Geschichte des frühen Christentums - Markus Öhler - E-Book

Geschichte des frühen Christentums E-Book

Markus Öhler

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Beschreibung

Das frühe Christentum muss in seiner Vielfalt und als Teil der religiösen Welt der griechisch-römischen Antike wahrgenommen werden. Dieses Lehrbuch von Markus Öhler bietet eine Rekonstruktion der Anfänge des frühen Christentums von Jesus von Nazareth bis zum Bar-Kochba Aufstand im Jahr 135 n. Chr. Zentrales Anliegen des Buches ist es, die Geschichte des frühen Christentums in den Horizont der Gesellschafts- und Zeitgeschichte der frühen Kaiserzeit einzuordnen. Dadurch werden die unterschiedlichen Ausprägungen christlicher Traditionen und Gemeinschaften ebenso erkennbar wie das wechselnde Verhältnis zum antiken Judentum und zur Umgebungsgesellschaft. So entsteht ein umfassendes Bild des frühen Christentums.

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Seitenzahl: 618

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UTB 4737

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Basiswissen Theologie und Religionswissenschaft

Herausgegeben von Lukas Bormann

Der AutorDr. theol. Markus Öhler ist Professor für Neutestamentliche Wissenschaft an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien.

Markus Öhler

Geschichte desfrühen Christentums

Mit 9 Karten

Vandenhoeck & Ruprecht

Online-Angebote oder elektronische Ausgaben sind erhältlich unter www.utb-shop.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sindim Internet über http://dnb.de abrufbar.

© 2018, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt.Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Umschlagabbildung: Pfingsten, © akg-images.deUmschlaggestaltung: Atelier Reichert, StuttgartSatz: SchwabScantechnik, GöttingenEPUB-Produktion: Lumina Datametics, Griesheim

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

UTB-Band-Nr. 4737ISBN 978-3-8463-4737-9

Inhalt

Vorwort

Literatur

1 Grundfragen einer Geschichte des frühen Christentums

1.1 Worum es geht …

1.2 Quellen

1.3 Historische Re-Konstruktion

Literatur

2 Die griechisch-römische Welt: Herrschaft, Gesellschaft, Religion

2.1 Strukturen von Herrschaft

2.2 Gesellschaft und Kultur

2.3 Griechisch-römische Philosophie

2.4 Griechische und römische Religion

Literatur

3 Religion und Kultur der Judäer – Das Judentum in der frühen Kaiserzeit

3.1 Elemente judäischer Identität

3.2 Gruppen innerhalb des Judentums in Judäa und Galiläa

3.3 Samaritaner

3.4 Propheten und Aufstandsbewegungen vor 66 n. Chr.

3.5 Die beiden Aufstände in Palästina

3.6 Das frühe rabbinische Judentum

3.7 Das Diasporajudentum

3.8 Proselyten und Gottesfürchtige

Literatur

4 Chronologie des frühen Christentums

4.1 Die absolute Chronologie

4.2 Die relative Chronologie

4.3 Die Chronologie des frühen Christentums

Literatur

5 Jesus von Nazareth

5.1 Die Vorgeschichte – von der Geburt bis zur Taufe

5.2 Jesu Wirksamkeit

5.3 Die letzten Tage Jesu

Literatur

6 Der Neuanfang: Ostern und Pfingsten

6.1 Die Ostererfahrung

6.2 Die Geisterfahrung

Literatur

7 Die ersten Gemeinschaften in Judäa, Galiläa und Samaria

7.1 Christusgläubige in Jerusalem und Judäa

7.2 Christusgläubige in Galiläa

7.3 Christusgläubige in Samarien

7.4 Rückblick

Literatur

8 Die Ausbreitung des Christusglaubens nach Syrien

8.1 Die Verkündigung des Evangeliums an Nicht-Juden

8.2 Damaskus

8.3 Antiochien

Literatur

9 Die Frühzeit des Paulus

9.1 Paulus, ein Diasporajudäer

9.2 Paulus, ein Pharisäer in Jerusalem

9.3 Paulus, ein Verfolger der Christusgläubigen

9.4 Die Wende des Paulus zum Christusglauben

9.5 Das Wirken des Paulus bis zum Apostelkonvent

9.6 Die zeitliche Einordnung der Verkündigung auf Zypern und in Südkleinasien

Literatur

10 Die fortwährende Auseinandersetzung um Gesetz und judäische Identität

10.1 Der Apostelkonvent in Jerusalem

10.2 Der Antiochenische Zwischenfall

10.3 Das Aposteldekret

10.4 Erneute Forderungen nach Einhaltung der Tora – die galatische Krise

Literatur

11 Die Ausbreitung des Evangeliums in Kleinasien und Griechenland durch Paulus

11.1 Reisen in der griechisch-römischen Antike

11.2 Die Verkündiger als Reisende

11.3 Die Methoden der Verkündigung

11.4 Die Reise nach Zypern und in den Süden Kleinasiens (47–48 n. Chr.; Apg 13f.)

11.5 Die Reise nach Makedonien und Griechenland (48–52 n. Chr.; Apg 15,41–18,22)

11.6 Die Verkündigung in Ephesus (52–55 n. Chr.; Apg 18,23–20,1)

11.7 Die Kollektenreise (55–56 n. Chr.; Apg 20,1–21,17)

Literatur

12 Die paulinischen Gemeinden

12.1 Das soziale Profil paulinischer Gemeinden

12.2 Die Organisationsform paulinischer Gemeinden

12.3 Innere Entwicklungen

12.4 Herausforderungen durch äußere Einflüsse

Literatur

13 Die Weiterführung und Aufnahme judäischer Identität im frühen Christentum vom Apostelkonvent (47 n. Chr.) bis zum Bar-Kochba-Aufstand (135 n. Chr.)

13.1 Das Christentum in Palästina bis 135 n. Chr.

13.2 Zwischen Ausgrenzung und Integration: Matthäusevangelium und Didache

13.3 Die Orientierung an Jakobus als Element christlicher Identität

13.4 Die Johannesapokalypse

13.5 Orientierung an der Tora und judäischer Identität im 2. Jh. n. Chr.

13.6 Polemik gegen eine Orientierung an judäischer Identität nach 70 n. Chr.

Literatur

14. Das frühe Christentum in der griechisch-römischen Gesellschaft zwischen 60 und 130 n. Chr.

14.1 Bedrängnisse und der Tod der Apostel

14.2 Die Neronische Verfolgung (64 n. Chr.) – eine antike Geschichtskonstruktion

14.3 Keine Verfolgung unter Domitian (81–96 n. Chr.)

14.4 Die ersten Christenprozesse unter Trajan (98–117 n. Chr.)

14.5 Christenprozesse unter Hadrian (117–138 n. Chr.)

14.6 Das frühe Christentum in der griechisch-römischen Gesellschaft

Literatur

15 Innere Krisen im frühen Christentum zwischen 60 und 135 n. Chr.

15.1 Die Kontinuitätskrise

15.2 Die Kohärenzkrise

Literatur

16 Innere Wandlungen im frühen Christentum zwischen 60 und 135 n. Chr.

16.1 Von der Bekehrungsreligion zur Traditionsreligion

16.2 Die religiösen Vollzüge

16.3 Die Etablierung von Ämtern

16.4 Die johanneische Bewegung

16.5 Askese

16.6 Die soziale Gestalt

16.7 Das Ethos

Literatur

Abkürzungen

Personenregister

Ortsregister

Sachregister

Stellenregister

Verzeichnis der Abbildungen

Vorwort

„Die verschiedenen Momente der Menschheit aneinander zu knüpfen, und aus ihrer Folge den Geist in dem das Ganze geleitet wird errathen, das ist ihr höchstes Geschäft. Geschichte im eigentlichsten Sinn ist der höchste Gegenstand der Religion, mit ihr hebt sie an und endigt mit ihr – denn Weißagung ist in ihren Augen auch Geschichte und beides gar nicht voneinander zu unterscheiden – und alle wahre Geschichte hat überall zuerst einen religiösen Zwek gehabt und ist von religiösen Ideen ausgegangen. In ihrem Gebiet liegen dann auch die höchsten und erhabensten Anschauungen der Religion.“ (Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern [1799], ed. G. Meckenstock, Berlin 2001, 100f.)

“History is merely gossip.” (Oscar Wilde, Lady Windermere’s Fan, 1892)

Die vorliegende Rekonstruktion der Geschichte des frühen Christentums ist als einführendes Lehrbuch konzipiert. Es setzt eine lange Forschungsgeschichte voraus und profitiert von unzähligen Vorarbeiten, kann diese aber in dem begrenzten Rahmen weder ausreichend würdigen noch die entsprechenden Einzeldiskussionen führen. Sie verzichtet daher nicht nur auf Fußnoten, sondern auch weitgehend auf die üblichen Formulierungen historischer Forschung wie „wahrscheinlich“ oder „möglicherweise“ usw., die den unvermeidlich hypothetischen Charakter von historischer Rekonstruktion anzeigen. Um die zahlreichen Einzelfragen vertieft studieren zu können, sei der Leser/die Leserin auf die Lektürehinweise am Ende jedes Kapitels verwiesen. Über diese hinaus können ausführlichere Gesamtstudien zur Geschichte des frühen Christentums herangezogen werden.

Das Buch ist folgendermaßen aufgebaut: Nach einer Einführung zum Thema „Geschichte des frühen Christentums“ wird zunächst ein Überblick über den antiken Kontext gegeben, der für das Verständnis der Entwicklung des frühen Christentums unerlässlich ist. Daran anschließend widmet sich ein relativ breiter Abschnitt der Chronologie, wobei dieser Teil auch als Vorausblick auf die folgenden Kapitel dient. Diese orientieren sich grob an einem chronologischen Ablauf, berücksichtigen aber auch geographische Aspekte: die Wirksamkeit Jesu von Nazareth, die ersten Christusgläubigen in Palästina, Syrien, Kleinasien und Griechenland bis hin zu den weiteren Entwicklungen im beginnenden 2. Jh. n. Chr. Dabei stehen die Positionierung zu judäischen Identitätsmerkmalen, die innergemeindlichen Entwicklungen sowie das Verhältnis zur nicht-christlichen Gesellschaft im Fokus. Einige Exkurse widmen sich bedeutenden Personen des frühen Christentums.

Zwei sachliche Anliegen durchziehen diese Rekonstruktion: Zum einen soll gezeigt werden, dass die Entstehung des frühen Christentums mit den historischen und kulturellen Entwicklungen des 1. Jhd. n. Chr. verbunden ist. Geschichte ist nicht anders zu denken als unter Berücksichtigung der zahlreichen Kontexte, in die sie eingebettet ist.

