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Geschmack E-Book

Bob Holmes

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  • Herausgeber: Riemann
  • Kategorie: Lebensstil
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2016
Beschreibung

Wussten Sie, dass der Geruch eines Lebensmittels die gustatorische Wahrnehmung stärker beeinflusst als dessen Aromen? Dass Mathematiker mit speziellen Formeln das perfekte Menü ausrechnen können? Oder dass es Geschmacks-Profiler für Äpfel gibt? Die Welt des Geschmacks, in Zeiten von Hybridfrüchten und globalen Einheitsgerichten oft sträflich vernachlässigt, ist hochkomplex und steckt voller Überraschungen.
Bob Holmes untersucht, wie im Gehirn bereits in der Kindheit Vorlieben für bestimmte Geschmäcke entstehen und warum Textur und Optik eine so wichtige Rolle spielen. Er reist zu Spitzenköchen auf der Suche nach spektakulären Geschmackskombinationen und zu Lebensmittelchemikern mit der Mission, den idealen Snack zu designen.
Eine spannende Reise in die Welt der Aromen für alle, die Gaumenfreuden zu schätzen wissen.

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Seitenzahl: 414

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Bob Holmes

Geschmack

Gebrauchsanleitung für einen vernachlässigten Sinn

Aus dem Amerikanischen von Helmut Dierlamm und Ursula Held

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Die amerikanische Originalausgabe erscheint 2017 unter dem Titel »Flavour: The Science of Our Most Neglected Sense« bei W. W. Norton & Company; USA.1. Auflage

Deutsche Erstausgabe

© 2016 der deutschsprachigen Ausgabe

Riemann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Neumarkter Str. 28, 81673 München

© Bob Holmes 2016

Lektorat: Werner Wahls

Umschlaggestaltung: Stephan Heering, Berlin, unter Verwendung eines Fotos von iStockphoto/knape

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-17524-5V001www.riemann-verlag.de

Für Deb, mit der ich Geschmack und Leben teile

Inhalt

Einführung

Kapitel 1: Brokkoli und Tonic

Kapitel 2: Bier aus der Flasche

Kapitel 3: Das Streben nach Schmerz

Kapitel 4: Was Ihr Gehirn zum Wein meint

Kapitel 5: Den Hunger stillen

Kapitel 6: Warum nicht Iguana?

Kapitel 7: Die Killertomate

Kapitel 8: Blumenkohl-Bloody-Mary und andere kulinarische »Highlights«

Kapitel 9: Epilog: Die Zukunft des Geschmacks

Danksagung

Anmerkungen

Über den Autor

Sachregister

Einführung

Haben Sie sich schon einmal gefragt, warum gesalzene Erdnüsse und Bier so gut zusammenpassen? Wissenschaftler kennen die Antwort: Die Wahrnehmung von Bitterem wird durch eine salzige Note gedämpft. Die Nüsse schwächen das Herbe des Biers ab und verhelfen anderen Aromen in den Vordergrund. Wenn man das einmal weiß, kann man das Prinzip auf vielfältige Weise anwenden. Reichen Sie etwa Nüsse (oder Brezeln) zu Gin Tonic. Oder geben Sie eine Extraprise Salz zum Brokkoli, wenn der einmal besonders bitter schmeckt. Auch Ihre Frühstücks-Grapefruit wird mit ein klein wenig Salz süßer schmecken.

Die Beschäftigung mit unserem Geschmackssinn bringt viele nützliche Erkenntnisse, von denen aber kaum jemand weiß. Denn es kommt in unserem Alltag kaum vor, dass wir uns eingehender mit dem Geschmack von Dingen beschäftigen. Wir analysieren unsere Geschmackserfahrungen nicht, und so kommt es, dass wir auch nicht darüber reden oder nachdenken. Ich möchte dies mit einem Gedankenexperiment beweisen: Nehmen Sie sich einen Augenblick Zeit und rufen Sie sich Ihr Lieblingsmusikstück ins Gedächtnis. Wie ist es zusammengesetzt? Was macht es für Sie besonders? Der Saxofonpart in der Überleitung? Die Bearbeitung des Themas durch Geige und Cello? Die atemlose Spannung, bevor der Gesang einsetzt? Sicher können Sie mehrere Merkmale benennen, derentwegen Ihnen diese besondere Musik nahegeht. Sie können die Instrumente aufzählen, Sie kennen Melodie, Begleitung und Rhythmus und bei Vokalstücken auch den Text.

Versuchen Sie nun einmal, Ihre bevorzugte Apfelsorte ähnlich detailliert zu beschreiben. Warum mögen Sie, sagen wir, den Braeburn lieber als den Red Delicious? Meist wird dann Knackigkeit, Süße oder eben »guter Geschmack« angeführt. Aber wenn Sie nicht gerade ein ausgebildeter Apfeltester sind (diese Menschen gibt es!), werden Sie wahrscheinlich nichts weiter dazu sagen können. Nicht die Geschmackselemente so aufzählen wie die Instrumente Ihrer Lieblingsmusik, und genauso wenig das Geschmacksprofil nachzeichnen, das sich mit jedem Bissen aufbaut und dann verebbt.

Und diese Ungenauigkeit betrifft nicht nur Äpfel. Oder können Sie beschreiben, worin sich der Geschmack von Heilbutt und Rotbarsch unterscheidet? Oder der von Brie und Camembert? Für die meisten von uns bleibt der Geschmack von etwas ein unbestimmtes, wenig durchdrungenes Konzept. Wir sagen »dieses Gericht war wirklich lecker« oder »diese Weintrauben sind köstlich«, aber tiefer als diese gängigen Antworten schürfen wir nicht. Dabei nehmen wir den Geschmack von Lebensmitteln differenziert wahr, und jeder kann feststellen, dass die eine Apfel- oder Käsesorte anders schmeckt als die andere. Wir besitzen also sehr wohl den Wahrnehmungsapparat, um die Welt des Geschmacks tiefer zu erforschen. Allerdings wirkt es sich einschränkend aus, dass wir nicht viel über Geschmack wissen, obwohl wir ihn doch täglich wahrnehmen. Wir schlürfen morgens unseren Kaffee und essen mittags in der Kantine, ohne das komplexe Zusammenspiel von Aroma, Geruch, Anblick und auch Erwartung zu beachten, das den Geschmack ausmacht. So fehlen uns die Kategorien, mit denen wir unsere Geschmackserlebnisse beschreiben könnten, und wir nehmen deshalb oft die Feinheiten dessen, was wir essen und trinken, nicht im Einzelnen wahr. Als wäre die unglaublich vielfältige Welt des Geschmacks auf eine gängige Gaumennorm zurückgesetzt worden.

Manchmal reicht das natürlich auch aus, ein wenig Hintergrundmusik, einfach ein schneller Happen, den wir konsumieren, ohne viel darüber nachzudenken. In der Musik aber gehen viele von uns gerne einen Schritt weiter. Wir analysieren unsere Wahrnehmung und bereichern auf diese Weise unsere Erfahrung. Das wäre auch auf dem Gebiet des Geschmacks möglich – aber nur, wenn wir ihn besser erforschen. Wie nehmen wir Geschmack wahr? Wie entsteht er? Wie lässt er sich intensivieren, beim Anbau und in der Küche? Diesen Fragen möchte ich nachgehen.

Die Beschäftigung mit dem Thema Geschmack steigert unser diesbezügliches Wahrnehmungsvermögen. Dass wir wertschätzen, wie Dinge schmecken, ist ja wahrscheinlich eine rein menschliche Gabe. Die Biologie der Gattung Mensch – die Tatsache, dass wir in sozialen Gruppen leben, beinahe jeden Fleck der Erde bewohnen und als Allesfresser die verschiedensten Ernährungsgewohnheiten pflegen – bringt mit sich, dass unsere Vorfahren bestimmte Fähigkeiten besonders ausbilden mussten. Sie mussten Gesichter lesen, um Freund von Feind, Nachbarn von Familie, den Ehrlichen vom Betrüger zu unterscheiden. So sind nahezu alle Menschen in der Lage, subtile Unterschiede in den Gesichtern anderer zu erkennen. Wir erinnern uns an die Gesichter von Menschen, mit denen wir vor langer Zeit zur Schule gegangen sind, genauso wie an das Gesicht einer Zufallsbekanntschaft vom Abend vorher. Und das mit einem Blick, nicht nach eingehender Untersuchung von Nase, Ohren, Wangenknochen und Augen. Die besondere Fähigkeit zur Wiedererkennung beschränkt sich allerdings auf Gesichter, an ihren Händen zum Beispiel würden wir Menschen längst nicht so gut wiedererkennen.

