

»Vielleicht nimmst du mich einmal mit. Oder dürfen Exehemänner nicht mitsegeln?«

Zum ersten Mal seit einigen Minuten nahm Karin das Fernglas von den Augen, um Frank überrascht anzusehen.

»Du willst tatsächlich mit mir segeln gehen?«, fragte sie.

Sein kleiner Plan schien bestens aufzugehen, wie Frank erfreut registrierte. »Ja. Aber nur, wenn ich eine Schwimmweste tragen darf«, ulkte er.

Karin musterte ihn mit einem langen Blick, erwiderte jedoch nichts. Stattdessen hob sie das Fernglas wieder an die Augen und beobachtete die ersten beiden Boote, wie deren Besatzungen an der Wendetonne ihre Fahrkünste einsetzten. Unwillkürlich öffnete Karin vor Anspannung leicht ihre Lippen, sodass Frank ihre spitzen Eckzähne erkennen konnte. Ein wehmütiges Erinnern erfasste ihn, wenn er an die zärtlichen Küsse von früher dachte.

»Das darf doch nicht wahr sein«, rief Karin.

Ihr Ausruf war nicht der Einzige. Die meisten Beobachter auf dem Regattabegleitboot stießen ähnliche Rufe aus. Frank nahm das Fernglas hoch, suchte die Wendetonne und erkannte fast sofort, was die Aufregung der Menschen ausgelöst hatte.

»Das Manöver ging daneben«, sagte er.

Eines der Boote lag ohne Fahrt im Wasser, während die Besatzung mit der Bergung ihres Gennakers zu kämpfen hatte. Vermutlich hatte ein falsches Manöver dafür gesorgt, dass der Wind das riesige Segel nicht mehr füllen konnte und es daher in sich zusammengefallen war.

»Seltsam. So ein Anfängerfehler passt überhaupt nicht zu Wolters«, murmelte Karin.

Sie kannte viele der Regattateilnehmer und wusste um deren Fähigkeiten als Segler.

»Aber eine schöne sportliche Geste, dass sein Konkurrent auf ihn wartet«, sagte Frank. Er hatte seinen Blick auf das zweite Führungsboot gerichtet und wurde dabei Zeuge, wie die Mannschaft ebenfalls den Gennaker barg und dadurch die Fahrt aus dem Boot nahm.

»Wie bitte? Das ergibt doch keinen Sinn«, protestierte Karin.

Verblüfft senkte Frank das Glas und nahm die allgemeine Verwirrung der Beobachter um sich herum wahr. Offenbar handelte es sich nicht um eine sportliche Geste der anderen Segelmannschaft. »Warum machen die es dann?«, fragte er.

Bevor Karin darauf antworten konnte, schallte ein Signalhorn über die Förde und die Blicke der Menschen an Bord des Begleitbootes wanderten automatisch zu dem der Regattaleitung.

»Irgendetwas muss passiert sein. Die Rennleitung hat die Regatta abgebrochen«, erklärte Karin.

Frank hatte die Ablenkung genutzt, um ihnen ein Glas Weißwein zu organisieren. Er stand neben Karin an der Reling und blickte nur gelegentlich zu den Segelbooten auf dem Wasser. Als er seine Begleiterin anschaute, bemerkte er den nachdenklichen Ausdruck in ihrem Gesicht.

»Woran denkst du?«, fragte er.

Sie deutete hinaus zu den Booten, die in der Dünung leicht auf und ab tanzten. »Die Mannschaften halten ihre Position.«

Das konnte Frank auch sehen. Er verstand aber nicht, weshalb es Karin stutzen ließ. »Vermutlich wird das Rennen bald fortgesetzt und alle Boote starten dann von der bereits erreichten Position aus«, spekulierte er.

»Nein, so etwas gibt es im Segelsport nicht. Das Rennen müsste komplett neu gestartet werden«, widersprach Karin.

Frank schaute überrascht hinaus auf die Förde und bemerkte, wie ein Polizeiboot sich mit langsamer Geschwindigkeit durch die Segelboote bewegte und der Wendeboje näherte. Schlagartig erfasste ihn berufsmäßige Neugier.

*

Als Frank das Polizeiboot enterte, hievte man gerade den reglosen Körper an Bord.

»Hauptkommissar Reuter von der Kieler Polizei.«

Frank zeigte seinen Dienstausweis vor und verdrängte die Erinnerung an die enttäuschten Augen seiner Exfrau. Karin hatte bereits geahnt, was passieren würde, als er sich beim Kapitän des Regattabegleitschiffes auswies und um einen Funkkontakt zu seinen Kollegen der Wasserschutzpolizei bat.

»Donnerwetter. Sie sind ja von der ganz fixen Sorte«, staunte der uniformierte Kollege.

»Reiner Zufall. Ich war auf einem Begleitschiff und wurde so Zeuge, wie das Rennen abgebrochen wurde.« Frank verhielt sich vorerst noch abwartend. Sollte es sich bei dem Toten um das Opfer eines Unglücksfalles handeln, bestand keine Veranlassung für ihn, die Sonderkommission der Kieler Woche mit den Nachforschungen zu belasten. Sie war ausschließlich für schwere Verbrechen zuständig, die sich im Zeitraum der Kieler Woche ereigneten und zudem einen inneren Zusammenhang zu der Veranstaltung aufwiesen.

»Der Tote ist ein junger Mann, der typische Seglerkleidung trägt.«

Frank war neben zwei Kollegen der Wasserschutzpolizei getreten, die soeben den Leichnam in Augenschein nahmen. Der Tote lag auf dem Rücken, während sich langsam auf dem Deck eine Lache Salzwasser ausbreitete. Frank schaute in die stumpfen Augen und registrierte die aufgeplatzten Lippen des Jugendlichen.

»Was ist das für eine Verletzung an der Schläfe?« Er ging in die Hocke und deutete auf eine verschorfte Stelle an der linken Schläfe. Einer der Kollegen drehte vorsichtig den Kopf des Toten, damit Frank sich die Wunde genauer ansehen konnte. »Zu groß, um vom Zusammenstoß mit einem Schlagbaum zu stammen«, sagte er.