Zum anderen soll die von Anfang an bestehende Diversität des frühen Christentums erkenntlich werden, um zu ermöglichen, die frühchristlichen Texte im Rahmen ihrer Entstehungssituation deuten zu können. Die Rekonstruktion der Geschichte des frühen Christentums hat ihre Bedeutung eben auch darin, zu einem besseren Verständnis der Glaubenszeugnisse des Anfangs zu verhelfen und so zum Gesamten der Theologie beizutragen.

Die Basis einer Rekonstruktion der Geschichte des frühen Christentums sind die Quellen der Antike, nicht nur des Neuen Testaments, sondern auch weit darüber hinaus. Viele der in diesem Buch erwähnten Texte außerhalb des Neuen Testaments sind in einschlägigen Quellensammlungen abgedruckt, unter denen jene, die von Jens Schröter und Jürgen Zangenberg herausgegeben wurde, hier empfohlen sei. Für das Studium des kultur- und religionsgeschichtlichen Kontextes finden sich in den Bänden aus der Reihe „Neues Testament und Antike Kultur“ gute Einführungen zu einzelnen Themenbereichen. Lexika wie „Der Neue Pauly“ bieten Einzelinformationen zu Personen, Orten und Sachen.

Ich danke herzlich all jenen, die an der Gestaltung des Buches sowohl in inhaltlicher wie formaler Hinsicht mitgewirkt haben: Lukas Bormann für die kritische Lektüre, Clarissa Breu und Kerstin Böhm für zahlreiche inhaltliche Vorschläge und Korrekturen, Milena Heussler und Sarah Herzog für die Überprüfung von Belegen und die Erstellung von Registern, sowie meiner Tochter Corinna Öhler für die Bearbeitung der Karten, für deren Bereitstellung ich den Kollegen D.-A. Koch und U. Schnelle danke.

Literatur

Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, 18 Bände, Stuttgart/Weimar 1996–2003.

James D. G. Dunn, Beginning from Jerusalem, Christianity in the Making 2, Grand Rapids/Cambridge 2009.

ders., Neither Jew nor Greek. A Contested Identity, Christianity in the Making 3, Grands Rapids/Cambridge 2015.

Kurt Erlemann/Karl-Leo Noethlichs/Klaus Scherberich/Jürgen Zangenberg, Neues Testament und Antike Kultur, 5 Bände, Neukirchen-Vluyn 2004–2008.

Dietrich-Alex Koch, Geschichte des Urchristentums. Ein Lehrbuch, Göttingen 22014.

Eckhard J. Schnabel, Urchristliche Mission, Wuppertal 2002.

Udo Schnelle, Die ersten 100 Jahre des Christentums 30–130 n. Chr. Die Entstehungsgeschichte einer Weltreligion, Göttingen 22016.

Jens Schröter/Jürgen Zangenberg, Texte zur Umwelt des Neuen Testaments, UTB 3663, Tübingen 2013.

Alexander J. M. Wedderburn, A History of the First Christians, London 2004.

1 Grundfragen einer Geschichte des frühen Christentums

1.1 Worum es geht …

1.1.1 Der Gegenstand „Christentum“

(Begriffsklärung)

Eine Geschichte des „Christentums“ setzt einen Begriff voraus, der im Neuen Testament nicht vorkommt. Xριστιανισμός/Christianismos begegnet erstmals im 2. Jh. n. Chr. bei Ignatius von Antiochien in seinen Briefen an die Gemeinden von Magnesia, Philadelphia und Rom (IMagn 10,1.3; IPhilad 6,1; IRöm 3,3), wobei dies dort u. a. als Gegensatz zum Judentum (griech. Ίουδαϊσμός/Judaismos) erscheint. Mit der heutigen Verwendung des Begriffs „Christentum“ wird allerdings eine soziologische und theologische Einheit als Religion postuliert, die, so wird im Folgenden immer wieder deutlich werden, in der Frühzeit nicht bestand. Zudem wird damit häufig die Vorstellung von der Trennung von einem als Einheit verstandenen „Judentum“ verbunden. Auch diese geschah erst in einem lange dauernden und unterschiedlich ablaufenden Prozess. Und schließlich dient der Begriff „Christentum“ bis heute als Abgrenzung zu einem antiken „Heidentum“, das aus zahlreichen Kulten unterschiedlicher Form und Geschichte bestand und keine Ganzheit darstellte.

(Christianoi)

Die Bezeichnung Christianismos selbst geht auf die Benennung von Christusgläubigen als Christianoi (griech. Χριστιανοί) durch Außenstehende zurück (Apg 11,26; 26,28). Sie wurde erst gegen Ende des 1. Jh. n. Chr. auch als Wort für die eigene religiöse Identität übernommen (1Petr 4,16). Im Neuen Testament begegnen viele andere Bezeichnungen (s. u. S. 175, 251), sie lassen sich allerdings nicht auf einen Nenner bringen.

(Alternative Begriffe)

In jüngerer Zeit haben Autorinnen und Autoren daher auf soziologische Begriffe zurückgegriffen: So wurden „Bewegung der Gottesherrschaft“, „Jesusbewegung“, „Jesusnachfolger“ oder „Anhänger und Anhängerinnen Jesu“ mit guten Gründen als Bezeichnungen verwendet, weil sie auf die Zeit vor Ostern verweisen. Sie sind allerdings darin defizitär, dass sie die besondere Bedeutung des Glaubens an Christus nicht abbilden können. Andere versuchen es mit „Glaubende an Christus“, „Jesus- bzw. Christusverehrer“ oder „Christusgemein-schaft“ und ähnlichen Konstruktionen. Insbesondere „Glaubende“ bzw. „Gläubige“ hat den Vorteil, dass damit eine Selbstbezeichnung aufgenommen wird, die in den Paulusbriefen begegnet (u. a. 1Thess 1,7; 1Kor 1,21; 14,22; Gal 3,22), aber auch darüber hinaus (1Petr 2,7; 1Joh 5,1.5.10). Allerdings ist auch dies nur ein Begriff aus der Vielzahl übergreifender Ausdrücke, die zeitlich und lokal offenbar ganz unterschiedlich ausgebildet wurden. Es bleibt so kaum eine andere Wahl, als einen Begriff zu verwenden, allerdings stets im Bewusstsein, dass er den bezeichneten Sachverhalt nur ungenau abbildet. Im Folgenden sprechen wir daher einerseits von „Christusgläubigen“, greifen aber andererseits für das zu besprechende Phänomen auf den klassischen Begriff „Christentum“ zurück, für den sich keine sprachlich sinnvolle Alternative ergibt. Es wird aber stets zu beachten sein, dass damit

Juden oder Judäer?

(Judaioi)

Anfang des 21. Jh. setzte in der Judaistik wie in der Erforschung des frühen Christentums eine Debatte ein, die gegenwärtig noch anhält und deren Ausgang noch nicht entschieden scheint. Dabei geht es um die Frage, ob die griechische Bezeichnung Ίουδαίοι/Judaioi mit „Juden“ oder mit „Judäer“ zu übersetzen ist.

Für die Wiedergabe mit „Judäer“ ist Folgendes vorgebracht worden: Es handelt sich aus antiker Perspektive eindeutig um ein Volk, nicht um eine Religion. Auch alle anderen griech. Volksbezeichnungen verweisen auf den Herkunftsort des entsprechenden Volkes. Ob Judaioi tatsächlich in Judäa selbst wohnen oder in der Diaspora, ist dabei irrelevant. Auch der griechische Begriff Ίουδαϊσμός/Judaismos ist dementsprechend nicht mit „Judentum“ wiederzugeben, also im Sinne einer Religion, sondern meint die Orientierung an der Lebenskultur des Volkes der Judäer. Die klassische Wiedergabe von Judaioi mit „Juden“ wird allerdings vehement verteidigt. Zum einen verstünden sich bereits seit der Makkabäerzeit die Judaioi selbst als Volk und Religion zugleich. Das zeige sich daran, dass man zum Judaismos übertreten kann (vgl. 2Makk 6,1–11 und 9,13–17). Zum anderen werde mit der Bezeichnung „Judäer“ die antike Geschichte des Judentums vom gegenwärtigen Judentum getrennt. „Judäer“ sollte daher ausschließlich für Bewohner des Gebietes Judäa in Palästina verwendet werden.

Im vorliegenden Buch werden beide Begriffe verwendet, wobei durch den Gebrauch jeweils angezeigt werden soll, ob eine vor allem ethnische oder eine kulturell-religiöse Perspektive vorliegt, auch wenn beides miteinander eng verbunden bleibt.

1. keine schon abgeschlossene Trennung vom Judentum impliziert ist;

2. keine soziologische oder theologische Einheit vorausgesetzt wird;

3. der Zusammenhang zwischen der Zeit des historischen Jesus und der Zeit der Gemeinschaften von Christusgläubigen nicht übergangen wird.

1.1.2 „Urchristentum“ oder „Frühes Christentum“?

(Die Fiktion der idealen Anfänge)

Der Begriff „Urchristentum“ stammt von Johann Bernhard Basedow (1723–1790) und ist eine abgekürzte Form von „ursprüngliches Christentum“. Er bezeichnet hier noch keine Zeitepoche, sondern das nach seiner Meinung unverfälschte, reine und originale Christentum, das in Verfall geraten sei. Diese Verfallstheorie beherrschte im 19. Jh. auch in anderen Bereichen der Wissenschaft den Blick auf die Anfänge kultureller und naturwissenschaftlicher Phänomene (u. a. Sprachwissenschaft, Anthropologie, Geologie). In der modernen Forschung wird der Begriff „Urchristentum“ allerdings nicht mehr ausdrücklich wertend, sondern im Blick auf einen Zeitabschnitt oder eine Epoche verwendet, wie z. B. zuletzt in dem Werk von Dietrich-Alex Koch. Der Ausdruck hat zwei Vorteile: 1) Es handelt sich um eine eingebürgerte Begrifflichkeit. 2) Eine Verwechslung mit dem Wissenschaftsbereich der frühchristlichen Archäologie bzw. Kunstgeschichte, die die Zeitspanne bis zum 6. Jh. n. Chr. untersucht, wird damit vermieden.

(Begriffsbildung)

Gegen die Verwendung von „Urchristentum“ spricht allerdings, dass damit vielfach immer noch eine Idealisierung der fernen Vergangenheit und eine Kritik an der Gegenwart verbunden werden. Das betrifft auch Ausdrücke wie „Urperiode“, „Urgemeinde“ oder „Urkirche“. Zudem finden sich in der Erforschung der griechisch-römischen Antike keinerlei Analogiebildungen, etwa im Sinne eines „Ur-Mithraismus“ oder eines „Ur-Judentums“. Auch die angloamerikanische Forschung hat diese Terminologie nicht aufgenommen. Alternativen haben sich zu Recht nicht durchgesetzt: Die Rede vom apostolischen bzw. nachapostolischen Zeitalter hat den Nachteil, ideale Anfänge, noch dazu verknüpft mit der schon im 1. Jh. n. Chr. umstrittenen Bezeichnung „Apostel“, zu konstruieren.

