Offene Rechnungen - Harald Jacobsen - E-Book + Hörbuch

Offene Rechnungen E-Book

Harald Jacobsen

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Beschreibung

In der Kreisstadt Rendsburg wird der leitende Kriminalbeamte, Hauptkommissar Wiese ermordet aufgefunden. Ein Racheakt von Verbrechern? Oberkommissarin Esther Helmholtz will das Verbrechen an ihrem langjährigen Kollegen und Freund aufklären. Doch ihr fehlt die nötige Erfahrung und so bittet Staatsanwalt Wolter das LKA in Kiel um Unterstützung. Hauptkommissar Frank Reuter gehört zu den erfolgreichsten Ermittlern des Landeskriminalamtes und muss sich dennoch mit einer internen Untersuchung herumschlagen. Da sein Vorgesetzter den schwierigen Mitarbeiter aus der Schusslinie haben möchte, schickt er Frank Reuter nach Rendsburg. Die unerfahrene Oberkommissarin, der schwierige Ermittler des LKA und auch mehrere Freunde des Toten müssen sich zusammenraufen, um am Ende den Mörder zu stellen. Hauptkommissar Reuter findet starke Indizien und kann bald eine Festnahme veranlassen. Ein Irrtum? Oberkommissarin Helmholtz sowie ein Arzt und eine Psychologin glauben nicht an die Schuld des Festgenommenen und gehen eigene Wege, um den wahren Mörder zu fassen. Am Ende müssen alle an einem Strang ziehen, um so den Mörder endgültig zu überführen.

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HARALD JACOBSEN

Originalausgabe Oktober 2009

Copyright © 2009 by Harald Jacobsen

Copyright © 2015 der eBook-Ausgabe by Verlag Peter Hopf, Petershagen

Lektorat: Ute König

Umschlagfotos: © Martina Jacobsen

Wappen Rendsburg mit freundlicher Genehmigung von Andreas Breitner – Bürgermeister von Rendsburg

Cover-Gestaltung: etageeins, Jörg Jaroschewitz

E-Book-Konvertierung: Thomas Knip | Die eBook-Manufaktur

ISBN ePub 978-3-86305-164-8

www.verlag-peter-hopf.de

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Alle Rechte vorbehalten

Die in diesem Roman geschilderten Ereignisse sind rein fiktiv.

Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Begebenheiten, mit lebenden oder verstorbenen Personen wäre rein zufällig und unbeabsichtigt.

Inhalt

Das Buch

Der Autor

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Das Buch

Der Autor

HARALD JACOBSEN

Prolog

Norbert Martens stellte seine Honda vor der Tür des Geschäftshauses ab, so wie er es jeden Tag seit drei Wochen tat. Es war sein zweites Jahr als Motorradfahrer und diesen Frühling zählte Norbert zu den Frühstartern. Leise vor sich hin pfeifend ging er zur Eingangstür des quadratischen Gebäudes, in denen sich viele Firmen angesiedelt hatten. Der milde Wind trug das Motorengeräusch eines Frachters vom nahe gelegenen Nord-Ostsee-Kanal an seine Ohren. Er hatte hier schon während seiner Studienzeit gejobbt und war nach dem erfolgreichen Abschluss als Angestellter übernommen worden.

»Immer das Gleiche«, brummelte Norbert, als er einen Aufsteller zur Seite schob.

Im Eingangsbereich des mit viel Glas gebauten Gebäudes gab es einige metallene Hinweistafeln, die als Wegweiser im Gebäude genutzt wurden. Wenn ein Unternehmen eine Veranstaltung abhielt, wurden diese Hinweisschilder in der Nähe des Eingangsbereichs platziert. So steuerte man die Besucher in die richtige Etage. Es gehörte zum üblichen Prozedere, dass die Putzfrau diese metallenen Tafeln in einer Ecke des Eingangsbereichs zusammenstellte. So erleichterte sie sich ihren Job, vergaß aber meistens, die Hinweistafeln wieder an ihren Platz zu stellen. Somit gehörte es zur täglichen Routine für Norbert, diese Hinweistafeln wieder an ihren Platz zu rücken. Um beide Hände dafür frei zu haben, hatte er sich den Integralhelm über den linken Unterarm geschoben. Nachdem Norbert diese Aufgabe erledigt hatte, wandte er sich dem breiten Empfangstresen zu. Ihn trennten noch drei Schritte vom Tresen, als sein rechter Fuß den Halt verlor. Norbert kämpfte um das Gleichgewicht und konnte einen Sturz in letzter Sekunde mit beiden Händen am Tresen abfangen. Erschrocken wandte er sich um und sah auf den Boden, um die Ursache für die Schlidderpartie zu erkunden.

»Was ist …?«, setzte er an, als er die verwischte Spur ausmachte.

Kapitel 1

Frank Reuter hatte sich in die Schlange der wartenden Fahrzeuge eingereiht. Lustlos wanderte sein Blick über die Wagendächer und blieb schließlich am Heck des riesigen Containerfrachters hängen.

»Die am stärksten befahrene Wasserstraße der Welt«, knurrte er und zitierte damit eine Aussage über den Nord-Ostsee-Kanal.

Vor zwei Stunden hatte ihm Kriminalrat Gerster die Ermittlungen übertragen und erst seitdem kannte Frank auch den Ort Schacht-Audorf. Kennen war zu viel gesagt, aber immerhin hatte er schon einmal das Ortsschild gesehen. Die Autofähre sollte den Hauptkommissar vom Landeskriminalamt Kiel nach Rendsburg bringen, da er dort in einem Geschäftshaus mit Staatsanwalt Clemens Wolter verabredet war.