»Könnte trotzdem ein Unglücksfall sein, Herr Reuter.«

Frank erhob sich wieder und schaute den Kollegen an. »Gab es denn eine Meldung über einen Segelunfall?«

Eine solche Meldung war nicht eingegangen. Vielmehr hatte die Besatzung des ersten Segelbootes den Leichnam im Wasser entdeckt und wollte helfen.

»Als die Segler sahen, dass es sich um einen Toten handelte, haben sie die Regattaleitung alarmiert«, erklärte der Leiter des Polizeibootes.

»Also keine Meldung über einen Segler, der über Bord gegangen ist«, murmelte Frank.

Wenn ein Unfall als Todesursache unwahrscheinlich war, musste Frank langsam zu einer Entscheidung kommen.

»Hat das Opfer Ausweispapiere bei sich?«, fragte er.

Die Sonne war ein wenig weiter westlich gewandert, weshalb jetzt Franks Schatten auf den Leichnam fiel. Er wischte sich den Schweiß aus dem Nacken und fand es tröstend, dass der Tote nicht mehr in der prallen Sonne liegen musste. Der Teenager war vermutlich kaum viel älter als Jasmin, was Frank unangenehm berührte.

»Er heißt Bernd Claasen, ist im Februar 18Jahre alt geworden und lebt in Elmschenhagen«, sagte der Beamte. Er streckte den Personalausweis so hin, dass Frank die Angaben mit eigenen Augen überprüfen konnte. Dabei achtete der Polizist sorgsam darauf, den Ausweis mit seiner behandschuhten Hand hochzuhalten. Es war eine instinktive Handlung, die nicht die speziellen Umstände berücksichtigte. Wenn jemals fremde Spuren am Körper oder an der Kleidung beziehungsweise den Habseligkeiten von Claasen gewesen waren, hatte das Wasser sie längst vernichtet.

»Schießen Sie einige Fotos von der Wunde am Kopf des Opfers«, sagte Frank.

Der Kollege der Wasserschutzpolizei stutzte kurz, doch dann nahm er das Smartphone aus der Hand seines Vorgesetzten und fertigte die Aufnahmen an. Frank übermittelte diese an einen Rechtsmediziner im Institut, mit dem er sich angefreundet hatte. Danach rief er den Mitarbeiter des rechtsmedizinischen Institutes auf dessen Handy an. Erwartungsgemäß erhob Sven Radtke umgehend diverse Einwände.

»Hallo, Sven. Ich weiß, dass du anhand solcher Fotografien keine verbindlichen Auskünfte erteilen kannst«, unterbrach er kurz darauf die Proteste seines Freundes. »Ich möchte nur deine Einschätzung als Fachmann, ob diese Verletzung durch einen unglücklichen Zusammenstoß, zum Beispiel mit einem Schlagbaum, entstanden sein könnte.«

Wie üblich murrte der Rechtsmediziner zunächst herum, bevor er sich zu einer mit vielen Einschränkungen versehenen Antwort herabließ. »Die Größe und Tiefe der Verletzung lässt auf einen sehr starken Schlag schließen. Bei der Art der Wunde erscheint es mir eher fraglich, ob sie durch einen normalen Zusammenprall mit einem Schlagbaum entstanden sein könnte. Damit bewege ich mich aber am Rande der Spekulation und übernehme keine Verantwortung für diese Einschätzung.«

»Danke, Sven. Du hast etwas gut bei mir.«

»Lass es einfach nicht zur Gewohnheit werden. Wir sind schließlich nicht deine Privateinrichtung«, erwiderte er.

Für Frank reichte diese sehr vage Auskunft völlig aus, um zu einem Entschluss zu gelangen. Er würde sich bei seinen Kollegen nicht sehr beliebt machen, wenn er sie an einem Samstag um elf Uhr am Vormittag von den Familien wegholte. Frank wandte sich dem leitenden Beamten der Wasserschutzpolizei zu.

»Wir können nicht ausschließen, dass Claasen durch Fremdeinwirkung ums Leben kam. Ab sofort ist die Kieler Polizei für die Ermittlungen zuständig«, teilte er mit.

Die Kollegen nahmen die Entscheidung zufrieden auf, da ihre Arbeit damit schnell erledigt war. Sie würden den Leichnam mit zu ihrer Station nehmen, wo ein angefordertes Fahrzeug der Rechtsmedizin ihn übernehmen sollte. Damit war der Fall für die Wasserschutzpolizei abgeschlossen.

*

Im großen Saal des Rathauses summte es von den vielen Stimmen der geladenen Gäste des Oberbürgermeisters. Der Polizeipräsident hatte darauf bestanden, dass Regina Saß ebenfalls zu dem Empfang erscheinen musste. Sie leitete die SOKO Kieler Woche, die jedes Jahr vor dem Segelsportereignis ins Leben gerufen wurde. Normalerweise hätte sich die Erste Hauptkommissarin darüber gefreut, da es ihren Karriereplänen entgegenkam. Doch der vor knapp einem Jahr vollzogene Wechsel auf dem Posten des Oberbürgermeisters hatte sie in ihren Plänen zurückgeworfen. Regina Saß war zu deutlich von der Vorgängerin im Amt protegiert worden, als dass der neue Oberbürgermeister mit dem anderen Parteibuch etwas für die Hauptkommissarin übrig hätte.

»Machen Sie gefälligst ein anderes Gesicht«, fauchte der Polizeipräsident.

Offenbar bezog er Reginas verärgerten Gesichtsausdruck auf den Empfang.

»Ich habe leider schlechte Nachrichten«, antwortete sie. In wenigen Sätzen informierte Regina den Polizeipräsidenten über den Leichenfund und die voreilige Entscheidung ihres Mitarbeiters. Es stand Reuter nicht zu, im Namen der SOKO zu handeln. Wenigstens nicht, wenn es um solche Entscheidungen mit erheblicher Tragweite ging. Bis jetzt hatte Regina in ihrer Berufung zur Leiterin der SOKO immerhin die theoretische Chance gesehen, einige Pluspunkte zu sammeln.

»Das Opfer stammt wenigstens aus Kiel und ist kein Tourist«, reagierte der Präsident kühl.

Bei dieser zynischen Bemerkung warf Regina dem wohl beleibten Mann einen strafenden Seitenblick zu, den der jedoch nicht registrierte.

»Wir müssen den Oberbürgermeister in Kenntnis setzen, bevor ihn einer der Journalisten kalt erwischt«, sagte der Polizeipräsident.