Man sollte daher einen neutralen Begriff verwenden: „Frühchristentum“, „Frühes Christentum“ oder „Anfänge des Christentums“ beschreiben dementsprechend das Phänomen, um das es im Folgenden gehen wird.

1.1.3 Die zeitliche Abgrenzung

(Beginn)

Die Frage, wann das Christentum beginnt, was also zu einer Geschichte des frühen Christentums gehört, wurde und wird unterschiedlich beantwortet. Zahlreiche Rekonstruktionen beginnen mit Jesus von Nazareth. Der Grundgedanke ist dabei, dass zwischen dem Wirken Jesu und der Entwicklung des Christentums eine Kontinuität besteht, die auch konzeptionell abgebildet werden soll.

(Jesus als Teil des frühen Christentums?)

Der Gegenentwurf sieht den Beginn des Christentums beim Tod Jesu bzw. bei der Ostererfahrung. Die theologische Begründung dafür geschieht häufig im Anschluss an Rudolf Bultmann, der die Bedeutung des Osterereignisses in den Vordergrund rückte. Erst ab der Zeit, als es einen wie auch immer gearteten „Glauben an Christus“ gegeben habe, könne man von Christentum und daher auch von seiner Geschichte sprechen. Jesus habe keine Bewegung oder gar „Religion“ gründen wollen, diese sei erst nach Ostern entstanden.

Beide Optionen haben ihre Nachteile: Ein Ansatz bei Jesus oder sogar bei Johannes dem Täufer steht in der Gefahr, die durch die Ostererfahrung bewirkten Unterschiede im Verständnis der Geschichte Jesu und der Entwicklung des frühen Christentums zu verwischen. Nach Ostern, das zeigen die Darstellungen der Evangelien, war Jesus von Nazareth für die ersten Christusgläubigen der geglaubte Christus, der als gegenwärtiger Herr seine Gemeinde leitet und über die Geschichte herrscht.

Ein Ansatz einer Geschichte des frühen Christentums erst nach Ostern ist in der Gefahr, die vor- und nachösterlichen Entwicklungen auseinanderzureißen und damit ein wesentliches Moment der Geschichte des frühen Christentums, die Kontinuität, zu vernachlässigen. Die Prägung des Christentums durch das Wirken des historischen Jesus tritt dabei stark in den Hintergrund.

Das vorliegende Lehrbuch setzt bei Jesus, genauerhin bei seiner Geburt, ein, schlicht aus dem pragmatischen Grund, dass eine Geschichte des frühen Christentums auch auf die Fragen nach den „vor-christlichen“ Anfängen Antworten geben muss. Dabei wird im Folgenden darauf geachtet werden, dass jene einschneidenden Veränderungen, die die Kreuzigung Jesu und die Auferstehungserfahrungen für die Anfänge des christlichen Glaubens und daher auch für dessen historische Re-Konstruktion bedeuten, nicht zugunsten der Betonung von Kontinuität verloren gehen.

(Ende)

Wann von dem Ende des frühen Christentums gesprochen werden kann, ist ebenfalls umstritten. Wann waren die Anfänge abgeschlossen und wann begann die Zeit der Alten Kirche?

(Konsolidierung / 4 v. Chr. bis 135 n. Chr.)

Es finden sich sehr frühe Abgrenzungen: der Tod des Paulus bzw. der Apostel in den späten 60er-Jahren des 1. Jh. n. Chr. oder das etwa zeitgleiche Ende des 1. Judäischen Aufstands mit der Zerstörung Jerusalems 70 n. Chr. Allerdings stammen die meisten Texte des Neuen Testaments aus den letzten Jahrzehnten des 1. und ersten Jahrzehnten des 2. Jh. n. Chr. Hinzu kommt, dass theologische und institutionelle Ansätze aus der Frühzeit in der ersten Hälfte des 2. Jh. n. Chr. zwar nicht zu einem Abschluss kamen, aber Entwicklungen erreichten, hinter die man später nur noch selten zurückging. Das gilt etwa für die Ausformung von Gemeindestrukturen oder die Bedeutung autoritativer Schriften, die dann später Teil des neutestamentlichen Kanons wurden. Diese Konsolidierungsphase setzt mit den Schriften der sogenannten „Apostolischen Väter“ ein, u. a. der Didache, den Ignatiusbriefen und dem 1. Clemensbrief, und reicht bis zu den ersten apologetischen Texten wie dem Quadratus-Fragment, der Apologie des Aristides, dem Kerygma Petri und dem Diognetbrief. Letztere markieren durch die literarische Hinwendung an eine intellektuelle Elite eine Neuorientierung. Sie fällt zeitlich zusammen mit verschiedenen Entwicklungen, die ab etwa 140 n. Chr. erkennbar werden: dem Aufblühen der Gnosis und der Bildung autoritativer Sammlungen frühchristlicher Texte. Hinzu treten zwei historische Entwicklungen, die eine Abgrenzung um etwa 135 n. Chr. sinnvoll machen: In diesem Jahr endete der zweite Aufstand der Judäer (132–135 n. Chr.), und 138 n. Chr. starb Kaiser Hadrian. Die vorliegende Rekonstruktion einer Geschichte des frühen Christentums reicht daher von der Geburt Jesu im Jahr 4 v. Chr. bis 135 n. Chr.

1.2 Quellen

(Paulusbriefe)

Den Grundstock für die Rekonstruktion der Geschichte des frühen Christentums stellen selbstverständlich die neutestamentlichen Texte dar, wobei die echten Paulusbriefe (Röm, 1/2Kor, Gal, Phil, 1Thess, Phlm) hier besonders wichtig sind. Sie sind Zeugnisse eines Beteiligten an dieser Geschichte. Allerdings ist stets zu beachten, dass Paulus in seinen Briefen nicht daran interessiert ist, objektive Berichte zu geben. Zudem handelt es sich um Gelegenheitsschreiben, die in der Regel nur partielle Rückschlüsse zulassen.

(Apostelgeschichte)

Mit der Apostelgeschichte ist uns ein mehr oder weniger zusammenhängender Bericht über Ereignisse etwa bis zum Anfang der 60er Jahre überliefert, der aus einem historischen Abstand verfasst wurde. Obwohl der Verfasser Quellen verwendete, die sich z. T. rekonstruieren lassen, hat er doch seine eigene Sicht in die Darstellung eingetragen. Dies ist besonders dort auffällig, wo uns Zeugnisse des Paulus zum selben Ereignis vorliegen, wie das etwa beim Apostelkonvent der Fall ist. Hier ist Paulus – unter Berücksichtigung der oben genannten Einschränkungen – jeweils vorzuziehen. In weiten Bereichen sind wir freilich allein auf die Apostelgeschichte angewiesen.

(Weitere Texte des frühen Christentums)

Die anderen Schriften des Neuen Testaments, wie die deuteropaulinischen Schreiben, die Evangelien, die sogenannten katholischen Briefe und die Johannesapokalypse, bieten zumeist nur indirekte Informationen für die Geschichte des frühen Christentums. Gerade für die Zeit nach dem Tod der ersten Generation sind sie aber unverzichtbar und über weite Strecken die einzigen Quellen, die wir haben. Dies gilt auch für die sogenannten „Apostolischen Väter“, von denen einzelne Texte zeitlich in die Spätphase des Neuen Testaments gehören.

Für andere außerkanonische bzw. apokryphe Schriften gilt zumeist, dass ihre Entstehungszeit jenseits unseres Zeitrahmens liegt. Ihre Berichte sind gegenüber älteren Quellen in der Regel sekundär, können im Einzelfall aber auch aufschlussreich sein. Die Nachrichten der Kirchenväter, wie z. B. von Irenäus oder Euseb, sind ähnlich zu beurteilen: Sie bieten direkte Nachrichten über bestimmte Ereignisse, freilich oft in Abhängigkeit von der Apostelgeschichte. Häufig sind sie legendarisch überformt, manchmal sogar frei erfunden, im Einzelfall aber u. U. glaubwürdig.

(Antike Historiker)

Abgesehen von christlichen Quellen sind Zeugnisse antiker Historiker heranzuziehen, wobei auch hier deren jeweiliges Darstellungsinteresse zu beachten ist. Diese bieten zwar so gut wie keine Informationen über das Christentum, helfen uns aber, die Ereignisse in einen größeren historischen Rahmen zu stellen. Zur Geschichte des frühen Judentums ist der jüdische Historiker Flavius Josephus (gest. um 100 n. Chr.) von größter Bedeutung, vor allem seine Bücher über den 1. Judäischen Aufstand Bellum Iudaicum (bell.) und die Geschichte des judäischen Volkes Antiquitates Iudaicae (ant.). Auch der hellenistisch-jüdische Philosoph Philo von Alexandrien (gest. nach 40 n. Chr.) ist eine Informationsquelle ersten Ranges. Fallweise sind auch rabbinische Quellen durchaus weiterführend. Aus der griechisch-römischen Literatur sind Plinius der Jüngere, Tacitus, Sueton, Cassius Dio u.v.m. unentbehrlich, vor allem um die Welt der frühen Christusgläubigen besser zu verstehen.

(Inschriften und Papyri)

Die Rekonstruktion historischer Ereignisse der Antike kann allerdings nicht allein auf Grundlage literarischer Quellen erfolgen, sondern muss auch andere Zeugnisse zu integrieren versuchen. Hier sind zunächst Inschriften zu nennen, die uns über historische Umstände und soziale Verhältnisse informieren und manchmal für Datierungen von besonderer Bedeutung sind. Ähnlich ist dies bei papyrologischen Zeugnissen, wobei vor allem bei den zahlreichen nicht-literarischen Papyri der oftmals lokale und private Charakter mit zu bedenken ist. Hinzu treten archäologische Überreste der Antike, die nicht nur die Lebenswelt der ersten Christusgläubigen illustrieren, sondern u. U. Rekonstruktionen historischer Umstände bzw. Abläufe ermöglichen. Auch Münzen spielen schließlich eine wichtige Rolle.

1.3 Historische Re-Konstruktion

(Methodik)

Zunächst und vor allem wird Geschichte historisch-kritisch erarbeitet, genauerhin durch die Sichtung der Quellen, die Qualifizierung ihrer historischen Zuverlässigkeit und die Einordnung der einzelnen Ereignisse in einen chronologischen Rahmen. Dabei wird jeweils das Interesse der antiken Autoren zu berücksichtigen sein, deren narrative Strategie und soziale wie religiöse Verankerung.