Das Wiedererkennen von verschiedenen Geschmäcken ist genauso eine typisch menschliche Gabe. Als Allesfresser mussten unsere Vorfahren entscheiden, was essbar war und was nicht – sie taten dies über den Geschmack. Geschmackswahrnehmung gehört somit zu unserem biologischen Erbe. »Menschen sind genauso Geschmacksexperten, wie sie Gesichtsexperten sind«, schreibt der Psychologe Paul Breslin, der sich mit der Wahrnehmung von Geschmack beschäftigt. »Es geht hier buchstäblich um Leben und Tod. Denn wenn man das Falsche isst, stirbt man.« Wir erkennen den Geschmack einer Erdbeere, Ananas oder grünen Bohne auf Anhieb, ohne dass wir ihn immer genau benennen können.

Unser Geschmackssinn hat wahrscheinlich wesentlich dazu beigetragen, die Gattung Mensch zu dem zu machen, was sie ist. Der Anthropologe Richard Wrangham meint, wir hätten unsere großen und komplexen Gehirne niemals entwickeln können, wenn wir uns nicht einfach zugängliche Kalorien über das Kochen erschlossen hätten.1 Rohkost liefert nämlich nicht genug Kalorien zur Versorgung unserer modernen, großhirnigen Körper. Unsere Vettern, die Schimpansen, verbringen täglich Stunden damit, ihre rohe Nahrung zu kauen, um die darin enthaltenen Kalorien zu extrahieren. Diese Zeit und Energie können Menschen sinnvoller einsetzen. Wer sich von Rohkost ernährt, verliert deutlich an Gewicht, auch wenn Mixer und Entsafter das beständige Kauen ersetzen. Durch das Kochen werden unverdauliche Fasern aufgespalten, wodurch wir mit weniger Kraftaufwand einen größeren Kalorienertrag aus unserem Essen erhalten. Und nebenbei eröffnet sich ein ganzes Reich köstlicher neuer Geschmäcke.

Wir sind zudem die einzigen Lebewesen, die ihre Nahrung würzen – also deren Geschmack durch Pflanzenteile, die wir Kräuter und Gewürze nennen, bewusst verändern. Es ist gut möglich, dass unsere Vorliebe für das Würzen ihren Ursprung ebenfalls in der Evolution hat. Viele Gewürze haben nämlich eine antibakterielle Wirkung – allgemein gebräuchliche Würzmittel wie Knoblauch, Zwiebel und Oregano schränken das Wachstum von fast allen getesteten Bakterien ein.2 Küchen, in denen besonders viel Würze zum Einsatz kommt – in Thailand Knoblauch und schwarzer Pfeffer, in Indien Ingwer und Koriander, in Mexiko Chili –, gehören meist in warme Klimazonen, in denen durch Bakterien verdorbene Lebensmittel ein größeres Problem darstellen. Dagegen stammt die eher leicht gewürzte Küche Skandinaviens und Nordeuropas aus kühleren Klimazonen. Die den Menschen eigene Aufmerksamkeit für Geschmack und insbesondere die Angewohnheit, Speisen zu würzen, ist also aus einer existenziellen Notwendigkeit entstanden.

Unsere ungewöhnliche Anatomie trägt zur menschlichen Geschmackskompetenz bei. Der aufrechte Gang und unser (verglichen mit anderen Säugetieren) seltsam geformter Kopf sorgen dafür, dass unsere Nase sich weniger auf Gerüche der Außenwelt konzentriert und eher Aromen einfängt, die vom Essen aufsteigen. Die Geschmackswahrnehmung beansprucht überproportional große Hirnregionen. Wer ein Stück Käse, ein Glas Wein oder einen Keks konsumiert, lässt dabei mehr Hirnregionen arbeiten als bei jeder anderen Tätigkeit.3 Geschmack spricht unseren gesamten Wahrnehmungsapparat an: Wir schmecken, riechen, fühlen, hören und sehen ihn. Zum einen ist das motorische System beteiligt, das den Kau- und Schluckvorgang steuert. Zum anderen werden unbewusste Verknüpfungen aktiviert, die Appetit, Hunger und Sättigung steuern. Und zu guter Letzt werden Denkprozesse angeregt, mit denen wir das Gegessene einordnen und bewerten, es in der Erinnerung speichern und entsprechend darauf reagieren. Ganz schön viel Betriebsamkeit also für einen kleinen Bissen.

Geschmack beschäftigt unser Gehirn unterschwellig, aber doch stark. Wenn eine Geruchsinformation – der wichtigste Bestandteil des Geschmacks – das Gehirn erreicht, wandert sie sofort in den Hirnstamm, der für Empfindungen und Erinnerungen zuständig ist. Erst einige Schritte später erreicht sie die Hirnrinde. Dieser Umstand bildet die neurowissenschaftliche Basis für die erstaunliche Fähigkeit des Geschmacks, uns zu berühren: Der Geschmack unseres Lieblingsgerichts bringt uns unmittelbarer und kraftvoller in unsere Kindheit zurück als ein Lied oder ein Foto es können. Immerhin wurde Marcel Prousts Mammutwerk Auf der Suche nach der verlorenen Zeit durch den Geschmack einer in Tee eingetauchten Madeleine angefacht. Der emotionale Kick mag auch erklären, warum Immigranten weiter an ihren Essgewohnheiten festhalten, auch wenn sie bereits eine neue Sprache, Kleidungsweise und manchmal sogar Religion angenommen haben. Ihre Speisen verbinden ethnische Gruppen über Generationen, Ozeane und Grenzen hinweg. Verschiedene Geschmäcke dienen oft als Marker für eine bestimmte Ethnie, und die Köstlichkeiten der einen Kultur sind für die Mitglieder einer anderen Kultur oftmals gewöhnungsbedürftig. Franzosen essen stinkenden Käse, Amerikaner klebrige Erdnussbutter, Australier strenge Vegemite-Paste und Japaner ihr Natto: schleimige fermentierte Sojabohnen.4

Für viele von uns ist das Verlassen der eigenen kulturellen Geschmacksprägung die beste Brücke in eine andere Kultur. »Ich war in vielen Ländern dieser Erde unterwegs, und jedes Mal bin ich auf den Markt gegangen«, erzählt Breslin. »Ich habe nie darüber nachgedacht, warum das so ist, aber ich kann es mir gar nicht anders vorstellen. Es war immer ein lohnendes Erlebnis.« Die meisten Menschen würden diese Einschätzung teilen. Wer reist schon nach Italien und isst dort nur bei McDonald’s? Wer will sich in China von Pizza ernähren?

Der Ursprung des Geschmackssinns reicht offenbar bis tief in die Menschheitsgeschichte. Aber der Geschmack würzt eben auch unseren Alltag. Wir alle müssen jeden Tag etwas essen, und die meisten würden doch, falls möglich, immer das schmackhaftere Gericht wählen. Kunden von Lebensmittelmärkten geben durchgehend an, dass vor allem der Geschmack die Kaufentscheidung beeinflusst, mehr als Erwägungen zu Gesundheit, Preis oder Umwelt. Der Genuss eines guten Essens wird höher bewertet als Sport, Hobbys wie Lesen oder andere Freizeitvergnügen. Nur Ferien, Sex und Zeit mit der Familie können das toppen.5 Und warum ist ein gutes Essen ein solches Vergnügen? Wegen des Geschmacks.

Für Millionen Menschen ist das Kochen einer täglichen Mahlzeit eine kreative, zufriedenstellende Erfahrung. Wenn Sie das vorliegende Buch aus dem Regal gezogen haben, gehören Sie wahrscheinlich zu ihnen. Ich zumindest lese gerne Kochbücher und stöbere im Internet nach interessanten Rezepten, um so das Repertoire der Familiengerichte zu erweitern. Doch die meisten Freizeitköche sind beim Geschmack sehr vorsichtig. Wir befolgen das Rezept und tun das, was wir immer getan haben. Manchmal hören wir auch auf unsere Intuition und streuen etwas Basilikum ein oder reiben ein wenig Muskatnuss dazu. Aber wir folgen den Anweisungen, unserer Intuition oder der Tradition. Uns fehlt das tiefere Verständnis für unsere gustatorische Wahrnehmung, die unseren Experimenten eine Orientierung geben würde. Wir sind vergleichbar mit jemandem, der sich selbst das Gitarrespielen beigebracht hat und nach Gehör in die Saiten greift, aber keine Noten lesen kann und keine Harmonielehre kennt. Wir probieren also herum, und manchmal gelingt uns dabei etwas wirklich Schönes. Aber wie viel mehr könnten wir auf die Beine stellen, wenn wir besser verstehen würden, was wir da tun.

