Geschichte der Epigonen - Johann Gustav Droysen - E-Book

Geschichte der Epigonen E-Book

Johann Gustav Droysen

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Beschreibung

Im dritten Band seiner Reihe "Geschichte des Hellenismus" behandelt der Historiker Droysen die Zeit von ca. 270 bis 221 vor Christus.

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Geschichte der Epigonen

Johann Gustav Droysen

Inhalt:

Johann Gustav Droysen – Biografie und Bibliografie

Geschichte der Epigonen

Vorwort zur ersten Auflage

Erstes Buch

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Zweites Buch

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Buch

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Die Städtegründungen Alexanders und seiner Nachfolger in ihrem Zusammenhang

Geschichte der Epigonen, Johann Gustav Droysen

 Jazzybee Verlag Jürgen Beck

Loschberg 9

86450 Altenmünster

ISBN: 9783849610906

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

Frontcover: © Vladislav Gansovsky - Fotolia.com

Johann Gustav Droysen – Biografie und Bibliografie

Deutscher Geschichtschreiber, geb. 6. Juli 1808 in Treptow an der Rega, gest. 19. Juni 1884 in Berlin, studierte in Berlin, ward dort 1829 Lehrer am Gymnasium zum Grauen Kloster, 1833 Privatdozent und 1835 außerordentlicher Professor. 1840 als Ordinarius nach Kiel berufen, wirkte D. eifrig für die deutsche Sache in den Herzogtümern. Er verfasste die Kieler Adresse (1844), nahm teil an der Schrift der neun Kieler Professoren über das »Staats- und Erbrecht des Herzogtums Schleswig« (Kiel 1846) und schrieb mit Professor Samwer die »Aktenmäßige Geschichte der dänischen Politik« (1. u. 2. Aufl., Hamb. 1850). Von der provisorischen Regierung der Herzogtümer als Vertrauensmann an den Bundestag nach Frankfurt gesandt und später in die Nationalversammlung gewählt, nahm er, ein eifriges Glied der Gagernschen Partei und Schriftführer des Verfassungsausschusses, dessen Verhandlungen er (Leipz. 1849) veröffentlichte, bis Mai 1849 an den Beratungen teil. 1851 nach Jena berufen, gründete er dort das historische Seminar, folgte aber 1859 einem Rufe nach Berlin. Ungewöhnliche Vielseitigkeit, staunenswerte Schaffenskraft und glänzende Formgewandtheit kommen in seinen zahlreichen Schriften zum Ausdruck. Zuerst wurde er als geschmackvoller Übersetzer des Äschylos (Berl. 1832, 2 Bde.; 4. Aufl. 1884) und des Aristophanes (das. 1836–38, 3 Bde.; 3. Aufl. 1880, 2 Bde.) bekannt. Ferner schrieb er: »Geschichte Alexanders d. Gr.« (Berl. 1833; 4. Aufl., Gotha 1892) und »Geschichte des Hellenismus« (Hamb. 1836–43, 2 Bde.; 2. Aufl., Gotha 1877); »Vorlesungen über das Zeitalter der Freiheitskriege« (Kiel 1846, 2 Tle.; 2. Aufl., Gotha 1886); »Leben des Feldmarschalls Grafen Yorck von Wartenburg«, eine meisterhafte Biographie (Berl. 1851, 10. Aufl. 1890). Sein Hauptwerk ist die bis 1756 reichende »Geschichte der preußischen Politik« (Leipz. 1855–85, 5 Abteilungen in 14 Bänden, die ersten 7 bereits in 2. Auflage), eine umfassend angelegte, meist auf unbenutzten Archivalien beruhende Darstellung der Entwickelung Preußens. Kleinere Arbeiten sind zusammengefasst in den »Abhandlungen zur neuern Geschichte« (Leipz. 1876) und »Kleinen Schriften zur alten Geschichte« (das. 1893–94, 2 Bde.). Auch schrieb er: »Grundriß der Historik« (Leipz. 1867, 3. Aufl. 1882). Vgl. M. Duncker, Johann Gustav D., ein Nachruf (Berl. 1885).

Geschichte der Epigonen

Vorwort zur ersten Auflage

Kiel, den 9. Mai 1843.

Mit einem Gruß an Sie, lieber Olshausen, will ich meine Arbeit schließen. Es ist eine hoch bedeutsame und doch fast verschollene Entwicklung politischer und nationaler Beziehungen, die es galt, zu erforschen und darzustellen. Um dieser Würdigkeit der Aufgabe willen, um der Mühe willen, die mir der Versuch, sie zu lösen, gemacht, ist mir das Buch wert genug, daß ich es Ihnen darbringe. Und doch, was ist es, das die Gabe des Dankes wert, den Dank der Gabe froh macht? Sei sie Ihnen lieb als ein Zeugnis der herzlichsten Verehrung, die zu bekennen mir Freude ist.

Manches einzelne hätte ich befürwortend dem Buch voraussenden mögen; doch scheint es mir wichtiger, auf gewisse allgemeine Dinge einzugehen, deren Besprechung, so nahe sie auch die letzten Gründe unserer Wissenschaft angehen, fast geflissentlich gemieden zu werden scheint. Ich habe dazu um so mehr Anlaß, da ich für meine Aufgabe zwischen zwei gleich hartnäckigen Vorurteilen eine Stellung zu gewinnen suchen mußte, und in dem Maß, als ich den Widerspruch beider erwarte, die Pflicht habe, mich über den Standpunkt zu rechtfertigen, den ich nehmen zu müssen geglaubt habe.

Das Interesse der Gelehrsamkeit kommt leicht dazu, sich mit dem zu begnügen, was eben da ist. Wie wenige von den Fragen, die die Geschichte aufwirft, gewinnen dorther die ersehnte Antwort! Aber es ist in hohem Grade wichtig, daß die Gelehrsamkeit der Lücken eingedenk bleibe, die jene Fragen ihr bezeichnen. Denn leicht gewöhnt sie sich an die Voraussetzung, es sei das überlieferte, oft sehr sporadische, sehr zufällige Bruchstück aus einer reichen Vergangenheit, wenn auch nicht ein volles und rings ausgeprägtes Lebensbild jener Wirklichkeiten, so doch deren ein wesentlicher und charakteristischer Teil, der Typus, nach dem man sich das Ganze ergänzen, das Gesamtbild entwerfen müsse. Für die ersten Jahrhunderte des Hellenismus – in den späteren übersieht man gern die ethnische Literatur über die prätentiöse Leerheit der rhetorischen, die Bedeutung der sozialen Verhältnisse über den römischen Staat, der weltbeherrschend sie tief unter sich subsumiert – für die zwei ersten Jahrhunderte sind es die Überbleibsel alexandrinischer Studien, welche überwiegend das Vorurteil der Gelehrsamkeit bestimmt haben. Es mußte meine erste Sorge sein, zu erforschen, ob in der Tat "ein heftiger Trieb zu massenhaftem Lesen und Schreiben, Polymathie und Polygraphie die Hebel der von Alexander gestifteten Welt sind", ob nicht vielmehr jene Studien nur ein Teil, vielleicht nur ein kleiner Teil aus dem reichen Gewebe mannigfaltigster Interessen sind, die jene Zeit gehegt hat.

Wie kommt die Geschichte zu ihren Fragen? Wie kann sie es wagen, den vorliegenden Überlieferungen ihre Lücken, ihre Fehler, die Schiefheit der Gesamtauffassung, die sich aus ihnen ergeben hat, bezeichnen zu wollen? Sie kann es, wenn sie über die monographische Betrachtungsweise hinaus den Zusammenhang geschichtlicher Entwicklungen zu erkennen vermag. Der Hellenismus ist nicht eine abgerissene unorganische Monstrosität in der Entwicklung der Menschheit; er hat die Erbschaft der Griechenwelt wie des morgenländischen Altertums mit allen activis und passivis übernommen, und mit diesem Gegebenen weiter schaltend und sich weiter arbeitend entwickelt er ein Anderes, Neues, das so vermittelt immer wieder auf seine nächste Vorstufe zurückweist. Die Zeit des Hellenismus, namentlich den hier vorliegenden Abschnitt derselben, zu verstehen, würde man nach der Dürftigkeit der Überlieferungen kaum den Versuch wagen dürfen, wenn nicht klar vorläge, von wannen sie kommt und wohin sie geht, und wenn nicht das eine wie andere in einer reicheren Mannigfaltigkeit von Momenten bezeichnet erkennbar wäre. Da ergeben sich jene hypothetischen Linien, jenes Netz von Vermittlungen von jenem zu diesem herüber, jene Fragen, die, mögen sie aus dem Vorhandenen beantwortet werden können oder nicht, vollkommen berechtigt sind, das zufällig Erhaltene auf seine Kompetenz zurückzuführen.

So dürftig das Überlieferte, so entstellt, verwittert, unbedeutend noch von diesem Wenigen das meiste ist, sobald nur gewußt wird, was man und in welcher Richtung man suchen muß, finden sich noch immer kleine Stückchen hier und da, welche in jene hypothetisch gezeichneten Linien erfreulich sich einfügend bestätigen, daß sie, wenn auch dreist, doch richtig gezeichnet waren.

Ich darf es mir nicht verbergen, daß ich zu einer Auffassung der hellenistischen Zeit gekommen bin, welche von der herkömmlichen vollkommen abweicht. Während diese Zeit mißachtet zu werden pflegt als eine große Lücke, als ein toter Fleck in der Geschichte der Menschheit, als eine ekelhafte Ablagerung aller Entartung, Fäulnis, Erstorbenheit, erscheint sie mir als ein lebendiges Glied in der Kette menschlicher Entwicklung, als Erbin und tätige Verwalterin eines großen Vermächtnisses, als die Trägerin größerer Bestimmungen, die in ihrem Schoß heranreifen sollten. Möchte es mir gelungen sein, diese ihre Bedeutung überzeugend nachzuweisen. Die höchste Aufgabe unserer Wissenschaft ist ja die Theodizee.