(Re-Konstruktion)

Wie jede Geschichtsforschung basiert auch die Rekonstruktion der Geschichte des frühen Christentums also auf der Interpretation von Quellen. Sie re-konstruiert eine Ereignisfolge, die sich nicht von selbst aus den Quellen erschließt, sondern erschlossen werden muss. Geschichtsschreibung erzählt so aus einer bestimmten Perspektive, die sich aus den Fragestellungen ergibt, aus der Position des Beobachters/der Beobachterin und dem Ziel seiner oder ihrer Erzählung. Wir interpretieren also die oben genannten Quellen und ordnen die Ergebnisse in einen Zusammenhang ein, den wir dann „Geschichte“ nennen. Diese Interpretationen und Zusammenhänge sollen nicht nur plausibel, also möglich sein, sondern im Rahmen der Methoden der Geschichtsforschung auch wahrscheinlich. Es muss nur stets bewusst bleiben, dass es sich um Konstruktionen handelt, nicht um Abbildung historischer Wirklichkeit oder die Wiedergabe von Fakten. Im Diskurs jener, die sich mit der Geschichte befassen, muss sich eine historische Rekonstruktion dann bewähren.

(Neutralität)

Aufgabe des Historikers/der Historikerin ist in diesem Prozess u. a. auch ein möglichst wertfreier Blick auf die Quellen, die herangezogen werden. Dazu gehört für unsere Fragestellung, dass nicht nur die Geschichte jener erzählt wird, die sich in der Gestaltwerdung des frühen Christentums durchsetzten, wie etwa Paulus oder Petrus. Auch die marginalisierten und in der Ausbildung der Mehrheitskirche des 2./3. Jh. n. Chr. untergegangenen Formen des Christusglaubens und deren Trägergruppen sind bedeutend. Sie sind gerade als Kontra-punkte zu den sich letztlich durchsetzenden Ansichten und deren Vertretern von großem Gewicht. Analog dazu werden auch nicht nur jene Personen in den Blick genommen, die an der Spitze einzelner Bewegungen standen, wie etwa die Apostel oder die Autoren neutestamentlicher Texte. Denn die Geschichte des frühen Christentums wurde nicht nur durch herausragende Figuren gestaltet, sondern vor allem auch durch jene, die nicht selbst zur Sprache kamen, deren Glaubensvollzug aber in sehr unterschiedlicher Weise die Ausformungen des frühen Christentums kennzeichnete.

(Theologische Bedeutung)

Ihre theologische Bedeutung hat die Teildisziplin „Geschichte des frühen Christentums“ innerhalb der neutestamentlichen Exegese vor allem darin, dass sie hilft, die Schriften des Neuen Testaments sowie weitere frühchristliche Texte im historischen Kontext zu lesen. Nur in diesem Kontext sind sie als geschichtlich gewordene Texte verstehbar und ist ihr Sinngehalt auch von der historischen Situation abstrahierbar und für die Gegenwart fruchtbar zu machen.

„Wie alle anderen historischen Texte auch, sind die Quellen des Urchristentums nicht einfach mit der Wirklichkeit, auf die sie verweisen, identisch, sondern beziehen sich auf diese in selektierender und interpretierender Weise. Sie tun dies, wie andere Texte auch, im Medium der Sprache, die den Zugang zur Wirklichkeit strukturiert und zwischen Gegenwart und Vergangenheit vermittelt. Geschichte liegt nicht einfach in den Zeugnissen der Vergangenheit verborgen, sondern muss durch einen kreativen, sinnbildenden Akt aus ihnen erhoben werden.“ (Schröter, Neutestamentliche Wissenschaft 855).

„Die Ordnung von Geschehensabläufen oder die orientierende Deutung gibt es nicht erst durch narrative Vermittlung im Text, sie existiert bereits auf der Handlungs- und Wahrnehmungsebene selbst. Ereignisse oder auch Erlebnisse und Erfahrungen haben bereits im Moment des Geschehens narrative Strukturen. Sie sind nicht unsprachlich zu haben.“ (Zimmermann, Geschichtstheorien 433).

Literatur

Stefan Alkier, Urchristentum. Zur Geschichte und Theologie einer exegetischen Disziplin, BHTh 83, Tübingen 1993.

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http://marginalia.lareviewofbooks.org/jew-judean-forum/ [7.2.2018]

2 Die griechisch-römische Welt: Herrschaft, Gesellschaft, Religion

Für das Verständnis des frühen Christentums sind die historischen und kulturellen Kontexte der griechisch-römischen Welt von unerlässlicher Bedeutung. Dazu gehören ganz unterschiedliche Bereiche, die hier nur knapp angesprochen werden können: die Strukturen von Herrschaft, die kulturellen und sozialen Ausprägungen des Lebens sowie die religiösen Deutungen und Vollzüge.

2.1 Strukturen von Herrschaft

Im Blick auf die Herrschaftsstrukturen sind zwei Dimensionen zu unterscheiden: Der umfassendere Bereich ist jener des römischen Imperiums, zumal dessen geographischer Raum auch jener der Ausbreitung des frühen Christentums war. Unter lokalen Gesichtspunkten sind die Machthaber im Großraum Palästina von Bedeutung, sowohl jene aus dem Herodianischen Geschlecht als auch die römischen Präfekten bzw. Prokuratoren.

2.1.1 Herrschaft über das Imperium Romanum – Die Kaiser

(Augustus / Tiberius / Caligula / Claudius / Nero / Vierkaiserjahr / Vespasian / Titus / Domitian / Nerva / Trajan / Hadrian)

Die Geschichte der römischen Kaiser ist durch ihren steten Bezug auf Augustus (31/27 v. Chr.–14 n. Chr.) geprägt. Die nach dem Bürgerkrieg (44–31 v. Chr.) erreichte Stabilität, zusammengefasst im Schlagwort der Pax Romana („Römischer Friede“), ermöglichte auch die Verbreitung des Christentums im Imperium Romanum. In der Zeit Jesu war mit Tiberius (14–37 n. Chr.) ein verlässlicher und um Stabilität bemühter Politiker Kaiser, der auch in Lk 3,1 erwähnt wird. Ihm folgte mit Gaius Caligula (37–41 n. Chr.) eine schwierige Persönlichkeit. Er verlangte als erster Kaiser göttliche Verehrung, wie der Historiker Sueton berichtet (Cal. 22,3). Auch im Jerusalemer Tempel sollte sein Standbild errichtet werden (Philo, leg. ad Gaium 200–207; Josephus, bell. 2,184–203; ant. 18,261–288). Lediglich sein vorzeitiger Tod verhinderte dies. Caligulas Onkel Claudius (41–54 n. Chr.), unter dem sich ein Großteil des Wirkens des Paulus vollzog, war ein gewiefter Politiker. Die östlichen Provinzen blühten unter seiner Regentschaft auf. Auf die Maßnahmen des Claudius gegen jüdische Christusgläubige in der Stadt Rom wird in Apg 18,2 angespielt (vgl. Sueton, Claud. 25,4; s. u. S. 86). Mit Nero (54–68 n. Chr.) setzten nach der stabilen Phase unsichere Zeiten ein. Nach einem zweifelhaften Bericht des Tacitus mussten Christusgläubige auf Veranlassung Neros als Sündenböcke für den Brand Roms im Jahr 64 n. Chr. herhalten (ann. 15,44,2–5; s. u. 14.2). Unter Neros Regierung begann im Jahr 66 n. Chr. auch der 1. Judäische Aufstand. Nach dem Selbstmord Neros konnte sich zunächst niemand entscheidend etablieren, sodass im Jahr 69 n. Chr. vier Kaiser den Regierungsanspruch erhoben: Galba, Otho, Vitellius und schließlich Vespasian, der sich durchsetzte. Er regierte bis 79 n. Chr. und begründete die Flavische Dynastie. Vespasian war zum Zeitpunkt seiner Machtergreifung gerade mit der Niederschlagung des Aufstandes in Judäa beschäftigt, die sein Sohn und Nachfolger Titus (79–81 n. Chr.) abschloss (s. u. 3.5.1). Beide standen für die Wiederherstellung der inneren und finanziellen Ordnung des Imperiums. Domitian (81–96 n. Chr.), Titus’ Bruder und Nachfolger, setzte einerseits das auf ökonomische und gesellschaftliche Stabilität ausgerichtete Programm fort, galt aber andererseits aufgrund der Spannungen mit dem Senat als grausamer Herrscher (s. u. 14.3). Nach dem besonnen regierenden Nerva (96–98 n. Chr.) kam mit dessen Adoptivsohn Trajan (98–117 n. Chr.) ein Mann an die Macht, der später als der ideale Kaiser galt. In seiner Zeit hatte das römische Reich die größte Ausdehnung, unter ihm kam es u. a. aber auch zum Judäischen Aufstand in der Diaspora (115–117 n. Chr.; s. u. 3.7.3). Darüber hinaus wurden unter Trajan zum ersten Mal Christusgläubige wegen des Vorwurfs des Aberglaubens (superstitio) hingerichtet (s. u. 14.4). Sein Adoptivsohn Hadrian (117–138 n. Chr.), ein großer Freund griechischer Kultur, setzte die Stabilisierung fort und rückte den Kaiserkult noch stärker in den Vordergrund. 132–135 n. Chr. kam es zum zweiten Aufstand in Judäa (Bar-Kochba-Aufstand). Hadrian ließ ihn niederschlagen und an der Stelle des zerstörten Jerusalem die Stadt Aelia Capitolina errichten (s. u. S. 73).

Kaiserdaten von Augustus bis Hadrian

Imperator Caesar Divi Filius Augustus 27 v. Chr.–14 n. Chr.

Tiberius Caesar Augustus 14–37 n. Chr.

Gaius Caesar Augustus Germanicus Caligula 37–41 n. Chr.

Tiberius Claudius Caesar Augustus Nero Germanicus 41–54 n. Chr.

Nero Claudius Caesar Augustus Germanicus 54–68 n. Chr.

Servius Galba Imperator Caesar Augustus 68–69 n. Chr.

Imperator Marcus Otho Caesar Augustus 69 n. Chr.

Aulus Vitellius Germanicus Imperator Augustus 69 n. Chr.

Imperator Titus Flavius Vespasianus Caesar 69–79 n. Chr.

Imperator Titus Caesar Vespasianus Augustus 79–81 n. Chr.

Imperator Caesar Domitianus Augustus 81–96 n. Chr.

Imperator Nerva Caesar Augustus 96–98 n. Chr.

Imperator Caesar Nerva Traianus Augustus 98–117 n. Chr.

Imperator Caesar Traianus Hadrianus Augustus 117–138 n. Chr.