»Zwei Tage haben die verschwendet und ich soll jetzt die Kohlen aus dem Feuer holen. Verdammte Provinzler!«

Franks schlechte Laune wurde durch die Umstände, die ihn zu den Ermittlungen des toten Kollegen gebracht hatten, nicht unbedingt besser. Der ganze Fall schien schon zu diesem Zeitpunkt völlig verpfuscht zu sein, aber Gerster hatte Frank offenbar aus der Schusslinie haben wollen. Für einen kurzen Augenblick stand ihm wieder der Anblick seines toten Kollegen Sven vor Augen. Nachdrückliches Hupen riss ihn aus den trüben Gedanken und als Frank aufschaute, bemerkte er die Lücke zwischen seinem Passat und dem nächsten Wagen. Mürrisch startete er den Motor und rollte die zum Kanal abfallende Straße zum Fähranleger hinunter. Hinter einem Pritschenwagen der Stadtreinigung stoppte Frank und ließ dieses Mal den Motor im Leerlauf vor sich hin tuckern.

»Da bringt jemand einen Hauptkommissar in so einem Nest wie Rendsburg um und die Kollegen sind zu dämlich, innerhalb von achtundvierzig Stunden auch nur einen brauchbaren Hinweis zu finden. Unfassbar!«

Nachdenklich betrachtete er zwei unterschiedliche Gebäude auf dem gegenüberliegenden Ufer. Irgendwo in einem der Häuser hatte man Hauptkommissar Wiese mit eingeschlagenem Schädel aufgefunden. Bisher wusste man weder, was der Kriminalbeamte in dem Geschäftshaus gewollt hatte, noch gab es den geringsten Hinweis auf einen Täter. Hätte Frank tippen sollen, in welchem der beiden Gebäude die Tat begangen worden war, würde er sich für das Haus in Form eines Schiffsbugs entschieden haben. Weitere Gedanken ersparte er sich während der Überfahrt über den Kanal, stattdessen besah er sich die wenigen Radfahrer und Fußgänger, die neben den sechs Fahrzeugen auf die Fähre gekommen waren. Rentner und Schüler, soweit Frank es einschätzen konnte.

»Aha, doch nicht das nachgemachte Schiff«, brummte Frank, als das Navigationsgerät ihm die restliche Strecke bis zum Geschäftshaus anzeigte.

Drei Minuten später stieg Frank an einem quadratischen, dreistöckigen Haus aus dem Passat. Alle Fronten waren aus Glas und verliehen dem Gebäude einen transparenten Eindruck. Sein Blick streifte über eine Übersichtstafel am Eingang zum Parkplatz, die alle im Gebäude angesiedelten Unternehmen anzeigte. Eine der typischen Mischungen aus Dienstleistungsunternehmen und Neugründungen technischer Firmen. Da der Aprilwind seine offene Lederjacke aufblähte und sich unangenehm am Körper bemerkbar machte, stopfte Frank die Fäuste in die Jackentaschen und marschierte auf den Haupteingang zu.

Simon Vester hielt sich ein wenig abseits, während Esther im Foyer des Zentrums stand und zur Brüstung im dritten Stock hinaufstarrte. Dort oben hatte offenbar ein Kampf stattgefunden, in dessen Verlauf Ralph Wiese über die Umrandung in die Tiefe gestürzt war. Als die Oberkommissarin den Blick senkte und nach den Spuren der Blutlache auf dem Fußboden Ausschau hielt, sprach Norbert Martens sie an.

»Hallo, Frau Kommissarin. Gibt es Neuigkeiten?«

Der Angestellte sah Esther fragend an. Vor zwei Tagen hatte er zu Dienstbeginn den grausigen Fund gemacht und war seitdem krankgeschrieben. Es hatte ihn große Überwindung gekostet, der Bitte um Anwesenheit Folge zu leisten.

»Nein, wir ermitteln noch. Staatsanwalt Wolter hat um einen Ortstermin gebeten. Mehr weiß ich leider auch nicht.«

Esther Helmholtz räumte ihr Unwissen freimütig ein, so wie Simon es von ihr gewohnt war. Der Arzt spürte ihre Verunsicherung und ahnte, wie hart die Ermittlungen für seine Freundin sein mussten. Ralph Wiese und seine Frau zählten zu den wenigen Freunden der Oberkommissarin und nun lag es an ihr, die grausame Tat aufzuklären.

»Frau Helmholtz?«, fragte eine raue Männerstimme in ihrem Rücken.

Esther und Simon wandten sich um und schauten einem hochgewachsenen Mann mit halblangen Haaren in dessen forschende grüne Augen.

»Ja, das bin ich. Kann ich Ihnen helfen?«

»Umgekehrt wird wohl eher ein Schuh draus. Hauptkommissar Frank Reuter vom LKA. Sie sind dann vermutlich Dr. Vester. Richtig?«

Nachlässig hielt der Mann seinen Dienstausweis hoch, ließ seinen Blick ungeniert über Esthers Erscheinung wandern. Frank registrierte die fast männliche Art seiner Rendsburger Kollegin in Bezug auf ihre Kleidung. Sicherlich praktisch bei der täglichen Arbeit und zugleich wenig feminin. In ihren braunen Augen las er Verwunderung und verfluchte innerlich den Staatsanwalt, der ihn offensichtlich bewusst in diese Situation um Kompetenzfragen gebracht hatte.

Verblüfft starrte Simon den Mann in den schwarzen Jeans, offenem Hemd und Lederjacke, an. In seiner lässigen Art wirkte der Hauptkommissar bedrohlich auf Simon, so wie es alle zu selbstbewussten Männer schon immer getan hatten.

