Mord im Koog - Harald Jacobsen - E-Book

Mord im Koog E-Book

Harald Jacobsen

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Beschreibung

Unweit der Stadt Büsum wird eine Frau tot aufgefunden. Mord. Schnell gerät der völlig verwirrte Ehemann unter Verdacht und wird in eine Klinik gesperrt. Zunächst hat der pensionierte Hauptkommissar Lutz Mahler keinen Grund, sich als Ermittler zu betätigen. Zu sehr schätzt er sein neues Leben auf dem Hof seiner Großtante im Hedwigenkoog. Erst als auf einer Streuobstwiese von Käthe Harmsen ein E-Bike des Ehepaares entdeckt wird, ändert sich die Situation. Mahler kommt der Bitte der umtriebigen Rechtsanwältin Thea Hammerich nach und will einmalig seine Fähigkeiten als Privatermittler einsetzen. Ihm kommen erste Zweifel an der Schuld des psychisch verwirrten Ehemannes, und er setzt alles daran, die verschiedenen Hinweise zu entwirren.

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Seitenzahl: 253

Veröffentlichungsjahr: 2025

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HARALD JACOBSEN

Mord im Koog

 

Regional-Krimi

 

 

Impressum

 

© Copyright Harald Jacobsen

© Copyright 2025 der E-Book-Ausgabe bei Verlag Peter Hopf, Minden

 

www.verlag-peter-hopf.com

 

ISBN 978-3-86305-340-6

 

Korrektorat: Andrea Velten, Factor 7

Cover und Umschlaggestaltung: etage eins, Jörg Jaroschewitz

Titelillustration: © [email protected]

 

Alle Rechte vorbehalten

 

Die in diesem Roman geschilderten Ereignisse sind rein fiktiv.

Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Begebenheiten, mit lebenden oder verstorbenen Personen wäre rein zufällig und unbeabsichtigt.

 

Der Nachdruck, auch auszugsweise, die Verarbeitung und die Verbreitung des Werkes in jedweder Form, insbesondere zu Zwecken der Vervielfältigung auf fotomechanischem, digitalem oder sonstigem Weg, sowie die Nutzung im Internet dürfen nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages erfolgen.

Inhaltsverzeichnis
Mord im Koog
Impressum
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46

 

 

Prolog

 

Die vier Urlauber aus dem Sauerland waren nach einem Einkaufsbummel über einen Markt mit regionalen Produkten in Richtung des kleinen Hafens von Büsum geschlendert. Dort standen die beiden Ehepaare nun verstört vor einem mit festen Tauen an Pollern gesicherten Segelboot, aus dessen Inneren seltsame Geräusche kamen.

»Das ist ein Kleinkind«, sagte Monika Faller.

Ihr Mann lauschte angestrengt und schüttelte dann mit geschürzten Lippen den Kopf.

»Nö. Das klingt nach einem Hund, der sich verlassen fühlt«, widersprach Hellmut.

Es begann eine kontroverse Diskussion, immer wieder von einem auf- und abschwellenden Wimmern unterbrochen.

»Kurt!«

Der laute Schrei kam aus Marianne Kollwitz’ Mund. Ihre drei Begleiter zuckten erschrocken zusammen. Dann bemerkten sie den ausgestreckten Zeigefinger der rundlichen Frau und schauten auf die Stelle, die Marianne entdeckt hatte. Ihr Ehemann stieß einen verblüfften Pfiff aus.

»Das sind Blutflecke. Ich denke, wir sollten lieber die Polizei rufen«, sagte er.

Die Freunde musterten die verschmierten Abdrücke an verschiedenen Stellen auf dem Segelboot. Einen Moment lang starrten alle vier nur auf die Flecke. Dann überwand Monika Faller als Erste ihren Schock und übernahm sofort wieder das Kommando.

»Du rufst die Polizei an, Kurt. Ich klettere an Bord und sehe nach, woher dieses Wimmern tatsächlich kommt«, sagte sie.

»Was? Bist du verrückt?«, stieß Marianne hervor.

In einem Reflex packte sie den Arm ihrer Freundin, um sie von ihrem Vorhaben abzuhalten. Energisch löste Monika die Finger.

»Nein, aber da könnte ein Kind in Not sein. Ich werde doch nicht einfach tatenlos herumstehen und das arme Wesen im Stich lassen«, erwiderte sie entschieden.

Monika wandte sich an ihren Ehemann.

»Du kommst mit und hilfst mir«, sagte sie.

Es war Hellmut Faller anzusehen, wie wenig ihm diese Idee zusagte. Da er aber seine Monika nur zu gut kannte, fügte der kompakt gebaute Rentner sich. Er stützte seine Ehefrau, während sie vorsichtig an Bord des Segelbootes kletterte. Anschließend erklomm er mit zittrigen Knien ebenfalls das Deck und vermied es, die verschmierten Blutflecken zu berühren. Monika schob sich entschlossen voran und ging vor der Tür, die hinunter ins Innere des Bootes führte, in die Hocke. Das Ehepaar lauschte angestrengt. Doch in diesem Augenblick konnten sie lediglich die Stimme von Kurt Kollwitz hören, der offenbar mit der Notrufzentrale telefonierte.

»Ich versuch mal, die Tür aufzukriegen«, sagte Monika.

Sie schaffte es, die Verriegelung mühelos zu öffnen und stieß die Tür auf. Bevor sie einen ersten Schritt ins Innere machen konnte, setzte das schreckliche Wimmern erneut ein. Durch die offene Tür klang es wesentlich lauter und in Kurts Ohren auch bedrohlicher.

»Ehrlich, Mausi. Wir sollten besser auf die Polizei warten«, mahnte er.