2.1.2 Die römische Verwaltung

Die römische Verwaltung der frühen Kaiserzeit setzte auf ein System von Ausbildung und Beamtenlaufbahn, klaren Kompetenzen und gesetzlichen Richtlinien. Sie schloss die Ausübung und Repräsentation der römischen Machtstellung ein, wobei hinter dieser Praxis autorisierend und in vielen Bereichen auch entscheidend der römische Kaiser als oberstes Organ stand.

(Provinzverwaltung)

Das Imperium Romanum bestand aus Provinzen und Klientelfürstentümern. Provinzverwaltungen wurden seit 27 v. Chr. zum Teil vom Kaiser, zum Teil vom Senat besetzt. Kaiserliche Provinzen waren etwa Ägypten oder Syrien, die durch Präfekten bzw. Legaten für 2–3 Jahre verwaltet wurden. Zu diesen Legaten für die Provinz Syrien gehörte u. a. P. Sulpicius Quirinius, der im Jahr 6 n. Chr. in dem Verwaltungsgebiet von Judäa eine Volkszählung durchführen ließ (vgl. Lk 2,1f.). Unter anderem unter Tiberius gab es durchaus auch längere Amtszeiten von römischen Funktionsträgern, wie z. B. die zehn Jahre des Pontius Pilatus (Josephus, ant. 18,89). Die zehn senatorischen Provinzen, wie z. B. Asia oder Zypern, wurden vom römischen Senat mit ehemaligen Konsuln bzw. Praetoren für ein Jahr besetzt. Neben den Provinzen gab es Verwaltungsgebiete wie Judäa, deren Leiter Statthaltern untergeordnet waren, die aber keine eigenständigen Provinzen waren (s. u. 2.1.3).

(Statthalter)

Die Statthalter waren vor allem für die Gerichtsbarkeit und die Eintreibung von Steuern und Abgaben verantwortlich. Auch die Durchführung kultischer Verrichtungen für das Heil Roms und des Kaisers sowie für lokale Gottheiten lagen in ihrem Aufgabenbereich. In seiner Amtsführung war ein Statthalter mehr oder weniger frei, sodass Grausamkeit und Ausbeutung ebenso möglich waren wie verständnisvolles Eingehen auf die jeweiligen lokalen Gegebenheiten.

(Lokale Verwaltung)

Erste Verwaltungsinstanz war in der Regel aber keine römische Institution, sondern die lokale Administration. Obwohl die Oberhoheit bei römischen Statthaltern lag, überließen diese viele Bereiche einheimischen Einrichtungen. Vor allem die Ebene der Stadt (πόλις/polis, lat. municipium, civitas) war dabei zentral. Ihre Leitung rekrutierte sich durch Wahl aus den führenden Geschlechtern der Stadt, die in der Lage waren, die finanziellen Belastungen eines Amtes, das unentgeltlich war, zu tragen. Die konkrete Ausgestaltung von Ämtern war aber je nach Stadt und deren Status unterschiedlich. Das entscheidende Gremium war der Rat (βουλή/boulē; lat. curia), dem gegenüber das Volk (δῆμος/dēmos; lat. populus) in römischer Zeit nur noch geringe Bedeutung hatte. Den beiden Gremien zugeordnet war Hilfspersonal wie Schreiber oder Aufsichtsorgane. Auch private Unternehmer erledigten Verwaltungsaufgaben, wie z. B. die Zöllner (τελῶναι/telōnai; lat. publicani), die Steuern und Abgaben erhoben.

2.1.3 Herrschaft in Palästina

Der Großraum Palästina umfasste in der Antike die Gebiete Paneas, Gaulanitis, Trachonitis, Batanäa, Auranitis, Galiläa, Dekapolis, Peräa, Samaria, Judäa, Idumäa sowie einige Küstenstädte wie Askalon/Gaza, Jamneia, Caesarea Maritima, Joppe, Apollonia und Ptolemais. Die Bezeichnung dieses geographischen Bereichs als Palaestina geht auf die Zeit Hadrians nach der Niederschlagung des Bar-Kochba-Aufstands zurück (135 n. Chr.; s. u. 3.5.3). Da er sich in der modernen Altertumswissenschaft als Oberbegriff durchgesetzt hat, wird „Palästina“ hier zur Beschreibung des Großraumes, den in unterschiedlichen Konstellationen Mitglieder der herodianischen Dynastie als Klientelfürsten sowie römische Verwaltungsbeauftragte beherrschten, verwendet.

(Herodes der Große)

An erster Stelle unter den Herrschern Palästinas ist Herodes zu nennen (37–4 v. Chr.), Begründer seiner Dynastie und König von Judäa, Samaria, Galiläa und Batanäa, der daher auch als Herodes der Große bezeichnet wird. Als Idumäer war er eigentlich kein Judäer, achtete aber die Bestimmungen der Tora. Er war als Klientelkönig ein enger Verbündeter des Augustus bzw. Tiberius und trieb die Hellenisierung Palästinas voran. Herodes baute Samaria wieder auf und gründete Caesarea Maritima als Hafenstadt. Er ließ die Paläste von Massada und Herodeion errichten und den Jerusalemer Tempel zu einer großartigen Anlage nach hellenistischem Vorbild umbauen. Hohepriester und Synhedrion, die innerjüdische Leitung, verloren unter ihm ihre traditionelle Macht. Widerstand, auch aus der eigenen Familie, wurde brutal gebrochen, was sich auch in der Erzählung vom Knabenmord in Bethlehem niederschlug (Mt 2,1–19). Herodes teilte sein Reich testamentarisch unter seine Söhne Archelaos, Herodes Antipas und Philippus auf.

(Archelaos / Präfekten)

Archelaos (4 v. Chr.–6 n. Chr.; vgl. Mt 2,22) wurde wegen Unfähigkeit, über die sich die Elite Judäas beschwerte, durch römische Beamte ersetzt. Diese trugen den Titel praefectus/Präfekt, waren ritterlicher Herkunft und untergeordnete Beamte des Legaten von Syrien für das Gebiet von Judäa, Samaria und Idumäa. Sie waren daher auch nicht im eigentlichen Sinn Statthalter. Zu dieser Riege gehörte u. a. Pontius Pilatus (26–36 n. Chr.), unter dem Jesus hingerichtet wurde.

(Herodes Antipas / Philippus)

Das Gebiet von Galiläa und Peräa regierte von 4 v. Chr.–39 n. Chr. Herodes Antipas als Tetrarch. Er war der Landesherr von Johannes dem Täufer und Jesus (Mk 6,14–29; Lk 3,1; 13,31f.; 23,7–12). Philippus erhielt Gebiete im Nordosten Palästinas und regierte von 4 v. Chr.– 33 n. Chr.

(Herodes Agrippa I.)

Von 37–44 n. Chr. gelang es Herodes Agrippa I., einem Freund des Kaisers Claudius, noch einmal, das Großreich seines Großvaters, Herodes dem Großen, wiederherzustellen, allerdings kam er erst im Jahr 41 n. Chr. tatsächlich nach Jerusalem. Unter seiner Regentschaft wurde der Jünger Jakobus, Sohn des Zebedäus, hingerichtet (Apg 12,1f.).

Herrscher aus dem Haus des Herodes

37–4 v. Chr.Herodes der Große4 v. Chr.–6 n. Chr.Archelaos4 v. Chr.–39 n. Chr.Herodes Antipas4 v. Chr.–33 n. Chr.Philippus37/41–44 n. Chr.Herodes Agrippa I.48/49–92/93 n. Chr.Herodes Agrippa II.

(Prokuratoren)

Nach dem Tod Agrippas I. übernahmen ab 44 n. Chr. die Römer wieder direkt die Leitung. Die vom Kaiser mit der Verwaltung Beauftragten hatten nun den Rang von Prokuratoren, was ihnen mehr eigenen Handlungsspielraum gab als den früheren Präfekten. Zu nennen sind hier u. a. Cuspius Fadus (44–46 n. Chr.), unter dem es zum Aufstand des Theudas kam (vgl. Apg 5,36), und der romanisierte Judäer Tiberius Iulius Alexander (46–48 n. Chr.). Antonius Felix (52–59 n. Chr.) und Porcius Festus (59–62 n. Chr.) hielten Paulus in Gefangenschaft. Herodes Agrippa II., Sohn von Agrippa I., erhielt ab 48/49 n. Chr. Gebiete im Norden Palästinas, u. a. Galiläa, und herrschte bis 92/93 n. Chr. Nach Apg 25,13–26,32 begegnete Agrippa II. in Caesarea Maritima gemeinsam mit seiner Schwester Berenike dem gefangenen Paulus. Die Rolle der Hohepriester und des Synhedrions war unter diesen Bedingungen die des Vermittlers zwischen römischer Herrschaft und dem Volk vor Ort. Sie bemühten sich um Frieden und die Weiterführung des Kultes, verloren aber zunehmend die Anerkennung ihrer religiösen Legitimation.

(Nach 70 n. Chr.)

Nach dem Ende des ersten Aufstandes der Judäer im Jahr 70 n. Chr. übernahm zunächst der Kommandant der in Jerusalem stationierten Legio X Fretensis auch das Amt des Prokurators. Die nun von Syrien unabhängige senatorische Provinz Judäa, in der um 110 n. Chr. eine zweite römische Legion stationiert wurde, bestand bis zum Ende des zweiten Aufstandes (132–135 n. Chr.). Nach dessen Niederschlagung wurde Judäa in Syria-Palästina umbenannt.

Römische Beauftragte in Palästina 6–66 n. Chr.

Präfekten

6–9Coponius9–12Marcus Ambibulus12–15Annius Rufus15–26Valerius Gratus26–36Pontius Pilatus36–37Marcellus37–41Marullus

(37/41–44 Agrippa I.)

Prokuratoren

44–46Cuspius Fadus46–48Tiberius Iulius Alexander48–52Ventidius Cumanus52–59Antonius Felix59–62Porcius Festus62–64Albinus64–66Gessius Florus

2.2 Gesellschaft und Kultur

2.2.1 Der mediterrane Raum

(Verbreitungsgebiete des Christentums)

Vom Großraum Palästina mit seinen zahlreichen Landschaften ausgehend kam der Christusglaube bis 135 n. Chr. in weite Bereiche des römischen Imperiums. Belegt ist dies vor allem für Syrien, Kleinasien, Griechenland und das südliche Italien, doch ist auch eine frühe Verbreitung nach Ägypten und Nordafrika, nach Norditalien, auf den Balkan und vielleicht auch nach Spanien sehr wahrscheinlich. In dieser Welt entstand das frühe Christentum. Es ist daher von größter Bedeutung, die verschiedenen Kontexte, aus denen die ersten Christusgläubigen stammten und in denen sie selbstverständlich lebten, genauer zu betrachten.