»LKA? Wieso sind Sie hier?«

Als die Eingangstür des Zentrums aufflog und Staatsanwalt Wolter mit langen Schritten auf sie zukam, beschlich Simon eine böse Vorahnung. Der Hauptkommissar beantwortete Esthers Frage nicht, sondern schaute zum heraneilenden Staatsanwalt.

»Wolter. Sie sind Hauptkommissar Reuter aus Kiel?«

Der Mann vom LKA nickte und sah Wolter nur fragend an. Er machte sich nicht einmal die Mühe, die Hände aus den Taschen der Lederjacke zu nehmen. Wenn der Staatsanwalt schon gleich am Anfang dumme Spielchen suchte, würde er ihn entsprechend behandeln.

»Oberkommissarin Helmholtz und Dr. Vester haben Sie ja bereits kennengelernt. Sehr schön. Das ist übrigens Herr Martens, der den toten Kollegen gefunden hat.«

Simon bemerkte die Nervosität bei Clemens, der den fragenden Blicken Esthers auswich und sich stattdessen an Norbert Martens wandte.

»Erzählen Sie bitte noch einmal, wie Sie den Toten entdeckt haben.«

Mit leiser Stimme berichtete der Angestellte, aber er wurde mehrfach von Hauptkommissar Reuter unterbrochen. Allein die förmliche Belehrung erfolgte in einem Ton, die jeden normalen Bürger verunsichern musste. Simon spürte die Verärgerung von Esther, weil ihr Kollege aus Kiel wenig Rücksicht auf die Verfassung des Angestellten nahm. Norbert Martens verhaspelte sich mehrfach, aber fast am Ende seines Berichtes geschah es dann.

»Die Seitentür war also nur zugezogen und nicht abgeschlossen? Ist das öfter so oder war das ungewöhnlich?«

Esther sah überrascht zu Martens, dann zu Simon. Sie kämpfte immer noch mit der Feigheit von Clemens, der ihr genauso wenig über die Hinzuziehung des LKA erzählt hatte, wie er damals auch nicht ehrlich und offen mit ihr hatte Schluss machen können. Bei der Aussage des Angestellten schoss ihr Puls in die Höhe.

Der Blick von Clemens Wolter wurde eisig, da er von dieser neuen Information überrascht wurde. Der Staatsanwalt wusste sehr wohl, dass er viel zu lange mit der Einschaltung des Landeskriminalamtes gewartet hatte. Clemens hatte Esther eine reelle Chance zur Aufklärung des Todesfalles einräumen wollen. Wenigstens redete er sich es so ein.

»Es sollte nicht vorkommen und in letzter Zeit war die Tür bei Dienstbeginn auch immer ordentlich verschlossen.«

»Haben Sie die Seitentür nach Aufbruchspuren untersuchen lassen, Frau Helmholtz?«

Als Esther dies verneinen musste, schüttelte der Kollege vom LKA den Kopf. Sein Gefühl hatte ihn nicht getäuscht. Erneut bewiesen die Provinzler, wie wenig Ahnung sie von einer effektiven Ermittlungsarbeit hatten. Frank entließ den verstörten Martens, wandte sich an Wolter.

»Sie wussten bisher nichts von der unverschlossenen Seitentür. Richtig?«

»Leider nicht, Herr Reuter. Esther? Wieso hast du Martens nicht danach gefragt?«

Simon erkannte, wie der Oberkommissarin der Boden unter den Füßen entglitt. Nicht nur, dass gleich bei der ersten Zeugenaussage ein Fehler in ihren Ermittlungen entdeckt wurde, auch das Verhalten von Clemens erschütterte sie. Jetzt zwang er sie auch noch, sich vor versammelter Mannschaft zu rechtfertigen. Clemens Wolter war schon in ihrer gemeinsamen Schulzeit ein übler Intrigant gewesen, da half auch die Abstammung herzlich wenig.

»Ich habe seine Angaben überprüft, aber von einer unverschlossenen Seitentür war nie die Rede«, verteidigte Esther sich.

Sie wäre am liebsten irgendwo anders und in ihr kochte Wut hoch, angesichts des widerwärtigen Verhaltens von Clemens. Diese Wut wurde jedoch von Scham über dieses Versäumnis in ihrer Arbeit weit überlagert.

»Dann haben Sie einfach nicht die richtigen Fragen gestellt, Frau Kollegin. Sie haben die erste medizinische Begutachtung vorgenommen, Doktor Vester?«

Simon erklärte kurz seinen Status als Facharzt für Innere Medizin am Kreiskrankenhaus in Rendsburg, fügte die übliche Erklärung über seine Zusatzqualifikation in der Rechtsmedizin an.

»Dann gehe ich zunächst einmal davon aus, dass Ihre Ergebnisse verwertbar sind«, kam es vom Kieler Hauptkommissar.

»Da Sie vermutlich über keinerlei medizinische Kenntnisse verfügen, fasse ich die Ergebnisse allgemeinverständlich zusammen«, konterte Simon, der sich von diesem arroganten Schnösel nichts gefallen lassen wollte.

Der dunkelhaarige Ermittler des LKA sollte von Beginn an erkennen, dass Simon sich nicht so leicht einschüchtern ließ. Diese Zeiten hatte er mit dem erfolgreichen Studium weitestgehend hinter sich gelassen. Der Staatsanwalt räusperte sich, sichtlich verlegen über die aggressive Haltung der Anwesenden. Sein Denken ging naturgemäß stärker in die politische Richtung, weshalb er reibungslose Abläufe bevorzugte. Simon Vester kannte Clemens Wolter schon von ihrer gemeinsamen Zeit am besten Gymnasium von Rendsburg. Gemocht hatte er den Karrieristen noch nie.

