Geschichte des Osmanischen Reiches - Suraiya Faroqhi - E-Book

Geschichte des Osmanischen Reiches E-Book

Suraiya Faroqhi

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Beschreibung

Das Osmanische Reich umfasste am Ende des 19. Jahrhunderts trotz großer Gebietseinbußen immer noch das gesamte Gebiet der heutigen Staaten Türkei, Irak, Syrien, Libanon, Israel und Teile Griechenlands. Suraiya Faroqhi schildert kenntnisreich und lebendig die Geschichte des mächtigen Reiches von seinen Anfängen im Spätmittelalter bis zu seinem Untergang am Ende des Ersten Weltkriegs. Neben der politischen Geschichte bezieht sie Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur mit ein und zeigt, wie eng der Vielvölkerstaat mit den anderen europäischen Mächten verflochten war.

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Suraiya Faroqhi

GESCHICHTE DES OSMANISCHEN REICHES

C.H.Beck

Zum Buch

Suraiya Faroqhi schildert in ihrem bewährten Standardwerk knapp, kenntnisreich und lebendig die Geschichte eines der mächtigsten Reiche des späten Mittelalters und der Neuzeit, das noch zu Ende des 19. Jahrhunderts das gesamte Gebiet der heutigen Staaten Türkei, Irak, Syrien, Libanon, Israel sowie Teile Griechenlands umfasste. Die Darstellung folgt der Chronologie der politischen Geschichte vom 14. Jahrhundert bis zur Auflösung des Reiches nach dem Ersten Weltkrieg und bezieht dabei die Geschichte von Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur gleichwertig mit ein. So ergibt sich ein ungewöhnlich farbiges Bild vom Osmanischen Reich: Die Vorstellung von einer erstarrten osmanischen Wirtschaft und Gesellschaft, die kaum mit der abendländischen, europäischen verflochten war, muss revidiert werden. Einzelne gesellschaftliche Gruppen und Provinzen suchten im eigenen Interesse den Anschluss an Europa. Warum der Vielvölkerstaat trotz dieser Bemühungen und trotz seiner – angesichts der heutigen Konflikte ganz erstaunlichen – religiösen Toleranz zerbrach, macht die Autorin eindringlich deutlich.

Über die Autorin

Suraiya Faroqhi, geboren 1941 in Berlin, ist Professorin für Geschichte an der İbn Haldun Üniversitesi Istanbul. Von 1988 bis 2007 war sie Professorin für Osmanistik an der Ludwig-Maximilians-Universität München und hat zuvor an der Middle East Technical University Ankara gelehrt. Zuletzt erschien von ihr in englischer Sprache «The Ottoman and Mughal Empires. Social History in the Early Modern World» (2020). Für die von Jürgen Osterhammel und Akira Iriye herausgegebene «Geschichte der Welt» hat sie den Beitrag «Das Osmanische Reich und Iran» verfasst (Bd. 3: Weltreiche und Weltmeere 1350–​1750, C.H.Beck 2014).

Inhalt

Karte: Das Osmanische Reich bis 1683

Karte: Die Auflösung des Osmanischen Reichs im 19. und 20. Jh.

Einführung

1. Aufstieg und Expansion (1299–​1481)

Die Entstehung des osmanischen Staates

Das Zeitalter Mehmeds des Eroberers

An der Grenze

Heer und Staatsapparat

Der Islam der frühen Osmanen

Eine neue Stadt, ein neuer Staat

2. Zwischen Ost und West (1481–​1600)

Konsolidierung unter Bayezid II.

Die osmanischen Sultane im Nahen Osten (1481–​1600)

Expansion in Europa während des 16. Jahrhunderts

Die Ausweitung diplomatischer Beziehungen

Die osmanische Politik in der Region des Indischen Ozeans (1500–​1600)

Die Entfaltung einer «Hof- und Reichskultur»: Architektur, bildende Kunst und Bücher

Der osmanische Staat und seine Geschichtsschreibung

Die osmanischen Sultane als Verteidiger des sunnitischen Islams

Muslime und Nichtmuslime

Der Lebensunterhalt: Landwirtschaft und Gewerbe

Manchmal eine Quelle des Reichtums: Der Handel

3. Mühsam errungene Erfolge und ernste Rückschläge (1600–​1774)

Söldner, «Zeloten» und staatliche Würdenträger

Die Restauration der Köprülüs

Innenpolitische Veränderungen (1695–1774)

