Grundriss der Historik - Johann Gustav Droysen - E-Book

Grundriss der Historik E-Book

Johann Gustav Droysen

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Beschreibung

Vorlesungen über historische Encyclopädie und Methodologie, die ich seit 1857 wiederholentlich gehalten habe, veranlassten mich das Schema derselben niederzuschreiben, um den Zuhörern einen Anhalt für den Vortrag zu geben. So wurde der »Grundriss« zuerst 1858, dann wieder 1862 als Manuscript gedruckt. Häufige Nachfragen auch aus der Fremde bestimmten mich, wenn das Heftchen von Neuem gedruckt werden musste, es der Oeffentlichkeit zu übergeben. Abhaltungen und Bedenken mancher Art haben die Herausgabe bis jetzt verzögert; wenigstens zu einem einstweiligen Abschluss schien mir endlich die Arbeit reif zu sein.

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GRUNDRISS

DER

H I S T O R I K.

1868

© 2022 Librorium Editions

ISBN : 9782383833444

Vorwort.

Vorlesungen über historische Encyclopädie und Methodologie, die ich seit 1857 wiederholentlich gehalten habe, veranlassten mich das Schema derselben niederzuschreiben, um den Zuhörern einen Anhalt für den Vortrag zu geben. So wurde der »Grundriss« zuerst 1858, dann wieder 1862 als Manuscript gedruckt. Häufige Nachfragen auch aus der Fremde bestimmten mich, wenn das Heftchen von Neuem gedruckt werden musste, es der Oeffentlichkeit zu übergeben. Abhaltungen und Bedenken mancher Art haben die Herausgabe bis jetzt verzögert; wenigstens zu einem einstweiligen Abschluss schien mir endlich die Arbeit reif zu sein.

Eine Einleitung, die ich dem ersten Abdruck beigefügt hatte, um die Fragen zu bezeichnen, um die es sich handelt, habe ich auch jetzt vorausgeschickt. Es sind ferner ein paar Aufsätze beigelegt, die, wie ich glaube, zur Erläuterung einiger Punkte dienen werden. Der erste: »Die Erhebung der Geschichte zum Rang einer Wissenschaft« ist in Anlass von Buckle’s bekanntem Werk geschrieben und in v. Sybel’s Zeitschrift 1862 abgedruckt. Der zweite: »Natur und Geschichte« wurde auf Anlass einer Discussion geschrieben, in der alle Vortheile des metaphysischen Standpunktes auf der Seite meines Gegners waren. In einem dritten Aufsatz habe ich unter dem Titel: »Kunst und Methode« nicht viel anders als eine Reihe aphoristischer Bemerkungen zusammengestellt, um die ein wenig in Vergessenheit gerathenen Grenzen zwischen Dilettantismus und Wissenschaft in Erinnerung zu bringen, Bemerkungen, von denen ein Theil bereits in einem academischen Vortrage (Monatsberichte der Königl. Acad. der Wiss., 4. Juli 1867) eine Stelle gefunden hat. Ich schwankte, ob ich einen vierten Aufsatz hinzufügen sollte, den ich als Einleitung zum zweiten Theil der Geschichte des Hellenismus 1843 in wenigen Exemplaren hatte drucken lassen, um auf Grund desselben mit wissenschaftlichen Freunden eben diese Frage der Historik zu erörtern, aus der sich mein Standpunkt zwischen der Theologie und der Philologie — den bei der Geschichte des Hellenismus nächst betheiligten Disciplinen —, mir zu rechtfertigen schien; ich habe vorgezogen, diesen Aufsatz noch zurückzulegen, da es den Leser nicht so wie mich interessiren zu können schien, auf welchen Wegen, von welchem Punkt aus ich zu den Ergebnissen gelangt bin, die ihm nun vorliegen.

Der Zweck dieser Veröffentlichung wird erreicht sein, wenn sie dazu dient, zu weiterer Erörterung der Fragen anzuregen, die sie behandelt, der Fragen von der Natur und Aufgabe, von der Methode und der Competenz unserer Wissenschaft.

Berlin, im November 1867.

Joh. Gust. Droysen.

Grundriss der Historik.

Man wird den historischen Studien die Anerkennung nicht versagen, dass auch sie in der lebhaften wissenschaftlichen Bewegung unseres Zeitalters ihre Stelle haben, dass sie thätig sind, Neues zu entdecken, das Alte neu zu durchforsehen, das Gefundene in angemessener Weise darzustellen.

Aber wenn man sie nach ihrer wissenschaftlichen Rechtfertigung und ihrem Verhältniss zu anderen Formen menschlicher Erkenntniss, wenn man sie nach der Begründung ihres Verfahrens und dem Zusammenhang ihrer Aufgaben fragt, so sind sie nicht in der Lage, genügende Auskunft zu geben.

Nicht als glaubten sie sich derartiger Fragen principiell nicht bedürftig oder nicht mächtig; es ist der eine und andere Versuch sie zu lösen theils innerhalb der Geschichtsstudien selbst gemacht, theils aus anderen Disciplinen herübergenommen worden.