»Bis die hier eintreffen, wird es dunkel. Mensch, Kurt. Dat is die Provinz und nicht Dürren«, antwortete Monika.

In ihrer Aufregung verfiel sie teilweise in ihren Heimatdialekt. Als das Wimmern leiser wurde, schob Monika sich entschieden weiter vor. Kurt murrte zwar noch ein wenig, aber er wollte seine Frau auch nicht im Stich lassen. Durch die schmalen Fenster an den Seiten der kleinen Kabine sickerte Licht hinein. Monika starrte in die Ecke, aus der das Wimmern kam. Kurt registrierte die wilde Unordnung in der Kabine. Diverse Gegenstände waren aus Regalen gerissen worden und füllten zusammen mit von Blutflecken übersäten Sitzkissen den Boden. Monika kletterte bereits über die Hindernisse und näherte sich der zusammengekauerten Gestalt. Da riss erneut das Wehklagen ab, und plötzlich richtete sich ein Mann in der Sitzecke steil auf. Er starrte Monika und Kurt mit weit aufgerissenen Augen an. Sein Gesicht und seine Hände waren blutverschmiert, genau wie seine gesamte Kleidung.

»Ich bin schuld«, brüllte der Mann los.

Monika fuhr zu Tode erschrocken zurück und stolperte in Kurts Arme. Der reagierte in einem Reflex. Er packte seine Frau und zog sie schnell weg von der Sitzbank. Die ansonsten so unerschrockene Monika Faller ließ es widerstandslos geschehen, während die fassungslos auf das Elend von Mensch in der Sitzecke starrte. Gemeinsam schaffte es das Ehepaar, aus der Kabine zurück ans Deck zu gelangen. Gleichzeitig setzte wieder das grausige Wimmern des Mannes ein. Als Kurt mit Monika im Schlepptau hastig zurück auf den Kai stieg, wurden sie mit Fragen überschüttet. In der Ferne erklangen Martinshörner von sich nähernden Einsatzfahrzeugen.

 

 

Kapitel 1

 

Lutz ließ den blauen Land Rover am Saum der Streuobstwiese ausrollen. Dabei musterte er ein E-Bike, dessen Besitzer es an einen der Bäume am Rand des Geländes angelehnt hatte. Es kam öfter vor, dass neugierige Urlauber sich die Streuobstwiese ansahen. Manchmal auch nur, um sich zu erleichtern. Stießen sie dabei allerdings auf Doris’ Ziegen, die sich um das Grünzeug zwischen den Bäumen kümmerten, verlief die Begegnung nicht immer ganz friedlich.

»Scheint so, als ob wir wieder einmal einen Besucher hätten«, sagte Lutz.

Als Kommentar erhielt er eine Art zustimmendes Japsen von der Rückbank. Dort hatte sich Sissi, der weiße Königspudel, erhoben und streckte seinen schmalen Körper. Sie war zu Lutz’ ständiger Begleiterin geworden, seitdem seine Tante den Hund als Welpen mit auf den Hof gebracht hatte. Aus ihm noch unerfindlichen Grund hatte Sissi ihn als ihre erste Bezugsperson ausgewählt. Lutz stieß die Fahrertür auf und stieg aus dem Land Rover. Im Vorbeigehen öffnete er die hintere Tür für Sissi, die sofort heraussprang und zum abgestellten Fahrrad eilte. Aufgeregt schnüffelte die Pudeldame das gesamte Gefährt sorgsam ab und versenkte anschließend ihre Nase in das Gras ums Rad herum. Lutz verfolgte die Erkundung mit einem Grinsen auf dem Gesicht.

»Na, Prinzessin. Was sollen wir nun machen?«, fragte er.

Tante Käthe vermutete, dass es diese Anrede gewesen war, die Sissis Wahl entschieden hatte. Lutz hatte bei der Namensvergabe des Welpen eigene Vorschläge unterbreitet, doch seine Tante blieb bei Sissi. Da Lutz dabei unwillkürlich an die berühmte Tochter des Königs aus Bayern denken musste, nannte er die Hündin meistens nur Prinzessin. Die Pudeldame gab erneut diesen japsenden Laut als Antwort und trabte los. Lutz folgte ihr im gemächlichen Tempo, blieb hier und da an einem der Bäume stehen. Nach einer Weile kehrte Sissi zu ihm zurück und setzte sich vor Lutz hin. Sie legte den Kopf auf eine ganz bestimmte Art zur Seite und schaute ihr Herrchen auffordernd an.

»Sieht so aus, als ob du keine Menschenseele entdeckt hättest. Richtig?«, fragte Lutz.

Sissi kläffte zweimal zur Bestätigung. Lutz rieb sich nachdenklich den Nacken, während er hinüber zu dem E-Bike schaute.

»Es ist ziemlich neu und muss mehrere Tausend Euro wert sein. Hmm. So etwas lässt doch niemand einfach irgendwo in der Gegend herumstehen. Seltsame Sache«, murmelte er.

Sissi japste ihre Zustimmung. Also machte Lutz einen schnellen Rundgang über die Streuobstwiese. Er konnte ebenfalls keinen Besitzer finden, was ihn schließlich verärgert vor sich hin schimpfen ließ.

»Vermutlich hat sich irgend so ein Suffkopp das Rad ausgeliehen und später hier abgestellt. Verdammt! Tja, Prinzessin. Schätze, wir statten Hotte heute einen Überraschungsbesuch ab«, sagte Lutz.