Wer einmal testen möchte, wie wenig wir über Geschmack wissen, der mache den Fruchtgummi-Test. Eine Tüte mit verschiedenen Sorten von Kaubonbons oder Gummibärchen reicht aus. Schließen Sie die Augen, halten Sie sich die Nase zu und bitten Sie jemanden, Ihnen eine Kostprobe zu reichen. Und? Kein besonders aufregendes Geschmackserlebnis, oder? Man merkt natürlich den Zucker, aber die Geschmacksrichtung wird man nicht so leicht erkennen.

Wenn Sie nun die Hand von der Nase nehmen, werden Sie erleben, wie der Geschmack im Mund quasi explodiert. Was vorher nur süß war, schmeckt jetzt nach Zitrone oder Himbeere. Denn nun ist auch die Nase im Spiel. Das Geschmackserlebnis ist nämlich nicht auf die Zunge begrenzt. Aroma entfaltet sich erst über den Geruch. Eine noch deutlichere Demonstration dieses Phänomens erhalten Sie, wenn Sie mit zugehaltener Nase und geschlossenen Augen ein Apfelstück mit einem Zwiebelstück vergleichen – der Unterschied ist schwerer zu erkennen, als man glaubt!

Und Geschmack hat sogar noch mehr Dimensionen als die Reizung von Zunge und Nase. Alle fünf Sinne – Schmecken, Riechen, Fühlen, Hören und auch Sehen – tragen dazu bei, wie wir Geschmack wahrnehmen. Geschmack ist also die Summe aller Sinneseindrücke, die ausgelöst werden, wenn wir Essen in den Mund nehmen. Dies führt zu interessanten Entdeckungen: Das Gewicht einer Schüssel, die Farbe des Tellers und auch die Musik, die im Hintergrund läuft, haben einen Einfluss auf unsere gustatorische Wahrnehmung.

Die Gerichte, die wir kochen, und die Lebensmittel, die wir essen, sind nicht nur tägliches Vergnügen. Denn sie beeinflussen auch unsere Gesundheit. Dies trifft auf die heutige Zeit besonders zu, da überzählige Kalorien eine Übergewichts-Epidemie ausgelöst haben, die sich zum größten lebensverkürzenden Faktor seit Jahrhunderten auswächst. Die Mehrheit der US-Amerikaner ist übergewichtig, der Rest der westlichen Welt holt rasch auf. Fachleute sehen den Genuss von gesüßten Softdrinks und fettem, kohlenhydrat- und kalorienreichem Fast Food als vornehmliche Ursache.

Und damit rückt wieder der Geschmack in den Fokus. Wenn wir etwas gegen Fettleibigkeit unternehmen wollen, als Einzelperson wie als Gesellschaft, müssen wir verstehen, warum wir das essen, was wir essen. Wir müssen lernen zu erkennen, wie der Geschmack unsere Lebensmittelauswahl motiviert und wie wir ihn vielleicht einsetzen können, um unsere Konsummuster zu verändern; zu erkennen, wie der Geschmack uns mitteilt, dass wir gesättigt sind und ob wir uns überessen, wenn Gerichte besonders gut schmecken. Wie sich herausstellt, sind dies komplexe Fragen, die auch Experten noch nicht vollständig durchdrungen haben. Manche der bereits gefundenen Antworten werden Sie jedoch verwundern.

Bis vor Kurzem wäre ein Buch über den wissenschaftlichen Hintergrund des Geschmackssinns viel weniger umfangreich ausgefallen. In den vergangenen Jahren aber haben Wissenschaftler große Fortschritte darin erzielt, den Weg von der Nahrungsaufnahme über die Wahrnehmung bis zum Verhaltensmuster offenzulegen. Man kann ohne Übertreibung sagen, dass die Beschäftigung mit dem Geschmackssinn aktuell eine der sich am schnellsten entwickelnden und aufregendsten wissenschaftlichen Disziplinen ist. Ein großer Teil der mehreren hundert wissenschaftlichen Artikel, die ich bei meiner Recherchearbeit für dieses Buch gelesen habe, sind höchstens ein bis zwei Jahre alt. Und sicher halten die kommenden Jahre noch bedeutendere Entdeckungen bereit. Das Schöne dabei: Jeder Mensch hat gleich einen Bezug zum Thema, denn es geht schließlich um die Lebensmittel, die wir tagtäglich konsumieren, um das Vergnügen an einem Glas Wein, einem Bier, einem Kaffee, und natürlich um die Frage, die sich uns jeden Tag neu stellt: Was kochen wir heute?

Anfang der 1990er Jahre haben die Biologen Linda Buck und Richard Axel die für die Erkennung von Geruchsmolekülen verantwortlichen Rezeptoren identifiziert. Für ihre Arbeit erhielten die beiden 2004 den Nobelpreis. Mit dem Wissen um diese Rezeptoren und unterstützt durch die Anfang des Jahrhunderts vollendete Entschlüsselung des menschlichen Genoms sind Wissenschaftler nun eifrig damit beschäftigt, den Code zu knacken, durch den unsere Nase die vielen verschiedenen (wahrscheinlich mehrere Millionen) Gerüche erkennt, die den Geschmack unseres Essens bilden. So wird unter anderem nach den chemischen Rezeptoren geforscht, die Chili als scharf und Minze als frisch einordnen. Die fünf Geschmacksrichtungen, nach denen unsere Zunge seit einem Jahrhundert eingeteilt wird, müssen sich den Platz inzwischen mit mindestens einem, womöglich aber mehreren hinzugekommenen Geschmäcken teilen.

Während die Wissenschaftler also unser Verständnis erweitern, festigt sich die Erkenntnis, dass jeder Mensch auf unserem Planeten in seiner ganz eigenen Geschmackswelt lebt, geprägt durch Anlage, Erziehung, Geschmackserlebnisse und natürlich die jeweilige Kultur. Wir beginnen zu verstehen, wie sich diese einzelnen Geschmackswelten, unsere Vorliebe oder Abneigung für bestimmte Lebensmittel, erklären lassen. Der ehemalige US-Präsident George H. W. Bush verabscheut bekanntermaßen Brokkoli. (»Ich mag keinen Brokkoli«, sagte Bush 1990 Reportern, »und zwar schon seit meiner Kindheit, als meine Mutter mich zwang, ihn zu essen. Jetzt bin ich Präsident der Vereinigten Staaten, und ich werde nie wieder Brokkoli essen!«6) Ohne einen Gentest können wir nicht sicher sein, aber sehr wahrscheinlich ist Bush Träger einer besonderen Genvariante eines speziellen Geschmacksrezeptors für Bitterstoffe – dieser lässt Brokkoli und andere Kreuzblütengewächse besonders bitter erscheinen. Auch Ihre Gene werden sich auf ganz ähnliche Weise auf Ihre Lebensmittelvorlieben auswirken. Doch Genetik ist kein Schicksal: Nicht jeder, der besonders empfänglich für Bitterstoffe ist, hasst den Geschmack von Bitterem.

Vom Sinneseindruck bis in die Küche ist Geschmack sehr viel komplexer und vielschichtiger, als die meisten denken. Die folgenden Seiten können Sie sich als eine Art Benutzerhandbuch der gustatorischen Wahrnehmung vorstellen. Am Ende haben Sie, so hoffe ich, ein besseres Verständnis von dem, was Geschmack ist und wie wir ihn wahrnehmen, und Sie werden dieses Wissen einsetzen können, um ein reicheres Geschmackserlebnis zu genießen.

Geschmack ist ein Buch für alle, die Gaumenfreuden schätzen. (Wer tut das nicht?) Sie brauchen kein Geschmacksexperte zu sein, um die Dinge auf Ihrem Teller und in Ihrem Glas gründlicher wertschätzen zu können. Ich selbst bin auf diesem Gebiet kein Virtuose. Ich bin Hobbykoch mit mittelmäßigen Fähigkeiten, überdurchschnittlichem Elan und einer Nase im Normalbereich. Wenn ich in die Welt des spezifizierten Geschmacks gefunden habe, wird das jeder andere auch können.

Kapitel 1Brokkoli und Tonic

Als Journalist und höflicher Kanadier ist es eigentlich nicht meine Art, meinen Interviewpartnern die Zunge herauszustrecken. Das gehöre sich nicht, dachte ich immer. Bei Linda Bartoshuk, der Grande Dame der Geschmacksforschung, tue ich es dennoch. Zum Glück scheint es ihr nichts auszumachen.