Man hat der Weltgeschichte eine Stelle in der encyclopädischen Philosophie angewiesen. Man hat sie, bedenklich gegen die logischen Nothwendigkeiten, um so zuversichtlicher aus den materiellen Bedingungen, aus den Zahlen der Statistik zu entwickeln empfohlen. Ein Anderer wieder — und er spricht nur theoretisch aus, was Unzählige meinen oder gemeint haben — stellt »die sogenannte Geschichte« überhaupt in Frage: »die Völker existiren ja blos in abstracto, die Einzelnen sind das Reale, die Weltgeschichte ist eigentlich blos eine zufällige Configuration und ohne metaphysische Bedeutung.« Anderer Seits ist der fromme Eifer daran, freilich mehr doketisch als fromm, für den Pragmatismus der menschlichen Dinge immer neue Wunderwirkungen Gottes und seines unerforschlichen Rathschlusses zu substituiren, eine Lehre, die wenigstens den Vorzug hat »dem Verstande nichts weiter schuldig zu sein.«

Innerhalb unserer Studien selbst hat bereits die Göttinger Schule des ausgehenden achtzehnten Jahrhunderts sich mit den allgemeinen Fragen beschäftigt; und sie sind seitdem von Zeit zu Zeit wieder behandelt worden. Man hat zu erweisen unternommen, dass die Geschichte »wesentlich politische Geschichte« sei und dass sich um diesen Kern die vielerlei Elementar-, Hülfs- und andere Wissenschaften unseres Fachs gruppiren. Man hat dann das Wesen der Geschichte in der Methode erkannt und diese als »Kritik der Quellen,« als Herstellung der »reinen Thatsache« bezeichnet. Man hat die maassgebende Aufgabe unserer Wissenschaft in der künstlerischen Darstellung und in dem »historischen Kunstwerk« gefunden und feiert wohl als den grössten Historiker unserer Zeit denjenigen, der in seiner Darstellung dem Walter Scott’schen Roman am nächsten steht.

Der historische Sinn ist in der menschlichen Natur zu rege, als dass er nicht früh und, unter glücklichen Verhältnissen, in angemessenen Formen seinen Ausdruck hätte finden sollen; und dieser natürliche Takt ist es, der noch jetzt unseren Studien den Weg weist und die Form giebt. Aber der Anspruch der Wissenschaft dürfte sich damit nicht befriedigt erachten; es liegt ihr ob, sich über ihre Ziele, ihre Mittel, ihre Grundlagen klar zu werden. Nur so kann sie sich zur Höhe ihrer Aufgabe erheben, nur so, mit Baconischen Ausdrücken zu sprechen, die Anticipationen, die noch ihr Verfahren beherrschen, die idola theatri fori specus überseitigen, für deren Bewahrung nicht minder grosse Interessen thätig sind, als einst für Astrologie und Hexenprocesse, für den Glauben an fromme und unfromme Zauberwirkungen eintraten; — nur so wird sie über ein ungleich weiteres Gebiet menschlicher Interessen, als sie bis jetzt will und kann, ihre Competenz begründen.

Das Bedürfniss, über unsere Wissenschaft und ihre Aufgabe ins Klare zu kommen, wird jeder, der lehrend Jüngere in sie einzuführen hat, eben so wie ich empfunden, Andere werden es in anderer Weise zu befriedigen verstanden haben. Mich drängten zu solchen Untersuchungen namentlich Fragen, an denen man, weil sie in der täglichen Uebung längst gelöst scheinen, vorüberzugehen pflegt.

Das, was heute Politik ist, gehört morgen der Geschichte an; was heut ein Geschäft ist, gilt, wenn es wichtig genug war, nach einem Menschenalter für ein Stück Geschichte. Wie wird aus den Geschäften Geschichte? wo ist das Maass dafür dass sie Geschichte werden? macht den Kaufkontract, der heut zwischen Privaten abgeschlossen wird, ein Jahrtausend zu einer geschichtlichen Urkunde?

Jedermann sagt, dass die Geschichte ein wichtiges Bildungsmittel sei; sie ist ein wichtiger Bestandtheil des heutigen Unterrichts. Aber warum ist sie es? in welcher Form? war sie es den Griechen der Perikleischen Zeit nicht, oder nur in andrer Form? etwa in der der Homerischen Gesänge? und wie können nationale Gedichte den Griechen, dem Hohenstaufischen Deutschland den pädagogischen Werth des geschichtlichen Unterrichts gehabt haben?

Die Beobachtung der Gegenwart lehrt uns, wie jede Thatsache von andern Gesichtspunkten aus anders aufgefasst, erzählt, in Zusammenhang gestellt wird, wie jede Handlung — im privaten Leben nicht minder wie im öffentlichen — die verschiedenartigsten Deutungen erfährt. Der vorsichtig Urtheilende wird Mühe haben, aus der Fülle so verschiedener Angaben ein nur einigermassen sichres und festes Bild des Geschehenen, des Gewollten zu gewinnen. Wird das Urtheil nach hundert Jahren aus der schon geminderten Masse von Materialien sicherer zu finden sein? führt die Quellenkritik zu mehr als zu einer Herstellung einstmaliger Auffassungen? führt sie zur »reinen Thatsache?«

Und wenn es so um den »objectiven« Inhalt der Geschichte steht, was wird dann aus der geschichtlichen Wahrheit? giebt es eine Wahrheit ohne Richtigkeit? behalten diejenigen Recht, welche die Geschichte überhaupt als eine fable convenue bezeichnen?