Als er den Namen seines alten Freundes und Revierleiters der örtlichen Polizeistation in Büsum nannte, kläffte Sissi begeistert auf. Sie hatte den leicht übergewichtigen Hauptkommissar mit dem freundlichen Gemüt auf Anhieb in ihr Hundeherz geschlossen. Lutz ging zu dem Fahrrad, schob es zu seinem Land Rover und hievte es dort auf die Ladefläche. Allein der Umstand, dass es nicht mit einem Schloss gesichert war, ließ Lutz immer mehr an einen Diebstahl glauben. Nachdem er seine Begleiterin ins Auto gelassen hatte, rutschte er hinters Lenkrad und steuerte den Wagen in Richtung des Küstenortes. Zum Glück waren es lediglich wenige Kilometer, sodass Lutz’ Tagesablauf kaum durcheinandergeriet. Eigentlich hatte er der Obstwiese nur einen Kurzbesuch abstatten wollen, um dann zurück zum Harmsen-Hof zu fahren. Dort wartete bereits seine Brennanlage auf ihren Einsatz. Lutz hatte diverse Bestellungen für seinen Küstenbrand erhalten und musste daher die Vorräte ergänzen. Doch eine kleine Stippvisite auf dem Polizeirevier stellte dabei keine große Verzögerung dar. Auf der Fahrt rief Lutz seine Tante übers Smartphone an und informierte sie über den Umweg. Käthe schimpfte ebenfalls über diese Dummköpfe, die sich anderer Menschen Eigentum ausliehen und dann irgendwo abstellten. Lutz lachte über ihren Wortschatz und blinzelte dabei Sissi im Rückspiegel verschwörerisch zu.

 

Am Abend traf sich der ›Donnerstagklub‹ auf dem Harmsen-Hof. Neben Tante Käthe, die mit ihren 74 Lebensjahren die unangefochtene Leiterin des Treffens war, nahmen die Rechtsanwältin Thea Hammerich sowie die Strick-Designerin und Ziegenkäseproduzentin Doris Stankowski daran teil. Für diesen Abend hatte Lutz sich eine kleine Überraschung ausgedacht. Er wollte seinen neuen Schlehenschnaps von den trinkfreudigen Damen testen lassen. Lutz konnte sich darauf verlassen, ein ausgewogenes Urteil zu erhalten. Als er mit der Flasche in der Hand die sogenannte gute Stube betrat, war bereits eine angeregte Debatte in Gang. Die lediglich 158 cm große Thea Hammerich war mitten in einer Erzählung. Lutz bewegte sich leise zur Vitrine mit den Gläsern hinüber und füllte drei davon mit dem Schlehenschnaps.

»Der Sohn braucht also jetzt dringend eine Anwältin für seinen Vater und hat mich damit beauftragt«, sagte Thea.

Der neueste Klatsch und Tratsch war genauso ein wichtiger Bestandteil dieser Abende, wie gutes Essen und reichlich geistige Getränke. Normalerweise hielt Lutz sich fern, da er den reinen Frauengesprächen lieber aus dem Weg ging. Dieses Verhalten resultierte aus Erfahrungen vergangener Treffen, an denen er wenigstens zeitweise teilgenommen hatte. Bei verschiedenen Themen sah sich Lutz unvermittelt als Vertreter des männlichen Geschlechts mit kontroversen Diskussionen konfrontiert und schon bald in eine Ecke gedrängt. Auf eine Wiederholung dieser Erfahrung konnte er bestens verzichten. Lediglich der Probelauf des neuen Schnapses hatte ihn an diesem Abend in die gute Stube geführt. Er verteilte die Gläser nach einem Nicken seiner Tante an die Gäste und erhielt dafür zwei Reaktionen. Ein breites Lächeln von Doris Stankowski, die wie immer ihre beträchtlichen Rundungen an den wichtigen Stellen durch eine passende Kleidung betonte. Die aus dem Großraum Köln stammende Zugereiste hatte ähnlich wie die Pudeldame sofort eine heftige Zuneigung zu Lutz entwickelt. Er hatte es bislang jedoch verstanden, alle Avancen geschickt abzuwehren. Thea Hammerich sah sich bei ihren Schilderungen gestört und schickte Lutz einen bösen Blick aus ihren braunen Augen.

»Der arme Mann war blutverschmiert, völlig verstört und leicht verletzt. Die Kripo hat die Ermittlungen übernommen. Vorerst wurde mein Mandant in die geschlossene Abteilung der Psychiatrie in Itzehoe gebracht«, sprach sie weiter.

Es war ein reiner Reflex, dass Lutz auf das Gesagte reagierte.

»Wieso die Kripo?«, hakte er nach.

»Ach, du Dummerchen. Wärst du von Anfang an bei uns gewesen, hättest du Theas ganzen Bericht gehört. Der Mann ist nur leicht an seinen Händen und Unterarmen verletzt. Davon kann niemals das viele Blut kommen«, übernahm Doris die Antwort.

Sie strahlte Lutz dabei aus ihren meeresgrünen Augen an. Gleichzeitig strich sie eine Strähne ihres langen, hellblonden Haares zurück. Wer Doris’ wahres Alter nicht kannte, würde sie immer auf etwa Anfang vierzig schätzen. In Wahrheit hatte sie bereits 51 Lebensjahre auf dem Buckel. Thea schnaubte verärgert auf.

»Demnach geht man seitens der Polizei davon aus, dass er in eine tätliche Auseinandersetzung mit einer anderen Person verwickelt war. Gibt es denn konkrete Hinweise?«, wollte Lutz wissen.

Er konnte drei Jahrzehnte als Ermittler nicht einfach so abschütteln. Dem entgegen standen lediglich zwei Jahre im vorzeitigen Ruhestand aus gesundheitlichen Gründen. Dennoch hätte Lutz sich am liebsten auf die Zunge gebissen. Er wollte nicht in einen Fall von Thea hineingezogen werden. Ihm gefiel seine Rolle als Helfer auf dem Harmsen-Hof und Schnapsbrenner viel zu sehr, um sich freiwillig in die alte Tretmühle zu begeben.