Regina schluckte eine ablehnende Erwiderung hinunter. Sie wollte lieber zuerst mehr Details in Erfahrung bringen. Einer der persönlichen Referenten des Oberbürgermeisters sorgte für ein Treffen in einem leeren Büro. Der hochgewachsene Mann mit der modernen Brille auf der mächtigen Nase hörte sich den Bericht über den Leichenfund an.

»Halten Sie mich auf dem Laufenden, Frau Saß. Es geht keine Presseverlautbarung raus, die nicht vom Rathaus abgesegnet wurde. Verstanden?«

Es sagte ihr zwar nicht zu, dennoch nickte sie. Die Hauptkommissarin hatte nicht vor, unnötigen Widerstand zu leisten.

»Ich habe bereits mein Team alarmiert und werde jetzt mit Hauptkommissar Reuter sprechen«, sagte sie.

Die beiden Männer entließen die Hauptkommissarin, die sich auf den Weg in die Gartenstraße machte.

»Was ist passiert?«

Wie nicht anders zu erwarten, stellte sich Heinrich Saß seiner Tochter in den Weg. Der erfolgreiche Rechtsanwalt war durch den Machtwechsel im Rathaus zum inneren Führungszirkel in der Hauptstadt des Landes aufgestiegen.

»Kann ich dir noch nicht sagen. Frag den Oberbürgermeister oder den Polizeipräsidenten. Ihr seid schließlich befreundet«, sagte sie.

Bevor ihr Vater nachsetzen konnte, schob Regina sich an ihm vorbei und eilte aus dem Rathaus. Sie nahm einen Seiteneingang, um dem lebhaften Getümmel auf dem Rathausplatz aus dem Weg zu gehen. Das schöne Wetter sowie der für die meisten Menschen freie Samstag sorgten dafür, dass die gesamte Kieler Innenstadt nahezu überquoll. Die sich träge dahin bewegende Menschenmasse behinderte Regina, sie kam nur langsam voran. Das nervte sie noch mehr als ihre drückenden Schuhe. Am liebsten hätte Regina sich mit ihren Ellenbogen den Weg freigemacht, doch sie beherrschte sich.

Im Polizeipräsidium belegte die ›SOKO Kieler Woche‹ einen halben Flur, um durch die Nähe zum Rathaus sowie den meisten Veranstaltungsorten schnell eingreifen zu können. Kaum hatte sie die Räume der SOKO erreicht, wandte sie sich an Oberkommissar Florian Koller. Sie bildeten seit Jahren ein gutes Team. Koller sah in Regina sein Sprungbrett zum Hauptkommissar. Er war kein besonders fähiger Ermittler, aber dafür ein exzellenter Organisator und gegenüber seiner Vorgesetzten äußerst loyal. »Ist Hauptkommissar Reuter schon eingetroffen?«

»Nein, Chef. Er ist auf dem Weg von der Station der Wasserschutzpolizei hierher. Das wird sicherlich noch ein wenig dauern, bei dem Verkehrschaos in der Stadt.«

Regina schaute dabei in das Großraumbüro, in dem bisher nur ein Dutzend der 25Schreibtische mit Ermittlern besetzt war. Es handelte sich um Kollegen aus den unterschiedlichsten Dezernaten, die auf Anforderung zur SOKO abgestellt worden waren. Sehr schnell hatte Regina erkannt, wie die meisten Dezernatsleiter der Aufforderung nachgekommen waren. Sie hatten der SOKO die Kollegen überlassen, die sich auf irgendeine Weise unbeliebt gemacht hatten. So wie das LKA mit diesem Reuter, schoss es ihr durch den Kopf.

In diesem Augenblick eilte der bullige Oberkommissar Holger Fendt ins Büro und lächelte Regina zu. Zuerst hatte sie in dem Ermittler der Sitte einen Risikofaktor gesehen, doch zu ihrer Überraschung war Fendt anders als erwartet. Die Kollegen der Sitte pflegten einen eigenwilligen Umgang mit ihrer Kundschaft und galten nicht unbedingt als sehr teamfähig. Aber Holger Fendt, den die meisten schnell mit seinem Spitznamen Holly anredeten, war ein fröhlicher und zugänglicher Mensch. Als dreifacher Familienvater schien der Oberkommissar über eine endlose Geduld zu verfügen. In Verbindung mit seinen hervorragenden Kontakten in die Halbwelt konnte Fendt sich als wertvoller Mitarbeiter erweisen.

»Sobald Reuter eintrifft, will ich ihn umgehend sprechen. Bis er hier ist, beschaffen Sie mir alle persönlichen Daten zu diesem Bernd Claasen«, ordnete Regina an.

Koller ging hinüber ins Großraumbüro, während Regina ihr kleines Büro am Ende des Ganges betrat. Sie fluchte leise vor sich hin, denn die Sonne konnte wegen fehlender Jalousien ungehindert ins Zimmer scheinen und erzeugte tropische Temperaturen. Öffnete sie jedoch das Fenster, drang der Lärm von der Straße ins Büro, sodass sie es eiligst wieder schloss.

»Ich muss diese verdammten Pumps loswerden«, schimpfte Regina. Sie nahm hinter dem Schreibtisch aus grauem Metall Platz, schob die hochhackigen Schuhe von den Füßen und streckte dann die Beine weit von sich. Wegen ihrer Teilnahme an dem Empfang des Oberbürgermeisters hatte Regina sich für die unbequemen Schuhe entschieden. Sie musste allerdings zugeben, dass das dunkle Rot hervorragend mit dem seriösen Hosenanzug harmonisierte. Leider schwollen ihre Füße bei der Wärme schnell an und machten jeden Schritt zu einer Qual. Regina hasste diese Schuhe.

*

Auf den Straßen herrschte fast eine Art Ausnahmezustand. Wer sich während der Kieler Woche in der Landeshauptstadt mit dem Auto fortbewegen musste, benötigte gute Nerven und beste Ortskenntnisse. Viele Straßen waren gesperrt worden, um sie als Teil der riesigen Veranstaltungsmeile zu nutzen. Hier schoben sich Tausende von Menschen an Zelten vorbei oder blieben vor einer der vielen Bühnen stehen, auf denen Livemusik angeboten wurde.