Krieg und Frieden an der iranischen Grenze

Letzte Kriege gegen Venedig, der Konflikt mit den Habsburgern

Polen, das russische Reich, die Tataren und Kosaken

Thronfolge und dynastische Selbstdarstellung

Die osmanische Sicht auf Europa und die Belebung lokaler Traditionen

Gelehrte, Reisende und politische Schriftsteller

Das Leben auf dem Lande

Osmanische Konjunktur und europäische Weltwirtschaft

Osmanische Frauen

4. «Das längste Jahrhundert des Reiches» (von Küçük Kaynarca bis zum Ende des Ersten Weltkriegs)

Staats- und Militärkrisen um 1800

Ägypten und die europäischen Großmächte

Nationale Bewegungen auf dem Balkan (1803–​1912)

Militär- und Staatsumbau (1839–​1878)

Herrscher und Bürokratie bis 1908

Die Balkankriege und der Erste Weltkrieg (1912–​1918)

Politik und Überleben auf dem Lande

Die osmanischen Produzenten und die kapitalistische Weltwirtschaft

Nationalismus bei Türken und Nichttürken

Presse, Theater und Photographie

Erziehung und Ausbildung «neuen Stils»

Frauenkultur

Nachwort: Das Osmanische Reich und die Republik Türkei

ANHANG

Zeittafel

Anmerkungen

Weiterführende Literatur

Zur Umschrift

Register

Karte: Das Osmanische Reich bis 1683

Karte: Die Auflösung des Osmanischen Reichs im 19. und 20. Jh.

Einführung

Ohne Kenntnis der osmanischen Geschichte ist es schwierig, viele der Ereignisse und Entwicklungen zu verstehen, die für die spätmittelalterliche und neuzeitliche Geschichte Europas von Bedeutung sind.[1] Lassen wir einmal die einigermaßen abgegriffene Feststellung beiseite, dass die osmanischen Armeen zweimal vor Wien standen (1529, 1683) und dass zumindest bei der ersten Belagerung das Scheitern des Angriffs mehr mit dem unerwartet schlechten Septemberwetter zu tun hatte als mit der militärischen Macht der Habsburger. Sattsam bekannt sind auch die Geschichten von der Einflussnahme des Deutschen Reiches, besonders im Militärwesen, während der letzten Jahrzehnte osmanischer Existenz.

Wie wir aber alle wissen oder zu wissen glauben, geht die heutige Präsenz von Türken in Mitteleuropa nicht auf die osmanische Geschichte, sondern auf Entwicklungen im 20. Jahrhundert zurück: Die Hochkonjunktur von 1949 bis 1973 hat diese Einwanderung mitbestimmt, und auf längere Sicht zeigt das Gefälle zwischen einer Industriegesellschaft mit rückläufiger Bevölkerung und einem sich industrialisierenden Land mit starkem Bevölkerungswachstum seine Wirkungen.

Aber schon während der Türkenkriege des 15. bis 17. Jahrhunderts hat es eine, wenn auch zahlenmäßig begrenzte Präsenz osmanischer Muslime im christlichen Mitteleuropa gegeben. Man kann, sogar in deutscher Übersetzung, die Lebensgeschichte Osman Ağas nachlesen, der zu Ende des 17. Jahrhunderts als Gefangener nach Wien kam.[2] Und im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg gibt es den Grabstein des kleinen Mustafa aus Budapest, der sechsjährig im Schloss Brake bei Lemgo starb. Aber nur wenige Besitzer solcher Kriegsgefangenen haben sich die Mühe gemacht, ihren Dienern nach deren Tode ein Denkmal zu setzen. Wer als Gefangener das Erwachsenenalter erreichte, wurde, wenn ihm nicht wie Osman Ağa eine abenteuerliche Flucht gelang, vor Ort getauft und verheiratet. Diese Menschen haben in unserem heutigen Bewusstsein kaum Spuren hinterlassen.