2.2.1.1 Der einheitliche Kulturraum

(Hellenisierung)

Von größter Bedeutung für die Entstehung und Ausbreitung der Christusbotschaft war der durch die Hellenisierung seit Alexander dem Großen (356–323 v. Chr.) entstandene einheitliche Kulturraum. Griechische Kultur war vor allem in der östlichen Hälfte des Imperiums das bestimmende Moment, das sich in allen Lebensbereichen durchsetzte. Städte wurden nach griechischem Vorbild gebaut und gesellschaftlich strukturiert. Gymnasien, Bäder, Theater und Tempel wurden an allen Orten zu Kennzeichen griechischer Lebenskultur. Die Verehrung der olympischen Götter war überall verbreitet, und die jeweiligen autochthonen Kulte wurden mithilfe einer interpretatio Graeca integriert. Auch griechische Philosophie verbreitete sich weit über Griechenland hinaus, sodass sie in der Kaiserzeit ihre Zentren in Alexandria oder Rom hatte. Da sich auch die römische Welt in weiten Bereichen der Hellenisierung anschloss, kann man für den Mittelmeerraum von einer beinahe vollständigen Akkulturation ausgehen, die zu einem einheitlichen Kulturraum führte.

(Koine-Griechisch)

Für die Übernahme der griechischen Kultur spielte auch die griechische Sprache eine eminent wichtige Rolle Sie wurde zur Lingua franca im gesamten östlichen Mittelmeerraum bis weit in die Bevölkerungen Roms und Süditaliens hinein. Nicht nur in den Städten, sondern auch in den ländlichen Bereichen etwa Kleinasiens wurde Koine-Griechisch, das „allgemeine“ Griechisch, gesprochen. Damit verstärkte sich die Möglichkeit, Ideen und Kulte zu verbreiten, noch weiter. So ist es nicht verwunderlich, dass ab dem 3. Jh. v. Chr. Judäer in Alexandria ihre heiligen Schriften ins Griechische übersetzten und damit die Septuaginta (LXX) schufen. Später wurden auch das Neue Testament sowie die gesamte frühchristliche Literatur in Koine-Griechisch verfasst.

(Lokale Besonderheiten)

Selbstverständlich gab es von dieser umfassenden Akkulturation partielle Ausnahmen, die in einzelnen Bereichen eine gewisse Eigenständigkeit bewahrten. Das konnte etwa die Sprache betreffen: So blieb in Syrien und Palästina Aramäisch die erste Sprache, auch wenn in den Städten Griechisch vorherrschte. Auch lokale Sprachen wie das Hebräische, Koptische, Lykaonische oder Phrygische wurden weiterhin gesprochen. Die Hellenisierung der Kulte wurde in manchen Gebieten nur teilweise betrieben, wie sich am Judentum oder an ägyptischen religiösen Traditionen zeigt. Auch die Wirtschaftsstrukturen wurden nicht überall gleichermaßen dem griechischen Modell angepasst.

2.2.1.2 Stabilität und Pax Romana

(Pax Romana)

Das Imperium Romanum befand sich in der Zeit des frühen Christentums trotz mancher Konflikte an den Außengrenzen und seltener politischer Unsicherheit in einer Phase der Stabilität und Ausdehnung, der sogenannten Pax Romana. Das ermöglichte Investitionen in eine prosperierende Wirtschaft, die umfassende Neugestaltung der Städte und den Aufbau einer für antike Verhältnisse hervorragenden Infrastruktur. Zahlreiche römische Straßen, die sowohl dem imperiumsweiten Handel wie auch dem Militär dienten, verbanden alle Teile des Reiches. So konnte etwa Paulus auf seinen Reisen zwei bekannte Straßen nutzen: die Via Sebaste im Inneren Kleinasiens, die durch das pisidische Antiochien, Ikonion und Lystra führte, und die Via Egnatia, die vom Bosporus durch Makedonien und Illyrien bis an die Adriaküste verlief. Die erfolgreichen Kämpfe gegen das Piratenunwesen erlaubten zudem Schiffsreisen, mit denen weite Entfernungen relativ sicher bewältigt werden konnten.

2.2.2 Die Stadt als Zentrum des antiken Lebens

(Stadt)

Das soziale Leben war im Osten des Imperiums durch die Stadt geprägt. Diese bestand aus der eigentlichen Polis und ihrem landwirtschaftlich bedeutenden Umfeld. Die Stadt war der Kulturraum, in dem sich das frühe Christentum hauptsächlich verbreitete. Während die Leute auf dem Land als ungebildet galten, hatte die Stadt ein geordnetes Bildungs- und Kulturangebot und war durch Ämter und Verwaltungseinheiten strukturiert. Sie bot durch Märkte und Handwerksstätten zahlreiche ökonomische Möglichkeiten und stellte gesellschaftliche Angebote zur Verfügung. Gymnasien und Bäder sowie Vereinigungen erfüllten das Bedürfnis nach Geselligkeit, Theater und Stadien das nach Unterhaltung. In Tempeln unterschiedlicher Gottheiten vollzog sich darüber hinaus das religiöse Leben einer Stadt.

(Provinz)

Mit dem Vordringen und der Machtübernahme der Römer trat ein weiteres Element hinzu. Zum einen wurden die Städte, die zuvor Teile von lokalen Königreichen gewesen waren, in Provinzen eingegliedert. Der Statthalter und sein Apparat legten nun die Regeln fest, die Steuern flossen nach Rom. Manche Städte erhielten zwar Privilegien, die ihnen ein höheres Maß an Selbstverwaltung zubilligten, doch auch sie standen selbstverständlich unter der Herrschaft Roms. Die Gründung zahlreicher römischer Kolonien, wie z. B. von Korinth oder Philippi, und die Zuwanderung in die großen Städte führten zu einer wachsenden Präsenz römischer Bürger im Osten, die dort auch kulturell ihren Stempelabdruck hinterließen. Die lokalen Eliten der Städte waren daher stets um gute Beziehungen zu den römischen Institutionen und vor allem zum Kaiser bemüht. Zugleich war die frühe Kaiserzeit eine Phase des wirtschaftlichen Aufschwungs gerade der Provinzen im Osten, was sich an den zahlreichen öffentlichen Bauwerken bis heute erkennen lässt.

Karte 1: Das römische Reich in neutestamentlicher Zeit

2.2.3 Soziale Gruppen

Unterhalb der Polis-Ebene bestanden verschiedene Gruppen mit einer hohen Bedeutung für das gesellschaftliche Zusammenleben.

2.2.3.1 Familie und Haus

(Haus)

Basis der Gesellschaft war die Familie. Ihre Bezeichnung als „Haus“ (οἶκος/oikos bzw. οἰκία/oikia; lat. domus) lässt erkennen, dass die Familie – Eltern mit 2–3 Kindern – mit dem Haushalt identifiziert wurde und über die verwandtschaftlichen Grenzen hinaus auch Sklaven und Sklavinnen bzw. Freigelassene umfassen konnte. Das gilt auch für das semitische Äquivalent bayit. Je nach wirtschaftlicher Potenz konnte ein „Haus“ größer oder kleiner sein. Oft wohnten auch noch die Großeltern oder andere Verwandte unter demselben Dach. Die Orientierung am Haus zeigt an, dass die Familie auch als ökonomische Einheit verstanden wurde. Antike Werke aus der Feder etwa des Xenophon oder (angeblich) des Aristoteles widmeten sich unter dem Titel „Ökonomie“ ausführlicher der ordentlichen Führung eines Haushalts.

(Rollen im Haus)

Das Rollenverständnis innerhalb der Familien war klar festgelegt: Der Hausherr (griech. οἰκοδεσπότης/oikodespotēs; lat. paterfamilias) war der Herr über alle Mitglieder des Hauses, oberster Priester der Hauskulte und Repräsentant nach außen. Die Aufgaben der Frau wurden zumeist auf den internen Bereich festgelegt, also Hauswirtschaft und Erziehung. Kinder und Sklaven/Sklavinnen standen am unteren Ende der Hierarchie. Die Erfüllung der jeweiligen Rollen war Grundvoraussetzung für das Funktionieren des Haushalts. Das gilt grundsätzlich in allen Gegenden des Mittelmeerraums, wenngleich es zwischen griechischer und römischer Tradition durchaus Unterschiede gab, die u. a. rechtliche Regelungen betrafen. Der jeweilige gesellschaftliche Stand konnte überdies Frauen mehr oder weniger Freiraum ermöglichen.

2.2.3.2 Freie und Sklaven

Als frei galten in der griechisch-römischen Gesellschaft all jene, die entweder frei geboren oder aus der Sklaverei freigelassen worden waren. Frei Geborene bildeten jenen Teil der Polis-Gesellschaft, der an den politischen Prozessen beteiligt war, wobei auch ökonomische und andere Faktoren selbstverständlich eine Rolle spielten. Freigelassene hingegen unterlagen verschiedenen Einschränkungen, die erst bei ihren Nachkommen, die als frei geboren galten, wegfielen.

(Stellung von Sklaven)

Hinsichtlich der Stellung von Sklaven und Sklavinnen die Angehörige von Haushalten mit entsprechenden finanziellen Mitteln waren, ist eine differenzierte Wahrnehmung wichtig. Grundsätzlich galt ein Sklave (griech. δοῦλος/doulos; lat. servus) als Eigentum seines Herrn, über das dieser vollständige Verfügungsmacht hatte. Es handelte sich also um ein strukturelles Gewaltverhältnis, das allerdings in der Praxis und zumal in der Kaiserzeit gegenüber den historischen Anfängen bereits abgemildert war. Die Situation der Sklaven und Sklavinnen, die 15–30 Prozent der Bevölkerung einer Stadt ausmachten, hing von ihrem Einsatzort und ihrer Ausbildung ab: Am schlechtesten stand es wegen der Arbeitsbedingungen um jene, die in Bergwerken arbeiten mussten. Die Landgüter (Latifundien) der Oberschicht waren nur durch die Arbeitskraft von Sklaven wirtschaftlich zu führen, wobei die Aufsicht zumeist ebenfalls einem Sklaven überlassen wurde (vgl. Lk 12,42–48). Eine gute Behandlung der Sklaven als wichtige Arbeitskräfte war durchaus bedeutend, um die wirtschaftliche Investition zu schützen. Viele Sklaven und Sklavinnen in den Städten gehörten zu einzelnen Haushalten (Haussklaven, griech. οἰκέται/oiketai) und erfüllten neben Haushaltstätigkeiten auch Funktionen als Erzieher, Lehrer oder Schreiber. Andere arbeiteten in Werkstätten, in der städtischen oder imperialen Verwaltung bzw. in der Prostitution. Ihre Lebensverhältnisse richteten sich nach ihrer Qualifikation und Bindung an den Hausherrn oder andere Mitglieder der Familie. Einige wenige Sklaven, u. a. jene, die zum Kaiserhaus gehörten, hatten durchaus machtvolle Positionen inne. Ein Sklave zu sein, musste also nicht automatisch Armut oder Misshandlungen mit einschließen. Die Lebensumstände eines Sklaven hingen vielmehr von den sozialen und ökonomischen Verhältnissen des Besitzers sowie von dessen Umgang mit seinen Sklaven ab.