»Nein, nur weitere Fragen. Mein Mandant ist zusammen mit seiner Ehefrau zu einem Kurzurlaub nach Büsum gekommen. Doch von ihr fehlt bislang jede Spur, und natürlich denkt die Kommissarin sofort an ein Verbrechen«, antwortete die Rechtsanwältin.

Lutz’ geschultes Gehirn schlug unwillkürlich einen Bogen zu seiner Entdeckung an der Streuobstwiese.

»War die Frau vielleicht mit einem E-Bike unterwegs?«, fragte er.

Thea Hammerich schaute ihn verblüfft an.

»Allerdings. Was weißt du denn darüber?«, fragte sie.

Lutz rief sich Marke und Aussehen des E-Bikes in Erinnerung. Er gab eine Beschreibung des Fahrrades ab und beobachtete die Rechtsanwältin aufmerksam. Als Thea sich zurücklehnte und dann ihren Schnaps mit einem Ruck austrank, ahnte Lutz Böses.

»Teufel auch. Das passt sehr gut auf die Beschreibung des E-Bikes der vermissten Ehefrau. Was weißt du darüber?«, fragte sie.

Lutz schilderte in wenigen Sätzen, wo er das Fahrrad entdeckt hatte.

»Ich habe es zum Revier nach Büsum gebracht«, sagte er.

Nun war es an Lutz, sich ebenfalls ein Glas aus der Vitrine zu holen. Er füllte es mit dem Schlehenschnaps, sank auf einen freien Stuhl neben Doris und folgte Theas Beispiel. Während das hochprozentige Getränk wie flüssiges Feuer durch seine Kehle in den Magen floss, legte die Blondine ihm tröstend eine Hand auf den Arm. Ausgerechnet ein abgestelltes E-Bike konfrontierte Lutz mit einem Kriminalfall von Thea. Er war sich im Klaren darüber, dass die resolute Anwältin ihn jetzt nicht mehr so leicht aus ihrem Fall entlassen würde.

 

 

Kapitel 2

 

Er hatte es geahnt und konnte sich nicht dagegen wehren. Am Freitagmorgen bat ihn Thea Hammerich zu einem Gespräch in ihre Kanzlei. Lutz Mahler hatte sich zunächst dagegen gewehrt, doch die Anwältin fand leider sehr gute Argumente für ein Treffen.

»Du hast uns selbst gestern Abend dazu verdonnert, nach der Ehefrau im Umfeld der Streuobstwiese zu suchen. Du bist somit längst ein Teil der Mandatsbetreuung«, lautete die klare Aussage.

Leider hatten sie bei ihrer Suche keinen Hinweis auf die Frau oder einer anderen Person entdecken können. Lutz kämpfte noch kurze Zeit gegen das Unvermeidliche und fügte sich schließlich nach einem strengen Blick seiner Tante. Also kletterte er in Begleitung der Pudeldame in seinen Land Rover und fuhr zur Kanzlei am Deich. Als er seinen Wagen auf den Parkplatz in der Nordseestraße ausrollen ließ, wurden er und Sissi bereits sehnsüchtig erwartet. Theas Rauhaardackel Wastl saß auf dem Podest vor der Eingangstür und sprang beim Eintreffen des Land Rovers sofort auf seine kurzen Beine. Lutz wandte sich grinsend zur Pudeldame auf der Rücksitzbank um.

»Dein Verehrer erwartet uns schon. Möchtest du vielleicht im Wagen auf mich warten, Prinzessin?«, fragte er.

Für diese Anspielung strafte Sissi ihn mit einem vorwurfsvollen Blick. Lutz lachte auf, stieg aus dem Fahrzeug und öffnete die hintere Tür. Mit einem eleganten Satz sprang Sissi aus dem Land Rover, begrüßt vom freudig kläffenden Wastl. Bei der lauten Begrüßung öffnete sich die Eingangstür, und die fröhliche Anwaltsgehilfin Mara eilte auf die Hunde zu. In der Rechten hielt sie die Leine für den Rauhaardackel.

»Thea machte den Vorschlag, dass ich mit dem jungen Liebespaar einen Ausflug am Deich machen könnte. Sind Sie damit einverstanden, Herr Mahler?«, fragte sie.

Lutz holte die erforderliche Leine sowie eine Tasche mit Kotbeuteln aus dem Heck des Land Rovers. Beides drückte er Mara in die Hand.

»Vorschlag nennen Sie solche Anordnungen? Vermutlich fährt man besser damit, wenn man Thea so interpretiert«, sagte Lutz.

Mara grinste ihn verschwörerisch an, legte beide Hunde an die Leine und trabte in Richtung Deich davon. Lutz sah dem Trio kurz hinterher, bevor er mit einem Stoßseufzer die drei Stufen zur Eingangstür erklomm und die Kanzlei betrat. Die Durchgangstür zu Theas Büro stand weit offen, sodass Lutz einfach eintrat und sich unaufgefordert in einen der Besucherstühle vor ihrem Schreibtisch setzte. Die Anwältin hob kurz einen Finger in die Höhe und signalisierte ihrem Besucher so, dass sie noch beschäftigt war. Lutz streckte seine langen Beine aus und beobachtete Thea dabei, wie sie mit fliegenden Fingern die Tastatur ihres Computers bearbeitete. Schließlich beendete die Anwältin ihre Tätigkeit und lehnte sich in ihrem Schreibtischstuhl zurück.