Wenigstens sollte sie es sein. In Beziehung auf die Geschichte des Altertums kann sie sich am wenigsten rühmen, Bedeutendes in diesem Sinne geleistet zu haben. Von der einen Seite scheint nicht einmal dies Ziel anerkannt zu werden; von der anderen wird ihm eine Fassung unterschoben, welche alle Geschichte sozusagen doketisch macht.

Es gab eine Zeit, wo man die Heidenvölker des Altertums, in vitae contumeliam et mortis exitium geschaffen, als vasa irae von Gott verlassen und verstoßen, zur ewigen Verdammnis prädestiniert nennen mochte. Eben da, wo solches Bekenntnis galt, erhob sich der Widerspruch des kühlsten Rationalismus; mit den schamlosen Resultaten jesuitischer Pädagogik schnell sich einigend, durchdrang er ein Jahrhundert lang die Bildung Europas. Noch einmal schien sie sich völlig an das Diesseits zu verlieren; alle sittlichen Mächte gab sie hin in den Dienst des Eudämonismus; Pflichterfüllung und Tugendübung galt ihr nur als eine Gattung des Genusses; was sie von Religion bewahrte, war ein subjektives Bedürfnis der Rührung und des seelischen Genusses, ohne allen positiven Inhalt, ohne alle historische Bedingtheit, die man maß und verwarf nach den Normen der Vernunftreligion, gleich als gälte es, sich über die empirischen Anfänge seiner selbst wie der Gattung hinwegzulügen. Damals schwand der geschichtlichen Betrachtung das Interesse an der Stiftung des Christentums so gut wie völlig; das Ereignis, das sich auch dem blödesten Blick als die große Scheide an dem Gesamtleben der Menschheit, als der Angelpunkt ihrer Geschichte zeigt, ward als nicht in die Geschichte gehörig beiseite geschoben, etwa mit dem zweideutigen Ausweichen, nicht Wunder, sondern Fakta habe sie zu betrachten; mochte die Theologie fortfahren, sich mit dem prekären Ausgangspunkt ihrer Disziplinen zurechtzufinden und die Menge mit ihren Illusionen zu erbauen. Ich habe nicht auszuführen, welche positiven Elemente in diesen Verirrungen lagen. Wie mächtig ist der Umschwung in dem religiösen Leben des heutigen Protestantismus; wie bedeutsam – man sollte das nicht verleugnen –, daß er nicht von Melchior Göze oder Pfenniger, sondern von Lessing und Kant, von platonischen Studien ausging; nicht die bewahrende Kirche brachte ihn, sondern die suchende Wissenschaft, die zu ihr wie der verlorene Sohn der Parabel endlich heimkehrend in das Vaterhaus mit Freuden und festlichen Kleidern empfangen ward. Von der Wissenschaft her, wenn so einmal die Gesamtheit idealer Errungenschaften der geschichtlichen Arbeit genannt werden darf, durchdrang die Kirche ein neues Leben, in den Dienern am Wort zunächst statt der aufgeklärten Flachheit nützlicher Moralien oder der selbstzufriedenen Bequemlichkeit einer traditionellen Orthodoxie das Bedürfnis tieferer Forschung erweckend, durch schärfere Zweifel, durch nun näher gerückte, nun symplegadische Gegensätze hindurch zu tieferer sittlicher und intellektueller Kraft führend, – in den Gemeinden die alten glimmenden Glaubensfunken von neuem anfachend, mit neuer Nahrung mehrend, den Beginn eines lebendig teilnehmenden Verhaltens zu den geistlichen Interessen, die nicht mehr ein undurchdringlicher Hag scholastischer Formeln und gelehrter Abstrusitäten unzugänglich machte, ermöglichend, auf daß endlich das Wort von dem allgemeinen Priestertum aller Christenmenschen eine Wahrheit werden könne, – überall endlich den gesteigerten Ansprüchen der Subjektivität zu vertiefterem Verständnis jene Geschehnisse, jene Dogmen vermittelnd, in denen für immer die tiefsten, die wesentlichen Bezüge menschlichen Daseins niedergelegt sind. Denn das ist die wundervolle Tiefe der christlichen Lehre, die unerschöpfliche Kraft ihres geschichtlichen Lebens, daß sie zuerst und für immer das persönliche Wesen des Menschen nach seiner ganzen Fülle von "Schuld und Ohnmacht und Erwählung" erfaßt und ausgesprochen hat, also daß hinfort jede wahrhafte Weiterentwicklung in dem Leben der Menschheit nur ein tieferes Verständnis dieser Lehre vermittelt, nur sie selbst in reicherer, freierer Ausführung darstellt.

Freilich, es rufen die Zionswächter unserer Tage Anatheme dahin und dorthin; sie verschmähen die Errungenschaft tiefer geschichtlicher Arbeit, Irrens wie Findens; nicht den Christus, den logos en arxh der bei uns ist bis an der Welt Ende, sondern den "historischen" Christus wollen sie; sie sagen: "Siehe, so viele Jahre diene ich dir", und sind zornig über jenen verlorenen Sohn, der sein Gut verpraßt hat und dann des Vaters Haus wiedersucht, "daß er mit Freuden empfangen worden, da er verloren war und ist wiedergefunden". Dieselbigen sind es, welche liebäugeln mit der dreifachen Krone und sich an dem Gedächtnis Luthers versündigen, die nach der Magie traditioneller Weihe seufzen und eine mündliche Tradition vom Berge Sinai her neben dem Gesetz voraussetzen, nur um der Geschichte nichts zu danken; sie verleugnen den heiligen Geist, der Christi Kirche vorbereitet und geleitet hat, verleugnen Gottes ewige Weisheit und Liebe, die sich zu keiner Zeit unbezeugt gelassen hat und auch an den Heiden offenbar geworden ist, deren Leben es war, ihn zu suchen; sie erheben wieder ein Rufen und Hadern über die vasa irae, über die Sündenlust der Götzendiener und die Teufelswerke klassischer Kunst; sie denunzieren die Jugendbildung, daß sie sich besudle mit dem heidnischen Greuel.

Nachher soll diesem letzten Vorwurf begegnet werden. Die Geschichte hält fest an dem Glauben an eine weise und gütige Weltordnung Gottes, die nicht bloß einige Gläubige, noch ein auserwähltes Volk, sondern das ganze Menschengeschlecht, alles Erschaffene umfaßt; und darin, daß sie dem Glauben, "das ist eine Zuversicht, nicht zu zweifeln an dem, was man nicht siehet", nachringt mit dem Erkennen, daß sie den unendlichen Inhalt dieses Glaubens in endlich menschlicher Weise, in den Kategorien des Denkens und Begreifens immer von neuem, in immer engerer Umzirkelung auszusprechen versucht, darin und nur darin weiß sie sich als Wissenschaft. Sie beruft sich auf das große Wort des Heidenapostels: "Als die Zeit erfüllet war", zum Zeugnis, daß die Stiftung des Christentums nicht ein willkürlicher und zusammenhangloser Gnadenakt göttlichen Beliebens war, sondern Gottes ewiger Ratschluß von Anbeginn zu diesem Punkte hin die Völker, Juden wie Heiden, geleitet, erzogen und geweiht hat.

Ich habe mich nach einer zweiten Seite hin zu wenden. Ich muß besorgen, mit meiner Betrachtungsweise auch von den Philologen gescholten zu werden, ich meine jenen begeisterten, die nicht müde werden, das klassische Altertum als ein verlorenes Paradies alles Schönsten und Edelsten sich zu schmücken mit den lieblichsten Bildern der Phantasie, mit den utopischen Idealen voraussetzender Bewunderung. Schon sonst haben sich deren etliche an mir geärgert, wenn ich nicht patriotisch blind mit Demosthenes haßte und in Aristophanes mehr den Schalk als den Tugendprediger sah. Wie weit bin ich entfernt, die Herrlichkeit des klassischen Altertums zu verkennen; aber hier wie so oft paßt, was Lichtenberg von dem Tausendfuße sagt, der doch nur vierzehn Füße hat. – Ich wünschte wohl, mich mit denen zu verständigen, deren Bereich ich so oft, wenn auch anderen Zielen zu, zu durchpilgern habe.