(Neue Sklaven)

Eine Quelle von Sklaven und Sklavinnen waren Kriege, in deren Folge die Unterlegenen in großer Zahl und in alle Bereiche des Mittelmeerraums verkauft wurden. Solche Auseinandersetzungen konnten den hohen Bedarf allerdings nur kurzfristig ausgleichen. In der Kaiserzeit waren die meisten Sklaven und Sklavinnen selbst Nachkommen von Sklaven (οἰκογενεῖς/oikogeneis, lat. vernae). Junge oder neue Sklaven wurden im Haus ausgebildet, um dann auch gewinnbringend verkauft werden zu können. Der Hausherr konnte Ehen zwischen Sklaven erlauben, zugleich waren sexuelle Beziehungen zwischen ihm und Sklavinnen bzw. Sklaven ebenfalls möglich. Kinder von Sklaven waren Eigentum des Besitzers.

(Freilassung)

Ein wichtiges Lebensziel vieler Sklaven und Sklavinnen war die Freilassung durch ihren Herrn (άπ-έλευθερία/ap-eleutheria, lat. manumissio). Während der Sklave ein Freigelassener wurde, ein άπ-έλεύθερος/ap-eleutheros(lat. libertus), wurde sein Herr zu seinem Patron. Er besaß dadurch noch ein gewisses Verfügungsrecht über seinen ehemaligen Sklaven, der nun zu seinem Klienten geworden war. Die Freilassung von Sklaven und Sklavinnen konnte auch testamentarisch festgesetzt oder durch die Zahlung einer Geldsumme an den Besitzer erreicht werden. Vielen Sklaven und Sklavinnen wurde von ihren Besitzern die Möglichkeit eingeräumt, Geld anzusparen, um sich schließlich selbst freikaufen zu können. Die Aussicht auf Freilassung führte dazu, dass Flucht, die strengstens bestraft wurde, und Aufstände wie jene, die zwischen 140 und 70 v. Chr. blutig niedergeschlagen wurden, eher selten waren.

Trotz mancher Überlegungen zur prinzipiellen Gleichheit aller Menschen und einer dementsprechenden Problematisierung der Sklaverei in der kynisch-stoischen Philosophie wurde dieses System in der gesamten Antike nicht in Frage gestellt, auch nicht durch das entstehende Christentum.

2.2.3.3 Vereinigungen

Eine wichtige Stellung zwischen den gesellschaftlichen Ebenen von Familie und Polis nahmen Vereinigungen ein. In der frühen Kaiserzeit erlebte der Mittelmeerraum ein Aufblühen des Vereinswesens, sodass ein gewichtiger Teil der Bevölkerung in den Städten – bis zu einem Drittel aller freien Männer – Mitglied in einer oder mehreren Vereinigungen war.

(Netzwerke)

Vereinigungen fungierten als soziale Netzwerke, in denen sich Menschen aufgrund ähnlicher Interessen trafen. Sie hatten einen beruflichen, ethnischen oder religiösen Schwerpunkt, wobei die Verehrung von Göttern in allen Vereinigungen eine Rolle spielte. Weit verbreitet waren z. B. Vereinigungen, die den Dionysos- bzw. Bacchuskult pflegten, in vielen wurde auch zusätzlich zur eigentlichen Vereinsgottheit der Kaiser verehrt.

(Kultische Dimension)

Viele der Namen, die sich Vereinigungen gaben, verweisen auf Gottheiten: Dionysiasten (=Iobakchen), Isiakoi (Verehrer der Isis), Demetriasten (Verehrer der Demeter), Poseidoniasten (Verehrer des Poseidon) usw. Andere rückten den Beruf im Namen in den Vordergrund, wieder andere ihre Herkunft. Zu Letzteren gehörten auch die „Synagogen der Judäer“, also die Versammlungen jener, die selbst oder deren Vorfahren aus Judäa stammten. Darüber hinaus gab es die unterschiedlichsten griechischen und lateinischen Bezeichnungen, zu denen u. a. θίασος/thiasos, ἔρανος/eranos, σύνοδος/synodos und έταιρία/hetairia gehören bzw. die lateinischen Begriffe collegium, societas und sodalitas. Im Bereich des aramäischsprachigen Judentums begegnet der Begriff chavurah, der in der Mischna dementsprechend verwendet wird (vgl. mErub 6,6).

(Vereinsleben)

Feste für die Götter mit einem anschließenden Gemeinschaftsmahl stellten das Zentrum des Vereinslebens dar, wie überhaupt der Freundschaftsaspekt von großer Bedeutung war. Die Treffen fanden je nach finanziellen Möglichkeiten in privaten Unterkünften oder angemieteten Räumen statt, in einem an einen Tempel angeschlossenen Speiseraum oder in einem eigenen Vereinshaus. Mähler wurden aus der gemeinsamen Kasse (griech. κοινόν/koinon) finanziert, in die festgesetzte Beträge regelmäßig eingezahlt wurden. Dazu kamen Gelder aus Beitrittsgebühren sowie von Sponsoren und Patronen, die manchmal sehr großzügig ausfielen. In Vereinsordnungen, die uns in Inschriften oder auf Papyrus überliefert sind, spielen diese Mahlzeiten, ihre Häufigkeit, Regelung und Finanzierung, eine große Rolle, woraus deutlich wird, dass sie der wichtigste Teil des Vereinslebens waren.

(Begräbnisse)

Über das gemeinsame Essen und Trinken hinaus machten es sich Vereinigungen auch öfters zur Aufgabe, für standesgemäße Begräbnisse ihrer Mitglieder und eine fortdauernde Erinnerung an sie zu sorgen. Dies war vor allem für die Ärmeren wichtig, die sonst nach ihrem Tod in einem Massengrab verscharrt worden wären. Vermögendere Vereinigungen hatten sogar eigene Begräbnisstätten, in Rom etwa sogenannte Columbarien. Möglich waren zudem Kreditvergaben aus der Vereinskasse, die manchmal auch Hauptzweck der Vereinigung waren.

(Ämter)

Für viele Bewohner einer Polis stellte die Mitgliedschaft in einer Vereinigung die einzige Möglichkeit dar, ein gewisses Maß an Ansehen zu gewinnen. Denn die innere Struktur dieser Gemeinschaften war jener der Polis nachgebildet, sodass es neben der Vereinsversammlung auch zahlreiche Ämter gab, die grundsätzlich allen Mitgliedern offenstanden. Unter den sehr unterschiedlichen Funktionsbezeichnungen sind auch solche, die sich in frühchristlichen bzw. jüdischen Gruppen finden: Presbyteros („Ältester“; z. B. CIRB 1283; IGUR I 77), Episkopos („Aufseher“; IDelos 1522), Diakonos („Diener“; ICariaR 162), Archisynagogos („Synagogenvorsteher“; GRA I 66), Grammateus („Schreiber“; GRA II 111).

Eine große Zahl an Ehreninschriften für verdiente Funktionäre von Vereinigungen, die die unterschiedlichsten Titel tragen konnten, bezeugen überdeutlich, wie wichtig Ämter waren. In der Praxis bedeutete die Übernahme eines Amtes wie in der Polis oft auch eine finanzielle Belastung.

(Zusammensetzung)

Die Zusammensetzung der Vereinigungen war sehr unterschiedlich. Zwar waren in den meisten ausschließlich Männer zugelassen, es gab aber auch gemischte Vereinigungen (GRA I 40.61; II 105.117; IGUR III 160), seltener reine Frauenvereinigungen (GRA I 143; IGBulg IV 1925,b). Hinsichtlich der sozialen Herkunft lässt sich Ähnliches beobachten: Etliche Vereinigungen bestanden ausschließlich aus Mitgliedern der lokalen Elite (GRA I 51), andere nur aus Sklaven und Freigelassenen (GRA I 68), wieder andere waren Mischformen (GRA II 117). Die Zahl der Mitglieder war in der Regel nicht groß (15–30 Personen), sehr selten waren Vereinigungen mit mehreren hundert Personen (IGUR III 160).

(Rechtliche Situation)

Die rechtliche Situation war charakterisiert durch die grundsätzliche Freiheit, Vereinigungen gründen zu dürfen, solange sich diese als loyal gegenüber den Interessen von Polis und Imperium und harmlos erwiesen. Erst wenn Probleme auftraten, wurden die römischen Behörden aktiv. Der sogenannte Bacchanalienskandal, über den uns ein erhaltener Senatsbeschluss aus dem Jahr 186 v. Chr. (CIL I3 581) sowie der römische Geschichtsschreiber Livius informieren (ab urbe condita 39,8–19), war der erste Fall, in dem eine Vereinigung verboten wurde. Später wurden bei politischen Unruhen in Rom ebenfalls Vereinigungen untersagt, während andere – wie etwa jene der Judäer – ausdrücklich erlaubt wurden (Sueton, Caes. 42,3; Aug. 32,1; Josephus, ant. 14,213–216). In Briefen an den Statthalter Plinius in der kleinasiatischen Provinz Bithynien-Pontus untersagte Trajan die Zulassung von Vereinigungen (Plinius d. J., epist. 10,33f.; 92f.), sodass sich auch Christusgläubige nicht mehr trafen, weil sie dies auch auf ihre Versammlungen bezogen (epist. 10,96). Für einige wenige Vereinigungen im Bereich der Stadt Rom, die Mitglieder der Eliten als Patrone hatten, ist demgegenüber eine formelle Bewilligung durch den römischen Senat belegt (CIL VI 2193; XIV 2112). Die allermeisten Vereinigungen hatten aber keinerlei Zulassung und benötigten diese auch nicht. Sie waren vielmehr wichtige Bestandteile in der Sozialstruktur der antiken Welt.

2.2.3.4 Bürger und Fremdlinge

(Städtisches Bürgerrecht)

Jeder freie männliche Bewohner einer Stadt war auch ihr Bürger und hatte damit bestimmte politische Rechte, die Frauen, Sklaven und Sklavinnen sowie Fremden nicht gewährt wurden. Dies betraf u. a. die grundsätzliche Möglichkeit, öffentliche Funktionen auszuüben oder in der Bürgerversammlung (έκκλησία/ekklēsia) an Abstimmungen teilzunehmen. Aber auch hier bestanden Einschränkungen aufgrund des Alters, des Vermögens, durch Beruf oder Herkunft.