»Sie haben eine wunderbare Zunge«, freut sie sich. Sie bemalt meine Zungenspitze mit einem Wattestäbchen, das sie vorher in blaue Lebensmittelfarbe getaucht hat. So werden die Geschmacksknospen auf meiner Zunge hervorgehoben. (Um genau zu sein, sind es keine Geschmacksknospen, die sind viel kleiner. Die pilzförmigen Erhebungen auf der vorderen Zunge heißen Pilzpapillen.)

Mithilfe eines Spiegels betrachte ich, was Bartoshuk auf meiner Zunge entdeckt hat. Kleine rosafarbene Inseln in einem Meer aus blauer Farbe. »Sehen Sie die roten Punkte auf der Zungenspitze? Das sind Pilzpapillen«, erklärt sie. »Viele. Oh, und auch im hinteren Teil sehe ich lauter Papillen. Sie sind fast ein Superschmecker.«

Der Begriff des Superschmeckers – also die Tatsache, dass manche Menschen einen feineren Geschmackssinn haben als andere – hat mich überhaupt erst in dieses Labor an der University of Florida in Gainesville geführt. Denn es war Professor Bartoshuk, die 1991 als Erste vorschlug, Menschen in Superschmecker, Normalschmecker und Nichtschmecker einzuteilen – je nachdem, wie sie auf den Geschmack von Propylthiouracil, kurz PROP, reagieren.1

Vielleicht sind Sie schon einmal im Biologieunterricht oder bei einer wissenschaftlichen Demonstration auf diesen Stoff gestoßen. In dem Experiment legt man ein kleines Stück Filterpapier, auf das ein wenig PROP geträufelt wurde, auf die Zunge. Nichtschmecker zucken nur die Achseln und nehmen höchstens den Geschmack des Filterpapiers wahr. Normalschmecker bemerken einen unangenehmen bitteren Geschmack, Superschmecker aber erleben einen extremen bis unerträglichen bitteren Reiz. Superschmecker erkennt man leicht, sie verziehen das Gesicht und suchen umgehend die nächste Möglichkeit, den für sie grausigen Geschmack aus dem Mund zu bekommen. Bartoshuk bittet die Versuchspersonen oft, die Bitterempfindung auf einer Skala von 0 bis 100 zu bewerten, wobei 100 den heftigsten Eindruck wiedergibt, den sie je erlebt haben, vergleichbar mit Geburtsschmerzen oder einem Knochenbruch oder extremem Geblendetsein. Superschmecker bewerten die Bitterkeit von PROP mit 60 bis 80, kurz vor dem Bereich des Knochenbruchs. Ich würde eine 60 vergeben: unangenehm, aber auszuhalten. »Da fängt das Gebiet der Superschmecker an«, meint Bartoshuk. »Auf diesem Level fängt man noch nicht an zu schreien, liegt aber deutlich höher als der Durchschnitt. Das sieht man Ihrer Zunge auch an.«

Dabei geht es nicht nur um die Bitterempfindung. Superschmeckern schmeckt Süßes süßer, Salziges salziger und Scharfes schärfer. Laut Bartoshuk berichten diese Personen zudem, dass sie das Aroma von Nahrungsmitteln intensiver wahrnehmen, da Geruch und Geschmack sich offenbar im Gehirn intensivieren.

Bevor ich mir allzu viel auf meinen sensiblen Geschmackssinn einbilden kann, erklärt mir Professor Bartoshuk, dass Superschmecker oftmals sehr langweilige Esser sind. Die meisten vermeiden intensive Geschmackserfahrungen mit stark gewürzten Gerichten und ernähren sich eher einseitig. (Ich kannte mal einen Mann, der sich nur von Limabohnen und Milch ernährte, und könnte wetten, dass er ein Superschmecker war.) Bittere Kohlsorten und andere Gemüse sind auf den Tellern von Superschmeckern nur selten zu finden.

An dieser Stelle beginne ich mich zu wundern, denn das klingt gar nicht nach mir. Ich liebe Blattkohl, Rübstiel und andere bittere Gemüse, ich nehme immer die herbere Biersorte und trinke schwarzen Kaffee ohne Zucker. Tonic Water ist mein Lieblingsgetränk – ja eigentlich das einzige Getränk, das ich zu mir nehme. Bartoshuk dagegen, eine Nichtschmeckerin, hat deutliche Lebensmittelaversionen. Sie verabscheut Tonic Water. »Als ich es zum ersten Mal probiert habe, konnte ich gar nicht glauben, dass das ein Getränk sein soll«, erzählt sie. »Ich kann Kohl nicht ausstehen. Dieser bittere Geschmack ist mir unerträglich.«

Was ist da los? Offenbar muss man sich das Superschmecker-Konzept doch näher anschauen, denn es erweist sich als komplizierter, als es auf den ersten Blick erscheint.

An dieser Stelle ist ein bisschen Hintergrundinformation vonnöten: Obwohl wir sagen, uns »schmeckt« ein bestimmter Wein oder Käse, entsteht der Geschmack bei komplexen Lebensmitteln wie diesen vor allem über den Geruch. Geruch und Geschmack haben allerdings verschiedene Aufgaben. Beim Geruch geht es darum, etwas zu identifizieren, um die Frage: »Was ist das?« Über den Geruch erkennen wir den Unterschied zwischen Brie und Roquefort oder Cabernet Sauvignon und Pinot Noir. Der Geruch sagt uns, ob etwas auf dem Herd verbrennt oder der Hund gebadet werden sollte. Wir können uns und unsere Liebsten am Geruch erkennen.

Der Geschmack dagegen beantwortet eine andere Frage: »Will ich das essen?« Hier geht es um gut oder schlecht, um ein Ja oder Nein, das für unsere Jäger-und-Sammler-Vorfahren von essenzieller Bedeutung war. Als Allesfresser ohne Supermarkt an der nächsten Ecke mussten sie sich diese Frage jeden Tag neu stellen. Das bezeugt auch unser Geschmacksrepertoire. Jeder kennt die vier Geschmacksrichtungen süß, salzig, sauer und bitter. Wer sich für das Thema interessiert, hat in den letzten Jahren vielleicht von einem fünften Geschmack gehört: umami, das japanische Wort für »wohlschmeckend«, das mit »vollmundig«, »fleischig« oder »herzhaft« wiedergegeben wird. (Wie wir noch sehen werden, könnte es noch mehr Qualitäten des Geschmackssinns geben.) Ein genauer Blick auf diese fünf Geschmacksrichtungen erhellt, was für unsere Vorfahren wichtig war.

Süßer Geschmack deutet natürlich auf Zucker hin, einen wichtigen Kalorienlieferanten. Selbst stärkehaltige Lebensmittel wie Kartoffeln oder Getreide geben beim Kauen etwas Süße frei, denn die Enzyme im Speichel spalten die Stärke in Zucker auf. Umami entsteht durch Aminosäuren, insbesondere durch Glutamat, die auf Proteine hinweisen, ebenfalls eine wichtige Nährstoffgruppe. Unsere Geschmackssensoren für Salziges haben unseren Vorfahren geholfen, in Zeiten ohne Salzstreuer die so wichtigen, aber schwer verfügbaren Elektrolyte aufzunehmen. Da überrascht es nicht, dass wir schon als Kleinkinder von Lebensmitteln angezogen werden, die süß, umami oder salzig schmecken.

Der Geschmackssinn warnt uns aber auch, wenn wir etwas essen wollen, das schädlich für uns sein könnte. Viele Gifte schmecken bitter, daher die weit verbreitete Abscheu vor bitteren Lebensmitteln. Man muss nur das Gesicht eines Kleinkinds sehen, das aus Versehen an einem Tonic Water nippt, oder auch das eines Erwachsenen, der unerwartet eine bitter schmeckende Frucht oder den ersten Schluck Aquavit oder Fernet Branca kostet. Der bittere Geschmack löst einen Giftabwehr-Reflex aus. Wir verziehen angewidert das Gesicht und strecken die Zunge heraus – ein Reflex, mit dem wir das bedrohliche Etwas aus dem Mund bekommen wollen. Auch Saures verschmähen wir üblicherweise, denn der saure Geschmack könnte auf verdorbene Lebensmittel oder unreife, unverdauliche Früchte hinweisen. Durch Erfahrung und Gewöhnung lernen wir, die Abneigung vor bestimmten Lebensmitteln – Kaffee, Bier, Rosenkohl, saure Weingummis –abzulegen. Nur wenige Menschen mögen diese Dinge auf Anhieb. Erinnern Sie sich an Ihren ersten Schluck Kaffee?