»Vielleicht sollten wir das Blaulicht einschalten?« Der Polizist hinter dem Lenkrad des Streifenwagens warf Frank einen gequälten Blick zu.

»Das würde unser Vorankommen nur wenig beschleunigen. Lassen Sie mich an der Sperre bei der Landesbank raus«, erwiderte er. Von dort setzte Frank seinen Weg zu Fuß fort. Er würde auf diese Weise nicht nur schneller vorankommen, sondern konnte die Zeit für einen Anruf bei Karin nutzen. Er wollte sich entschuldigen und hoffte auf Verständnis.

»Es war deine Entscheidung, Frank. Du hättest wenigstens warten können, bis man dich offiziell anfordert«, sagte Karin.

Er hörte die angedeutete Beschwerde heraus. Sein Vorgehen hatte bei Karin offenbar den Eindruck erweckt, dass er lieber seine Zeit mit beruflichen Angelegenheiten als mit ihr verbrachte. Eines der Missverständnisse, von denen es früher unendlich viele gegeben hatte.

»Ja, das hätte ich. Nur, was hätte es geändert?« Die Worte waren kaum über Franks Lippen gekommen, als er bereits seinen Fehler erkannte. Es war schwer, seine alten Gewohnheiten abzulegen.

»Wir müssen nicht darüber diskutieren.«

Bevor Frank etwas erwidern konnte, trennte Karin die Verbindung nach einem knappen Abschiedsgruß. Verärgert schob er sein Smartphone zurück in die Jackentasche. Wenige Augenblicke darauf löste er sich aus einer Menschengruppe und betrat das Präsidium. Auf dem Gang im ersten Stock traf er auf Oberkommissar Koller.

»Sie sind spät dran, Herr Reuter. Hauptkommissarin Saß wartet auf Sie.«

Frank ignorierte den mittelgroßen Mann mit den hellblonden Haaren. Sein Blick wanderte über die Schreibtische im Großraumbüro, die mittlerweile zum größten Teil besetzt waren. Einige Kollegen, die ihn aus früheren Ermittlungen flüchtig kannten, lächelten ihm zu.

»Dann haben wir dir also das versaute Wochenende zu verdanken«, meldete sich eine tiefe Stimme.

Als Frank den Kopf wandte, grinste ihn Holger Fendt an. »Ja, tut mir leid. Deine Familie war bestimmt nicht sehr erbaut, oder?«

Die beiden Ermittler pflegten ein freundschaftliches Verhältnis, seitdem Frank einen komplizierten Türsteherfall im Milieu gelöst hatte. Damals war Holly sein wichtigster Kontakt zur Sitte gewesen und Frank schätzte die beruflichen Fähigkeiten des bulligen Mannes genauso wie dessen unerschütterlichen Optimismus.

»Meine Celia ist wahrscheinlich nur halb so sauer wie unsere derzeitige Chefin«, antwortete Holly.

Kapitel 2

Frank klopfte mit dem Fingerknöchel gegen den Türrahmen und betrat das winzige Büro.

»Hallo, Frau Saß. Es ging leider nicht schneller.« Bisher hatten sich die Wege der beiden Hauptkommissare noch nicht unmittelbar gekreuzt. Frank kannte den Ruf der molligen Blondine. Er ahnte, dass die Zusammenarbeit mit der extrem karrierebewussten Kollegin nicht einfach werden würde.

»Moin, Herr Reuter. Machen Sie die Tür zu und setzen Sie sich«, antwortete sie.

Er kam der Aufforderung nach und nahm auf dem Besucherstuhl vor dem zerschrammten Metallschreibtisch Platz. Die Büromöbel der SOKO waren ein Sammelsurium ausrangierter Stücke, die man aus den Kellerräumen des Präsidiums in den ersten Stock geschleppt hatte.

»Berichten Sie mir, was draußen auf der Förde passiert ist«, forderte Saß ihn auf.

Während Frank von dem Regattaabbruch sowie seinem Besuch auf dem Boot der Wasserschutzpolizei erzählte, fiel sein Blick auf die nackten Füße von Regina Saß. Verblüfft betrachtete er die geröteten Stellen auf den Kuppen der Zehen, was seinen Erzählfluss für einen kurzen Augenblick zum Erliegen brachte. Erst das auffordernde Räuspern seiner Vorgesetzten brachte ihn zurück zu seinem Bericht.

»Was hat Sie dazu bewogen, die Ermittlungen an sich zu ziehen?«, fragte Saß.

Es war klar, was sie hören wollte.

»Ich weiß, dass ich eigentlich zuerst mit Ihnen hätte sprechen müssen.«

»Nicht eigentlich, Herr Reuter! Sie verfügen nicht über die erforderlichen Kompetenzen, für die SOKO zu entscheiden«, unterbrach sie ihn.

Mühsam rang Frank einen aufkeimenden Protest nieder. Seine Vorgesetzte war im Recht. Vermutlich hätte er selbst kaum anders reagiert, wenn er die Leitung innegehabt hätte.

»Welche Hinweise liegen für ein Gewaltverbrechen vor?« Die Wut der Hauptkommissarin verschwand hinter einer Fassade beruflicher Professionalität.

Frank registrierte überrascht den abrupten Wechsel und revidierte sein bisheriges Urteil über Regina Saß. Sie saß nicht nur wegen guter Beziehungen hinter diesem Schreibtisch.

»Der Leichnam weist diverse Verletzungen auf, die zum Teil vermutlich auch von Kollisionen mit der Wendetonne oder Schiffsrümpfen herrühren. Es ist die Schädelverletzung, die mich stutzig macht.« Er gab die vorsichtige Einschätzung des Rechtsmediziners wider, die Saß verwundert aufschauen ließ.

»Es liegt bereits ein vorläufiges Gutachten der Rechtsmedizin vor? Wie zum Teufel haben Sie das denn hinbekommen?«

»Nein, es liegt noch keines vor. Sven Radtke ist ein Freund von mir. Ich konnte ihn lediglich zu einer Einschätzung bewegen«, sagte Frank.

Erneut blitzte Ärger in den blauen Augen von Saß auf.

»Wir haben also kaum mehr als Ihre Intuition und eine vage Vermutung eines Rechtsmediziners, die auf der Basis eines schlechten Fotos beruht. Finden Sie nicht auch, dass es sehr wenig ist, um die Einberufung der SOKO zu begründen?« Die Leiterin gab sich keine besondere Mühe, ihre Wut zu verbergen.