»Moin, Lutz. Ich habe auf eine Mail von Hauptkommissarin Sievers geantwortet. Sie hat ihr Versprechen eingehalten und mir ein Update in Bezug auf die Suche nach Frau Evelyn Weimer geschickt«, sagte Thea.

»Moin. Und? Hat die Polizei sie gefunden?«, fragte Lutz.

Thea schüttelte mit düsterer Miene den Kopf.

»Nein. Bislang existiert keine Spur von ihr. Eine Schnellanalyse der Blutspuren an Körper und Kleidung von Herrn Weimer ergab leider ein übles Ergebnis. Der größte Teil davon stammt von einer fremden Person. Die Blutgruppe passt aber zu der von der Ehefrau«, antwortete sie.

Lutz war klar, was es für den Mann bedeutete.

»Damit verstärkt sich die Indizienlage gegen deinen Mandanten. Wäre Evelyn Weimer irgendwo unversehrt aufgetaucht und könnte sich erklären, sähe es besser aus«, sagte er.

»Brillante Analyse, Herr Kommissar«, spottete Thea.

Dann schnappte sie sich einen Ausdruck und warf ihn Lutz zu. Der fing das Blatt Papier auf und überflog den Inhalt. Es war die Kopie einer Rechnung eines Fahrradhändlers aus Laatzen, dem Wohnort der Weimers.

»Was soll mir das sagen?«, wollte Lutz wissen.

»Das von dir gefundene E-Bike gehört Rolf Weimer, nicht seiner Ehefrau«, erwiderte Thea.

Lutz’ Augenbrauen ruckten überrascht in die Höhe. Die Faktenlage gestaltete sich zunehmend verwirrend.

»Hast du auch mit Hotte gesprochen? Wo war das Ehepaar untergebracht?«, fragte Lutz.

Thea warf ihm eine weitere Kopie zu. Dieses Mal war es die Buchungsbestätigung einer Privatunterkunft für das Ehepaar Weimer. Bei der Anschrift stieß Lutz einen leisen Pfiff aus.

»Genau. Die Wohnung befindet sich unweit des Museumshafens. Interessant, nicht wahr?«, sagte Thea.

Die sich daraus ableitende Frage lag auf der Hand. Wieso war Rolf Weimer nicht zurück in die nahe gelegene Wohnung gegangen? Wozu das Versteck im Hafen?

»Ich gehe davon aus, dass die Wohnung bereits kriminaltechnisch überprüft wurde. Korrekt?«, hakte Lutz nach.

Als eine Antwort ausblieb, hob er verwundert den Blick von der Kopie. Thea saß entspannt zurückgelehnt in ihrem Stuhl und zeigte ein katzenhaftes Schmunzeln. Lutz spürte, wie sich seine Nackenhaare aufstellten. Er wusste zwar noch nicht, wie, aber Thea hatte ihn in eine Falle gelockt.

»Nun, mein lieber Lutz. Wenn ich dir Fragen zu vertraulichen Inhalten meiner Mandantschaft beantworten soll, brauch ich zunächst eine Antwort von dir. Wirst du mich als privater Ermittler bei dem Fall unterstützen oder nicht?«, wollte sie wissen.

Der honigsüße Tonfall konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass Thea den Neffen ihrer Freundin in eine Ecke gedrängt hatte. Lutz forschte kurz in seinem Inneren nach den vertrauten Widerständen. Zu seiner Überraschung spürte er ein altvertrautes Gefühl. Seine berufliche Neugier war geweckt, und daher konnte es nur eine Antwort geben. Lutz gab nach.

»Na schön. Dieses eine Mal übernehme ich die Laufarbeit für dich. Aber es bleibt eine Ausnahme!«, antwortete er.

Thea lächelte leutselig und grinste wie eine Katze, die soeben die Maus geschnappt hatte. Kein gutes Gefühl für Lutz. Aber jetzt war es zu spät, und ein Teil von ihm war sogar begierig darauf, mit den Recherchen loszulegen.

 

 

Kapitel 3

 

Heike Sievers schöpfte sich mit beiden Händen kaltes Wasser ins Gesicht. Es war nicht nur die Erschöpfung durch die Arbeit, die ihr zusetzte. Der überraschende Anruf wegen einer vermissten Person hatte sich zunächst nicht sonderlich aufregend für die Hauptkommissarin angehört. Besonders während der Touristensaisons kam es immer wieder zu solchen Einsätzen. Zumeist klärten sie sich schnell auf und verliefen harmlos. Doch Anfang November war nicht die typische Zeit für Urlauber in Büsum, und dazu kamen die dramatischen Umstände. Die vermisste Person war die Ehefrau von Rolf Weimer, der in einem alarmierenden Zustand im Museumshafen gefunden worden war. Vieles deutete auf eine Beziehungstat hin, und daher hatte Heike sich umgehend auf den Weg nach Büsum gemacht. Der Anruf dazu erreichte sie in ihrem Bett zu Hause. Zusammen mit ihrem jungen Kollegen hatte Heike bis weit nach Mitternacht noch einen Einsatz gegen eine Jugendbande geleitet. Als der Anruf sie weckte, hatte die Kommissarin keine vier Stunden am Stück schlafen können. Seitdem war sie auf den Beinen und war für die Personensuche nach Evelyn Weimer verantwortlich. Zusätzlich bereitete ihr wieder einmal ihr vierzehnjähriger Sohn Jonas Kopfzerbrechen. Er stand irgendwie in Verbindung zu dieser Jugendbande, was Heike eigentlich heute mit ihm besprechen wollte. Doch der neue Fall wirbelte alle Vorhaben durcheinander, sodass Heike ihren Ex-Mann Bernd Sievers und Vater von Jonas um dessen Hilfe bitten musste. Der schob die Verantwortung gleich weiter an seine neue Ehefrau, die schöne und vor allem junge Sibylle. Die war vor sechs Monaten selbst Mutter geworden und sah in dem Sohn aus erster Ehe ihres Mannes eine unnötige Belastung. Heike wusste von den Umständen durch eine WhatsApp-Nachricht ihres Sohnes. Sie war kurz und voller Vorwürfe.