Lebewesen mit weniger breit gefächertem Nahrungsangebot müssen weniger Entscheidungen fällen und kommen daher mit weniger Geschmacksrichtungen aus. In der Evolution, wo das Prinzip des Alles-oder-nichts gilt, bedeutet dies oft, dass Tiere für sie unwichtige Geschmackswahrnehmungen verlieren.2 Katzen zum Beispiel fressen ausschließlich Fleisch und kommen so nie in die Lage, zuckerhaltige Nahrung erkennen zu müssen. Tatsächlich scheinen Katzen auf Süßes nicht zu reagieren. Bei genauerer Untersuchung würde sich bestimmt herausstellen, dass Katzen ein spezielles Gen verloren haben, das sie Süßes schmecken lässt. Andere Fleischfresser wie Otter, Seelöwen und Hyänen haben ebenfalls die Fähigkeit verloren, Süßes zu schmecken. Die Ursache hierfür war jeweils ein anderer genetischer Defekt, und es ist zu vermuten, dass der Verlust des Süßreizes zu verschiedenen Zeiten innerhalb der Evolution geschah – wahrscheinlich immer dann, wenn ein Allesfresser auf eine ausschließliche Fleischernährung umstellte. Pandas dagegen, die ja nichts als Bambus fressen, müssen kein Protein mehr erkennen können und haben demnach den Geschmackssinn für umami verloren. Wissenschaftler haben kürzlich einen noch drastischeren Verlust von Geschmacksreizen entdeckt: Vampirfledermäuse sind so konzentriert auf das Erkennen von salzigem Blut, dass sie unfähig sind, Süßes, Umami oder Bitteres zu erkennen.3

Da wir gerade wieder die verschiedenen Geschmacksreize aufzählen: Sicher kennen Sie die Darstellungen, auf denen unsere Zunge in verschiedene Geschmackszonen aufgeteilt wird. So sollen wir Süßes an der Zungenspitze, an den Rändern Salziges und Saures und im hinteren Bereich Bitteres schmecken. Wer das Thema verfolgt, hat vielleicht schon gehört, dieses Konzept wäre komplett überholt. Doch wie sich herausstellt, haben beide Seiten etwas übertrieben. Es gibt auf der Zungenfläche tatsächlich kleine Unterschiede in der Sensibilität für verschiedene Geschmäcke, manche Zonen sind empfänglicher für Süßes und andere empfänglicher für Saures, aber die Unterschiede machen sich nicht so deutlich bemerkbar, wie früher gedacht. Sie können selbst ganz einfach prüfen, ob Ihre Geschmacksreize streng in Zonen eingeteilt sind: Tauchen Sie ein Wattestäbchen in Salzwasser und betupfen Sie damit Ihre Zungenspitze. Sie schmecken das Salz, obwohl Sie die »süße Zone« reizen. Am besten also man vergisst die Vermessung der Zunge.

Die fünf Geschmacksrichtungen erscheinen doch sehr wenig im Vergleich zu den zahlreichen Aromen, die wir in unseren Lebensmitteln antreffen. Ist Geschmack wirklich so wichtig oder ist er nur ein kleiner Teil der Sinneserfahrung? Um dieser Frage nachzugehen, habe ich Professor Bartoshuks Labor in Florida verlassen und das Monell Chemical Senses Center in Philadelphia aufgesucht.

Monell ist in etwa die Vatikanstadt der Geschmacksforschung, nur ohne die schöne Architektur. Das unscheinbare Backsteinhaus am Rande der Medizinischen Fakultät der University of Pennsylvania (nicht zu verwechseln mit der Penn State University) sieht aus, als könnte es alles Mögliche beherbergen – Praxisräume, Büros, Werkstätten. Doch eine riesige Bronzeskulptur von Nase und Mund auf einem Betonsockel neben dem Eingang deutet darauf hin, dass sich drinnen etwas Ungewöhnliches abspielt: Hier herrscht weltweit die größte Dichte an Forschern, die sich mit der Biologie des Geschmackssinns beschäftigen.

Der Besprechungsraum sieht genauso aus, wie man es bei einer solchen Institution erwarten würde: ein langer, dunkler Holztisch, auf Hochglanz poliert, Lederstühle mit hohen Lehnen, eierschalenfarbene Wände, behängt mit gerahmten Memorabilien und interessanter (jedoch nicht zu interessanter) Kunst. Die Botschaft ist klar: Hier finden wichtige Diskussionen über wichtige Ideen statt.

Im Laufe der Jahre hat vor allem Gary Beauchamp, der langjährige Direktor der Forschungseinrichtung, diese Ideen beigesteuert. Er ist ein kleiner, eleganter Herr mit grauem Haar, sorgfältig geschnittenem Spitzbart und würdevollem Auftreten. Man kann sich gut vorstellen, wie er einem betuchten Sponsor einen hübschen Scheck abschmeichelt. Im Moment aber lehnt er sich in seinem Stuhl am Kopf des Tisches zurück und blickt gedankenvoll an die Decke. »Grrrglll«, spricht er leise.

»Grrrglll«, gurgeln wir zurück. Wir beugen uns nach vorn und spucken in einen Plastikbecher, wischen uns verirrte Tropfen von Lippen und Gesicht.

Dieses eigentümliche Treffen hat seinen Ursprung bei einer Tagung genommen, auf der ich Gary Beauchamp kennenlernte. Wir unterhielten uns über die Bedeutung des Geruchs bei der Wahrnehmung von Geschmack. Die meisten Wissenschaftler sind schwer davon überzeugt, dass der Geruch den Löwenanteil der Geschmackswahrnehmung ausmacht, da er viel mehr Informationen als nur süß, sauer, salzig, bitter oder umami enthält. Manche schätzen den Anteil des Geruchs auf 70 Prozent, andere auf 90 Prozent und mehr.

Doch Beauchamp ist da anderer Meinung. Er widersprach heftig, als ich auf der Tagung in diese Richtung argumentierte. »Natürlich ist der Geruch furchtbar wichtig«, sagte er. »Aber dass er 70 Prozent des Geschmacks ausmachen soll, ist meiner Ansicht nach vollkommener Unsinn.« Die olfaktorische Wahrnehmung, also der Geruchssinn, zieht so viel Aufmerksamkeit auf sich, weil wir alle wissen, was passiert, wenn man nicht riechen kann. Jeder, der schon einmal eine verstopfte Nase hatte, weiß, dass dann alles fade und geschmacklos erscheint – obwohl der Begriff »geschmacklos« hier eigentlich nicht zutrifft, im Gegenteil: Man ist ganz auf den Geschmack der Zunge reduziert, da der Geruch ausfällt. Der weiter oben beschriebene Test mit den Fruchtaromen von Kaubonbons ist aber noch eindrücklicher, weil man den direkten Vergleich hat.

Die umgekehrte Erfahrung – riechen, ohne zu schmecken – haben die wenigsten gemacht, denn unseren Zungengeschmack können wir nicht ausschalten. Ärzte kennen Patienten, die ihren Riechsinn aufgrund einer Kopfverletzung, einer Virusinfektion oder einfach infolge des Alterns verloren haben. Doch nur wenige Menschen verlieren die Fähigkeit, mit der Zunge zu schmecken. Die große Ausnahme sind Krebspatienten, denen Kopf und Hals bestrahlt wurde, wodurch die Geschmacksnerven zerstört werden können. Eine grausame Erfahrung, berichtet Beauchamp, dessen Onkel dieses Schicksal erlitt. Der Verlust des Geruchssinns ist schlimm, der des Geschmackssinns noch viel schlimmer. »Wenn Menschen nicht schmecken können, essen sie nicht. Sie verhungern«, sagte er. »Meiner Ansicht nach ist der Zungenreiz die Grundlage des Geschmacks.«

Beauchamp will das mit einem Experiment beweisen. Bestimmte Arzneimittel blockieren den Reiz für Salziges und Süßes, also zwei besonders wichtige Geschmacksrichtungen in Mahlzeiten. »Wenn man beides nicht schmeckt, gehe ich davon aus, dass das Essen ungenießbar wird«, meinte Beauchamp. Das Mittel, mit der sich der Salzreiz blockieren lässt, hat er schon aus Neugier getestet, doch beide Geschmacksreize auf einmal hat er noch nie ausgeschaltet. Wir stimmten überein, dass ein solches Experiment sicher aufschlussreich wäre.