»Machen Sie sich Sorgen darüber, wie dieser Fall sich auf Ihre Karriere auswirken könnte?«, schoss Frank zurück.

Einige Sekunden lang funkelten die beiden Kommissare sich erbost an. Seine Bemerkung war unprofessionell und völlig unangebracht, wie er selbst einsehen musste.

»Verzeihung, so etwas hätte ich nicht sagen dürfen«, gab er sich kleinlaut.

Die nackten Füße verschwanden aus seinem Sichtfeld. Dann erhob Saß sich und trat ans Fenster, wobei sie Frank den Rücken zudrehte. Ihm fiel die Körperhaltung seiner Vorgesetzten auf. Frank dachte unwillkürlich an Gerüchte, die von dem schwierigen Verhältnis Regina Saß’ zu ihrem berühmten Vater handelten. Dieser bewegte sich gekonnt auf politischem Parkett und verfügte seit dem Amtsantritt des neuen Oberbürgermeisters über eine noch engere Beziehung zum Kieler Rathaus. Resultierte daraus die angespannte Haltung seiner Vorgesetzten?

»Ich akzeptiere Ihre Entschuldigung. Bis eine offizielle Einschätzung aus der Rechtsmedizin vorliegt, ermitteln wir in einem Fall mit ungeklärter Todesursache.« Saß wandte sich ihrem Mitarbeiter zu und musterte Frank mit einem schwer zu deutenden Blick.

»Ab sofort keine solchen Alleingänge mehr. Haben wir uns verstanden?«

Es war ein Versöhnungsangebot, welches Frank sofort annahm. Saß war nun einmal die Leiterin der SOKO und er wollte ihre Vorgaben zukünftig berücksichtigen. Ihm reichte es, dass er mit seinem eigentlichen Vorgesetzten im Landeskriminalamt ständig aneinandergeraten war. Kriminaloberrat Gerster war ein reiner Schreibtischstratege ohne jede Erfahrung aus der praktischen Polizeiarbeit. Im Gegensatz dazu verfügte Hauptkommissarin Saß über deutliche Erfolge als Ermittlerin und deswegen wollte er keinen Streit um Kompetenzen. Seine Ziele waren anderer Natur und daher gönnte er Saß die Lorbeeren einer erfolgreichen Mordaufklärung. Für ihn stand längst fest, dass es sich um ein Tötungsdelikt handelte, und Frank brannte darauf, die Ermittlungen in Angriff zu nehmen. Es widerstrebte ihm, wenn ein Mörder auf freiem Fuß blieb.

»Gut. Dann informieren wir jetzt die Kollegen über den Sachstand.«

Mit diesen Worten verließ Saß das Büro, in dem es langsam unerträglich heiß wurde. Die Nachmittagssonne schien unerbittlich, sodass Frank erleichtert aufatmete, als er auf den wesentlich kühleren Gang trat. Im Großraumbüro der SOKO hatte er einen wackligen Schreibtisch ganz hinten in der Ecke zugewiesen bekommen. Frank setzte sich in den quietschenden Schreibtischstuhl, um genau wie die anderen Kollegen seine Aufmerksamkeit Hauptkommissarin Regina Saß zu widmen.

*

Schweigend lenkte Frank den Audi am Cinemaxx vorbei und schaute kurz hinüber zur Halle400. Irgendwo dort musste Jasmin sein. Ihre Clique schaute den Wakeboardern zu, die ihre halsbrecherischen Kunststücke dem überwiegend jungen Publikum vorführte. Das war mit Sicherheit weitaus mehr nach dem Geschmack eines 15-jährigen Mädchens. Auf diese Weise hatte seine Tochter wenigstens nichts von dem gescheiterten Date ihrer Eltern mitbekommen.

»Sie sind wütend, nicht wahr?«

Die warme Stimme von Rana Schami holte Franks Gedankenwelt zurück in den Dienstwagen. Er warf der schönen Kommissarin einen überraschten Seitenblick zu.

»Nein, warum sollte ich?«, fragte er.

Als die Teams eingeteilt wurden, stellte Hauptkommissarin Saß die noch unerfahrene Kommissarin an die Seite von Frank Reuter. Er hatte die kleine Frau mit der dunklen Haut und den vollen schwarzen Haaren für eine Tochter türkischer Emigranten gehalten. Weder er noch Holly, der seinen fragenden Blick mit einem ratlosen Schulterzucken beantwortete, hatten vorher jemals von einer Kommissarin Schami gehört, also ging Frank von einer Anfängerin aus.

»Weil ich nur wenig Erfahrung habe oder weil ich eine Frau bin?« Schami schlug ihrem Kollegen zwei Antworten vor, von der eine definitiv nicht zutraf.

»Erfahrung können Sie nur sammeln, wenn man Ihnen Aufgaben überträgt. Dass Sie eine Frau sind, stört mich übrigens genauso wenig wie Ihre türkischen Wurzeln«, antwortete Frank.

Schami ließ ein perlendes Lachen hören. Verwundert wartete Frank auf eine Erklärung für den unerwarteten Heiterkeitsausbruch.

»Bei der Sache mit der Erfahrung haben Sie sich fein aus der Affäre gezogen, auch wenn es nicht Ihrer wirklichen Überzeugung entspricht. Mein Vater kommt ursprünglich aus Syrien und hat in Kiel Medizin studiert«, sagte sie.

Die Kollegin war keine Spur schüchtern oder hielt mit ihrer Meinung nicht hinter dem Berg. Frank nahm es als positives Zeichen für die weitere Zusammenarbeit.

»Dann hätten wir das ja auch geklärt«, sagte er.

»Was mich angeht, schon. Warum hat man Sie der SOKO zugeteilt?«

Für die Kommissarin gab es offenbar weiteren Klärungsbedarf. Die Fahrt hinüber nach Elmschenhagen dauerte an diesem Samstag deutlich länger als gewöhnlich, weshalb ihnen genügend Zeit für einen Gedankenaustausch blieb.

»Normalerweise werden Kollegen mit einer besonderen Erfahrung oder großem Potenzial für eine Sonderkommission abgestellt. Bei mir dürfte es vermutlich die Berufserfahrung sein«, sagte Frank.