(Römisches Bürgerrecht)

Vom städtischen Bürgerrecht zu unterscheiden ist das römische Bürgerrecht (πολιτεία/politeia, lat. civitas), das das römische Stadtbürgerrecht zu einem Reichsbürgerrecht umwandelte. In der Kaiserzeit war es miteinander vereinbar, sowohl Bürger einer Polis als auch römischer Bürger zu sein. Auch Judäer konnten römische Bürger werden, da keine kultischen Verpflichtungen damit verbunden waren. Das Bürgerrecht konnte auf verschiedenen Wegen erworben werden: durch Geburt von freien Eltern bzw. Adoption, durch Freilassung durch einen römischen Bürger oder durch Verleihung (individuell oder als Gemeinschaft), gegebenenfalls auch durch Kauf (vgl. Apg 22,28). Soldaten erhielten das Bürgerrecht nach Ablauf ihrer Verpflichtung (d. h. nach 16–28 Jahren, je nach Truppenteil). Das Bürgerrecht umfasste Rechte wie etwa die Möglichkeit zu politischer Mitbestimmung, die Anrufung des Kaisers in Gerichtsverfahren oder die Freiheit von bestimmten Steuern und Verpflichtungen. Nach 212 n. Chr. besaßen alle Bewohner des Römischen Reiches das römische Bürgerrecht.

(Migration / Neuansiedlung)

Die großen Städte des Mittelmeerraums bestanden aber nicht nur aus Einwohnern, die vor Ort geboren waren, vielmehr spielte Migration eine wichtige Rolle für die Zusammensetzung der Bevölkerung. Die weite Verbreitung von Fremden (Metöken bzw. Peregrinen) resultierte aus verschiedenen Phänomenen: So führten etwa Städtegründungen dazu, dass Menschen ihre Heimat verließen und sich in neuen Siedlungen niederließen. Beispielsweise bestand die Metropole Alexandria in Ägypten aus angesiedelten Griechen, die das städtische Bürgerrecht hatten, sowie Judäern, die mit wechselndem Erfolg dieses Bürgerrecht beanspruchten, und Ägyptern, denen das Bürgerrecht in der hellenistischen Stadt verwehrt wurde. In römischen Kolonien wie Philippi oder Korinth waren es zunächst die römischen Siedler – Veteranen und Bauern –, die das städtische Bürgerrecht hatten, doch wurde die ursprüngliche Bevölkerung mehr oder weniger integriert.

(Wirtschaftsmigration)

Ein anderer Grund für Migration waren wirtschaftliche Anlässe: Handelstreibende, aber auch Handwerker und Arbeiter folgten den ökonomischen Möglichkeiten. Hafenstädte wie Korinth, Alexandria oder Ostia bestanden daher aus Angehörigen verschiedenster Völker. Gleiches galt für die Verwaltungsorgane oder das Militär.

(Sklavenmigration)

Als dritter Faktor für Migrationsbewegungen ist schließlich die Sklaverei zu nennen. Sklaven und Sklavinnen wurden durch das gesamte Imperium transferiert, sodass sie sich – oftmals getrennt von Familienangehörigen – an weit entfernten Orten wiederfanden, in sehr vielen Fällen in der Stadt Rom selbst.

(Kulturaustausch)

Diese verschiedenen Formen der Migration führten nicht nur zur Ausbildung von Gruppen innerhalb der Städte, sondern auch zum Kulturaustausch sowohl hinsichtlich der Sprache als auch im Hinblick auf Religiosität und Kulte. Durch die jüdische Diaspora, die zahlenmäßig größer war als die jüdische Bevölkerung in Palästina, wurde z. B. der bildlose Monotheismus der Judäer bekannt samt ihrer besonderen Bräuche. Über das Militär verbreitete sich u. a. die Mithrasverehrung, und für die Isis- und Serapiskulte spielten Ägypter eine wichtige Rolle. Migration ist daher auch als ein wichtiger Faktor für die Verbreitung des frühen Christentums zu berücksichtigen.

2.2.4 Soziale Differenzierung

Innerhalb der griechisch-römischen Gesellschaft gab es deutliche soziale Unterschiede, die sich sowohl in den politischen Beteiligungsmöglichkeiten als auch in den ökonomischen Verhältnissen zeigten. Im Einzelnen stellt sich dies wie folgt dar:

2.2.4.1 Soziale Stratifikation

(Oberschicht)

Die imperiale Führungsschicht bestand aus dem Kaiser und seiner Familie sowie den einflussreichen Senatoren, war also zahlenmäßig sehr klein. Ihre Mitglieder hatten aufgrund ihrer Herkunft und der damit verbundenen Einflussmöglichkeiten teilweise enormen Landbesitz bzw. riesige Vermögen zur Verfügung. Auch die Angehörigen der imperialen Oberschicht, zu der die übrigen Senatoren, die Angehörigen des Ritterstandes (eques), Klientelfürsten, Priesterfamilien und die engsten Gefolgsleute der elitären Haushalte gehörten, zeichneten sich ebenfalls durch Herkunft und Besitz aus. Zur Elite zählen schließlich auch die Mitglieder der lokalen Oberschicht und Dekurionen in den Städten des Imperiums sowie deren engste Gefolgsleute.

Die zahlenmäßig kleine Minderheit aus Führungs- und Oberschicht – 1–5 % der Bevölkerung – bestimmte nicht nur das politische Geschick der großen Mehrheit, sie war auch für die Errichtung und Erhaltung von Bauwerken, die Abhaltung von Spielen und vieles mehr verantwortlich. Ihren Mitgliedern wurde in Ehrungen, von denen sehr viele Inschriften bis heute Zeugnis ablegen, diese hohe soziale Stellung umgekehrt auch immer wieder bestätigt.

(Mittelschicht)

Umstritten war in der Forschung lange Zeit, ob es unterhalb dieser schmalen Oberschicht eine Mittelschicht gab. Aus der Perspektive der Eliten war das nicht der Fall, da alles außerhalb ihrer Gruppe als plebs („Volk“) galt. Aus ökonomischer Perspektive, aber auch unter dem Gesichtspunkt gewisser politischer Einflussmöglichkeiten wird jedoch deutlich, dass man eine große Anzahl von Personen – zwischen 25 und 40 Prozent der Bevölkerung – im Imperium Romanum als Mittelschicht bezeichnen kann. Auch hier zeigen sich reichsweite, provinziale und lokale Gruppierungen. Zu ihnen gehörten ein großer Teil des Militärs, freie Bürger der Städte und Freigelassene aus der familia Caesaris. Sie waren Grundeigentümer, Händler und Handwerker oder Gebildete wie Lehrer oder Ärzte. Viele von ihnen waren Klienten von Patronen aus der Oberschicht.

(Unterschicht)

In der zahlenmäßig weit größeren Unterschicht lässt sich zwischen einer städtischen (plebs urbana) und einer ländlichen (plebs rustica) unterscheiden. Sie sind beide weiter nach Einkommen, Bildung und rechtlicher Stellung differenziert. Die Chancen zum Aufstieg in die Mittelschicht waren zwar begrenzt, doch bestand für die Angehörigen der Unterschicht die Möglichkeit, durch Beziehungen zu einflussreichen Personen ihren eigenen Sozialstatus zu erhöhen. Diese Patron-Klienten-Verhältnisse spielten in der römischen Gesellschaft als Institution eine wichtige Rolle und waren auch auf informeller Ebene von hohem Wert.

(Lokale Unterschiede)

Diese die Verhältnisse im Imperium Romanum abbildenden Modelle sind indes nicht generell und überall anzuwenden. Obwohl gerade hinsichtlich des Zugangs zu Macht und der Zugehörigkeit zu gesellschaftlichen Gruppen die Romanisierung in weiten Teilen des Imperium Romanum sehr weit fortgeschritten war, war dies etwa bei Judäern oder auch Ägyptern noch nicht so. Angehörige dieser Völker hatten aufgrund ihrer kulturellen Differenz noch viel geringere Möglichkeiten, Teil der führenden Schichten des römischen Reiches zu werden.

2.2.4.2 Die ökonomischen Verhältnisse im Imperium Romanum

(Einkommensstufen)

Berechnungen über die Vermögensverteilung im Imperium Romanum zeigen, dass die Hauptmenge des Vermögens in der Hand eines kleinen Teils der Bevölkerung lag, dass es aber unterhalb dieses Levels durchaus unterschiedliche Einkommenssituationen gab. So ist für eine differenzierte Wahrnehmung das Erreichen, Unter- oder Überschreiten des Existenzminimums ein wichtiges Kriterium. Hinzu kommt, dass bei der Verteilung des Vermögens sowohl zwischen den verschiedenen Teilen des Imperium Romanum Unterschiede bestanden als auch zwischen Stadt und Land. Ebenfalls zu beachten ist, dass der Status von Personen, ob sie z. B. Sklaven oder Freie, Zuwanderer oder Einheimische waren, nicht mit deren ökonomischer Situation gleichgesetzt werden darf. Sklaven waren nicht selbstverständlich arm, Arme waren in der Regel frei. Eine Übersicht über die verschiedenen Einkommensstufen einer durchschnittlichen Stadt im griechischen Osten ergibt Folgendes:

Deutlich wird aus dieser Übersicht, dass etwa drei Prozent der Bevölkerung die ökonomische Elite darstellten, die über den weitaus größten Anteil an Vermögen verfügte. Zugleich lebten ca. fünfundfünfzig Prozent (Stufen 6 und 7) knapp am oder unter dem Existenzminimum; sie waren die tatsächlich Armen, deren materielle Sicherheit nicht dauerhaft gewährleistet war. Angehörige aus der ökonomischen Stufe 5 konnten mit einiger Zuversicht auf eine sichere Zukunft hoffen, während jene aus Stufe 4 erwarten konnten, über die Generationen hinweg weiter aufzusteigen. Zusammen beläuft sich der Anteil der mittleren ökonomischen Schicht in den Städten auf etwa zweiundvierzig Prozent.

(Wohnsituation)

Die soziale Differenzierung spiegelte sich auch in der Wohnsituation der Menschen in den Städten wider. In den prächtigen Villen mit großzügiger Ausstattung und Raumverhältnissen, deren Reste heute noch in Pompeji zu sehen sind, wohnten die Reichen und Mächtigen, sie waren aber zugleich Arbeits- und Schlafplatz von Sklaven und Sklavinnen. Handwerkern und Händlern boten ihre Werkstätten, Lagerräume bzw. Hinterzimmer Wohnmöglichkeiten. In Ein-Raum-Wohnungen in den obersten Stockwerken der Wohneinheiten (insulae)