Geschwister von Kindern mit Autismus - Inez Maus - E-Book

Geschwister von Kindern mit Autismus E-Book

Inez Maus

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Beschreibung

Eltern autistischer Kinder investieren viel Energie, Zeit und finanzielle Ressourcen in deren Betreuung, wodurch Geschwister oft in den Hintergrund rücken und zusätzliche Herausforderungen in ihrem sozialen Umfeld erleben. Eine frühzeitige Intervention kann dazu beitragen, alle Beteiligten für die Bedürfnisse der Geschwister zu sensibilisieren und vorbeugende sowie unterstützende Maßnahmen zu etablieren. Dieses Buch zeigt auf, wie Geschwister emotional gestärkt werden können, wie sie sich als gleichwertige Familienmitglieder wahrgenommen fühlen und wie der Umgang mit autismusspezifischen Besonderheiten gelingt. Für Fachleute und Studierende ergänzt das Buch symptombezogenes Wissen. Die 2. Auflage enthält neue Kapitel zu jugendlichen Geschwisterkindern sowie zu externen Unterstützungsangeboten für Familien.

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Seitenzahl: 396

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhalt

Cover

Titelei

Vorwort zur 2. Auflage

Vorwort zur 1. Auflage

1 Einführung in die Betreuung autistischer Kinder

1.1 Facetten von Betreuung

1.2 An der Betreuung beteiligte Personengruppen

1.3 Probleme von Eltern autistischer Kinder und Elterntypen bezogen auf die Einstellung zum autistischen Kind

2 Einführung in das Thema Geschwister

3 Außen- und Innensicht auf Geschwister von Kindern mit besonderen Bedürfnissen

3.1 Außensicht auf Geschwister von Kindern mit Behinderung

3.1.1 Situation von Geschwisterkindern aus der Sicht von Pädagogen und Psychologen

3.1.2 Situation von Geschwisterkindern aus der Sicht anderer Personengruppen

3.1.3 Mögliche Auffälligkeiten von Geschwisterkindern

3.2 Familiäre Sicht auf Geschwister autistischer Kinder

3.2.1 Jüngere Geschwister

3.2.2 Ältere Geschwister

3.2.3 Altersmäßig gemischte Geschwister

3.2.4 Stiefgeschwister

4 Maßnahmen zum Verhindern von eskalierenden Situationen

4.1 Weglauftendenz

4.2 Umgang mit Öffentlichkeit

4.2.1 Äußere Öffentlichkeit

4.2.2 Innere Öffentlichkeit

4.2.3 Digitale Öffentlichkeit

4.3 Mobbing durch die Großeltern

4.4 Nachahmen autistischer Verhaltensweisen

4.5 Aufklärung der Geschwister über Autismus

4.5.1 Geschwister im Kindergarten- und frühen Grundschulalter

4.5.2 Geschwister im mittleren Schulalter

4.5.3 Geschwister im Teenager-Alter

4.6 Emotionale Stärkung der Geschwisterkinder

4.6.1 Umgang mit Gefühlen

4.6.2 Logische und unlogische Lügen

4.6.3 Therapeutische Materialien

4.6.4 Gemeinsames Spielen

4.7 Familiärer Nachteilsausgleich für Geschwisterkinder

4.7.1 Geschwister verschiedenen Alters

4.7.2 Jüngere Geschwister

4.7.3 Ältere Geschwister

5 Autistische Besonderheiten im Kontext der Geschwister

5.1 Schlafprobleme

5.2 Streben nach Gleicherhaltung der Umwelt

5.3 Repetitive Handlungen und Interessen

5.3.1 Stereotypien

5.3.2 Rituale

5.3.3 Spezialinteressen

5.4 Besonderheiten der Wahrnehmung

5.5 Körperwahrnehmung und Schmerzempfinden

5.6 Detailwahrnehmung

5.7 Besonderheiten der Kommunikation

5.7.1 Sprache

5.7.2 Visuelles Denken

5.7.3 Mimik

5.7.4 Körpersprache

5.8 Theory of Mind und Umgang mit Emotionen