Besser bekannt, zumindest unter Fachleuten, sind die Mitteleuropäer, die es als Reisende oder wiederum als Kriegsgefangene ins Osmanische Reich verschlug. Der Nürnberger Kaufmann Wolffgang Aigen vertrat eine venezianische Firma in Aleppo (1656–​63), während sein älterer Landsmann Hans Dernschwam, pensionierter Angestellter der Fugger, ein Tagebuch von seiner Reise nach Istanbul und Amasya hinterlassen hat (1553–​55).[3] Unter den Kriegsgefangenen ist einer der ältesten – und am weitesten gereisten – der bayerische Landadelige Hans Schiltberger, der zunächst in die Gefangenschaft Sultan Bayezids I. und dann in die Timur Lenks geriet (1396–​1427).[4] Aus bescheideneren sozialen Verhältnissen – aber immerhin des Lesens und Schreibens kundig – war der Soldat Johann Wild aus Nürnberg, der als kriegsgefangener Sklave bis nach Mekka kam.[5] Schiltberger und Wild gelang die Rückkehr in die Heimat; aber die meisten ihrer Schicksalsgenossen dürften den Islam angenommen haben und von ihren Dienstherrn vor Ort verheiratet worden sein, falls sie die ersten Monate der Gefangenschaft mit ihren mannigfachen traumatischen Schrecken überlebten. Auch sie haben im Bewusstsein der Menschen des 21. Jahrhunderts kaum Spuren hinterlassen.

Es gibt also so etwas wie eine verschüttete gemeinsame Geschichte von Osmanen und Mitteleuropäern, die über religiöse und politische Gegensätze, aber auch über die improvisierte Bündnissuche des durch eigene Fehler isolierten Hohenzollernreiches hinausgeht. Es gibt jedoch noch andere Gründe, sich mit der Geschichte des Osmanischen Reiches zu beschäftigen. Betrachten wir doch eine Landkarte aus dem Jahre 1890: Zu jener Zeit hatten die neuen Nationalismen auf dem Balkan sowie die Jagd auf Kolonien und «informal empires» durch die Regierungen der größeren europäischen Staaten bereits zum Verlust zahlreicher ehemals osmanischer Territorien geführt. Trotzdem waren die Gebiete, die heute Irak, Syrien, Libanon, Israel, Palästina, die Türkei und Teile Griechenlands ausmachen, vor hundertzwanzig Jahren noch Provinzen des Osmanischen Reiches. Die Erdölquellen Mosuls waren schon in osmanischer Zeit bekannt, während jüdische Einwanderer begonnen hatten, sich gegen vielfache Opposition der Einheimischen in Palästina niederzulassen. Auch waren bereits vor hundert Jahren Araber, meist aus Syrien und dem Libanon, nach Nordamerika eingewandert, so dass die heute beachtliche Gruppe der Arab Americans wenigstens zum Teil als ein Ergebnis osmanischer Entwicklungen und Konflikte zu verstehen ist. Desgleichen wurde der Bürgerkrieg im Libanon (1975–​90) zwar zweifellos wegen sozialer und politischer Gegensätze des späteren 20. Jahrhunderts über fünfzehn Jahre hinweg mit großer Erbitterung ausgefochten. Aber ein wichtiger Konfliktfaktor, nämlich die Präsenz großer Gruppen von ländlichen Zuwanderern, die von der kaufmännischen Elite Beiruts weder politisch noch wirtschaftlich integriert worden waren, ist auch aus dem osmanischen Libanon der Jahre um 1860 mit seinen bürgerkriegsähnlichen Zusammenstößen wohlvertraut. Ebenso ging es zweifellos in den Kriegen, die die Auflösung Jugoslawiens begleiteten, um Interessen und nationale Ambitionen des späten 20. Jahrhunderts. Dennoch ist es bemerkenswert, dass die bosnischen Muslime von ihren Gegnern so oft, und gegen alle historische Wahrheit, als Türken bezeichnet werden. Der propagandistische Rückgriff auf die Türkenkriege des 17. und die Unabhängigkeitsbewegungen des 19. Jahrhunderts ist dabei nur allzu deutlich.