Die Geschichte der Philologie wird es nicht minder rechtfertigen wie ihr Beruf in der Gegenwart, wenn sie sich überwiegend im Interesse der Pädagogik gestaltet hat. Nicht das Altertum in seiner historischen Wirklichkeit und Bezüglichkeit, sondern die Ideale des Altertums sucht sie, erläutert, vergegenwärtigt sie. Was jene hochbegabten Völker als ihr edleres Selbst geahnt, in ihren Mythen und Götterbildern ausgeprägt, in ihren Verfassungen, in ihrer Ethik auszusprechen versucht, was sie als das Wahre, Berechtigte, Bleibende in ihrem buntbewegten Leben erkannt haben, das ist es, was die Philologie zu erforschen und dem lebendigsten Verständnis zu vermitteln den schönen Beruf hat. Es sind die edelsten und vollendetsten Bilder rein menschlichen Dichtens und Trachtens, die höchsten Gestaltungen, zu denen sich der natürliche Mensch in der Fülle glücklichster Begabung zu erheben vermag; mit feinem Sinn ist das Wort Humanität zur Bezeichnung dieser Studien und ihres Zieles gewählt worden. Um keinen Preis wird die Geschichte die Ideale, die einer Zeit, einem Volk aufgegangen sind, zugleich die Blüte ihrer Entwicklung und die Norm, an der sie ihre Wirklichkeiten selbst bemessen, sich entgehen lassen; wenn irgendwo, so spricht sich in ihnen, in der immer reicheren und tieferen Ausbildung der Vorbildlichkeiten, zu denen sich der einzelne emporzuarbeiten, in denen die Gesamtheit ihre Aufgabe zu erfassen versucht, der ununterbrochene Fortschritt in der Gesamtentwicklung der Menschheit aus. Aber ebenso gewiß ist das ewig irrationale Verhalten der empirischen Wirklichkeiten zu jenen, eben die Unruhe, die Lebendigkeit, das stete Weiterdrängen alles menschlichen Daseins, das in der Fülle seiner Bewegung zu verfolgen der Geschichte obliegt. So lehrreich es ist, in Raffaels Madonnen, in Glucks Iphigenien Ideale zu sehen, die in dem Bereich der Anschauungen ihrer Zeit lagen, so wenig wird man etwa nach jenen die holdseligste Frömmigkeit für den Hof des sechsten Alexander, des zehnten Leo vindizieren, in diesen ein Gesamtbild sittlicher Schönheit, wie sie die Zeiten des Diderot und des parc aux cerfs gezeigt hätten, wiedererkennen wollen. So aber scheint vielfach die Philologie zu irren; nach den Idealen, die ihr griechische Plastik und Poesie zeigt oder das verschönende Gedächtnis des späteren Römertums in Fabricius, in Regulus anschaut, denkt sie sich gern die Gesamtheit der Wirklichkeiten im hellsten Sonnenlicht, in farbigster Lebenspracht, – um so plastischer die einzelnen Charaktere, um so typischer die einzelnen Großtaten, je sparsamer die Notizen sind, die das alleinige Motiv zu dem unwillkürlich ergänzten Gesamtbild des Mannes, des Ereignisses geben. Lächelnd mag die Geschichte auf die lieblichen Täuschungen schauen, an denen sich ihre treue Genossin freut; gern läßt sie, die trübere, schmucklosere, jener den Vorgang, wo es gilt, in die Herzen der nachwachsenden Geschlechter große und erhebende Bilder menschlicher Entwicklungen niederzulegen. Es hat eine tiefe Berechtigung, daß sich die Jugendbildung vertraulich an jene Ideale des klassischen Altertums anschmiegt, sich entschieden nicht auf die heiligeren des Alten Testaments, auf die unendlich tieferen christlicher Weltanschauung beschränken will.

Dieselbe Berechtigung, die es hatte, daß der reformatorischen Bewegung des fünfzehnten Jahrhunderts die Begeisterung für das klassische Altertum zur Seite trat; erst beide vereint erfaßten die Grundschwächen der Zeit, die es galt zu überwinden. Ich habe an einem andern Orte nachzuweisen versucht, wie dem heidnischen Altertum, das auf dem Boden des natürlichen Daseins wurzelnd ganz dem Diesseits angehört hatte, in gleicher Einseitigkeit nur dem Jenseits zugewandt und die Welt mißachtend die Jahrhunderte des Mittelalters gegenüberstehen, wie das sinkende Heidentum zur Weltentgötterung und zum Akosmismus, das sinkende Mittelalter zur Gottentweltlichung und zur wüstesten Verwilderung des kreatürlichen Daseins hat führen müssen, wie mit der Reformation und der gleichzeitigen Rückkehr zum Altertum die Versöhnung eingeleitet ist zwischen dem Diesseits und Jenseits, die lebendige und positive Vermittlung des großen Gegensatzes, der die Welt wie das Leben des einzelnen durchdringt, ein Durchgeistigen der stummen Endlichkeiten, daß die Welt in Wahrheit eine Gotteswelt werde, ein kühneres Ringen des Geistes mit der Natur und ihren Mächten, "daß er ein Priester der Schöpfung werde, durch den sie als ein reines Opfer emporsteige an den Thron Gottes".

Mag dies zugleich dienen, den Schlußworten des Buches ihren weiteren Zusammenhang zu sichern. Es klingt frommer als es ist, über die Ohnmacht und Verlorenheit menschlichen Wesens zu seufzen. Ist jede Kreatur ein Dasein ihrer Gattung, Trägerin ihres Gattungsbegriffes, so ist die Geschichte der Gattungsbegriff des Menschen. Wie einsam, verloren, trostbedürftig ist der einzelne in dem Gefühl seiner empirischen Endlichkeit, seiner Schwäche und Verzagtheit; da ist es, wo er der Gottheit sich zuwendet, unablässig ringt, ihrer gewiß zu sein. Aber zugleich fühlt er, nicht bloß dieser einzelne, sondern ein Glied zu sein in dem Kreise seines Volkes, seiner Zeit, ein Glied in der großen Kontinuität der Geschichte, erfüllt und getragen von dieser Allgemeinheit, dem Quell seiner Sittlichkeit, mitberufen zu dem großen Werk der Menschheit. So vernimmt er den Ruf, der auch an seine Schwachheit ergeht; er richtet sich auf, sein Wollen zu üben, sein Können zu versuchen, mitzuwirken so viel er vermag zu der großen Arbeit des Geschlechtes, "der Rückleitung der Schöpfung zu Gott", wie ein altes mystisches Wort es nennt; er ist nur, indem er dies rastlose Weiterwirken, den Gattungsbegriff des Geschlechtes auch an seinem Teil zur Darstellung bringt. – Oder ruft man mir zu: das ist Pelagianismus, das ist der Hochmut der Selbstgerechtigkeit? Christi Wort, teoi este, kann nicht vergebens sein; die Geschöpfe nach Gottes Ebenbild geschaffen, sind keine ichlosen Phantome, keine Nebenbilder, zu verschwimmen und zu vertauen in dem Licht des Überirdischen. Aber zwischen Gott und uns ist die Welt. Es gilt, die Welt zu überwinden. Es gilt – ein endloses Werk – forschend und gestaltend, nützend und begreifend alle Weiten und Tiefen zu umspannen, alle Massen und Fernen zu durchdringen, dies Ich, den Keim Göttlichkeit in uns, nach seiner unendlichen Kraftmöglichkeit zu entwickeln, nach seiner ungemessenen Machtberechtigung zu betätigen, immer wieder erregt durch die unmittelbaren Anlässe eudämonistischen Bedürfens, getragen von den mächtigen Normen, die der Staat gewährt, verklärt durch die Beziehung zu dem ewigen Licht, in dessen Strahl erst diese Sonnenstäubchen Endlichkeit leuchten und sich regen. Welch ein Anblick, diese Wunderkraft des Menschengeistes arbeiten zu sehen; der Natur lauscht er ihre geheimsten Kräfte ab, beherrscht sie mit ihren Gesetzen, macht ihre elementaren Gewalten seinen Zwecken dienstbar, daß sie selbst ihm zu seiner Fortsetzung, Mehrung, Potenzierung seiner Organe werden; Riesen baut er sich, die für ihn arbeiten; er bewaffnet sein Auge, daß es die Tausendteilchen eines Sandkorns erspäht und in der toten Materie ein erstorbenes Leben wiedererkennt: mit der Eile der Sekunde wetteifernd überholt er die Räume; an einem Eisenfaden leitet er die Zeichen seines Wortes soweit hin er will, daß es dort gezeichnet steht in dem Moment, da er es ausspricht; was da ist und war, alles erfaßt er mit der Wunderkraft des Gedankens, bannt es forschend und begreifend nach seinem Wesen und Gesetz, das ist seinem wahrhafteren Inhalt nach, in die lebendige Gegenwärtigkeit des Bewußtseins; spricht es aus in der Wissenschaft, die seine Schöpfung ist, wie Gottes die Welt. Freilich, seine Schöpfung; aber den Sabbath der Ruhe bringt sie ihm nicht; sie kann uns jene stille Zuversicht des Glaubens, jenen tieferen, nie versiegenden Lebensborn nimmermehr versagen noch ersetzen wollen. Es ist doch in dem einzelnen noch ein anderer Inhalt als der, der Kontinuität der Gattung anzugehören; vielmehr, sie ist selbst nur, indem sich in jedem einzelnen das Mysterium ihres Anfangs erneut, von dem aus er nacheilend sie geistig durchlebe. "Wo aber der menschliche Geist sich selbst oder der Wirklichkeit voraneilt, da regt sich in ihm die Idee Gottes."

Ich habe dies andeuten zu müssen geglaubt, da die Natur meiner Aufgabe mich notwendig über das Gebiet des äußerlich Geschichtlichen hinausführt, mich in Fragen verwickelt, deren Beantwortung durch den Standpunkt, von dem aus sie betrachtet werden, wesentlich modifiziert erscheint. Ich habe absichtlich das verrufene Wort Eudämonismus gebraucht, um zu bezeichnen, weshalb ich nicht in die Jammerklagen über die sogenannten materiellen Interessen mit einstimmen kann, die manchem seraphischen Gemüte die Gegenwart ganz verloren und verworfen erscheinen lassen; ihre Bedeutsamkeit für das Verständnis der hellenistischen Zeit fordert eine Bezeichnung ihrer Berechtigung. Nun und nimmermehr wird sich eine sittliche Ethik gestalten oder die christliche Moral über das Gesetz hinauskommen, wenn nicht dem Eudämonismus sein Recht und seine Stelle wird; mahnt doch das Wort des Apostels, dem Fleisch seine Ehre zu geben. Die Welt überwinden heißt nicht sie verwünschen und überspringen; gälte es, den Leib nicht zu adeln und zu verklären, sondern zu mißhandeln und zu ertöten, so wäre jene Muckerei beschämenden Andenkens im Rechten.