5.9 Zeitgefühl und Handlungsplanung

5.10 Motorische Schwierigkeiten

6 Übertragung von Geschwisterstrategien in den außerhäuslichen Bereich

6.1 Streben nach Gleicherhaltung der Umwelt

6.2 Umgang mit repetitiven Handlungen

6.3 Umgang mit Besonderheiten der Wahrnehmung

6.4 Gezielter Einsatz der ausgeprägten Detailwahrnehmung

6.5 Verhalten bei Kommunikationsproblemen

7 Begleitung von jugendlichen Geschwistern autistischer Kinder

7.1 Pubertät

7.2 Umgang mit Begrifflichkeiten und Mythen im Kontext von Autismus

7.3 Zukunftsthemen

8 Externe Unterstützungsmöglichkeiten für Familien mit autistischem Kind

8.1 Allgemeine Unterstützungsmöglichkeiten

8.2 Unterstützung für Geschwister autistischer Kinder

9 Schlussbemerkung und Ausblick

9.1 Was fehlt?

9.2 Notwendigkeiten, Lösungen, Ziele

Anhang

Materialien für die Arbeit mit Geschwisterkindern

Literatur

Stichwortverzeichnis

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Inhaltsverzeichnis

Titelseite

Impressum

Inhaltsbeginn

Die Autorin

Inez Maus ist Mutter von drei Kindern, von denen das mittlere autistisch ist. Sie befasst sich seit mehr als 20 Jahren mit dem Thema Autismus. Die promovierte Biochemikerin lebt in Berlin und arbeitet als selbstständige Autorin, Lektorin und Referentin zu autismusspezifischen Themen. Ihre langjährige Beschäftigung mit diesem Thema geschieht einerseits auf der fachlichen Ebene, bedingt durch ihren naturwissenschaftlichen Hintergrund, und andererseits auf der emotionalen Ebene durch die persönliche Verbundenheit als Mutter eines Autisten.

Sie schreibt das Blog »Anguckallergie« (www.anguckallergie.info), auf dem sie Reflexionen und Begebenheiten, die ein Leben mit Autismus in der Familie mit sich bringen, festhält. Bei Kohlhammer sind außerdem zum Themenkreis Autismus und Familie ihre Bücher »Geschichten für Kinder über Autismus« und »Familienbande bei Autismus« erschienen.

Kontaktadresse der Autorin: [email protected]

Inez Maus

Geschwister von Kindernmit Autismus

Ein Praxisbuch für Familienangehörige,Therapeuten und Pädagogen

2., erweiterte und aktualisierte Auflage

Verlag W. Kohlhammer

Für den Reisenden im Tempel von Nanputuo

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Pharmakologische Daten, d. h. u. a. Angaben von Medikamenten, ihren Dosierungen und Applikationen, verändern sich fortlaufend durch klinische Erfahrung, pharmakologische Forschung und Änderung von Produktionsverfahren. Verlag und Autoren haben große Sorgfalt darauf gelegt, dass alle in diesem Buch gemachten Angaben dem derzeitigen Wissensstand entsprechen. Da jedoch die Medizin als Wissenschaft ständig im Fluss ist, da menschliche Irrtümer und Druckfehler nie völlig auszuschließen sind, können Verlag und Autoren hierfür jedoch keine Gewähr und Haftung übernehmen. Jeder Benutzer ist daher dringend angehalten, die gemachten Angaben, insbesondere in Hinsicht auf Arzneimittelnamen, enthaltene Wirkstoffe, spezifische Anwendungsbereiche und Dosierungen anhand des Medikamentenbeipackzettels und der entsprechenden Fachinformationen zu überprüfen und in eigener Verantwortung im Bereich der Patientenversorgung zu handeln. Aufgrund der Auswahl häufig angewendeter Arzneimittel besteht kein Anspruch auf Vollständigkeit.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.