Das vorliegende Buch ist in vieler Hinsicht der Methodik des französischen Historikers Fernand Braudel verpflichtet.[6] Dieser geht von der Annahme aus, dass wirtschaftliche, politische und auch kulturelle Phänomene miteinander in engen Beziehungen stehen, aber sich nicht notwendig in denselben Zeitrhythmen verändern. So kommt es zu einem Zustand, den man die «Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen» genannt hat.[7] Braudel hat außerdem, wie auch sein amerikanischer Kollege Immanuel Wallerstein (1930–​2019), die Vorstellung von den verschiedenen «Weltwirtschaften» entwickelt, unter denen die europäisch-kapitalistische nur eine ist. Letztere hat seit dem 16. Jahrhundert rasch expandiert und sich andere Weltwirtschaften zum Teil oder ganz einverleibt («inkorporiert»); den vorläufigen Höhepunkt dieser Entwicklung bilden der Kolonialismus und Imperialismus des 19. und 20. Jahrhunderts.[8] In Braudels Perspektive stellt die osmanische Weltwirtschaft einen Sonderfall dar, da sie sich trotz ihrer geographischen Nähe zu Europa bis ins späte 18. Jahrhundert hinein erfolgreich der Inkorporierung widersetzt hat. Auch das vorliegende Buch geht von dieser Annahme aus. Überdies scheint der Inkorporationsprozess in verschiedenen Regionen sehr unterschiedlich rasch verlaufen zu sein. Man kann von einer «Inkorporation in Schüben» ausgehen. So ist es wichtig, Pauschalurteile zu meiden und genau zu definieren, von welcher Region und welcher Zeit die Rede sein soll. Wir werden bisweilen Regionen herausgreifen, die im Hinblick auf die Inkorporation besonders lehrreich sind, wie etwa Ägypten im frühen 19. Jahrhundert.

Andererseits ist gegen die «Inkorporationstheorie» eingewandt worden, dass sie die Aktivitäten örtlicher Kaufleute und manchmal auch Handwerker nicht genügend berücksichtige. Schließlich ist eine Theorie unbefriedigend, die behauptet, dass, was immer auch Menschen tun und sich ausdenken, der Ausgang allein durch unpersönliche Faktoren bestimmt wird. Neuere Wirtschaftshistoriker haben sich mit den Strategien befasst, mit deren Hilfe osmanische Produzenten auf die Herausforderung der «Inkorporation» reagiert haben. Daraus ist ein Bild der wirtschaftlichen Entwicklung entstanden, das sehr viel differenzierter ist, als frühere Historiker angenommen hatten.[9]

Etwas von den Ergebnissen dieser neueren Geschichtsforschung soll vermittelt werden. Dabei wird kulturellen und wirtschaftlich-sozialen Fragestellungen bewusst der gleiche Stellenwert zuerkannt wie der politischen Geschichte. Denn der osmanische Staat und die osmanische Gesellschaft sind viel zu oft lediglich als kriegerische verstanden worden. Seit wir wissen, dass auch europäische Staaten der frühen Neuzeit hauptsächlich durch und für den Krieg existierten, ist es kaum gerechtfertigt, die Kriegführung und die auf den Krieg ausgerichtete politische Organisation als osmanische Besonderheiten zu betrachten.

Unser Stoff gliedert sich in vier Kapitel, die alle eine ähnliche Struktur aufweisen. Am Anfang wird jeweils in knappen Strichen die politische Geschichte des Osmanenreiches während einer bestimmten Epoche skizziert. Darauf folgen weitere Abschnitte, in denen verschiedenartige Themen aus dem Bereich des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens sowie der Künste behandelt werden. Auch politische Entwicklungen, die nicht ohne weiteres in das Schema von Krieg und Eroberung gepresst werden können, finden jeweils im zweiten Kapitelteil ihren Platz. Dabei werden die Zeitgrenzen, die für die Kurzdarstellungen der politischen Geschichte gelten, nicht selten überschritten.

Das erste Kapitel reicht von der Entstehung des Osmanenstaates um etwa 1300 bis in die Regierungszeit Mehmeds II. (1451–​81).[10] Dieser Epoche kommt eine besondere Bedeutung zu, sowohl, was die innenpolitische Entwicklung, als auch, was die äußere Expansion betrifft. Um dies zu verdeutlichen, wird hier die politische Geschichte über die allgemein akzeptierte «Epochengrenze» von 1453 (Eroberung Istanbuls) bis zum Tode Mehmeds II. im Jahre 1481 hinausgeführt.