Warum bist du nicht hier?

»Weil ich einen Job habe, Jonas. Das weißt du und auch, dass dein Vater sich einen Dreck darum schert«, murmelte Heike verbittert.

Als die Nachricht eintraf, hatte sie ihren Kollegen um eine kurze Pause gebeten. Zum Glück war Thorben Freiberg ein loyaler Mitarbeiter und zeigte Verständnis für seine erschöpfte Chefin. Heike zog mehrere Einmalhandtücher aus dem Spender neben dem Waschbecken und trocknete sich ihr Gesicht ab. Sie musterte ihre Erscheinung im Spiegel und verglich diese unwillkürlich mit der neuen Frau an Bernds Seite. Halblange dunkelblonde Haare, die sie wie so oft zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden hatte, langweilige blaue Augen und dunkle Ringe darunter. Frustriert streckte Heike ihrem Spiegelbild die Zunge raus.

»Langweilige Erscheinung, meine Liebe. Aber als berufstätige Frau fehlt nun einmal die Zeit für ausgiebige Kosmetikstunden oder Shoppingtouren in Hamburg«, sagte sie zu ihrem Spiegelbild.

Mit einem entschiedenen Ruck straffte Heike ihre Schultern und schleuderte die zusammengeknüllten Papiertücher in den bereits überquellenden Korb unter dem Spender. Heike verließ den Waschraum auf dem Revier in Büsum und kehrte zurück in das Großraumbüro. Dort hatten sie und Thorben die Einsatzzentrale eingerichtet. Der groß gewachsene Mann mit der braunen Haarmähne und dem ansteckenden Lachen telefonierte. Als er Heike entdeckte, winkte er sie heran.

»Alles klar, Kollege. Wir fahren gleich los und treffen uns dort«, sagte er.

Heike griff bereits nach ihrer Steppjacke. Thorben legte den Hörer weg und schnappte sich seinerseits die gefütterte Jacke von seiner Stuhllehne. Im Laufen informierte er seine Vorgesetzte über den Inhalt des Telefonats. »Wir müssen raus zum Windpark in der Steffensstraße«, sagte er.

Sie verließen das Gebäude und eilten auf dem Parkplatz zu ihrem Opel hin. Thorben entriegelte den Dienstwagen mit der Fernbedienung und sprang auf den Fahrersitz. Heike musste sich anstrengen, um nicht den Anschluss zu verlieren. Thorben war fünfundzwanzig Zentimeter größer als sie und legte mit seinen langen Beinen sehr viel schneller die Distanz zum Opel zurück. Heike hechelte hinterher und ließ sich schwer atmend auf den Beifahrersitz fallen. Thorben warf seiner Chefin einen kritischen Seitenblick zu.

»Du solltest mehr auf deine Kondition achten«, stellte er fest.

Heike warf ihrem Kollegen einen strafenden Blick zu. Er war nicht nur wesentlich größer als sie, sondern auch dreizehn Jahre jünger.

»Vorsicht, Herr Oberkommissar. Solche frechen Bemerkungen können sich durchaus auf die nächste Beurteilung auswirken«, drohte sie.

Thorben grinste breit und lenkte den Opel vom Parkplatz hinunter auf die Straße. Als er sofort sowohl Blaulicht als auch Martinshorn einschaltete, ruckten Heikes Augenbrauen in die Höhe.

»Was ist dort in der Steffensstraße?«, fragte sie.

Ihr Kollege beschleunigte den Wagen, während er seiner Chefin antwortete.

»Ein Techniker, der im Windpark einen Routineeinsatz hat. Er wollte sich ein wenig die Beine vertreten und ist zu einem nahe gelegenen See gewandert. Dort hat er sie entdeckt«, sagte Thorben.

Heike starrte ihn alarmiert an.

»Und mit sie meinst du Evelyn Weimer?«, hakte sie nach.

Der sonst so fröhliche Oberkommissar nickte mit düsterer Miene.

»Sie ist nicht mehr am Leben, richtig?«, fragte Heike.

Thorben schüttelte den Kopf.

»Nein. Jemand hat sie getötet. Niedergemetzelt trifft es wohl besser. Jedenfalls hat es die Kollegin von der Streife am Telefon so beschrieben«, antwortete er.

Hauptmeisterin Sörensen war zusammen mit ihrem Kollegen als Erste am See gewesen. Beim Anblick der Toten hatte es den unerfahrenen Beamten buchstäblich umgehauen. Es war sein erster Todesfall, und dieser schien dazu besonders grausam zu sein. Heike lauschte der Schilderung und spürte ein Frösteln am ganzen Körper. Aus der Suche nach einer vermissten Person war nun offenbar ein Mordfall geworden. Es war nicht ihre erste Ermittlung in Bezug auf ein Tötungsdelikt. Doch Heike ahnte, dass es ein komplizierter Fall mit erheblichem Druck werden würde. Genau das, was sie aktuell am wenigsten brauchen konnte. Kaum formte sich dieser Gedanke in ihrem Kopf, ermahnte Heike sich selbst. Es war kleinlich, in Anbetracht einer ermordeten Frau an ihre banalen Probleme zu denken. Da würde sich die schöne Sibylle eben ein wenig länger mit Jonas auseinandersetzen müssen. Heike wusste natürlich, dass dies ein frommer Gedanke war. Es würde wieder einmal ihrer organisatorischen Fähigkeiten bedürfen, um Jonas nicht sich selbst zu überlassen.