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2., erweiterte und aktualisierte Auflage 2026

Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Heßbrühlstr. 69, 70565 [email protected]

Print:ISBN 978-3-17-046384-4

E-Book-Formate:pdf: ISBN 978-3-17-046385-1epub: ISBN 978-3-17-046386-8

Vorwort zur 2. Auflage

Das Mondlicht schien in den Kobel. Im spärlichen Licht sah Skia die schlafenden Geschwister. Da lag ein Arm auf dem Bauch eines anderen. Eine Schwanzspitze steckte zwischen den Füßen eines weiteren Eichhörnchens. Skia erkannte, dass sie so niemals schlafen konnte.1

Die einleitenden Zeilen stammen aus einer Geschichtensammlung, die sowohl autistischen als auch nicht-autistischen Kindern im späten Kindergarten- und im Grundschulalter erklärt, was Autismus ist. Die Veröffentlichung dieser Geschichten ist ein unmittelbares Resultat der Publikation meines Buches Geschwister von Kindern mit Autismus, in welchem eine dieser Geschichten erstmals abgedruckt wurde. Nachfragen von Lesern und Veranstaltungsteilnehmern, ob es weitere Geschichten wie Kastania und Kastagnette (▸ Kap. 4) gibt, führten zum Entstehen des Buches Geschichten für Kinder über Autismus (2022 bei Kohlhammer).

Dies ist aber nicht die einzige Weiterentwicklung seit der Erstauflage dieses Buches. In meinen Fortbildungsveranstaltungen und Elternkursen zum Geschwisterthema wurde deutlich, dass dieses Thema auch für Bezugspersonen von jugendlichen Geschwistern autistischer Kinder sehr relevant ist. Daher ergänze ich die Zweitauflage um ein Kapitel, welches sich speziell diesen Bezugspersonen widmet.

Ein weiteres neues Kapitel beschäftigt sich mit externen Unterstützungsmöglichkeiten für Familien mit einem autistischen Kind und weiteren Kindern. Dazu zählen u. a. Online-Geschwisterabende, die der Bundesverband autismus Deutschland e. V. seit 2023 unter meiner Leitung anbietet, denn für Geschwisterkinder ist eine Diagnose, über die man reden kann und mit der man sich auseinandersetzen kann, besser zu verarbeiten als ein Bruder oder eine Schwester, der oder die sich vermeintlich peinlich, desinteressiert, unhöflich oder anderweitig auffällig verhält. Entscheidend ist, wie die Familie mit einer gestellten Diagnose umgeht.

Seit einigen Jahren melden sich vermehrt erwachsene Geschwister von Kindern mit Behinderung oder mit chronischen Krankheiten zu Wort. Ihre Erfahrungen verdeutlichen, dass die Art und Weise, wie Geschwister von Kindern mit Behinderung im Allgemeinen und Geschwister autistischer Kinder im Besonderen während ihrer gemeinsamen Kindheit behandelt werden, sich entscheidend auf ihr Leben als Erwachsene auswirkt. Diese Auswirkungen beziehen sich nicht nur auf das Verhältnis zu der autistischen Schwester oder zu dem autistischen Bruder, sondern auch auf die Beziehung zu den Eltern und zu späteren eigenen Lebenspartnern.

Zu den inzwischen erwachsenen Geschwisterkindern zählt auch der Bruder meines autistischen Sohnes. Seine Erfahrungen als Geschwisterkind fasst er folgendermaßen zusammen: »Benjamins Autismus hat definitiv mein Leben beeinflusst. Vor allem hat er die Notwendigkeit geschaffen, sich schon früh mit Dingen wie Individualismus auseinanderzusetzen, was meine Ansichten dazu stark geprägt hat. Die Schwierigkeiten, die manchmal auftraten, haben mir – im Nachhinein betrachtet – geholfen, vieles zu hinterfragen und andere Perspektiven auf Situationen einzunehmen.« (Maus & Ihrig, 2024, S. 114)

Geschwister autistischer Kinder, welche das familiäre Miteinander als positiv erleben und das Gefühl entwickelt haben, dass Probleme, egal welcher Art, zu handhaben sind, werden zu psychisch gesunden Erwachsenen heranwachsen. Einen Beitrag dazu möchte dieses Buch leisten.