»Verstehe Doktor. Nach Ihren vorläufigen Erkenntnissen stammen die tödlichen Kopfverletzungen ausschließlich vom Aufschlag auf dem Boden infolge des vorangegangenen Sturzes. Soweit dürfte es auch meine verehrte Kollegin verstanden haben.«

Esther Helmholtz sog scharf die Luft ein und setzte offensichtlich zu einer Erwiderung an, doch da hatte Reuter sich bereits abgewandt und marschierte zur Treppe. Simon, Esther und dem Staatsanwalt blieb nichts anderes übrig, als dem Hauptkommissar aus Kiel zu folgen. Auf der Treppe im zweiten Stockwerk verharrte Reuter einen Moment und studierte die Schilder mit den Firmennamen. Dann ging es weiter in den dritten Stock bis zur Brüstung, über die Hauptkommissar Wiese in den Tod gestürzt war. Reuter ging zuerst in die Hocke und spähte über den schwarzen Bodenbelag, dann inspizierte er die Umrandung und zu guter Letzt beugte er sich weit über die Brüstung.

»Passen Sie bloß auf, Herr Reuter. Ich möchte nicht einen weiteren Beamten auf diese Weise verlieren«, mahnte Wolter ihn mit spürbarer Anspannung.

Vor Wolters innerem Auge entstand die Schlagzeile über den zweiten Unglücksfall, bei dem ein Hauptkommissar aus seinem Zuständigkeitsbereich zu Tode kam. Das könnte leicht das vorzeitige Ende all seiner Pläne in politischer Hinsicht bedeuten.

Reuter richtete sich wieder auf und strich eine Strähne seines halblangen, schwarzen Haares zurück. In seinen grünen Augen lag ein nachdenklicher Zug, während er weiter die Brüstung anschaute.

»Sie halten bisher auch einen Unfall für nicht ausgeschlossen, Frau Helmholtz?«

Esther nickte bestätigend, da sie nach ihrer Auffassung einen Unfall nicht absolut ausschließen konnte.

»Gab es Anzeichen dafür, dass Hauptkommissar Wiese suizidgefährdet war?«

»Um Himmels Willen, nein! Ralph und ich haben sechs Jahre zusammen Dienst gemacht. Er hing an seinem Leben und war glücklich verheiratet.«

Esthers Stimme klang so wütend, wie sie war.

»Nun, wenn es kein Selbstmord war, bleibt nur noch Mord über. Einen Unfall können wir ausschließen«, stellte Reuter mit spröder Stimme fest.

Ihm war schleierhaft, wieso die Rendsburger Kollegen nicht selbst zu dieser Erkenntnis gekommen waren.

Esther und der Staatsanwalt tauschten einen verblüfften Blick aus, während Simon neugierig den Ausführungen folgte. Ausnahmsweise teilte er im Stillen die Auffassung des Hauptkommissars aus Kiel.

»Erklären Sie uns auch, wieso Sie sich da so sicher sind, Herr Reuter?«, wollte Clemens Wolter erfahren.

»Deswegen«, lautete die knappe Antwort, während Reuter sich erneut gefährlich weit über die Brüstung hinauslehnte.

»Hauptkommissar Wiese und ich haben nahezu die gleiche Körpergröße sowie ein vergleichbares Gewicht. Um über diese Brüstung abzustürzen, musste er sich verdammt anstrengen oder wurde gestoßen. Fragen Sie Dr. Vester, wenn Sie mir nicht glauben.«

Alle Blicke gingen zu Simon, der zustimmend nickte.

»Die Einschätzung von Hauptkommissar Reuter ist absolut stimmig.«

»Haben Sie sich keine Gedanken über eine entsprechende Rekonstruktion gemacht, Frau Oberkommissarin?«, fragte Reuter anzüglich.

Esther Helmholtz sah zu Recht sehr betroffen aus, wie Simon eingestehen musste. Der Kollege vom LKA hatte innerhalb einer dreiviertel Stunde zwei wesentliche Punkte herausgefunden, die sie in zwei Tagen nicht entdeckt hatte.

Frank Reuter saß lässig im Besucherstuhl vor Clemens Wolters Schreibtisch. Der Staatsanwalt konnte den Ermittler vom Landeskriminalamt nicht wirklich einschätzen, aber die ersten Ergebnisse beeindruckten ihn schon.

»Was sagen Sie zu den bisherigen Ermittlungen, Herr Reuter?«

Der Hauptkommissar wog die Ermittlungsakte in seiner Rechten, dann warf er sie mit einem gezielten Wurf in den Mülleimer neben dem Schreibtisch.

»Was machen Sie denn da?«, entfuhr es Clemens.

»Das ist keine Ermittlungsakte, Herr Wolter. Bestenfalls eine Aufstellung von Fakten, die jeder Polizeischüler in ähnlicher Weise hätte zusammentragen können. Oberkommissarin Helmholtz ist mit den Ermittlungen eindeutig überfordert. Wieso haben Sie nicht von Anfang an einen erfahrenen Ermittler hinzugezogen?«

Clemens wusste, dass er es hätte tun müssen und für dieses Versäumnis noch zur Rechenschaft gezogen werden würde. Dazu stand er. Was er jedoch nicht wollte, war sich von einem Kriminalbeamten solche Fragen stellen zu lassen.

»Meine Entscheidung, Herr Hauptkommissar. Ab sofort übernehmen Sie die Ermittlungen und Frau Helmholtz wird Sie unterstützen.«

Reuter zuckte gleichmütig mit den Achseln und erhob sich.