Erneut lachte Schami laut auf und schüttelte dabei den Kopf. »Die Voraussetzungen, um als Ermittler bei der SOKO Kieler Woche eingesetzt zu werden, sind bekanntermaßen völlig andere«, widersprach sie.

Langsam fragte Frank sich, ob Hauptkommissarin Saß ihm möglicherweise eine Provokateurin zur Seite gestellt hatte. Es war sehr ungewöhnlich, wenn eine junge Beamtin sich dermaßen weit aus dem Fenster lehnte. Ihre Karriere stand schließlich noch ganz am Anfang.

»Ach, ja? Klären Sie mich auf, verehrte Kollegin. Welche Voraussetzungen wären das denn?«

»Kein Dienststellenleiter sieht eine sinnvolle Begründung für die Einrichtung einer SOKO für die Kieler Woche. Dementsprechend wurden vor allem Kollegen zur Mitarbeit abgestellt, die in deren Augen leicht entbehrlich sind.«

Völlig ungeschminkt sprach Kommissarin Schami die brutale Wahrheit aus und Frank glaubte, einen Anflug von echter Wut in der Stimme mitschwingen zu hören.

»Sie haben recht, Rana. Die SOKO gilt als politisches Signal, wie ernsthaft die Stadt es mit der Sicherheit ihrer Besucher nimmt. Wahrscheinlich wurden deswegen überwiegend Kollegen abgestellt, die den von Ihnen genannten Kriterien entsprechen. Mir ist es allerdings scheißegal«, antwortete Frank.

Verblüfft über seine Reaktion öffnete Schami den Mund, als wolle sie etwas erwidern. Jedoch schloss sie ihn wieder, ohne ein Wort gesagt zu haben. Offenbar musste sie über ihre Antwort nachdenken. Einige Sekunden war nur das leise Brummen des Motors zu hören.

»Warum ist es Ihnen egal?«

Genau auf diese Frage hatte Frank gehofft. »Weil es mir um die Aufklärung von Verbrechen geht. Deswegen bin ich zur Polizei gegangen, und sobald man mir eine Ermittlung überträgt, bringe ich sie zum Abschluss. Auch dann, wenn es irgendwelchen Vorgesetzten oder einflussreichen Persönlichkeiten nicht schmeckt.«

Rana hörte aufmerksam zu und betrachtete Frank aus ihren klugen, braunen Augen. Genau wir ihr Kollege kannte sie die Aussagen vieler Politiker gegenüber Medienvertretern, in denen sie von einer reinen Vorsichtsmaßnahme in Bezug auf die Bildung einer SOKO ausgingen. Unisono wurde die Meinung vertreten, dass es im Verlaufe der Kieler Woche kaum zu einem schwerwiegenden Verbrechen mit Bezug auf dieses Event kommen würde.

»Es war naiv, von der politischen Führung anzunehmen, dass die Verbrecher während der Kieler Woche eine Pause einlegen würden. Die SOKO musste zwangsläufig angefordert werden. Jetzt geht es um die Aufklärung des Mordes an Bernd Claasen. Genügt es Ihren Ansprüchen nicht?« Seine abschließende Frage war bewusst provokant formuliert. Die beiden Ermittler würden in Kürze ihr Ziel erreichen. Frank wollte vorher wissen, wie Kommissarin Schami über den Fall dachte.

»Dann sind Sie also wegen Ihrer Sturheit zur SOKO abgestellt worden. Das gefällt mir, Frank. Es ist das Einfamilienhaus dort links.«

Ihre Antwort befriedigte ihn nur bedingt, aber da sie im Linzer Weg beim Elternhaus von Claasen angekommen waren, verschob er seine Nachfrage auf einen späteren Zeitpunkt.

*

Zum zweiten Mal innerhalb weniger Stunden eilte Regina die Treppen zum Rathaussaal hinauf. Der Referent des Bürgermeisters hatte sie angerufen und um ein Treffen gebeten.

Antreten zum Rapport trifft es wohl eher, dachte sie. Es machte sie wütend, dass man sie an der kurzen Leine hielt. Was dachten die im Rathaus eigentlich, wie eine Ermittlung ablief?

»Regina? Wir haben nur wenig Zeit.« Heinrich Saß fing seine Tochter auf dem breiten Flur des Rathauses ab und schob sie in ein leeres Büro. Regina war viel zu überrascht, um zu widersprechen. Äußerlich wirkte ihr Vater völlig ruhig und doch erkannte sie, wie angespannt er war.

»Ich habe jetzt keine Zeit für familiäre Gespräche, Vater. Der OB erwartet mich«, sagte sie.

Er schluckte den Affront, was Regina aufmerken ließ. Es war offensichtlich etwas Ungewöhnliches geschehen, wenn ihr Vater ihr dieses Verhalten durchgehen ließ.

»Er hat mich gebeten, mit dir zu reden«, erwiderte Heinrich.

In den eisblauen Augen war keine Emotion erkennbar, aber ein Muskel an der linken Kinnseite zuckte unaufhörlich.

»Ach, ja? Worüber denn?«

Tief in ihrem Inneren spürte Regina Genugtuung. Bisher war es vornehmlich ihr Vater gewesen, der sie unter Druck gesetzt hatte. Heute schien es ausnahmsweise einmal genau umgekehrt zu sein. Kein schlechtes Gefühl.

»Was ist nun mit dem Segler? Unfall oder Mord?«, fragte Heinrich.

»Das kann ich noch nicht sagen. Die erste Untersuchung in der Rechtsmedizin läuft noch und bis zu deren Bericht gibt es keine verbindlichen Aussagen. Vorerst behandele ich den Tod des Jungen als nicht natürlichen Todesfall«, sagte Regina.

Ihr Vater machte eine herrische Geste, die ihr unangenehm vertraut war. Geduld war keine Tugend von Heinrich Saß. »Spar dir dieses Gerede für die Pressekonferenz auf! Was also ist es, Unfall oder Mord?«

Langsam stieg Wut in Regina auf. Sie würde sich nicht länger bevormunden lassen. Die Zeiten waren ein für alle Mal vorbei.