 

 

Kapitel 4

 

Es war sein erster Besuch in der Psychiatrie in Itzehoe. Lutz folgte Thea Hammerich ins Besprechungszimmer des behandelnden Arztes von Rolf Weimer. Dr. Marquardt war ein hagerer Mann mit stechenden blauen Augen, die hinter einer rahmenlosen Brille seine Besucher studierten. Lutz fand den Mediziner auf Anhieb unsympathisch, allein anhand dessen Auftretens. Der Psychiater ließ keine Zweifel daran aufkommen, dass er weder die Rechtsanwältin noch den ehemaligen Kommissar in der Nähe seines Patienten haben wollte.

»Natürlich besitzt Herr Weimer weiterhin das Recht, jederzeit mit einem Rechtsbeistand zu sprechen«, erklärte Dr. Marquardt.

Er war neben seinem Schreibtisch stehen geblieben und signalisierte seine Ablehnung. Thea wirkte allerdings nicht so, als ob er damit nur im Geringsten beeindrucken würde. Unaufgefordert ließ die Anwältin sich in einen der Besucherstühle sinken, was Marquardt sichtlich irritierte. Lutz verkniff sich ein Schmunzeln. Er begann im Raum herumzuschlendern und musterte die aufgehängten Bilder mit vorgetäuschtem Interesse. Gleichzeitig beobachtete er den Psychiater in der Spiegelung der Gläser und registrierte zufrieden die resignierende Haltung des Arztes. Marquardt ging um seinen Schreibtisch herum und setzte sich. Lutz beendete seine Wanderung und nahm nun neben Thea Platz, die den Arzt herausfordernd anschaute. Eine unangenehme Stille legte sich über die drei Menschen, bis es nachdrücklich an der Tür klopfte und auf Marquardts Aufforderung ein hoch gewachsener Mann den Raum betrat.

»Guten Tag. Armin Weimer. Ich komme wegen meines Vaters«, sagte der Neuankömmling.

Thea hatte sich Weimer zugewandt und schenkte ihm ein warmes Lächeln.

»Sie kommen genau richtig, Herr Weimer. Thea Hammerich, und das ist mein Mitarbeiter, Herr Lutz«, sagte sie.

Im runden Gesicht vom Sohn des Opfers leuchtete es auf. Er reichte sowohl der Anwältin als auch Lutz seine schwammige Rechte. Dr. Marquardt räusperte sich, um Weimer auf sich aufmerksam zu machen. Es missfiel dem Arzt offenkundig, wie Thea das Heft des Handelns in ihre Hand nahm. Lutz erhob sich und zog von einem Besprechungstisch einen dritten Stuhl heran.

»Bitte. Setzen Sie sich doch neben Frau Hammerich«, sagte er.

Mit einem Nicken bedankte sich Armin Weimer und sank in den angebotenen Stuhl.

»Da wir nunmehr vollständig sind, kann uns Doktor Marquardt etwas über den Zustand Ihres Vaters mitteilen. Deswegen sind Sie ja gekommen. Richtig, Herr Weimer?«, sagte Thea.

»Ja, unbedingt. Wie geht es ihm, Herr Doktor?«, fragte Armin Weimer.

Dr. Marquardt nahm seine Brille ab und reinigte sie affektiert mit einem Tuch. Dabei schaute er den Sohn seines Patienten streng an.

»Bevor ich solche Auskünfte erteilen kann, benötige ich noch Ihr Einverständnis. Möchten Sie wirklich, dass Frau Hammerich und ihr Begleiter voll umfänglich eingeweiht werden, Herr Weimer?«, wollte er wissen.

Der Angesprochene schaute verwirrt zu Thea, die ihre Augen verdrehte und zustimmend nickte.

»Ja, Frau Hammerich ist meine Rechtsberaterin, und ihr Angestellter soll ebenfalls informiert sein«, antwortete Herr Weimer.

Mit einem knappen Nicken platzierte der Arzt seine Brille wieder auf die Nase und gab ihnen einen Bericht über Rolf Weimers Zustand seit seiner Einlieferung.

»Dank meiner Bemühungen ist der katatonische Zustand mittlerweile deutlich abgeschwächt, wenn auch noch vorhanden. Die Medikation erfüllt ihren Zweck. Meiner professionellen Meinung nach benötigt Ihr Vater auch weiterhin eine entsprechende Behandlung hier in der Klinik«, sagte Dr. Marquardt.

»Wir könnten also ein Gespräch mit Herrn Weimer führen«, stellte Thea fest.

Für diese Bemerkung erhielt sie einen abweisenden Blick des Arztes.

»So sehr ich dieses Ansinnen aus Ihrer Sicht auch nachvollziehen kann, muss ich als behandelnder Arzt doch dagegen votieren. Der Zustand meines Patienten ist weiterhin sehr labil. Eine solche Befragung könnte möglicherweise einen Rückfall auslösen. Daher rate ich dringend davon ab«, protestierte Dr. Marquardt.

Das Einzige, was Lutz dem Mann zugutehielt, war der weitgehende Verzicht auf Fachchinesisch.

»Ihre Bedenken wurden notiert, Doktor. Sie können selbstverständlich das Gespräch beobachten und notfalls einschreiten. Das wäre doch eine perfekte Lösung, nicht wahr, Herr Weimer?«, sagte Thea.