Noch finde ich, um die vorliegende Darstellung des Hellenismus zu bevorworten, einen Punkt hervorzuheben, für den freilich in dem Bisherigen wenigstens der Zusammenhang, in dem ich ihn betrachten zu müssen glaube, erkennbar sein wird. Ich befinde mich in der Verlegenheit, mich auf Erörterungen einlassen zu müssen, welche nur dann zu einem befriedigenden Resultat führen, die volle Kraft des Beweises gewinnen könnten, wenn ihnen innerhalb einer Historik, einer Wissenschaftslehre der Geschichte ihre Stelle vindiziert werden könnte. Es gibt wohl kein wissenschaftliches Gebiet, das so entfernt ist, theoretisch gerechtfertigt, umgrenzt und gegliedert zu sein, wie die Geschichte; über die Virtuosität ihrer Technik und die überreiche Aufhäufung neuer Materialien, über die dreiste Absichtlichkeit der Publizistik und den rasch fertigen Dilettantismus der Philosophie scheint die Wissenschaft zu vergessen, was sie entbehrt. Wie in jenen in Selbsttäuschung glücklichen Zeiten des Wolfianismus und der Enzyklopädisten die Philosophie mit einer Menge von sporadischen Ideen und Resultaten her und hin naturalisierte und dem Jahrhundert ihren Namen geben zu können glaubte, bis dann das mächtige Wort Kants den Kristallisationspunkt darbot, um den sich alle jene unruhige Gärung zu klaren festgefügten Gestaltungen niederschlug, ebenso irrt und wirrt auch unsere Wissenschaft, mit deren Namen unsere Zeit sich in mannigfachen Tendenzen zu bezeichnen liebt, noch umher, ohne ihren Lebenspunkt als Wissenschaft und damit ihr Gesetz, ihren Bereich, ihre Gliederung gefunden zu haben; noch glaubt sie, bald da, bald dort ihn borgen zu müssen, gegängelt heut von Patriotismus oder banausischer Moral, morgen zurecht gewippt nach der Mechanik diplomatischer Kunst, ein andermal von plastischen oder romantischen Monomanien überfüttert, dann wieder von frommem Zelotismus in Sack und Asche gesteckt oder von hektischer Kritik bald ins Mystische verdüftelt, bald ins Triviale abgedämpft. Uns täte ein Kant not, der nicht die historischen Stoffe, sondern das theoretische und praktische Verhalten zu und in der Geschichte kritisch durchmusterte, etwa in einem Analogon des Sittengesetzes, einem kategorischen Imperativ der Geschichte, den lebendigen Quell nachwiese, dem das geschichtliche Leben der Menschheit entströmt. Oder hätte die "Philosophie der Geschichte" das schon gewährt? Ich glaube nein, wenn anders sie das, was war und ist, für Exemplifikation der Logik, die Geschichte für den Automaten eines wenn auch noch so großartigen Systems dialektischer Bewegung gehalten hat; ich glaube nein, wenn sie auch in dem Prinzip der Persönlichkeit einen neuen Ausgangspunkt erringend, doch nur das Unerklärliche in millionenfacher Wiederholung postuliert zeigt. Willkommener könnte eine "Theologie der Geschichte" sein, wenn nicht Gefahr wäre, daß der Name einem noch ärgeren Dilettantismus, einer noch dreisteren Absichtlichkeit Tür und Tor öffnete. Und doch scheint manches darauf hinzudeuten, daß der tiefer erfaßte Begriff der Geschichte der Gravitationspunkt sein wird, in dem jetzt das wüste Schwanken der Geisteswissenschaften Stetigkeit und die Möglichkeit weiteren Fortschrittes zu gewinnen hat.

Ich begegne zunächst einer trivialen Frage. Heißt nicht mit vollem Recht die Zeit des Hellenismus die eines allgemeinen Verfalls? Man ist mit Worten wie Blüte, Verfall gar schnell bei der Hand; je einseitiger die Betrachtung, desto entschiedener und umfassender das Urteil. Nicht immer ist mit dem Verfall staatlicher Gestaltungen der des religiösen Lebens, der sozialen Entwicklungen gleichzeitig; noch weniger bedingt die Blüte der Gewerbe, des Handels, der Künste notwendig die des sittlichen Fortschrittes, der nationalen Kraft. Die unendlich reichen Beziehungen, die in ihrem tausendfach geschürzten Gewebe erst das Leben der Geschichte darstellen, wie selten lassen sie sich auf so abstrakte Gesamtausdrücke zurückführen. Allerdings gibt es ein geschichtliches Verfallen des einzelnen Volkes; es ist dann, wenn der belebende, geistige Inhalt aus seinem Leben schwindet, wenn es aufhört, die Lebenskraft zu neuen Metamorphosen, zu neuen Verimpfungen und Angliederungen zu haben, wenn es in seine Urstände, in jene bloß natürlich vegetative Weise des empirischen Daseins zurücksinkt. Wie wenig das von der Zeit des Hellenismus gesagt werden kann, glaube ich nachgewiesen zu haben. Wohl kann man sie als Verfall bezeichnen, wenn man gewisse Einzelheiten, die nun verfielen oder verfallen waren, angibt und diese zum alleinigen Maßstab des Urteilens macht, – etwa die künstlerische Herrlichkeit der klassischen Zeiten, wobei man denn freilich von der reicheren Wissenschaftlichkeit der hellenistischen absehen muß, – oder die treuherzige Frömmigkeit der Marathonkämpfer, wobei freilich unberücksichtigt bleibt, wes Inhaltes sie war. Der Hellenismus ist die moderne Zeit des Heidentums.

Und damit komme ich zu einem Zweiten. Man hat versucht, jenes Unbestimmte und Abstrakte auf ein erkennbares und wesentliches Maß zurückzuführen: man nimmt an, daß in der angeborenen, naturbestimmten Begabung eines Volkes eine bestimmte Reihe von Kräften, Befähigungen, Richtungen liege, welche sich hinauszugestalten hätten; wenn dieser Kreis von Verwirklichungen, die geschichtliche Aufgabe eines Volkes, vollbracht sei, so beginne dessen Verfall. Ich habe in den Schlußworten dieses Buches2 wieder: wie die Kennzeichen jener naturbestimmten Mitgaben umgrenzen? Genügt es, den heimischen Boden als präformierend, Licht und Luft als bestimmend zu verstehen, warum wirken sie denn nicht wieder in allen Generationen oder auf Einwandernde anderen Stammes dieselben Resultate? Und trägt die Disposition eines Stammes Wesentliches bei, wie denn anders die Mittätigkeit dieses Faktors messen, als eben in dem geschichtlichen Erscheinen seiner Wirksamkeit; aber Sprache und Mythos, gewiß die ursprünglichsten und bezeichnendsten Formen nationaler Physiognomik, verwandeln sich ja mit der Geschichte: wo hört denn diese auf, organisch zu sein? Oder hätte die ganze romanische Welt, deren Sprachen ja keine organische Ursprünglichkeit bewahrt haben, die ganze germanische Welt, die mit ihrem Eintreten in die Geschichte für ihren Mythos die Evangelien und Legenden der Heiligen eingetauscht hat, keine Geschichte? Man sieht, wie unzulänglich diese Theorie ist, in der "Metamorphose" der Völker das bestimmende Gesetz zu bezeichnen. Es ist ein merkwürdiges Zeichen der Zeit, daß sich diese Theorie der Naturwüchsigkeit mit dem Prinzip der Christlichkeit hat verbinden wollen; es ist charakteristisch, wenn der berühmte Vertreter dieser Verbindung das als den Segen wahrer Not für die Völker wie für den einzelnen bezeichnet, daß ihre eigenste Natur, das Angeborene, Gottgegebene in ihnen "im Zorn oder in anderer unbesinnlicher Regung" wieder hervorbreche, und daß, wo nur überhaupt wahrer Charakter (das heißt ein so Angeborenes, Ursprüngliches) sei, derselbe ein Unverwüstliches sei, bis die Sünde ganz des Menschen Herr geworden. Ich zweifle, daß das Christentum so die unbesinnlichen Regungen, den natürlichen Menschen, über die Sünde stellen kann; ich zweifle, daß die wahrhaftige Lehre von der Erbsünde ihre Stelle behält, wenn die Kreatürlichkeit auf solche Weise liebkost wird. Was die Lehre der Naturwüchsigkeit vertritt, ist nichts anderes als das Heidentum selbst; und doch wird mit demselben Munde Bann und Buße gefordert. Irre ich nicht, so spricht sich hier auf das stärkste der Drang echt protestantischer Entwicklung aus, dem Natürlichen, Heidnischen eine positive Beziehung zum Christlichen zu erwerben und mit demselben jenes zu verklären; nur daß in dieser Form beide Momente noch starr und unvermittelt nebeneinander stehen, jedes über das andere hingreifend, ohne es noch fassen zu können. Jene Ansicht der Naturwüchsigkeit übersieht, wie diese selbst nur darin ihre Bedeutung hat, daß sie sich zur geschichtlichen Bewegung erschließt und so an sich selbst eine Kontinuität von Umbildungen geschehen läßt, deren Wesen es ist, die Resultate geschichtlicher Bewegung, Theorien, Prinzipien, Ideale, zu verwirklichen, dem Gegebenen anzunaturen. Die Naturwüchsigkeit, in die Geschichte tretend, bereichert sich so fort und fort mit dem wachsenden Reichtum geschichtlicher Erarbeitungen.