»Das werde ich dir und dem OB sagen, sobald ich mehr Hinweise habe. Spekulationen gehören nicht zum Berufsbild eines Kriminalisten. So etwas überlassen wir euch Rechtsanwälten.«

Ihr Vater setzte zu einer harschen Antwort an, doch Regina wandte sich schon ab. Sie schaffte es, die Tür zu öffnen, bevor er reagieren konnte.

»Du wirst mich hier nicht so stehen lassen, Regina!«, fauchte er.

Sie drehte lediglich den Kopf und schaute ihren Vater kühl an.

»Ich muss eine Ermittlung leiten, Vater. Wenn du über den Sachstand informiert werden willst, komm ins Präsidium oder ruf an. Meinetwegen schick den Referenten, damit ich ihn informieren kann. Andernfalls muss ich davon ausgehen, dass man seitens des Rathauses die Ermittlungen beeinflussen möchte«, sagte sie.

Die unterschwellige Drohung erreichte ihren Adressaten. Heinrich Saß zuckte leicht zusammen. Seine Lippen wurden zu einem schmalen Strich. Er war es nicht gewohnt, dass man ihm so wenig Respekt entgegenbrachte. Regina ließ ihrem Vater nicht die Zeit, sich zu fangen. Die abschließenden Sätze waren von einer Gruppe von Männern mitgehört worden, die den Flur entlangkamen. Als Regina an ihnen vorbeiging, schauten sie die Hauptkommissarin neugierig an, bevor sie zu Heinrich Saß sahen.

Dieses Mal nutzte sie die kurze Wegstrecke zum Präsidium, um ihre Gefühle zu sortieren. Sie hätte es besser wissen müssen und sich etwas zurückhalten sollen. Er würde sicher sehr nachtragend sein. Schließlich konnte er Privates und Berufliches nicht klar trennen.

»Ist wohl nicht mein Jahr«, murmelte Regina.

Als sie die Räume der SOKO erreichte, verdrängte sie die Gedanken an den Zwischenfall. »Hat sich die Rechtsmedizin schon gemeldet?«, fragte sie Koller.

Der Oberkommissar schüttelte den Kopf. »Nein, Chefin. Dafür ist es noch zu früh. Wir haben jetzt aber mehr Daten zum Opfer. Ich habe die Akte auf Ihren Schreibtisch gelegt.«

Regina bedankte sich und schaute zu den Ermittlern, die größtenteils an ihren Schreibtischen saßen und telefonierten. Ihr fiel auf, dass Fendts stämmige Figur nirgends zu sehen war.

»Was ist mit Fendt? Geht er einem Hinweis nach?«, fragte sie. Es kostete Regina einige Mühe, nicht zu viel Hoffnung mitschwingen zu lassen.

»Oberkommissar Fendt ist mit zwei Kollegen nach Schilksee gefahren. Sie befragen die Segler, die an der Regatta teilgenommen haben«, erwiderte Koller. Anders als die anderen Mitglieder der SOKO sprach er den Ermittler von der Sitte nie mit seinem Spitznamen an, nicht einmal in dessen Abwesenheit.

»Gute Entscheidung. Wer kümmert sich um die Zeugen auf den Begleitbooten?«

In Kollers Gesicht erschien ein gequälter Ausdruck. Regina hatte vergessen, wie wenig dem Oberkommissar das eigenständige Ermitteln lag. Es wurde Zeit, dass sie einen Stellvertreter benannte. Im Grunde war klar, wem diese Funktion aufgrund seiner Erfahrung zustand. Aber würde Regina mit Reuter auch klarkommen?

»Dann organisieren Sie es jetzt, Koller. Es dürften sehr viele Menschen sein, also kümmern Sie sich auch um eine entsprechende Unterstützung durch die Kollegen der Schutzpolizei. Verstanden?«

Koller notierte sich die Anweisungen und nickte mehrfach, bevor er an seinen Schreibtisch eilte. Seufzend wandte Regina sich ab und ging in ihr Büro, wo sie als Erstes das Fenster weit öffnete. Die Sonne war weiter gewandert, sodass ihre Strahlen den Raum nicht mehr fluteten. Sie musste einfach einige Minuten den Lärm der Besucher der Kieler Woche ertragen, um die Luft abzukühlen.

*

Nachdem Frank den Audi hinter einem VW Bora auf der Auffahrt am Haus der Claasens abgestellt hatte, stieg er nicht sofort aus.

»Haben Sie schon einmal Angehörigen die Nachricht über den Tod eines Familienmitgliedes mitteilen müssen?«, fragte er. Zu seiner Überraschung bejahte Kommissarin Schami.

»Ja, leider. Während meiner Zeit bei der Schutzpolizei musste ich es mehrfach übernehmen«, antwortete sie.

Rana musste älter sein, als Frank gedacht hatte. Selbst wenn sie unmittelbar nach ihrem Abitur in den Landesdienst eingetreten war, konnte sie unmöglich nur 23oder 24Jahre alt sein.

»Dann wissen Sie ja, was uns gleich erwartet. Behalten Sie die Mutter im Blick, ja?«

Seine Kollegin nickte und stieß die Seitentür auf. Frank folgte ihr und warf einen Blick auf den gepflegten Vorgarten des Reihenhauses. Die Rasenfläche wurde an drei Seiten von sorgsam angelegten Blumenbeeten begrenzt. Eine früh blühende Rosenstaude fiel besonders ins Auge, vermutlich war dieser Effekt so auch gewollt. An der Haustür mussten sie nicht lange warten, nachdem Rana den Klingelknopf betätigt hatte. Eine Frau öffnete ihnen und musterte die Besucher.

»Frau Claasen?«, fragte Frank.

Die Frau von Mitte bis Ende30 nickte und wartete ab, was die Besucher von ihr wollten.

»Hauptkommissar Reuter von der SOKO Kieler Woche. Das ist meine Kollegin, Kommissarin Schami. Dürfen wir einen Moment ins Haus kommen?«

Beide Beamten hielten ihre Ausweise so, dass Eva Claasen die Angaben überprüfen konnte. Zwischen ihren Augenbrauen bildete sich eine tiefe Falte.

»Polizei? Was ist denn passiert?«

»Es wäre besser, wenn wir im Haus darüber sprechen könnten«, wiederholte Frank.