Und so sitzen wir also einige Monate später im Monell Institute. Beauchamp, zwei seiner Kollegen und ich gurgeln mit Chlorhexidin, einem rezeptfreien Mundwasser, das bei Zahnfleischentzündungen verwendet wird und den seltsamen Nebeneffekt hat, den Reiz für Salziges zu unterdrücken. Wir spülen also hintereinander mit vier Becherchen mit dem bitter schmeckenden Zeug, lassen es 30 Sekunden im Mund und gurgeln immer wieder, damit die Lösung auch in den Rachen gelangt, dann spucken wir sie wieder aus. Anschließend wiederholen wir die Prozedur mit einem modrig schmeckenden Tee aus einer südamerikanischen Pflanze namens Gymnema, der unseren Süßreiz blockiert.

Und ja, wir haben den deutlichen Eindruck, dass wir keinen salzigen oder süßen Geschmack mehr wahrnehmen. Ein Schluck Cola lässt meine Zunge kurz prickeln, doch das ist nur die Kohlensäure, danach ist kein Geschmack zu erkennen. Ich tauche meinen Finger in Salz und lecke ihn ab: Nichts, nur ein ganz leiser Salzgeschmack hinten am Gaumen, wohin das Chlorhexidin nicht gelangt ist. Und dann wenden wir uns unserem Testmahl zu: Burger und Fritten aus dem Imbiss von gegenüber, in vier kleine Portionen aufgeteilt. Können wir dieses Essen ohne die wichtigsten Teile unseres Geschmackssinns überhaupt hinunterbekommen oder geben wir wie Beauchamps Onkel vorher auf?

Der Burger fühlt sich tatsächlich an wie Modelliermasse oder weiches Plastik. Haben Sie schon mal beim Brotbacken das Salz vergessen und sich anschließend gewundert, wie langweilig eine Scheibe dieses Brotes schmeckt? Mit diesem Burger ist die Wirkung ähnlich, nur potenziert. Dabei haben wir nur zwei von fünf Geschmacksreizen ausgeschaltet. Wenn ich mir dazu die Nase zuhalte, wird es noch schlimmer, eine absolut nichtssagende Angelegenheit. Der Verlust des Mundgeschmacks ist deprimierend, viel schlimmer als essen, ohne zu riechen, was ich ja bei einem Schnupfen schon erlebt habe. Die frustrierende Fadheit des Burgers unterstützt also Beauchamps Theorie, dass Geschmack wichtiger ist als Geruch.

Die Pommes aber sind gar nicht so schlecht – zum Teil durch den schwachen Salzreiz im hinteren Zungenbereich, den die Mundspülung nicht erreicht hat, zum anderen weil ich dennoch etwas Interessantes erlebe, als ich sie in den Mund stecke. Ist das der »Fettgeschmack«, den so viele Forscher heute dem Kanon zuordnen wollen, oder einfach das schöne Mundgefühl von Fettem? Der Ketchup trägt auch noch einen angenehm würzigen Umamigeschmack bei, der aber durch die fehlende Süße seltsam abgewandelt ist.

Alles in allem glaube ich, dass Beauchamp recht hat. Wenn ich einen Sinn abgeben müsste, würde ich mich eher für den Geruch als den Geschmack entscheiden. Eine Mahlzeit, die keine der wichtigen Geschmacksreize hervorruft, ist nicht etwa abstoßend oder widerlich, aber sie macht einfach nicht den Eindruck von Essbarem. Wenn jedes Gericht so undefinierbar wäre, hätte ich sicher enorme Schwierigkeiten, dreimal am Tag eine Mahlzeit zu mir zu nehmen.

Man könnte meinen, dass ein so wichtiger Wahrnehmungsapparat – ein relativ einfaches System mit einer Handvoll Geschmacksrichtungen – inzwischen ganz verstanden ist. Aber dem ist nicht so: Unser Verständnis davon, wie Geschmack funktioniert, weist große Lücken auf. Experten sind sich nicht einmal einig, wie viele Geschmacksrichtungen es gibt.

Auf grundlegendem Niveau wissen wir natürlich über bestimmte Aspekte des Vorgangs Bescheid. Wir schmecken etwas, wenn der Geschmacksstoff an Rezeptoren in den Geschmackszellen auf der Zunge oder im Gaumen andockt. Die Geschmacksstoffe für salzig und süß – Natrium- und Wasserstoffionen – verteilen sich in den Zellen und aktivieren dort Rezeptoren, wobei aber der genaue Prozess noch nicht vollständig analysiert wurde. Bei den Geschmäcken süß, umami und bitter ist man ein Stück weiter, also schauen wir uns doch diesen Ablauf einmal genauer an.

Leo Tolstoi hat gemeint: »Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich.« Beim Geschmack ist es ähnlich. Die guten Geschmäcke umami und süß werden jeweils durch einen einzelnen Rezeptor erkannt, ein zweiteiliges Protein in der äußeren Membran der Geschmackszellen. (Es könnte weitere davon unabhängige Rezeptormoleküle geben, die ebenfalls auf süß und umami reagieren, dies ist aber noch nicht ausreichend belegt.) Die Rezeptoren für umami heißen T1R1 und T1R3, die Rezeptoren für süß T1R2 und T1R3. Die Aminosäure Glutamat beziehungsweise eine Zuckerart klinkt sich in passende Vertiefungen auf diesen Rezeptoren. Wie ein Schlüssel in ein Schloss, hieß es bisher immer, aber man kann sich auch eine teure Kamera und eine dazu passend geformte Tragetasche vorstellen. Wenn man die falsche Tasche hat, will die Kamera nicht hinein. Hat man das richtige Paar, rutscht die Kamera wie von selbst ins Etui.

Schlechter, also bitterer Geschmack, benötigt dagegen ein ganzes Komitee von Rezeptoren namens T2R. Jedes Mitglied dieses Komitees – insgesamt sind es beim Menschen mindestens 25 – kümmert sich um einen anderen Bereich der Bitterbestandteile. Manche, etwa T2R10, T2R14 und T2R46, sind sogenannte promiskuitive Rezeptoren, die sich mit vielen Bitterstoffen zusammentun. Allein mit diesen drei T2R könnten wir mehr als die Hälfte der Bitterstoffe in einer Probe mit 104 Verbindungen erkennen.4 Andere Bitterrezeptoren wie T2R3 scheinen eher »monogam« zu sein, denn es gibt nur eine bekannte Verbindung, die sie aktiviert. Aber auch der umgekehrte Weg funktioniert: Manche Verbindungen aktivieren viele verschiedene T2R, während andere nur einen einzigen Bitterrezeptor reizen. Zudem scheinen Bitterrezeptoren im Laufe der Evolution zu verschwinden: Das menschliche Genom ist zugemüllt mit nicht mehr aktiven Rezeptor-Genen für Bitteres. Diese müssen in unserer Vergangenheit einmal wichtig gewesen sein, sind inzwischen aber – wie die Süßrezeptoren bei Katzen – so irrelevant geworden, dass wir sie nicht mehr benötigen und ihr Verschwinden nicht bemerken.

Forscher wissen noch nicht, ob die verschiedenen Bitterrezeptoren identische Signale ans Gehirn senden – in diesem Fall gäbe es nur einen Geschmack, den wir »bitter« nennen – oder ob wir tatsächlich den Unterschied zwischen verschiedenen Bitterqualitäten schmecken. Schwierig wird die Sache unter anderem dadurch, dass wir, wenn wir beispielsweise die Bitterkeit von Bier und Kaffee vergleichen, nicht nur die Signale einzelner Bitterrezeptoren, genauer T2R1 für Hopfen und T2R7 für Koffein, gegenüberstellen. Stattdessen bewerten wir das gesamte Geschmacksprofil der beiden Getränke. Selbst wenn man sich beim Trinken die Nase zuhält – was nur wenige von uns in Gesellschaft angemessen finden –, unterscheiden sich Bier und Kaffee auch in ihrer süßen und sauren Qualität. Wir haben es im Alltag selten mit rein bitteren Geschmackserlebnissen zu tun. Forscher aber beschäftigen sich intensiver damit, und es gibt mindestens einen Experten, der überzeugt ist, dass es mehrere Bitterqualitäten gibt. »Wenn man sich viel mit Bitterstoffen beschäftigt und die Geschmacksproben vergleicht, merkt man, wie verschieden sie schmecken«, sagt John Hayes, Geschmacksforscher an der Penn State University. Und das mache sich in unseren Vorlieben bemerkbar, meint er. »Ich mag herbe Biere«, erzählt er. »Am liebsten ein India Pale Ale. Aber Grapefruit kann ich nicht ausstehen, die ist mir zu bitter. Wenn es nur eine bittere Note gäbe, würde der Lernprozess, durch den ich mein Bier zu genießen gelernt habe, doch auch auf Grapefruit übergreifen. Das tut er aber nicht, und ich sehe darin einen möglichen Ansatz für die These, dass es mehr als eine bittere Geschmacksqualität gibt.« Hayes forscht derweil eifrig daran, dies zu beweisen.