Auf diesen Prämissen ruht diejenige Ansichtsweise, welche, eine Weiterführung jener, unter dem Namen der historischen recht eigentlich in Anspruch nimmt, die Bedeutsamkeit der geschichtlichen Entwicklung zu vertreten. Sie sieht in dem ruhig dahinströmenden Verlauf geschichtlichen Werdens, das weit hinaus über List und Willkür des einzelnen "sich wie von selbst macht", eine Berechtigung, eine Autorität, deren Anerkennung ihr außer aller Frage ist. Bis dann eine Zeit gekommen, wo sich der eigenwillige Verstand gegen diese Autorität erhoben, eine Berechtigung in ihm selbst, zu fragen, zu entscheiden, nach eigenem Ermessen zu schalten, in Anspruch genommen, "die Wurzeln jenes weltalten Baumes fürwitzig entblößt und ertötet hat". Sie sieht seitdem anstatt der Entwicklung Verwilderung, statt des Fortschreitens allgemeine Auflösung, ein immer wachsendes, immer weiteres Verfallen. Sie sieht durch die Aufklärung des vorigen Jahrhunderts und ihre fruchtbare Betätigung in der Französischen Revolution den Zusammenhang geschichtlicher Entwicklung, die Beziehung der Gegenwart zu den früheren Jahrhunderten gewaltsam durchrissen; sie erkennt da eine Tendenz, die, für Sitte, Recht, Staat, Religion gleich verderblich, an die Stelle ruhiger Weiterbildung revolutionäre Ideen, die Ungeduld rationeller Forderungen und abstrakter Theorien, die Frevellust des destruierenden Verstandes, die Frechheit allgemeiner Menschenrechte treten lasse, alles Ehrwürdige und Herkömmliche, alle wohlerworbenen Rechte, alle wohltätigen und durch die Treue uralter Gewohnheiten geheiligten Unterschiede mißachtend und freventlich zerstörend. Diese Ansicht ist es, der die gegenwärtige Welt aus ihren Fugen gerenkt erscheint, die das einzige Heil darin sieht, daß man solchen Übermut des menschlichen Geistes niederwerfe, den wilden Strom zuschütte, seine Quellen verstopfe, daß man die Zeit der Aufklärung, der Revolution möglichst aus dem Gedächtnis der Menschen tilge oder sie wenigstens in ihrer abschreckendsten Zerrgestalt darstelle, daß man zu den Ehrwürdigkeiten und Herkömmlichkeiten zurückkehre, die weitere gesundende Entwicklung der Gegenwart an die historische Kontinuität von ehemals anknüpfe, sorgsam die Trümmer bewahrend, die noch vorhanden sind, das Zerstörte wieder aufbauend, das Zersprengte wieder zusammenfügend.

Wenn diese Entgegensetzung des Historischen und Rationellen überhaupt richtig ist und wenn sie die geschichtliche Betrachtung zu normieren in Anspruch nehmen darf, so wird die Zeit des Hellenismus, wenigstens nach der Auffassung, welche in dem vorliegenden Buche dargelegt ist, sich gefallen lassen müssen, im wesentlichen ähnlich wie das letzte Jahrhundert beurteilt zu werden. Eben dies gibt mir den Anlaß, diese Betrachtungsweise hier zu besprechen, obschon die dürftige Überlieferung der hellenistischen Zeit bei weitem nicht gestattet, ihre Gestaltungen mit denen der analogen Entwicklungssphäre innerhalb der christlichen Welt in Vergleich zu ziehen.

Der sogenannten historischen Ansicht gegenüber ist zunächst geltend zu machen, daß eben jene rationelle, unhistorische Weise recht eigentlich ein Resultat tiefer historischer Zusammenhänge ist und damit das volle Recht hat, ebenso gut wie jedes andere Glied in der Kontinuität der Geschichte als historisch anerkannt und in seiner relativen Geltung belassen zu werden. Hat die sogenannte historische Ansicht kein höheres Kriterium, als das des fait accompli, als das einer durchgesetzten faktischen Geltung, so kann sie konsequenterweise keine Art von Instanz gegen die Phase von Entwicklungen geltend machen, welche sie verdammt. Es ist eine Gedankenlosigkeit, sich auf die Autorität historischen Rechtes zu berufen, ohne zugleich das Recht der Geschichte anerkennen zu wollen.

Es kann die Meinung nicht sein, die Dürre und Fadheit der Aufklärung wieder auf den Schild zu heben, ihr jetzt noch mehr als eine relative Berechtigung einräumen zu wollen. Und wenigstens das hat der triviale Liberalismus unserer Zeit mit ihr (freilich auch mit dem wieder beliebten Pietismus, dem alten Genossen der Aufklärung) gemein, daß er in dem Bedürfnis subjektivster Mitbeteiligung die scheinbare Last mannigfaltigster Bedingungen und Beziehungen von sich wirft, in jedem Augenblick von vorn anfangen und mit behendem Sprung das schließliche Ziel, ein absolut Bestes erreichen zu können wähnt, also daß die ganze Fülle und Breite der Wirklichkeiten für nichts ist, als nicht vorhanden außer acht und Arbeit gelassen wird. Wahrlich, es lag in der historischen Tendenz eine tiefe Berechtigung gegen die Aufklärung wie gegen den Liberalismus, ihr schneller Sieg war ein Beweis, welche bedeutsamen Momente jene außer acht gelassen hatten. Aber will die historische Tendenz nicht bei der Zerrgestalt der Restauration stehen bleiben, will sie der Gegenwart werden, was sie ihr werden muß, so sei sie ehrlich und wahrhaftig, werde sich ihrer ganzen Aufgabe und Verpflichtung bewußt, wage sich ihrer eigenen Konsequenzen zu bemächtigen; vor allem versuche sie, den wahren Inhalt ihrer Ansprüche zu ergründen. Solange sie in der Geschichte nur eben das Recht der vis inertiae sieht, kann sie sich nur mit Exklamationen rechtfertigen, nur auf die Sympathie mitbeteiligter Vorteile rechnen, und ihr Urteil ist nur Willkür und Vorurteil, verwirrend statt aufzuklären, erbitternd statt die Versöhnung zu bereiten, die doch nur sie tief und nachhaltig zu gewähren vermag. Denn allein eine wahrhaft historische Ansicht der Gegenwart, ihrer Aufgabe, ihrer Mittel, ihrer Schranken wird imstande sein, die traurige Zerrüttung unserer staatlichen und sozialen Verhältnisse auszuheilen und die rechten Wege zu einer froheren Zukunft anzubahnen.

Man wird sagen dürfen, daß die derzeitig vorherrschende Auffassung der Geschichte des klassischen Altertums im wesentlichen jene sogenannte historische ist, so freilich, daß eine eigentümliche Art von Parteilichkeit, – man möchte sagen, ein Patriotismus der Bildung für den Boden, auf dem sie großgezogen – die schon einseitige Auffassung noch mehr trübt. Gerade die griechische und römische Geschichte erinnert in jedem Augenblick daran, wie wenig die historischen Rechte gelten gegen das Recht der Geschichte; die eine wie andere ist unerklärlich, so lange man nicht den Inhalt dieses Rechtes zu erfassen vermag. Ich will von Rom nicht sprechen; es liegt mir hier näher, den Blick auf Griechenland zu wenden; gemeinsam ist beiden, sich je länger je mehr zu denationalisieren, sich endlich völlig man möchte sagen aufzulösen zu Allgemeinheiten, Prinzipien, Potenzen. Das eben ist es, wovon sich die sogenannte historische Ansicht mit ebenso lautem Unwillen abwendet wie von der wüsten neuesten Zeit; scheint ihr die hellenische Geschichte bis Alexanders Zeit, die römische bis etwa zu den Gracchen wie von selbst in schönster "organischer" Ebenmäßigkeit erwachsen, so sieht sie dann Epochen beginnen, von denen alles Ärgste zu sagen für Einsicht, Gesinnung, ja Tugend gilt. Bis zum Ekel wiederholt wird es, wie der arge Philipp von Makedonien die griechische Freiheit brach, wie mit Demosthenes und Aristoteles eigentlich alles aus ist, alles geschichtliche Leben stockt und stirbt, nichts bleibt als eine öde Nacht. Mag solche Ansicht sich recht attisch, recht hellenisch dünken, geschichtlich ist sie nicht. Wohl hat Philipp das gebrochen, was man die Freiheit in Griechenland nannte; aber wes Inhalts war diese Freiheit? Man sehe nur redlich hin, und man wird erkennen, daß Makedonien kraft desselben Rechtes die Hegemonie errang, welches nacheinander Sparta, Athen, Theben geltend gemacht hatte. Wer wird nicht das Athen des Themistokles und Perikles bewundern? Aber warum vergessen, daß es eine Gewaltherrschaft war, die jener gründete, dieser über das halbe Griechentum ausbreitete und hart genug, ja mit dem Bewußtsein übte, daß Athens Macht eine Tyrannis sei. Man verkenne doch nicht die negativen Momente im attischen, im hellenischen Wesen, sehe, wie diese auszugleichen und zu überwinden die weitere Geschichte gearbeitet hat. Wohl ist es ein herrlich Ding um die Freiheit; aber so wenig in unserer Zeit jemand im Ernst den Untergang jener alten feudalen Stände beklagen oder verkennen wird, daß in dem Siege der Souveränität über jene das Prinzip des Staates und damit der Freiheit den entscheidenden Schritt vorwärts getan hat, ebenso wenig sollte man die hergebrachten Phrasen gegen jene monarchischen Tendenzen wiederholen, in denen sich doch seit Sokrates' und Dionysios' Zeit die fortschreitende Entwicklung des Griechentums hat darstellen müssen. Wäre man sich nur im entferntesten bewußt, worauf es in der Geschichte Griechenlands ankommt, man würde aufhören, dieselbe für Athen zu monopolisieren oder gar für Sparta eine Art ausschließlicher Schwärmerei gerechtfertigt zu finden.