Ein zweites Kapitel behandelt dann hauptsächlich das späte 15. und das gesamte 16. Jahrhundert. Über eine Epochengrenze um das Jahr 1600 lässt sich streiten. Viele Mitglieder der osmanischen Oberschicht, die in dieser Zeit lebten, sahen die Periode um 1600 als eine Krisenzeit an, und diese Sicht ist auch von der Sekundärliteratur übernommen worden. Besonders ältere Autoren lieben es, zu diesem Zeitpunkt den «Niedergang» des Reiches beginnen zu lassen. Aber da ist Vorsicht geboten. Wenn man die Expansion bzw. Schrumpfung des osmanischen Staates als Maßstab für die Aufteilung in Epochen benützt, sollte man nicht vergessen, dass trotz aller innenpolitischen Krisen das Osmanische Reich erst in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts seine maximale Ausdehnung erreichte. Wenn dennoch in diesem Buch um 1600 ein neues Kapitel beginnt, dann vor allem, um nicht eine zu lange Zeitspanne in einem Kapitel darstellen zu müssen. Auch könnte man sachliche Gesichtspunkte vorbringen. Zum einen stellt das Ende des offenen Konfliktes zwischen dem spanischen und dem osmanischen Weltreich im Mittelmeer ein so wichtiges Ereignis dar, dass man es ohne weiteres als Epochengrenze betrachten kann. Zum anderen bekamen gegen Ende des 16. Jahrhunderts bestimmte osmanische Gewerbe zum ersten Mal die negativen Auswirkungen europäischer Konkurrenz zu spüren. Doch waren diese Schwierigkeiten auf bestimmte Orte und Gewerbe begrenzt, so dass man von einer generellen «Inkorporierung» in die europäische Weltwirtschaft noch nicht sprechen sollte.

Das dritte Kapitel befasst sich mit der Zeitspanne, die um 1600 beginnt und bis zum Ende des russisch-osmanischen Krieges im Frieden von Küçük Kaynarca (1774) dauert. Für unsere Einteilung, die auf territorialer Ausdehnung und Schrumpfung beruht, erscheint dieses Datum als Epochengrenze sehr geeignet. So bedeutete der Verlust der Krim mit ihren muslimischen Bewohnern für das Selbstverständnis der osmanischen Oberschicht einen starken Einschnitt. Auch war bis zu diesem Zeitpunkt das russische Reich zwar als ein gefährlicher, aber durchaus besiegbarer Gegner erschienen; doch mit den Augen eines osmanischen Staatsmannes gesehen, begann mit dem Krieg von 1768–​74 das kaum aufzuhaltende Vordringen des Zarenreiches auf dem Balkan. Dass dieser Krieg zugleich eine Phase wirtschaftlicher Expansion beendete und den Beginn einer langfristigen Krise bezeichnete, legt es besonders nahe, hier ein «langes 19. Jahrhundert» beginnen zu lassen. Im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts beginnt auch die Eingliederung wichtiger Regionen in die europäisch dominierte Weltwirtschaft, indem sich für den osmanischen Handwerker die Konkurrenz englischer und französischer Waren verstärkte: In England hatte das Industriezeitalter begonnen, aber französische Manufakturprodukte fanden gleichfalls ihren Markt.

Das vierte Kapitel beginnt also 1774 und führt bis zum Ende des Reiches nach dem Ersten Weltkrieg. Genau genommen bestand das Osmanische Reich bis zur Ausrufung der Republik 1923. Der türkische Unabhängigkeitskrieg ist zunächst ein Krieg gegen Griechenland, das 1920–​22 mit – hauptsächlich – britischer Unterstützung in Anatolien auf Eroberungen ausgezogen war. Mehmed VI. Vahideddin, der damalige Sultan (1918–​22), war an diesem Krieg nur mittelbar beteiligt, indem er nämlich von Istanbul aus für die Alliierten Partei ergriff und damit sein Amt gründlich diskreditierte. Der wirkliche Organisator des Widerstands gegen die griechisch-englisch-französisch-italienische Allianz war Mustafa Kemal (später Atatürk), ein osmanischer General des Ersten Weltkriegs. Diesem war es gelungen, die örtlichen Honoratioren Anatoliens für den Widerstand gegen die Angreifer zu gewinnen und aus Resten des osmanischen Heeres sowie neu eingezogenen Truppen eine schlagkräftige Armee zu mobilisieren.