Auch zur Geschmacksqualität umami bleibt viel zu erforschen. Da man inzwischen den für umami sensiblen Rezeptor gefunden hat, besteht kaum noch Zweifel, dass es als fünfter Grundgeschmack anzusehen ist. Doch viele Menschen haben immer noch Schwierigkeiten mit dem Konzept. Jeder weiß, was man meint, wenn man etwas als süß, salzig, sauer oder bitter bezeichnet. Wenn umami nun eine ebenso grundlegende Geschmacksqualität bezeichnet, warum sind dann so oft zusätzliche Erklärungen notwendig? Was macht umami so undefiniert?

Dafür gebe es zwei Gründe, meint der Geschmacksforscher Paul Breslin vom Monell Institute. Zuerst einmal schmecken wir die anderen Geschmacksqualitäten meist nahezu in Reinform: süßen Honig, saure Zitrone, bittere Radicchio, eine Prise Salz. »Man bekommt quasi eine reine Ladung dieser Stoffe«, sagt Breslin. »Reines Glutamat aber lässt sich nicht schmecken. Es gibt keinen Glutamatbrocken, an dem man lecken könnte. Wir schmecken Glutamat nur in Kombination mit anderen Dingen.«

Der Geschmack von umami lässt sich also nicht isolieren, und dies wird noch verstärkt durch den zweiten von Breslin angeführten Grund: Unsere Umami-Rezeptoren schlagen schon bei geringer Intensität maximal aus, sodass wir nicht in der Lage sind, sehr umami zu schmecken, so wie wir etwas als sehr salzig oder sehr bitter empfinden, wenn uns der Salzstreuer ausrutscht oder wir uns einen extrastarken Espresso brühen. Unser Sinnesapparat sieht vor, dass umami immer nur ein subtiler Reiz sein kann. Es ist, als würde man die Farbe Rot anhand einer Rose erklären, Gelb mit einer Zitrone und Grün mit einer Wiese, doch Blau müsste man am blauen Schimmer in der Magermilch illustrieren.

Doch es gibt auch eine kulturelle Komponente zu unserer Umami-Blindheit. Die meisten Bewohner westlicher Länder haben Mühe, die Geschmackserfahrung umami zu beschreiben, doch das gilt keineswegs für Menschen aus asiatischen Ländern. »Wenn japanische Kinder Mononatriumglutamat in den Mund bekommen, sagen sie ›umami‹, aber sofort«, berichtet Breslins Kollegin Danielle Reed. »So wie amerikanische Kinder Zucker schlecken und ›süß‹ sagen.« Inzwischen tritt umami in unserer Essenskultur immer deutlicher hervor – in Ernährungsbüchern wird der Begriff gängig verwendet, in den USA hat die Restaurantkette »Umami Burger« eröffnet. Und so wird unsere Umami-Blindheit wohl bald der Vergangenheit angehören.

Dabei wäre interessant zu beobachten, ob eine größere Resonanz für umami auch den Ruf von Mononatriumglutamat rettet. Natriumglutamat ist nämlich im Grunde nur Natrium, also ein reiner Salzreiz, und Glutamat, also ein reiner Umami-Reiz. Wenn Köche den Umamigeschmack verbessern möchten, indem sie Dashi oder Sojasoße in den Fond geben, erhöhen sie ganz einfach den Glutamatgehalt des Gerichts – und das Ergebnis schmeckt uns. Warum schüttelt es uns aber bei dem Gedanken, Glutamat direkt und in reiner Form zuzugeben? An Restaurantscheiben und auf Fertiggerichten heißt es oft: »Glutamatfrei!« Welcher vernünftige Koch würde sich damit brüsten, seine Speisen salzfrei, zuckerfrei oder zitronenfrei zuzubereiten?

Glutamat hat vor allem einen so schlechten Ruf, weil viele Menschen das Gefühl haben, dass der Konsum von Lebensmitteln mit Glutamat unangenehme Reaktionen bei ihnen hervorruft. Dieser inzwischen weit verbreitete Eindruck ist eine relativ neue Erscheinung. Zum ersten Mal hörte man davon, als 1968 Robert Ho Man Kwok, ein chinesisch-amerikanischer Arzt, einen Brief in einer führenden medizinischen Zeitschrift veröffentlichte und darin eine »Taubheit im Nacken, die nach und nach auf beide Arme und den Rücken ausstrahlt, sowie allgemeine Schwäche und Herzklopfen« beschrieb, die er beim Essen in einem chinesischen Restaurant nach wenigen Minuten verspüre.5 Kwok war sich nicht sicher, was das »Chinarestaurantsyndrom« hervorrief, doch er gab Glutamat als eine Möglichkeit an.

Die Medien griffen die Geschichte gerne auf, und schnell tauchten ähnliche Berichte auf.6 Wissenschaftler verabreichten freiwilligen Testpersonen Glutamat, woraufhin diese ähnliche Symptome wie Kwok äußerten und andere, wie etwa Kopfschmerzen, hinzufügten. Es verbreitete sich die Vorstellung, Glutamat sei gesundheitsschädlich. Bald forderten Verbraucherschützer, die Verwendung von Glutamat zu regulieren.

Aber schon da fragten sich Skeptiker: Wenn Glutamat wirklich so unangenehme Symptome hervorrief, warum hatte man das dann nicht schon vorher bemerkt? Schließlich setzte die Lebensmittelindustrie Glutamat schon seit Jahrzehnten ein, und das nicht nur in chinesischen Billiggerichten. Zu der Zeit, als Kwok seinen Brief veröffentlichte, produzierte allein die USA 26 Millionen Kilo Glutamat pro Jahr, das man in allem – von Babykost über Dosensuppe bis Fertiggerichten – finden konnte.7 Doch vom »Dosensuppensyndrom« hatte niemand gesprochen.

So bekam die Glutamatforschung in den 1970er Jahren starken Aufwind. Doch je intensiver sich die Wissenschaftler mit der Wirkung der Verbindung beschäftigten, desto unbestimmter wurde das Chinarestaurantsyndrom. Besonders vernichtende Beweise lieferten Studien mit Probanden, die angaben, unter Glutamat-Unverträglichkeit zu leiden.8 Die Forscher ließen alle Teilnehmer eine Kapsel schlucken, ohne ihnen mitzuteilen, ob es sich um ein Placebo oder Glutamat handelte. Falls ihre selbstdiagnostizierte Sensibilität begründet war, hätten die Probanden also ein Chinarestaurantsyndrom entwickeln müssen, falls sie Glutamat zu sich genommen hatten, beim Placebo aber hätten sich keine Reaktionen einstellen dürfen. Doch die Testpersonen gaben gleich viele Symptome an, ob sie nun eine Glutamat- oder eine Placebo-Kapsel eingenommen hatten. Dies bestärkte die Annahme, dass die Symptome eher durch die Voreingenommenheit der Testpersonen als durch den Konsum von Glutamat hervorgerufen wurden.

Das ist nicht überraschend. Die meisten von uns haben nach dem Essen schon mal ein Unwohlsein verspürt. Womöglich hat man zu viel oder zu schnell gegessen oder war irgendwie angespannt. Und viele Menschen sind besonders vorsichtig, wenn sie etwas Neues kosten: In den 1960er-Jahren war die chinesische Küche noch vielen unbekannt. Wenn eine ungute Erfahrung einmal Bedenken gesät hat, kann es sein, dass unsere Erwartung zukünftige Reaktionen steuert.

Als sich die Forscher daraufhin frühere Studien ansahen, in denen eine Verbindung von Glutamat und Chinarestaurantsyndrom festgestellt wurde, fanden sie schnell heraus, dass die meisten ebenfalls durch die Erwartung der Testpersonen beeinflusst waren.9 Meist wurde der Geschmack von Glutamat nicht verdeckt, die Probanden wussten also, ob sie ein Placebo oder Glutamat verabreicht bekamen. In manchen Studien verzichtete man sogar auf ein Placebo, die Testpersonen nahmen Glutamat ein und wurden anschließend zu ihren Symptomen befragt. Die Erwartung der Probanden ist dann natürlich ein Verzerrungseffekt.