Ich habe den Hellenismus bezeichnet als die moderne Zeit des Altertums. Ich denke, man wird diese Bezeichnung in ihrem ganzen Umfang, in gewissem Betracht auch für die Entwicklung Roms, geltend machen dürfen. Freilich erscheint dann auch das Vorausliegende in gar anderem Licht. Man erkennt, wie die Entwicklung des hochbegabten Griechenvolkes schrittweise, in wetteifernder Anstrengung edelster Geister, ununterbrochen auf ein Ziel hindrängt, das nicht hat erreicht werden können, ohne daß tausend Rechte gekränkt, schönste Blüten geknickt, lebensvollste Gestaltungen entkräftet und zerstört wurden. Aber ist nicht auch für den Jüngling die süße Unschuld der Kinderspiele dahin? Und wieder, wie völlig entfremdet sich dem Mann die kecke Begeisterung der Jünglingsjahre; alternd mag er sich trösten, in seinen Kindern den Lebenskreis, der ihm sich zu schließen eilt, erneut zu sehen, reicher, so hofft er, sicherer erfüllend, was er zu erringen sich umsonst bemüht hat. Ist denn die Geschichte nicht reich genug, jeden Verlust, den sie bringt, mit vollen Händen zu ersetzen? Entzücken wir uns doch am Homer und beklagen es nicht, daß in seinen heiteren Göttergestalten die alte tiefsinnige Mystik, darinnen der Glaube an sie einst erwachsen war, überholt und verschollen ist.

Also immer das Spätere ist so viel besser, als das zuvor? Ich habe nicht nötig, mich gegen böswillige Mißdeutung zu verwahren; der wahre Inhalt jener Betrachtungsweise ist im bisherigen zur Genüge motiviert und spricht sich selbst unverfänglich aus. Nur in der Gesamtauffassung der Geschichte als der Entwicklung der Menschheit kann den einzelnen Gestaltungen, Völkern, Kulturen, Staaten, Individuen ihre rechte Bedeutung gewonnen werden; selbst was schön, wahr, recht, edel ist, steht nicht über Raum und Zeit, sondern hat sein Maß und seine Energie darin, daß es gleichsam projiziert erscheint auf ein Hier und Jetzt. Und wieder, dies Gesamtleben der Menschheit ist ein ununterbrochenes Strömen, – in dem tausendfachen Wellenkräuseln und Strudelspiel hinauf und hinab eine Richtung, der alle die Wasser, sei es hastiger, sei es träger, folgen, – ist ein rastloses Weiterdrängen, dessen Ziel wir ahnen mögen aus der Richtung. Nicht so ein Strömen, daß nicht an Ufersrand sich stagnierend Pfützen und Lachen bildeten, aber die nächste Überschwemmung reißt auch sie mit stromhinab; nicht so ein Fortschreiten, daß sich jede Weise geistigen Daseins, jede Form menschlicher Betätigung gleichzeitig in gleichen Pulsen höher entwickelte. Und eben da ist es, wo des Betrachtenden Blick so leicht irre wird; noch eben schwelgend in der plastischen Vollendung hellenischer Kunst fühlt er sich verletzt von den unschönen Formen jener hellenistischen, ethnischen Literatur, die einen tiefer aufgewühlten Lebensinhalt nur irgendwie zu fassen und auszusprechen ringt; oder nach der stolz gefügten Staatlichkeit der alten Römerweise widert ihn jene Imperatorenzeit an, wo der alten Tugend nichts bleibt als Selbstmord und dem Recht nichts als das Mein und Dein; oder die brausende Gärung der Gegenwart, die alles zertrümmert, was war und galt; sie beängstigt, erschüttert ihn, grausend blickt er hinweg von der schon hereinstürzenden Weltverwilderung, klammert sich fest an dem Gedächtnis des glückseligen Ehedem und warnt und zürnt, daß man sich rückgewandt festhalte an dem historischen Recht; – und nur die Gegenwart scheint ihm außer der Geschichte, außer der allwaltenden Sorge des Alten der Tage.

Erstes Buch

Erstes Kapitel

Geographische Grundlage – Die Entwicklung aus dem Lokalen – Die griechische Bildung – Alexanders Stellung – Städtegründungen – Das Reich der Lagiden – Das Reich der Seleukiden – Indien – Atropatene – Kleinasien – Die Galater – Makedonien – Die Griechen – Epeiros – Rückblick – Die Griechen in Sizilien und Italien

Überblickt man das geschichtliche Leben der alten Welt, so zeigt es sich räumlich in zwei große Kreise gesondert, deren Mitten von ebenso entgegengesetzter Charakteristik sind wie ihre Peripherien.

Von der Westseite des Indus bis Armenien hin erstreckt sich ein mächtiges Hochland, in seinen inneren Gesenken Wüste, rings umrandet von meist wasserreichen Gebirgswällen, der Heimat kriegerischer Bergvölker. In der Nordostecke verketten sich die Randgebirge dieses Hochlandes mit den Riesengebirgen des hohen Asiens, während sie sich im Westen, gleichsam zu einem Knoten verschürzt in den Landschaften Armeniens, nach Norden, Westen und Süden hin in die Gebirgszüge des Kaukasus, Kleinasiens und Syriens abzweigen. An den Abhängen jenes iranischen Hochlandes wiederholt sich in merkwürdiger Gleichförmigkeit die Bildung von Doppelströmen mit ihren reichen Tieflandschaften: im Westen die Fruchtländer des Euphrat und Tigris, durch eine Wüste getrennt von der arabischen Halbinsel; – im Osten der Indus und Sadlatsch, die Hauptadern des reichen Fünfstromlandes, durch eine Wüste getrennt von dem Herzland des brahmanischen Indiens; beide, das indische wie das aramäische Tiefland, dem Meere des Südens zugewandt; – im Norden der Oxos und Jaxartes, die im Altertum ihre Wasser in das einst umfangreichere Kaspische Meer ergossen, die Ströme des baktrischen Tieflands, gen Mitternacht durch die Wüste skythischer Horden geschlossen; – endlich das kleinere Tiefland des Kur und Araxes, eingeklemmt zwischen Armenien und dem Kaukasus, vom Schwarzen Meere durch Gebirge getrennt, zum tieferen Kaspischen Meere hinabgesenkt. So lagern sich diese vier reichen Stromlandschaften um jene medisch-persische Mitte, die wie eine Burg, wie eine Akropolis geschaffen scheint, die um sie her liegenden Tiefen zu beherrschen. Eigentümlich ist hier überall die geringe Ausbildung der maritimen Verhältnisse: verschlammte Strommündungen, untiefe Meere, Sandküsten hindern den überseeischen Verkehr an den wenigen Seeküsten, die es hier gibt; wo wirtbare und hafenreiche Gestade, bleiben sie unbenutzt; der kontinentale Charakter ist typisch für das medisch-persische Asien.

Anders der westliche Bereich der geschichtlichen Alten Welt. Wie um jene Gebirgsmitte Asiens ringsher hinabgesenkte Stromländer, so hier um ein offenes, wirtliches Meer ringsum hineinragende Gebirgsbildungen, bald im eintönigen Charakter afrikanischer Hochstrecken, bald in der bunten Mannigfaltigkeit hellenischer Buchten und Inseln gestaltet; wie dort die Kulturländer geschieden sind durch eine schwer zu erklimmende, von räuberischen Stämmen umhauste, innerlich öde Mitte, so drängt hier alles zu dem konzentrierenden und verbindenden Element des Meeres, zum Verkehr herüber und hinüber, zum gegenseitigen Ausgleich. Aber die Nordküsten dieses Mittelmeeres sind ungleich reicher geformt und gegliedert als die südlichen, die afrikanischen. Hier im Süden folgt dem vorragenden Gebirge bald weite glühende Wüste, oder sie zieht sich hinab bis an die Küste selbst, oder ein einsamer Strom flutet in enggeschlossener, von der Wüste umdrohter Felsrinne zu seichten Mündungen hinab; dort im Norden des Meeres erhebt sich hinter den weit vorragenden Inseln und Halbinseln, hinter den tief eindringenden Meeresbuchten eine breite Alpenzone, da und dort von Strömen durchbrochen, in hohen Paßwegen zu übersteigen, jenseits neue Gesenke, unzählige Ströme, die zu anderen nicht fernen Meeren hinabführen; es sind die vorgebildeten Räume einer späteren Geschichte, und wie sich jene Mitte des Ostens anlehnt an ein größeres, noch kontinentaleres, man möchte sagen geschichtsloses Ostland, so öffnet sich das Mittelmeer zu dem weiten westlichen Ozean, dessen Buchten eben jene Ströme empfangen, jene Länder späterer Geschichte umspülen.

So gehen die beiden Kreise des Ostens und Westens nach ihren Gegensätzen auseinander. Aber wo sie sich berühren, wie merkwürdig sind sie da ineinander verschlungen! Ägypten und Kleinasien, die syrische Küste und Griechenland, das sind die Länder dieser bedeutsamen Zwischenstellung.

Am Saume der afrikanischen Wüste, in den Tempelstaaten der ägyptischen Götterfetische dämmert das früheste Licht geschichtlicher Erinnerung: siegend zogen die Pharaonen gen Osten, gen Kolchis, zum Hellespont, uralte Denkmale geben noch davon Kunde; aber Ägyptens Größe ist schon dahin, als erst das geschichtliche Leben der anderen Völker erwacht; Afrika hat aus sich keine neue geschichtliche Kraft zu entwickeln vermocht.