Lutz schätzte den Sohn auf etwa Mitte Dreißig. Armin Weimer schien Schwierigkeiten damit zu haben, seinen eigenen Willen zu bekunden. Offenbar hatte das auch Thea schnell erkannt und lenkte ihn.

»Äh, ja. Wir müssen unbedingt wissen, was da eigentlich passiert ist«, sagte Weimer.

Dr. Marquardt schien einen weiteren Einwand formulieren zu wollen, doch da sprang Thea auf und zog Armin Weimer am Ellenbogen gleich mit in die Höhe. Erneut musste Lutz sich ein Schmunzeln verkneifen. Er war froh, auf Theas Seite zu stehen. Angesichts ihres forschen Auftretens fand er ihren Spitznamen äußerst passend. Der ›Kugelblitz‹ war ins Büro des Arztes gefahren und wirbelte alles durcheinander. Dr. Marquardt führte seine Besucher in einen gemütlich eingerichteten Raum, der mit hellen Holzmöbeln nach skandinavischer Art eingerichtet worden war. Bodenlange Vorhänge aus einem Blumenstoff verstärkten den positiven Eindruck des Raumes, genau wie die einladende Couch. Der Arzt deutete auf ein schmales Sichtfenster an der westlichen Wand.

»Ich werde das Treffen von dort aus beobachten. Beim geringsten Eindruck, dass es meinen Patienten belastet, schreite ich ein«, sagte Marquardt.

Thea wedelte ihm mit einer Hand zu.

»Schön schön. Und nun holen Sie Herrn Weimer«, erwiderte sie.

Der Arzt wandte sich mit einem Ruck um und verschwand. Keine drei Minuten später führte ein kräftig gebauter Pfleger Rolf Weimer in das Zimmer. Lutz wollte selbst keine Fragen stellen, sondern ebenfalls nur als Beobachter zugegen sein. Als Erstes registrierte er die leicht apathische Haltung des Unternehmers. Die Firma von den Weimers stellte Spezialkupplungen sowie Dichtungen für Maschinen her. Laut seinem Profil, welches Thea an Lutz weitergeleitet hatte, war Rolf Weimer der geborene Verkäufertyp. Davon war in diesem Augenblick jedoch nichts zu erkennen. Der Pfleger führte Weimer zu der Couch, wo der Unternehmer sich niederließ. Zu diesem Zeitpunkt hatte er mit keinem der Besucher auch nur einen flüchtigen Augenkontakt aufgenommen.

Lutz konnte nicht beurteilen, wie viel Einfluss die Medikation hatte. Armin Weimer stand neben Thea und starrte seinen Vater entgeistert an. Erst ein kleiner Stupser der Anwältin brachte ihn dazu, sich neben Rolf Weimer auf die Couch zu setzen. Er nahm die Hand seines Vaters in seine und streichelte sie sanft.

»Papa. Was ist nur passiert?«, fragte er.

Armin Weimer sprach mit leiser Stimme. Zunächst zeigte sein Vater keine Reaktion. Thea wollte einen Schritt auf die Couch zumachen, als Rolf Weimer plötzlich zu reden begann. »Entschuldige, Armin. Es ist alles meine Schuld. Ich bin für Mamas Tod verantwortlich. Mein Gott, was habe ich nur getan?«, sprudelte es aus ihm heraus.

Sein Sohn ließ schlagartig die Hand seines Vaters los und schob sich von ihm weg. Nacktes Entsetzen war in Armin Weimers Gesicht getreten.

»Du hast Mama umgebracht? Warum nur?«, fragte er.

Seine Stimme wurde schrill bei der zweiten Frage. Rolf Weimer sah zu Armin hin. Dann flossen auf einmal Tränen über das Gesicht des Vaters, welches er schließlich mit einem Aufschrei in seinen Händen verbarg. Sekunden später öffnete sich die Tür, und Dr. Marquardt kam zusammen mit dem Pfleger ins Zimmer geeilt. Er stellte sich schützend zwischen seinen Patienten und Thea Hammerich.

»Genug jetzt! Sie sehen doch selbst, was Sie angerichtet haben. Mein Patient benötigt Ruhe, und ich untersage Ihnen jedes weitere Wort«, rief er.

Obwohl Dr. Marquardt lediglich mittelgroß war, musste Thea doch zu ihm aufschauen. Er hielt ihrem Blick stand, bis die Anwältin sich fügte und wortlos den Raum verließ. Armin Weimer kam taumelnd auf die Füße, sodass Lutz ihn beim Hinausgehen stützen musste. Auf dem Gang drehte der völlig verzweifelte Sohn sich um. Er starrte Lutz aus großen Augen an.

»Er hat es getan. Mein Vater hat gestanden, meine Mutter ermordet zu haben«, sagte er.

Seine Stimme war kaum mehr als ein heiseres Flüstern. Thea war mit drei schnellen Schritten bei dem Sohn. Sie packte seine Ellenbogen und zwang Armin Weimer, ihr ins Gesicht zu sehen.

»Nein, hat er nicht! Ihr Vater steht nach wie vor unter Schock. Er gibt sich offensichtlich die Schuld an dem, was Ihrer Mutter zugestoßen ist. Das bedeutet aber nicht, dass er sie ermordet hat. Verstehen Sie mich?«, redete Thea ihm gut zu.

Armin Weimer krauste die Stirn. Lutz ließ das Treffen nochmals vor seinem geistigen Auge Revue passieren. In seiner Zeit als Mordermittler hatte er Hunderte von Vernehmungen geführt. Im Laufe der Jahre hatte sich dabei eine Art Instinkt entwickelt, dem Lutz zu folgen gelernt hatte. Er wandte sich nun seinerseits an Armin Weimer.