»Meinetwegen können Sie die Kollegin gerne auf andere, einfachere Fälle ansetzen. Ich komme allein besser weiter.«

Clemens spürte Unmut über das arrogante Verhalten des Kielers in sich aufsteigen.

»Befolgen Sie einfach meine Anweisungen, Herr Reuter. Frau Helmholtz ist weiterhin Teil der Ermittlungen. Verstanden?«

»Wie Sie meinen, Herr Staatsanwalt.«

Ohne sich zu verabschieden, verließ der Mann vom LKA das Büro. Wolter lehnte sich seufzend zurück und hatte das ungute Gefühl, dass sein Kollege aus Kiel ihm ein wahres Kuckucksei ins Nest gelegt hatte. Frank Reuter hatte eine dunkle Vergangenheit, über die man jedoch nur wenige Informationen erhielt. Als leitender Ermittler hatte er eine verdeckte Operation gegen Menschenschmuggler aus dem Osten geleitet. Kurz vor dem entscheidenden Zugriff musste dann etwas grundlegend schief gegangen sein. Man munkelte von einem ermordeten Kollegen Reuters, dessen Tod einige Fragen aufwarf. Clemens schob die störenden Gedanken zur Seite und griff zum Telefon. Er wollte Esther persönlich über die neue Situation unterrichten.

Kapitel 2

Simon Vester betrat zusammen mit Esther die Inspektion in der Moltkestraße in Rendsburg, grüßte einige Kollegen von ihr und stieß die Tür zum Büro auf. Während Esther den Becher Kaffee auf ihrem Schreibtisch abstellte, vernahm sie ein Geräusch aus dem Nebenraum.

»Moin, Ralph. Du bist …«

Ihr blieben die vertrauten Worte im Hals stecken, als die Realität sie einholte und Simon sie erschrocken musterte. Mit steifen Beinen ging Esther zur Verbindungstür und öffnete sie langsam. Beim Anblick von Hauptkommissar Reuter auf Ralphs Platz, kochte Ärger in ihr hoch. Simon kannte diesen Anblick seiner Freundin nur zu gut.

»Was machen Sie am Schreibtisch von Ralph?«, fauchte Esther aufgebracht.

»Moin, Frau Helmholtz. Das ist der einzige freie Arbeitsplatz und da ich nun einmal einen Schreibtisch benötige, nutze ich für den Zeitraum der Ermittlungen den Platz von Hauptkommissar Wiese.«

Esther reagierte sichtlich verärgert über die Gleichgültigkeit in seiner Stimme, fand aber auch kein Gegenargument. Wütend wandte sie sich um, hängte den Mantel an die Garderobe und setzte sich an ihren Schreibtisch.

»Sie können den Kaffee unterwegs trinken, Frau Helmholtz. Wir fahren zu einer Vernehmung. Ah, Doktor. Schön, dass Sie Zeit haben, uns zu begleiten. Ihre Anwesenheit könnte erforderlich werden.«

Überrascht schaute Esther auf, musterte Simon mit einem verständnislosen Blick. Sie hatten sich auf dem Parkplatz getroffen und nur wenige private Worte gewechselt. Ganz offensichtlich hatte der Mann vom LKA seine Kollegin nicht in sein Vorhaben eingeweiht. Simon und Esther schauten gleichermaßen auffordernd zum Hauptkommissar. Reuter ging weiter zur Tür und machte keine Anstalten, sein Vorhaben näher zu erklären. Esther sprang auf, schnappte sich den Mantel und eilte Reuter nach. Den Kaffee vergaß die Oberkommissarin, wie Simon am Rande bemerkte. Kopfschüttelnd folgte er den beiden Kriminalbeamten und fragte sich, wie so eine effektive Zusammenarbeit entstehen sollte. Im Hof bestieg Reuter seinen Passat, Esther rutschte hastig auf den Beifahrersitz. Simon wollte nach dem Besuch wieder zurück ins Krankenhaus fahren, daher fuhr er mit seinem eigenen Wagen.

»Soll ich die Strecke zum Rotenhöfer Weg ins Navi einspeisen oder leiten Sie mich durch die Stadt?«, fragte Reuter, während er den Passat startete.

Frank kannte die Kreisstadt nicht, daher würde er sich lieber auf die Ansagen einer ortsansässigen Kollegin verlassen als auf diese technischen Wegweiser. Sollte die Oberkommissarin sich jedoch als beleidigte Leberwurst herausstellen, würde ihn sein Navigationsgerät dennoch sicher ans Ziel bringen. Für derartige Befindlichkeiten war jetzt schlicht der falsche Zeitpunkt, da bereits wertvolle Zeit verschwendet worden war.

»An der Kreuzung halten Sie sich rechts und dann zunächst geradeaus. Ich sage Ihnen, wann wir abbiegen müssen.«

Zufrieden mit der Antwort nickte der Kollege vom LKA. Simon hatte die Tür seines Wagens noch nicht geschlossen, daher vernahm er Esthers überraschten Ausruf, die ebenfalls die Beifahrertür noch nicht geschlossen hatte. Er warf einen Blick hinüber zum neben seinem Audi parkenden Passat des Kieler Hauptkommissars.

»Rotenhöfer Weg? Sie wollen doch nicht zu Ariane Wiese. Oder?«

Es hatte einen Moment gedauert, bis Esther die Anschrift ihres toten Kollegen in den Sinn gekommen war. Sie konnte nicht glauben, dass Reuter ohne jede Form der Anmeldung die Witwe des toten Kollegen aufsuchen wollte. Ariane stand unter einem schweren Schock und zusätzlich steckte sie selbst seit Wochen in einer ernsthaften Krise.