Wie Ägypten nach Afrika, so leitet Kleinasien nach Europa hinüber; wie Ägypten eintönig und in sich geschlossen, so ist Kleinasien in reicherer Küstenbildung offen und zugänglich, im Inneren voller Gebirgszüge und Hochebenen, ein Tummelplatz des Völkerdrängens zwischen Asien und Europa, unter mannigfachen Stämmen zerrissen, in steter Oszillation zwischen dem Osten und Westen, nie in sich zu einer Einheit erstarkt.

Ganz zu Asien gehört die syrische Küste, ganz zu Europa Hellas, aber beide greifen hinüber in die entgegengesetzten Kreise. Jahrhunderte hindurch beherrschen die Punier das Mittelmeer; Beduinen des Meeres, schweifen und verkehren sie nach allen Küsten nah und fern; blühend setzt sich Phoinikien in seinen Kolonien Karthago, Spanien, den Inseln fort, während es selbst in seiner Heimat dahinstirbt. Und Griechenland wieder, nachdem es in unbeschreiblicher Regsamkeit gen Ost und West an allen Küsten umher unzählige Schößlinge gepflanzt, dringt es kämpfend und erobernd nach dem zentralen Hochland Iran vor, siedelt sich an in jener hohen Feste so gut wie in den Tiefländern umher, erfüllt auch Kleinasien, auch Syrien und Ägypten, beherrscht von Asien und Afrika her das Ostbassin des Mittelmeers, wie Karthago das westliche. Es ist die seltsamste Kreuzung; jener alte Gegensatz Asiens und Europas scheint seine Rollen vertauscht zu haben; das Ursprüngliche, natürlich Gegebene ist von dem Resultat der Geschichte überwunden und außer Bedeutung gesetzt.

Dann erhebt sich Rom zur Herrschaft über Italien; wie ein Keil drängt es sich zwischen den punischen Westen und den hellenistischen Osten. Wenn es endlich über beide den Sieg errungen, ist auch die zentrale Feste Westasiens von einem neuen Volke überwältigt; wie Rom über das Bassin des Mittelmeers, so herrschen die Parther vom Indus bis Armenien. Wieder sind es die beiden großen Kreise, in welche die Geschichte sich teilt, aber ihre Füllung wie ihr Bereich ist verändert; und nach langem unruhigen Schwanken drängen von Norden her die Germanen, von Süden her die Araber vor, um die Schwerpunkte des geschichtlichen Lebens völlig zu verrücken.

So im allgemeinsten Überblick die geographischen Verhältnisse, wie sie dem Gesamtverlauf der Alten Geschichte zugrunde liegen. Aber noch auf eine andere Weise greifen die geographischen, die lokalen Bestimmungen wesentlich ein. Auf ihnen ruht der heidnische Charakter des Altertums.

In den bezeichneten Bereichen finden wir ursprünglich, so weit die geschichtliche Erinnerung zurückreicht, die Völker, die einzelnen Stämme in entschiedener Sonderung, voneinander unabhängig, in bestimmt umgrenzten Gebieten; sie sind wie ein Produkt dieses Landes, dieses Bodens, gleichsam naturgeschichtlich mit ihm verwachsen; das menschliche Dasein, noch in das Leben der Natur verschlungen, empfängt von ihr seine Richtung, seinen Typus. Wer will das erste Erwachen des Geistes beschreiben? Mit dem ersten Wort schon ist er da; in geheimnisvoller Ähnlichkeit ist ihm des Wortes Klang für das, was es bedeutet; er bildet sich um sich her seine eigene Daseinssphäre. So beginnt er diese Natur, wie sie um ihn und an ihm ist, für sich zu erwerben. Aber sie allein noch ist es, woher er erwirbt, wohin er wirkt. Den Gefahren, die sie bietet, den Bedürfnissen, die sie weckt, ähneln die Mittel, mit denen ihnen begegnet wird; die Nahrung, die Lebensweise, die Sitte ist von ihr bestimmt; sie ist der Boden, auf dem der Geist emporwächst, der mütterliche Schoß, von dem er sich loszuringen trachtet. Woher auch immer die Ahnung höherer, göttlicher Mächte stammt, sie will für sie einen Ort, eine Gestalt, ein Dasein. Dort in dem Wirken und Schaffen der Natur sind sie, werden sie angeschaut, dorther ist ihr Name, ihr Bild; sie selbst sind wieder nur eine Fassung, ein Wort für diese Natur, für diese umgebende Heimatlichkeit. Und diese Mächte sind es, von denen die Ordnung des Lebens, die Gesittung gegründet heißt; sie haben die Gesetze gegeben, den Staat gegründet; er steht wie jeder einzelne in ihrer Obhut; der Dienst, in dem sich ihre Gläubigen vereinen, durchdringt das Leben des einzelnen wie das Staatsgesetz und die bürgerliche Ordnung vollkommen. So vereint sich mit der lokalen Geschlossenheit die innigste Verschmelzung von Staat und Religion; und damit vollendet sich die spröde konzentrische Sonderung jedes einzelnen Volkes. Auf sich gewandt, innerhalb seines Bereiches, mit eigener, auf dem eigenen Boden erwachsener Kraft gestaltet es die unmittelbaren, noch gebundenen Bestimmungen des eigenen, naturbestimmten Wesens heraus; seine Geschichte ist das Erlernen, Durchdringen, Aussprechen dieser Natur, die sein Prinzip ist.

Wie weit entfernt sind diese Anfänge von der Vorstellung der einen Menschheit, die alle Völker umfaßt, des einen Reiches, das nicht von dieser Welt ist, – jener Vorstellung, die ihren vollendenden Ausdruck in der Erscheinung des Heilandes gewinnt! Das ist der Punkt, zu dem hin die Entwicklung der alten, der heidnischen Welt strebt, von dem aus ihre Geschichte begriffen werden muß.

Es gilt, jene Sonderungen zu überwinden, über jene lokalen, natürlichen Bestimmungen sich hinauszuarbeiten, an die Stelle der nationalen Entwicklung die persönliche und damit die allgemein menschliche zu gewinnen. Das Höchste, was das Altertum aus eigener Kraft zu erreichen vermocht hat, ist der Untergang des Heidentums.

Es drängt alles zu diesem Ziel unablässig, mit steigender Gewalt hin. Im Osten sehen wir ein Volk nach dem anderen in die Geschichte treten, sich auf die Nachbarvölker werfen und sie überwinden, eine Zeit lang herrschen, dann selbst einem neuen, mächtigeren Feinde erliegen, bis zuletzt die Perser den ganzen Umfang des geschichtlich durcharbeiteten Ostens unterwerfen. Nicht in einem Volk ist da die Entwicklung zu immer höheren Prinzipien; jedes vollendet seinen naturbestimmten Verlauf; dann in sich fertig, umgeben von einer reichen Errungenschaft nationaler Kultur, Kunst, Wissenschaft, Erkenntnis, erliegt es einem andern Volk, dessen naturbestimmtes Prinzip das höhere und darum zum Siege berufen ist. Aber dies höhere selbst, in dem Maße, als es nur national ist, vermag es die Überwundenen nicht innerlich zu durchdringen und zu erhöhen, sondern nur zu verknechten und verstummen zu machen. Das persische Asien ist ein Reich, aber die Einheit nur im Herrscher und in den Werkzeugen seiner Herrschaft; den Völkern bleiben ihre Götter, ihre Sprache, ihre Sitten und Gesetze, aber verachtet, nur geduldet; die nationale Unabhängigkeit, der Siegesmut, der sichere Stolz des Heimischen ist dahin; und doch ist es den Verknechteten ihr Letztes, Eigenstes; sie halten es um so fester.

Aber wie verwandelt ist es schon! Das innerste Leben der Völker sehen wir in sich zerspalten. Begannen sie nicht von jener Verschlungenheit der Religion und des Staates, Gottes und der Welt? Nun scheiden sich beide; der alte Staat ist ihnen zertrümmert; nicht an der Gottheit verzagen sie, aber die Welt ist nicht mehr in ihr, ist ohne sie, ist das Nichtige vor ihr. Mit dem Untergang des alten heiligen Staates, in den Trümmern der Hierarchie erwächst jener Akosmismus, jene Entweltlichung des Gottesbewußtseins, welche so und zunächst nur ein Ausdruck der Ohnmacht und des Verzagens ist.

Aber doch nicht bloß aus solchem Untergang. Die Überlegenheit des Persertums, darf man sagen, liegt darin, daß da diese Scheidung der Anfang und das Prinzip ist, daß da der Staat nicht mehr priesterlich, sondern königlich ist und sein will, daß da die Welt erkannt wird als das für das Reich des Lichtes zu Erwerbende und der Mensch als ein Mitarbeiter der Gottheit. Rauh, nüchtern, tapfer, unermüdlich das Reich des Lichtes zu mehren, ziehen die Perser hinaus, die Welt zu überwinden; es ist die erste ethische Kraft Asiens, und kein Volk des Ostens vermag sich ihrer zu erwehren.

Im Griechentum findet sie ihre Schranke. Ein zweiter Kreis des Lebens hat sich dort zu entwickeln begonnen, reich, eigentümlich, fast nach allen Richtungen hin der vollste Gegensatz des Ostens.