Ein gewisses natürliches Gefühl und die unzweifelhafte Uebereinstimmung aller Zeiten sagt uns, dass dem nicht so sei, dass in den menschlichen Dingen ein Zusammenhang, eine Wahrheit, eine Macht sei, die, je grösser und geheimnissvoller sie ist, desto mehr den Geist herausfordert, sie kennen zu lernen und zu ergründen.

Sofort schloss sich hier eine zweite Reihe von Fragen an, Fragen über das Verhältniss des Einzelnen zu dieser Macht der Geschichte, über seine Stellung zwischen ihr und den sittlichen Mächten, die ihn erfüllen und tragen, über seine Pflichten und seine höchste Pflicht; Betrachtungen, die weit über den unmittelbaren Bereich unseres Studiums hinausführten und die Gewissheit erzeugen mussten, dass deren Aufgabe nicht anders als in den grossen und grössten Zusammenhängen gefasst zu erörtern sei. Konnte der Versuch gewagt werden, diese Erörterungen von dem Kreise von Kenntnissen und Erkenntnissen aus zu unternehmen, wie sie dem Geschichtsfreunde aus seinen Studien erwachsen? durften diese Studien wagen, eben so wie die Studien der Natur mit so glänzendem Erfolge gethan, sich auf sich selbst zu stellen? Wenn der Historiker, mit seiner nur historischen Kenntnissnahme von dem, was Philosophie, Theologie, Naturbetrachtung u. s. w. erarbeitet haben, sich in diese schwierigen Probleme einliess, so musste er sich darüber klar sein, dass er nicht speculativ dürfe sein wollen, sondern in seiner empirischen Weise, von der einfachen und sicheren Basis des Gewordenen und Erkannten aus vorzugehen habe.

In den Untersuchungen Wilhelm von Humboldt’s fand ich diejenigen Gedanken, die, so schien es mir, den Weg erschlossen; er schien mir ein Bacon für die Geschichtswissenschaften. Von einem philosophischen System Humboldt’s mag nicht zu sprechen sein; aber was der antike Ausdruck dem höchsten Historiker zuschreibt, ἡ σύνεσις πολιτικὴ καὶ ἡ δύναμις ἑρμήνευτική, besass er in merkwürdiger Harmonie; in seinem Denken und Forschen so wie in der grossartigen Welterfahrung eines thätigen Lebens ergab sich ihm eine Weltanschauung, welche in der starken und durchgebildeten Empfindung des Ethischen ihren Schwerpunkt hat. Den practischen und idealen Bildungen des Menschengeschlechts, namentlich den Sprachen nachgehend erkannte er die »geistig-sinnliche Natur« desselben und die im Geben und Empfangen weiterzeugende Kraft ihres Ausdrucks, — die beiden Momente, in denen die sittliche Welt, in immer neuen Polarisationen immer neue elektrische Strömungen erzeugend, gestaltend sich bewegt und sich bewegend gestaltet.

Von diesen Gedanken aus schien es mir möglich, in die Frage unsrer Wissenschaft tiefer einzudringen, ihr Verfahren und ihre Aufgabe zu begründen und aus ihrer erkannten Natur ihre Gestaltung im Grossen und Ganzen zu entwickeln.

Ich habe dies in den folgenden Paragraphen zu thun versucht. Sie sind aus Vorlesungen, die ich über Encyclopädie und Methodologie der Geschichte gehalten, erwachsen. Es kam mir darauf an, in diesem Grundriss die Uebersicht des Ganzen zu geben und das Einzelne nur so weit anzudeuten, als zum Verständniss und für den Zusammenhang nothwendig schien.

Jena im Mai 1858.

 

Einleitung.

 

I. Die Geschichte.

§. 1.

Natur und Geschichte sind die weitesten Begriffe, unter denen der menschliche Geist die Welt der Erscheinungen begreift. Und er fasst sie so den ihm typischen Anschauungen Raum und Zeit gemäss.

Nicht objectiv scheiden sich die Erscheinungen nach Raum und Zeit; unsre Auffassung unterscheidet sie, je nachdem die Erscheinungen sich mehr dem Raum nach, mehr der Zeit nach zu verhalten scheinen.

Bestimmtheit und Inhalt gewinnen die Begriffe Natur und Geschichte in dem Maasse, als das Nebeneinander des Seienden, das Nacheinander des Gewordenen wahrgenommen, erforscht, erkannt wird.

§. 2.

Die rastlose Bewegung in der Welt der Erscheinungen lässt uns die Dinge als im steten Werden auffassen, mag das Werden der Einen sich periodisch zu wiederholen, das der Andern sich in der Wiederholung summirend in rastloser Steigerung zu wachsen scheinen (ἐπ ὸοσις εἰς αὑτὸ Arist. de anim. II. 5. 7.)