»Doch, genau das will ich. Ihre bisherigen Befragungen der Ehefrau waren ziemlicher Murks, werte Kollegin. Haben Sie denn völlig ausgeblendet, wo wir die meisten Mörder finden?«

Ungläubig schaute Esther den Kollegen aus Kiel an. Ihr verschlug es regelrecht die Sprache, angesichts so viel Kaltschnäuzigkeit. Sie suchte nach passenden Worten, um dem Kieler Kollegen die Problematik bei Ariane Wiese zu verdeutlichen.

Reuter ging streng nach Lehrbuch beziehungsweise der praktischen Erfahrung aus diversen Mordermittlungen vor, so viel Einblick hatte Simon mittlerweile in die Kriminalistik. Esther wusste natürlich, dass die meisten Mörder aus dem unmittelbaren Umfeld der Opfer stammten. Familienangehörige standen dabei selbstverständlich ganz oben auf der Liste. Warum sie trotzdem Ariane gegenüber bisher sehr zurückhaltend vorgegangen war, auch das konnte der Arzt nachvollziehen. Dafür schätzte er Esther umso mehr, aber vielleicht war das Vorgehen trotzdem falsch gewesen.

»Sie können unmöglich glauben, dass Ariane etwas mit dem Mord an Ralph zu tun hat. Nie im Leben!«

Esther kämpfte spürbar um ihre Beherrschung. Gut, sie hatte einige Fehler in den Ermittlungen gemacht. Doch Ariane stand als Täterin für sie außerhalb jeder Überlegung, wie sie unmissverständlich klarstellte. Als die Worte über ihre Lippen kamen, erkannte Esther, wie plump es klang. Sie hörte ihre eigene Wut heraus und die musste Reuter einfach falsch einschätzen.

»Ich schließe niemanden aus den Ermittlungen aus, solange seine Unschuld nicht zweifelsfrei erwiesen ist. Doktor Vester ist schließlich dabei, um möglichen Überreaktionen von Frau Wiese zu begegnen«, blieb der Kieler Hauptkommissar unnachgiebig.

Frank spürte Verdruss über diese sinnlose Diskussion auf dem Parkplatz der Inspektion, die zudem auch noch unter Zeugen stattfand. Sowohl Doktor Vester als auch einige uniformierte Kollegen verfolgten dieses Wortgefecht. Offenbar erkannte endlich auch Oberkommissarin Helmholtz die Sinnlosigkeit der Diskussion, denn sie erteilte ihm mit tonloser Stimme die Anweisungen für die Fahrstrecke.

Während Simon seinen Audi wenige Minuten später hinter dem Passat am neu gebauten Obereiderhafen entlang steuerte, beobachtete er die beiden Gestalten vor sich im Wagen. Esther saß mit gesenkten Schultern im Sitz, erteilte rechtzeitig Fahrhinweise, sodass Reuter sich über die Hollesenstraße der Abzweigung zur Schleswiger Chaussee näherte. Da sie an der Kreuzung an einer roten Ampel warten mussten, konnte Simon die großen Werbeplakate der verschiedenen Unternehmen im Gewerbegebiet studieren. Wer sich in Rendsburg nicht auskannte, musste zwangsläufig an seiner Fahrroute zweifeln. Trotzdem stimmte der Weg und das lag einfach in der Stadtentwicklung begründet. Der Rotenhöfer Weg war eine alte Straße mit Einfamilienhäusern, die schon vor dem Einkaufsgebiet existiert hatte. Nachdem die Ampel auf Grün umgeschaltet hatte, fuhren die beiden Wagen gleich in die erste Straße rechts ab. Als Reuter den Passat auf die schmale Garagenauffahrt des Hauses lenkte, suchte Simon sich einen freien Platz zwischen den Bäumen an der Straße.

»Warten Sie bitte noch einen Augenblick, Herr Reuter. Der Tod von Ralph hat Ariane sehr schwer mitgenommen. Sie ist in therapeutischer Behandlung. Sollten wir nicht die Psychologin zur Befragung hinzuziehen?«

Esther sah bittend in die grünen Augen des Hauptkommissars, der seine Kollegin nachdenklich anschaute. Schließlich nickte er zustimmend.

»Meinetwegen, Frau Helmholtz. Schaffen Sie diese Therapeutin ran, während ich mich mit Frau Wiese bekannt mache.«

Simon verfolgte den kurzen Dialog aufmerksam und fand den Vorschlag von der Oberkommissarin sehr gut. Ihn selbst verband eine Freundschaft mit der Psychologin Dr. Juliane Wagenknecht. Reuter stieg aus dem Passat aus und ließ eine verwunderte Esther zurück, die Simon ein Zeichen machte. Also wartete Simon neben der offenen Beifahrertür und lauschte dem Anruf. Esther hatte ihr Handy eingeschaltet und wählte die Telefonnummer der Praxis von Dr. Juliane Wagenknecht. Schon nach dem zweiten Läuten meldete sich die vertraute Stimme ihrer Freundin.

»Jule? Esther hier. Kannst du dich freimachen und sofort zum Haus von Ariane Wiese kommen?«

Auf die besorgte Nachfrage der Psychologin erklärte Esther die Situation. Zum Glück reagierte Juliane mit dem üblichen Tempo und versprach, umgehend in den Rotenhöfer Weg zu kommen.

»Halte deinen Kollegen bitte so lange von einer Befragung ab, Esther. Ich habe keine Vorstellung, wie Ariane mit einer direkten Konfrontation umgehen wird.«

Esther sah kopfschüttelnd auf ihr Handy, dessen Display die unterbrochene Verbindung anzeigte.