Und dennoch, es gibt Menschen, die tatsächlich an einer Glutamat-Unverträglichkeit leiden. Wenn aber reines Glutamat Probleme hervorruft, dann müssten diese Personen auch auf Pilze, Sojasoße, Parmesankäse und andere Lebensmittel reagieren, die von Natur aus einen reichen Umamigeschmack haben. Und sicherlich kann eine Überdosierung von Glutamat bestimmte Symptome hervorrufen, genau wie zu viel Salz, Zitronensaft oder andere Gewürze. Wenn man aber Vorsicht walten lässt, besteht kein Grund, warum Glutamat nicht in das Würzrepertoire aufgenommen werden sollte. In den meisten Küchen werden unter anderem rein chemische Stoffe verwendet, um den Geschmack von salzig, süß und sauer zu verstärken: Natriumchlorid, Saccharose, Essigsäure. Warum sollte man also nicht Glutamat einsetzen, um Gerichten einen intensiveren Umamigeschmack zu verleihen?

Wenn es um industrielle Geschmacksforschung geht, steht umami aber nicht an erster Stelle. Am meisten Geld wird nämlich mit Süßem gemacht. Wie die Geschmacksqualität umami wird Süße, soweit man weiß, von einem einzigen Rezeptor erkannt. (Es könnte jedoch Gründe geben, noch andere Rezeptoren ins Spiel zu bringen.) Dieser einfache Mechanismus hat die Lebensmittelindustrie angespornt, Möglichkeiten zu finden, wie man den Rezeptor reizen kann, ohne die Kalorienlast von echtem Zucker in Kauf zu nehmen.

Die meisten Süßungsmittel auf dem Markt sind das Ergebnis von Zufällen – oder auch reiner Dummheit. Die erste Entdeckung wurde 1878 von Constantin Fahlberg gemacht, einem Chemiker, der mit Steinkohlenteer arbeitete und vergaß, sich vor dem Essen die Hände zu waschen: Er bemerkte, dass sein Brot süß schmeckte, und konnte diese Süße dann auch auf seiner Serviette, seinem Wasserglas und schließlich an seinem Daumen schmecken. Fasziniert eilte er zurück ins Labor und kostete dort alles durch. Und zum Glück fand er den Stoff von »frappanter Süßigkeit«, der heute als Saccharin bekannt ist, bevor er etwas Giftiges in die Hand bekam.10

Zyklamat wurde ganz ähnlich entdeckt: 1937 legte ein Chemiker der Universität Illinois seine Zigarette am Rand seines Labortischs ab: Als er sie wieder an die Lippe führte, schmeckte sie süß.11 Und Aspartam: 1965 kam es, dass ein Forscher, der an Medikamenten gegen Magengeschwüre arbeitete, an seinem Finger leckte, um ein Papier aufzuheben, und dabei einen süßen Geschmack bemerkte.12 Zuletzt Sucralose: Ein Labormitarbeiter in London wurde 1976 von seinem Chef gebeten, eine neue Chemikalie zu testen – er verstand »taste« statt »test«, was natürlich auch tödlich hätte ausgehen können, dem Unternehmen letztendlich aber einiges einbrachte.13

Künstliche Süßstoffe wirken aus zwei Gründen kalorienreduzierend. Manche, wie Saccharin und Sucralose, werden unverändert ausgeschieden und liefern daher keine Kalorien. Andere, wie Aspartam, werden zwar verdaut, haben aber bereits in viel geringerer Konzentration als Zucker eine süßende Wirkung und können so mit weniger Kalorien Süße herstellen. Doch die Sache hat einen Haken: Manche der genannten Stoffe schmecken schon in geringer Konzentration süß, doch ihre Süße hat schnell ein Maximum erreicht. Ganz gleich, wie viel Saccharin man in den Kaffee gibt, er wird nie süßer schmecken als eine 10,1-prozentige Zuckerlösung. Für Hersteller von Softdrinks ist das ein Problem, denn Cola enthält für gewöhnlich 10,4 Prozent Zucker, Pepsi 11 Prozent.14

Das ist aber nicht der einzige Grund, warum künstlich gesüßte Getränke für viele Menschen einen seltsamen Beigeschmack haben. Denn die künstlichen Süßstoffe reizen nicht nur unsere Rezeptoren für Süßes, sondern auch viele Bitterrezeptoren, und rufen so einen bitteren Nachgeschmack hervor, den viele Menschen abstoßend finden. Da die Bitterrezeptoren bei uns allen verschieden sind, reagieren wir auch anders auf die verschiedenen Süßungsmittel. Ich finde beispielsweise Saccharin bitter, was nahelegt, dass meine T2R31 gut funktionieren. Der natürliche kalorienarme Süßstoff Stevia aber verursacht bei mir keinen bitteren Nachgeschmack, daher wird der (bis dato unbekannte) Bitterrezeptor, der auf Stevia reagiert, bei mir ausgeschaltet sein.

Aber der bittere Nachgeschmack ist nicht das einzige Problem bei Süßungsmitteln. Linda Bartoshuk zum Beispiel kann das Bittere an Aspartam und Saccharin nicht schmecken, und doch erkennt sie die Stoffe am Geschmack. »Die Süße von Saccharin ist mit der von Saccharose nicht zu vergleichen. Ich kann nicht verstehen, wie jemand da keinen Unterschied merkt«, sagt sie. »Wenn ich versehentlich ein Getränk mit Aspartam bekomme, merke ich das sofort. Ich mag den Geschmack nicht. Für mich ist klar, dass süß nicht gleich süß ist.«

Dies liegt unter anderem darin begründet, dass jeder Süßstoff einen eigenen Takt bei der Reizung der Geschmacksrezeptoren hat.15 Echter Zucker erreicht das Geschmacksmaximum nach etwa vier Sekunden, etwa zehn Sekunden später verebbt seine Süße.16 Die meisten künstlichen Süßstoffe verweilen zu lange und produzieren so einen süßlichen Nachgeschmack. Aspartam zum Beispiel entfaltet sich eine Sekunde später und hält sich vier Sekunden länger als Zucker.17 Doch Bartoshuk glaubt, der Unterschied im Geschmack deute auf einen weiteren, bisher unbekannten Süßrezeptor hin. Kaum zu glauben, dass wir über etwas so Alltägliches – und für Lebensmittelkonzerne auch noch äußerst Lukratives – wie Süße nur so wenig wissen.

Künstliche Süßstoffe beherrschen also die Geschmacksforschung, aber gleich an zweiter Stelle folgen Salzersatzmittel. Der durchschnittliche US-Amerikaner nimmt täglich etwa neun Gramm Salz zu sich, das ist fast doppelt so viel wie die empfohlene Höchstmenge von 5,8 Gramm.18 Hauptsächlich stammt dieses Salz aus industriell verarbeiteten Nahrungsmitteln. Die hohe Salzaufnahme ist ein Hauptgrund dafür, dass 65 Millionen US-Amerikaner an Bluthochdruck leiden.19 Die Nahrungsmittelindustrie ist gehalten, den Natriumgehalt ihrer Produkte zu verringern.

Doch das ist gar nicht so einfach. Jeder, der schon einmal länger in der Küche gestanden hat, weiß, dass Salz das Essen nicht nur salziger macht. Klug verwendet kann Salz den Geschmack aller Zutaten verbessern, es macht Fleisch fleischiger, Bohnen bohniger und Kartoffeln kartoffeliger. Das liegt vor allem daran, dass die Natriumionen andere Geschmackskomponenten hervorlocken, die vor allem den Geruch, nicht den Geschmack verbessern. Sie lösen sie aus den Zutaten heraus, wodurch wir sie überhaupt erst schmecken können. Ohne Salz hat jedes Essen weniger Aroma. Ein erfahrener Koch kann am Geruch erkennen, ob ein Gericht mehr Salz benötigt.

Um herauszufinden, wie eine Salzreduzierung aussehen könnte, habe ich Peter de Kok befragt, der in der Lebensmittelforschung für das niederländische Unternehmen NIZO arbeitet. Der freundliche Mann steckt voller Enthusiasmus angesichts dieses Problems. Es gibt drei Wege, den Geschmack von normalem Salz mit weniger Natrium herbeizuführen, erklärt er mir. Die erste Möglichkeit kennt man, wenn man schon einmal »natriumarmes Salz« gekauft hat: Hier wird Natrium durch ein anderes Ion ersetzt. Je näher dieser Ersatz an den chemischen Eigenschaften von Natrium ist, umso besser erledigt er seine Aufgabe. In der Praxis beschränkt dies die Auswahl auf Kalium, das etwa 60 Prozent des Salzgeschmacks von Natrium erreicht. (Was den Geschmack angeht, wäre Lithium der bessere Ersatz, das hat aber eine starke psychologische Wirkung und wird unter anderem bei einer bipolaren Störung eingesetzt.) Viele Menschen nehmen bei Kalium außerdem einen bitteren Geschmack wahr, deshalb können Firmen nur einen Teil des Natriums ersetzen, wenn sie natriumarmes Salz auf den Markt bringen wollen.