Als die Mutter von Bernd die Tür freigab, bemerkte er ihre zittrigen Hände. Offenbar ahnte sie, dass es keine guten Nachrichten waren. Die beiden Ermittler traten in einen engen Eingangsbereich.

»Mein Mann sitzt auf der Terrasse, Herr Kommissar. Gehen Sie bitte einfach weiter«, bat Eva Claasen.

Frank kam der Aufforderung nach und musterte dabei die Einrichtung des Wohn- und Esszimmers. Die Möbel waren nicht neu, aber genauso gepflegt wie der Vorgarten. Er bemerkte einige Fotografien an der Wand über einem Sideboard, auf denen auch Bernd zu sehen war. Alles zusammen ergab das Bild einer intakten Familie.

»Die Herrschaften sind von der Kriminalpolizei, Rolf.«

Der drahtige Mann hatte die Lektüre der Zeitung unterbrochen, als er Frank und Rana auf die Terrasse kommen sah. Er nahm die Lesebrille ab und schaute verwundert seine Frau an.

»Polizei? Wieso? Was ist denn passiert?«

Genau wie seine Frau war Rolf Claasen zunächst verwundert. Als er die Blässe in ihrem Gesicht bemerkte, krauste er die Stirn.

»Hauptkommissar Reuter. Das ist meine Kollegin, Kommissarin Schami. Es tut uns sehr leid, aber wir bringen schlechte Nachrichten. Ihr Sohn Bernd wurde tot aus der Förde geborgen.«

Da es keinen schonenden Weg gab, wie man den Eltern eine solch grausige Nachricht überbringen konnte, wählte er den direkten Weg. Es gab keine Zweifel an der Identität von Bernd Claasen, obwohl die abschließende Identifizierung durch ein Elternteil noch ausstand. Reuter wollte die Eltern aber nicht mit unnötiger Hoffnung ins Institut der Rechtsmedizin schicken.

»Nein. Sie müssen sich irren. Bernd ist gar nicht auf der Förde, weil er noch an den Konstruktionsplänen arbeiten wollte. Das ist nicht unser Sohn«, widersprach Rolf Claasen.

Hätte Frank nicht selbst den Ausweis gesehen, wären ihm möglicherweise doch noch Zweifel gekommen. Leider wusste er es besser. Es war den Kollegen der Wasserschutzpolizei gelungen, einen Segelkameraden von Bernd aufzutreiben und ihm die Fotografie des Toten zu zeigen. Die Aussage war eindeutig ausgefallen.

»Ich war dabei, als man den Leichnam Ihres Sohnes aus dem Wasser gezogen hat. Wir haben den Personalausweis gefunden. Es ist Bernd, darüber bestehen leider keine Zweifel«, sagte er.

Steifen Schrittes ging Frau Claasen zu dem leeren Stuhl und setzte sich. Der Schock erfasste sie und ließ ihr Gesicht wie eine Maske wirken. Frank warf seiner Kollegin einen Seitenblick zu und registrierte zufrieden, dass Rana die Mutter von Bernd im Auge behielt.

»Er wollte doch in der Werft arbeiten. Wieso war er denn auf der Förde?« Rolf Claasen schüttelte immer wieder den Kopf und schaute seine Frau verzweifelt an. Doch sie starrte auf die Fliesen, ohne auf ihren Mann zu reagieren. Bernd hatte gegen acht Uhr das Haus verlassen.

»Ihr Sohn ist auf einer Werft beschäftigt? Bei HDW?«, fragte Frank.

Der Vater hob verwundert den Blick. »Nein, da arbeite ich. Ich bin Rohrschlosser mit einer Spezialausbildung im Schweißen. Bernd ist auf der Dehlius-Werft in der Ausbildung.«

Vorsichtig entlockte Frank dem Vater mehr Informationen über Bernd, während Eva Claasen apathisch in ihrem Stuhl saß. Rana ging vor ihr in die Hocke und umfasste die Hände, deren Finger bisher ruhelos auf den Armlehnen getrommelt hatten.

»Sollen wir einen Arzt verständigen oder jemanden anrufen?«, fragte sie.

Als die Frau den Blick vom Boden löste und die Kommissarin anschaute, bildete sich erneut die Falte zwischen den Augenbrauen.

»Karla. Meine Schwester soll kommen. Die Telefonnummer ist unter der Taste vier gespeichert.« Ihre Stimme klang schleppend und verriet, wie stark Eva Claasen unter Schock stand. Es würde vermutlich nicht reichen, nur die Schwester zu Hilfe zu holen. Rana nahm wortlos das Telefon vom Tisch, drückte die Kurzwahltaste und lauschte.

Seine Kollegin hatte die Lage gut im Griff. Frank wandte sich daher erneut an Rolf Claasen. »Würden Sie mir bitte das Zimmer Ihres Sohnes zeigen?«

Der Schlosser reagierte wie eine gehorsame Marionette und ging mit schweren Schritten durchs Wohnzimmer, erklomm eine Wendeltreppe ins Obergeschoss und blieb dort vor einer geschlossenen Tür stehen.

»Das ist Bernds Zimmer.«

Er unternahm keine Anstalten, hineinzugehen, also drückte Frank die Klinke hinunter und betrat das Zimmer. Sein erster Blick erfasste einen großen Schreibtisch unter dem Fenster, auf dem gleich zwei riesige Monitore standen.

»Die benötigt er für seine Ausbildung. Bernd lernt Bootsbauer und muss Konstruktionspläne anfertigen. Dafür nutzt er ein teures Computerprogramm.« Der Vater stand im Türrahmen und starrte ebenfalls auf den Schreibtisch. Frank zog die Latexhandschuhe an, um den Kollegen der Spurensicherung das Leben nicht unnötig zu erschweren. An zwei Wänden beherrschten Poster mit unterschiedlichen Segelmotiven das Bild, während die Wand neben dem Schreibtisch mit Risszeichnungen zugepflastert war. Frank hatte keinen Schimmer, was man in der Ausbildung zum Bootsbauer alles lernen musste. Es sah auf jeden Fall sehr kompliziert aus und beeindruckte den Ermittler.

»Ihr Sohn war ein begeisterter Segler, oder?«, fragte Frank und sah sich die Unterlagen auf dem Schreibtisch an.

»Ja. Seitdem er seine erste Fahrt in einem Opti gemacht hat, wurde Segeln zu seinem Lebensinhalt.«