»Gerne, Jule. Nur wie? Kannst du den Hauptkommissar nicht zurückhalten Simon?«

»Sollte ich eine gesundheitliche Gefährdung von Ariane befürchten, werde ich selbstverständlich umgehend einschreiten. Mehr kann ich aber im Moment auch nicht tun«, versprach Simon.

Er verstand das Anliegen der beiden Frauen nicht nur aus medizinischer Sicht, vielmehr sorgte er sich sehr um die zarte Verfassung der Witwe. Simon wusste aber auch, dass er solchen Gefühlen auf keinen Fall zu viel Raum geben durfte.

Seufzend stieg die Oberkommissarin aus dem Wagen und ging zur Haustür. Kurz nachdem Esther auf den Klingelknopf gedrückt hatte, erschien der Schatten von Ariane Wiese. Mit rot geränderten Augen öffnete die Witwe von Ralph die Tür, schaute Esther und Simon tieftraurig an.

»Hallo, Ariane. Ich habe Dr. Wagenknecht verständigt. Sie ist auf dem Weg hierher.«

»Danke, Esther. Hallo Dr. Vester, schön Sie zu sehen. Kommt doch rein.«

Frank Reuter stand neben dem Esstisch im Wohnzimmer und betrachtete die beiden brünetten Frauen. Im Vergleich war Ariane Wiese die wesentlich zierlichere Frau. Nahm man noch die großen, dunkelbraunen Augen hinzu, entstand das Bild der typisch schutzbedürftigen Frau. So wirkte dieser Typ Frau wenigstens auf die meisten Männer. Ab und an bemerkten die Männer erst zu spät, wie sehr dieser Eindruck sie getäuscht hatte. Vielleicht auch Ralph Wiese?

»Ich bedaure, dass wir erneut in der Wunde herumstochern müssen, Frau Wiese. Können Sie mir bitte erzählen, wie der Tag aus Ihrer Sicht verlaufen ist, an dem Ihr Mann im Zentrum zu Tode kam?«

Ariane schaute Reuter eine Weile schweigend an und Frank wollte die Frage schon neu stellen, als sie unvermittelt zu reden begann. Mit leiser Stimme berichtete sie von einem normalen Tag, einschließlich einer Therapiestunde bei Juliane Wagenknecht. Am frühen Nachmittag kam sie wie üblich nach Hause und telefonierte mit ihrem Mann, der noch im Dienst war. Laut ihrer Aussage verhielt Ralph sich völlig normal und erzählte seiner Frau auch von keinen außergewöhnlichen Vorkommnissen. Frank ließ Ariane ohne Unterbrechung berichten, was ihm einen staunenden Seitenblick der Oberkommissarin einbrachte. Erst, als die Frau über ihren Fernsehabend berichten wollte, hob Frank eine Hand.

»Einen Moment bitte, Frau Wiese. Sie haben gesagt, der Tag sei völlig normal verlaufen und auch auf Seiten Ihres Mannes sollten sich keine besonderen Ereignisse eingestellt haben. Habe ich Sie soweit richtig verstanden?«

Gespannt verfolgte Frank, wie sich das Mienenspiel der zierlichen Frau veränderte. Sie sah ihn forschend an, nickte schließlich zögernd. Offenbar spürte Ariane, dass etwas Unerwartetes auf sie zukam. Auch Esther sah ihren Kollegen voller Erwartung an.

»Nun, dann habe ich ein Verständnisproblem. Wieso haben Sie zu keiner Zeit Ihren Mann vermisst? War es üblich, dass er ohne Begründung eine Nacht fernblieb? Gab es Probleme in Ihrer Ehe?«

Die Fragen trafen die Frau des ermordeten Hauptkommissars wie Schläge. Esther hatte ihren Blick von Reuter genommen und starrte fassungslos auf Ariane, während der Arzt schützend neben die Frau getreten war. Erneut wallte Unmut in der Oberkommissarin über das brutale Vorgehen ihres Kieler Kollegen auf, nur mühsam konnte sie einen Protest unterdrücken. Denn mitten in diese Aufwallung blitzte die Erkenntnis auf, wie Recht ihre Kollegen mit seiner Verwunderung über das Verhalten hatte.

»Stimmt, Ariane. Du hast weder in der Inspektion angerufen, noch bei mir nachgefragt. Wieso?«

Frank nahm mit Erleichterung zur Kenntnis, dass Esther endlich ihren kriminalistischen Spürsinn wieder gefunden hatte. Bevor die zierliche Brünette zu einer Antwort ansetzen konnte, läutete es an der Haustür. Ariane wollte sich abwenden, um den Besucher ins Haus zu lassen.

»Das wird sicherlich Dr. Wagenknecht sein, Frau Wiese. Frau Helmholtz? Wären Sie so nett?«

Die Oberkommissarin schob sich an Ariane vorbei, was diese mit einem verärgerten Stirnrunzeln aufnahm.

»Soll ich die Fragen noch einmal wiederholen, Frau Wiese? Denken Sie bitte an die Belehrung. Alle Aussagen müssen der Wahrheit entsprechen oder Sie müssen vom Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch machen«, lenkte Frank die Aufmerksamkeit der Frau wieder auf sich.

Ariane Wiese wandte sich um, sah ihn mit einem schwer zu definierendem Ausdruck in den großen Augen an. Aus seiner Erfahrung wusste Frank, dass ihm gleich eine Lüge serviert werden würde. Zu oft hatte er diesen Ausdruck in diversen Vernehmungen sehen müssen.