In der Zweitauflage verwende ich überwiegend die Formulierung autistisches Kind, da der Trend eindeutig in Richtung Idendity-First Language (IFL) geht. Dieser Trend begann, als die Gruppe Aspies for Freedom (AFF) im Jahr 2005 den Autistic Pride Day (18. Juni) ins Leben rief, um einer Pathologisierung von Autismus entgegenzuwirken und um Stärken sowie Leistungen autistischer Menschen zu würdigen. Die IFL löst damit zumindest im alltäglichen Gebrauch die historisch betrachtet bevorzugte People-First Language (PFL) ab, bei der der Mensch im Vordergrund steht und bei der ein Mensch nicht über etwas wie Diagnose, Krankheit, Behinderung oder Einschränkung definiert wird. Ich befürworte diesen Trend, da Autismus ein integraler Bestandteil der Persönlichkeit ist und sich nahezu immer als ein Gemisch aus Stärken und Schwierigkeiten präsentiert. In Umfragen ergibt sich meist ein ähnliches Bild. Die Mehrheit der jugendlichen und erwachsenen autistischen Menschen bevorzugt IFL. Eltern autistischer Kinder und Fachpersonen, die mit autistischen Menschen arbeiten, tendieren häufiger zur Verwendung von PFL, um eine Etikettierung und damit Ausgrenzung ihres Kindes oder der betreuten Person zu vermeiden. Im Vergleich zu Umfragen aus dem Jahr 2018 ist auch bei diesen Personengruppen eine Änderung im Sprachgebrauch zu verzeichnen, denn die Benutzung von IFL anstatt PFL verdoppelte (Eltern) bzw. verdreifachte (Fachpersonen) sich bis zum Jahr 2022 (Bonnello, 2022).

An dieser Stelle möchte ich mich zusätzlich zu den im Vorwort der Erstauflage genannten Personen bei den Geschwistern autistischer Kinder bedanken, die mir in den Geschwisterabenden viel Vertrauen entgegengebracht haben und dadurch einen für beide Seiten gewinnbringenden Austausch ermöglichten.

Mein Dank gilt ebenfalls meinen Lektorinnen Annika Grupp und Kathrin Kastl.

Zu guter Letzt sei erwähnt, dass ich dem Lesefluss zuliebe die verschiedenen Personen- oder Berufsgruppen im generischen Maskulinum benutze. Vertreterinnen aller Professionen fühlen sich bitte hier ebenfalls angesprochen. Wer sich in dem überkommenen binären Geschlechtersystem nicht wiederfindet, möge sich bitte nicht vom Lesen des Buches abhalten lassen.

Berlin, im März 2025Inez Mauswww.anguckallergie.info

Endnoten

1(Maus, 2022, S. 68)

Vorwort zur 1. Auflage

Viele, verschieden gestimmte Saiten geben erst Harmonie.Freiherr von Eichendorff

Im Alter von vierzehn Jahren stellte mir mein autistischer Sohn Benjamin schriftlich folgende Frage: »Wie ist das Leben mit einem autistischen Kind?« – »Das Leben mit einem autistischen Kind ist unvorhersehbarer als das mit einem nicht-autistischen Kind, es ist anstrengend, oft interessant und bereichernd. Geschwisterbeziehungen sind erheblich komplizierter als üblicherweise«, lautete damals meine Antwort.