Nicht eben groß ist der Raum, in dem es sich bewegt; aber wie mannigfaltig geformt, in wie buntem Wechsel Küste und Binnenland, Tal und Gebirge, Festland, Meeresbucht, Inseln; in größter Nähe die größten landschaftlichen Verschiedenheiten, die stärkste Sonderung bestimmender Naturverhältnisse. Dementsprechend die Bevölkerung dort; unzählige kleine Stämme, unabhängig und scharf gesondert voneinander, in rascher Beweglichkeit, voller Hader und Kampf, ganz von den individuellsten Anlässen ihres Lokals in Lebensweise, Tätigkeit, Anschauung geleitet, ganz auf sie gewandt; nicht als das Nichtige erscheint diese heimische Natur, sondern die Gottheit lebt und webt in ihr, ist ihr Leben, ihre Epiphanie, ihre Persönlichkeit, eine unzählige Schar göttlicher Gestalten, unzählig wie diese kleinen Stämme und Genossenschaften, die sie anbeten. Aber doch ist in allen diesen Stämmen, ihren lokalen Kulten und Sitten, ihren vielerlei Dialekten etwas Verwandtes; die Nähe und der unentbehrliche Verkehr mit den nachbarlichen Stämmen drängt zu Übereinkunft und Ausgleichung; die Gottheiten verschiedener Stämme und Lokale beginnen sich zu Götterkreisen zusammenzubilden, die heiligen Sagen, miteinander verbunden, verschmolzen, in neuen Zusammenhängen dargestellt zu werden. Und je mehr der trübe symbolische Charakter alter lokaler Naturdienste vor der menschlich-ethischen Weise zurückweicht, desto entschiedener erhebt sich über die lokale Sonderung der einzelnen kleinen Stämme und Dialekte die Vorstellung einer allgemeinen hellenischen Nationalität. Um die Zeit, da das Reich der Perser beginnt, ist sie ausgebildet da, wenn auch noch nicht abgeschlossen.

So sehen wir vom ersten Beginn her die griechischen Stämme über die natürlichen Bestimmungen, in denen das alte Morgenland gebunden war, hinausgehen. Sie sind nicht kastenhaft geschlossen, noch gehört der Dienst der Götter einem eigenen priesterlichen Stande an; sie haben keine heilige Urkunde, die ihrer weiteren Entwicklung eine Basis oder auch eine Schranke gäbe, keine Hierarchie, die als Abbild göttlicher Ordnung bewahrt werden müßte, kein gemeinsames Königtum, das sie in konzentrischen Entwicklungen weiter führen könnte. Mit dem Weiter- und Freierwerden ihres Weltbewußtseins umgestalten sich ihre religiösen Vorstellungen, und über die heimische Gewohnheit, die väterliche Sitte führt das stark und stärker hervortretende persönliche Wesen in immer rascherer Umbildung hinaus. So stetig und in den bestimmten Kreis gebunden sich die Völker des Ostens verhalten, so beweglich, so mannigfaltig, so assimilierend und nach inneren Bestimmungen fortschreitend ist das griechische Leben. Wie unermüdlich ist dies Arbeiten, dies kecke Wagen und Ringen aller Orten, nach allen Richtungen hin; und nicht da oder dort, nicht in dieser oder jener Form ist das eigentlich Hellenische; Sizilien, Jonien, die Dorier, die Inseln, sie alle haben ihren Teil an dem gemeinsamen Werk, sie alle vereint erst sind das Griechentum, wie es bei den Festspielen des olympischen Gottes zu schauen zusammenströmt und sich selber schaut.

Und was ist dies gemeinsame Werk? Es ist das, was in Griechenland zum ersten Male geschichtlich erscheint und da zu einer bewunderungswürdigen Macht gesteigert wird, der Ausdruck eben jenes Fortschreitens, das stets über das Gegebene, über das Jetzt und Hier hinaus dessen idealen Inhalt anzuschauen, auszusprechen, praktisch zu erreichen sucht, um dann von den veränderten Wirklichkeiten aus dasselbe Weiterstreben aufs neue zu beginnen. Nennen wir es Bildung.

Um die Zeit der beginnenden Persermacht tritt diese Bildung in eine neue bedeutende Wendung ein. Die natürliche Grundlage der hellenischen Religionen, wie war sie durch den epischen Gesang dichterisch und mythisch überwachsen und unkenntlich geworden! Aus den natürlichen Kräften und ihrem Wirken waren Helden mit ihren Taten und Leiden geworden; der Mythologie und zum Teil der Religion verlor sich der Zusammenhang der göttlichen Mächte mit den Wirklichkeiten; die erwachende Reflexion begann zugleich jene Mythen als äußerliche Geschichte zu sammeln und zu kritisieren, zugleich nach jenem verlorenen Zusammenhang von neuem zu fragen und ihn außer dem Bereich der Religion zu suchen. Da hatte die Prosa ihren Anfang; es begann die Beschreibung der Völker und ihrer Vergangenheiten, es begann die Naturphilosphie der Jonier, es fand Pythagoras in dem Mysterium der Zahlen, des quantitativen Verhältnisses das Prinzip der Dinge, es fanden die Eleaten das Nichtsein des Seienden. Und zugleich hat die poetische Kunst eine neue, die dramatische, Form gewonnen; sie führt alle jene Gestalten, die einst religiöser Art, dann in den epischen Gesängen zu Bildern der verschönernden Phantasie geworden sind, in unmittelbarer Leibhaftigkeit, als Personen handelnd und leidend dem Schauenden vor Augen, sie durchläuft den ganzen Kreis heiliger Sagen, aber sie verknüpft und gestaltet sie nach neuen Gesichtspunkten, nach ethischen Zusammenhängen; als deren Resultat weist sie die alten heiligen Stiftungen, die Tempel und Feste der Götter, die unvordenklichen Gründungen der Städte, der Stämme und Völker nach; dem, was da ist und was man glaubt, gibt sie den Ansprüchen des höher entwickelten Bewußtseins gemäß eine neue Rechtfertigung.

Denn so weit schon ist man. Was da ist, gilt nicht, weil es ist; es soll sein Recht zu sein und zu gelten gewußt werden; und die Sophistik geht daran, nach allen Seiten der Wirklichkeit hin diesen Anspruch durchzusetzen, nach den letzten Gründen und Zwecken zu forschen. Staatlich versucht sich dasselbe Prinzip in der Demokratie Athens durchzubilden, im vollsten Gegensatz gegen Sparta und dessen auf starre Herkömmlichkeit gegründete Weise; es teilt sich Hellas für und wider die Bewegung; es beginnt ein Kampf, der zum ersten Male in der Geschichte nicht bloß Volk gegen Volk, Masse gegen Masse, sondern Prinzipien widereinander führt. Wohl erliegt äußerlich Athen, aber die Gedanken der neuen Zeit breiten sich unwiderstehlich überall hin aus; die Demokratie, die Aufklärung, die kritisierende Doktrin beginnt das hellenische Leben zu beherrschen.

Es bestehen noch die hellenischen Staaten in mannigfachen Formen, voller Herkömmlichkeit, mit dem Dienst städtischer Gottheiten verwachsen, alte, nur faktische Bildungen, überall der Staat nur in der Form der "Stadt", das kommunale und staatliche Wesen ungeschieden. Aber über sie erhebt sich die politische Theorie, nicht ohne den Anspruch, die Wirklichkeit umzugestalten, von der sie schon sich so weit entfernt hat, da und dort eindringend, in Kritias, Epameinondas, Dion von momentanen Erfolgen; so wie an die Stelle der alten winkeligen Städte, wie die Zeit und das Bedürfnis sie hat entstehen lassen, sich deren neue erheben mit geraden, breiten Straßen und regelmäßig geteilten Quartieren, ebenso beginnen sich in den Verfassungen die neuen rationellen Bestrebungen geltend zu machen. Es ist die bedeutsamste Wendung in der Entwicklung des Griechentums. Mißverstehen wir jene Zeit nicht; was uns als Grundlage des staatlichen Wesens erscheint, die Freiheit und das Recht des Individuums, das ist in der Griechenwelt als Verderben der guten alten Zeit eingetreten. In dieser hat es sich von selbst verstanden, daß die einzelnen nur um des Staates willen und durch den Staat sind, sie gehen ganz in demselben auf, sie haben keine Möglichkeit selbständiger Existenz außer in ihm; von privaten, von rein menschlichen Beziehungen ist noch nicht die Rede, man ist Bürger und nur Bürger. Dann beginnt die tiefe Umwandlung, die Sophistik und die spätere Demokratie erhebt das Recht des Menschen gegen das des Bürgers, das Interesse der einzelnen gegen das des Staates; der Staat hat nicht mehr die Macht, die voll und ganz sein zu nennen, welche allein seine Ehren und Pflichten haben. Und doch vermag er ebensowenig sich zu einer rein territorialen Bedeutung umzubilden; unter den Einwohnern des Landes der Geburtsadel, als Bürger dieses Landes geboren zu sein, gibt nach wie vor allein die Befugnis, an seiner Souveränität, seinen Herrschaftsrechten, dem Genuß seiner oft einträglichen Ehren teilzunehmen. Schon hat man sich entwöhnt, mit dem Bürgertum die Pflicht der Waffen zu identifizieren; man läßt das Vaterland durch Söldner verteidigen, und das Privatinteresse der beteiligten Bürger, die Furcht vor außerordentlichen Leistungen, vor besonderen Anstrengungen, vor möglicher Auflehnung der Beherrschten, die man rücksichtslos und eigennützig zu bedrücken fortfährt, bestimmt die Politik dieser republikanischen Staaten. Überall empfindet man den Widerspruch zwischen den hergebrachten Verhältnissen und der besseren Einsicht, zwischen den alten politischen Gewohnheiten und Maximen und den neuen Theorien und ihren Forderungen; im Inneren wie nach außen hin sind die Staaten von ihren alten Grundlagen gelöst, ohne deren neue gewonnen zu haben; ein Zustand voller Unruhe und Schwäche, die Geburtsstätte einer neuen Zeit.