»Nein, Herr Hauptkommissar! Unsere Ehe war intakt und ich habe meinen Mann auf seinem Handy angerufen. Da nur die Mailbox anging, habe ich ihm darauf gesprochen. Das werden Sie sicherlich prüfen können.«

Frank musste ihr zubilligen, dass sie schnell die Ausrede gefunden hatte. Beim Toten war dessen Handy nicht aufzufinden gewesen, wodurch Arianes Aussage weder bestätigt noch widerlegt werden konnte. Frank war sich sicher, dass die Frau die Sache mit dem verschwundenen Handy sehr wohl gewusst hatte.

»Hallo, Ariane. Hauptkommissar Reuter?«

Esther folgte der ins Wohnzimmer stürmenden rothaarigen Frau, die kurz die Hausherrin begrüßte und dem Arzt zunickte, nur um sich dann an Frank zu wenden.

»Allerdings. Frau Dr. Wagenknecht, nehme ich an?«

»So ist es, Herr Reuter. Ich weise Sie darauf hin, dass meine Patientin unter einem Trauma leidet. Behandeln Sie Ariane Wiese bitte mit der erforderlichen Vorsicht!«

Interessiert registrierte Frank die kämpferische Haltung der adretten Psychologin.

»Ist notiert, Frau Doktor. Es ist Ihnen sicherlich bewusst, dass Ihre Anwesenheit ein reines Zugeständnis meinerseits darstellt. Als Psychologin steht es Ihnen üblicherweise nicht zu, aber das wissen Sie vermutlich genauso gut wie ich. Durch die Anwesenheit von Doktor Vester ist eine medizinische Versorgung ausreichend gewährleistet.«

Frank schmunzelte, als er das Aufblitzen in den blauen Augen der Psychologin bemerkte. Sie schien eine echte Kämpferin zu sein, was er als angenehme Abwechslung zu den bisherigen Rendsburgern aufnahm.

»Danke für die Belehrung, Herr Reuter. Wie ich sehe, haben Sie meine Patientin bereits stark aus dem Gleichgewicht gebracht. Hältst du die Belastung für tragbar?«

Beschützend legte die einen Kopf größere Psychologin ihren Arm um die schmalen Schultern von Ariane Wiese, während sie den Arzt fragend anschaute.

»Ich muss meiner Kollegin zustimmen, Herr Reuter. Sie setzen eine bereits traumatisierte Frau zusätzlich unter Druck. Ich kann eine gewisse medizinische Gefährdung nicht völlig ausschließen. Möchten Sie das wirklich riskieren?«, stellte der Arzt sich auf die Seite der Frauen.

Simon hatte sich bisher zurückgehalten, da es keine objektiven Gründe zum Einschreiten gegeben hatte. Innerlich sah er es zwar völlig anders und hätte am liebsten einen Arm beschützend um die schmalen Schultern von Ariane gelegt, aber diese Einschätzung bewegte sich auf einer völlig anderen Ebene. Umso leichter fiel es dem Arzt aber, sich der eher psychologischen Beurteilung von Juliane Wagenknecht anzuschließen.

»Tja, das ist nun einmal Teil meines Jobs. Die Aufregung ergibt sich daraus, dass uns das Verhalten von Frau Wiese am Abend des Mordes unklar ist. Möchten Sie Ihre Aussage mit dem Anruf auf dem Handy Ihres Mannes so aufrechterhalten, Frau Wiese?«

Alle Blicke gingen zu der Gefragten, die einen winzigen Augenblick zögerte, bevor sie zustimmend nickte.

»Wie Sie meinen. Außer diesem ominösen Anruf haben Sie aber nichts weiter unternommen, um mit Ihrem Mann in Verbindung zu treten?«

»Nein.«

Auch mit dieser knappen Antwort verhielt Ariane Wiese sich wie die meisten Lügner. Ihr war aufgegangen, wie gefährlich jede weitere Behauptung sein könnte. Frank Reuter wusste sofort, dass er bei dieser Witwe noch einige Geheimnisse aufdecken würde.

»Gibt es irgendwelche Zeugen, die Sie an dem Abend hier zu Hause gesehen haben könnten?«

Ariane schüttelte nur den Kopf.

»Haben Sie vielleicht mit jemandem telefoniert oder per E-Mail Kontakt gehabt?«

Erneutes Kopfschütteln musste Frank als Antwort reichen. Aufmerksam verfolgte er den veränderten Ausdruck in den Augen der Befragten, der immer lauernder geworden war.

»Ich denke, damit hat Ihnen Frau Wiese ausreichend Rede und Antwort gestanden. Weitere Fragen können sicherlich warten, Herr Hauptkommissar. Oder?«

Dr. Wagenknecht nahm zum zweiten Mal die Beschützerrolle für ihre Patientin an.

»Wäre der Mord am gestrigen Abend passiert, hätte ich solche Spielräume noch. Mittlerweile sind jedoch ganze zwei Tage vergangen und die sollten ausreichen, um mit dem ersten Schock fertig zu werden. Wir werden Sie sicherlich nochmals befragen müssen, Frau Wiese. Ich würde es begrüßen, wenn Sie uns dann ehrlicher antworten.«

Frank wies die Therapeutin knapp in ihre Schranken, bevor er sich an die Witwe wandte. Beide Frauen sahen ihn entgeistert an, nur Oberkommissarin Helmholtz schaute forschend ins Gesicht von Ariane Wiese. Offenbar funktionierten die Instinkte der Kollegin wieder und so hatte sie auch gespürt, dass Ariane ihnen etwas verschwieg.

»Auf Wiedersehen.«

Kapitel 3

»Ich glaube keine Sekunde, dass Ariane etwas mit dem Mord an Ralph zu tun hat. Du etwa?«