Die Reaktionen auf meine Vorträge zum Thema Geschwisterbeziehungen haben gezeigt, dass viele Familien mit einem Kind mit Autismus inzwischen Aufklärung, diverse Hilfen und gute Unterstützung erfahren, aber sich in Bezug auf den Umgang mit den Geschwisterkindern in ihrer speziellen Situation oft allein gelassen und hilflos fühlen. Beispielhaft hierfür stehen Fragen wie diese: »Wie können wir denn eine richtige Familie sein, wenn wir nichts zusammen unternehmen können?«

Die richtige Familie gibt es nicht. Sich diesem vermeintlichen Ideal nähern zu wollen, bringt einer Familie mit einem Kind mit Autismus nur Frustration, Streit und das Gefühl, etwas scheinbar Einfaches nicht zu schaffen, nicht leisten zu können. Daher ist es wichtig, dass jede Familie für sich herausfindet, was es für sie, und nur für sie, bedeutet, eine Familie zu sein.

Familie bedeutet nicht, alles gemeinsam zu tun. Aber Familie bedeutet, für den anderen da zu sein und zu schauen, dass es allen Mitgliedern dieser Gemeinschaft möglichst gut geht. Familie bedeutet, Kompromisse zu schließen. Familie ist im günstigsten Fall eine Symbiose – in der streng biologischen Bedeutung des Wortes –, also ein Zusammenleben zum gegenseitigen Vorteil.

»Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist unglücklich auf ihre Art«, schrieb Tolstoi (1985, S. 5) in seinem Roman Anna Karenina. Eine Familie mit einem Kind mit Autismus befindet sich immer irgendwo zwischen Schicksalsschlag und Bereicherung, zwischen Verzweiflung und Aha-Erlebnissen, zwischen Krise und Chance. Wo genau auf dieser Skala die Familie verortet ist, das bestimmt sie selbst jeden Tag neu.

Allen, die ähnlich empfinden oder mit ähnlich Empfindenden beruflich in Kontakt stehen, möchte dieses Buch Wege für ein gelingendes familiäres Miteinander aufzeigen, Fragen beantworten und eine Quelle der Inspiration sein.

Vorab gilt es, einige Formulierungsfragen zu klären.

Autistisches Kind oder Kind mit Autismus? Autist oder Mensch mit Autismus? Diese Diskussion zieht sich schon seit Jahren durch Publikationen sowie durch diverse Diskussionsplattformen, und sie ist auch Thema in den Leitlinien verschiedener Organisationen. Wie lautet die korrekte Formulierung, gibt es überhaupt so etwas wie eine korrekte Formulierung? Als Mutter eines Autisten und zweier Kinder ohne Autismus benutze ich beide Formulierungen parallel.

Benjamin, mein autistischer Sohn, sieht sich als Autist und nicht als Mensch mit Autismus, weil er seinen Autismus nicht ablegen kann, wie bspw. ein Mensch mit Brille nach einer erfolgreichen Augenoperation diese für immer absetzen kann. Er ist der Meinung, dass der Autismus sein Leben bestimmt, seinen Charakter geformt hat und auch seine Gefühlswelt dominiert. Ohne Autismus wäre er ein völlig anderer Mensch, was er sich aber trotz sämtlicher durch den Autismus bedingter Schwierigkeiten nicht wünscht. Seine Identifizierung mit allem, was Autismus für ihn konkret bedeutet, drückt er mit der Formulierung »mein Autismus« aus, womit er sich alle positiven und ebenso die negativen Seiten dieser Diagnose bewusst zu eigen und damit auch handhabbar gemacht hat.

Meine beiden nicht-autistischen Kinder sahen ihren Bruder in erster Linie als Spielkamerad, als Geschwisterkind, mit dem man Freude, Leid, aber auch die Zuwendung der Eltern teilen kann und muss, sowie je nach Lage als Verbündeten oder Konkurrenten, jedoch nicht als Autisten. Für sie fühlten sich die Probleme, die Benjamins Autismus für die Familie und damit auch direkt für sie gebracht hat, lange Zeit wie unschöne Ereignisse an, die über die Familie hereinbrechen. Aus ihrer Perspektive war Benjamin ein Kind mit Autismus, vergleichbar mit einem Kind mit Grippe. Benjamins langsame, aber stetige Fortschritte vermittelten ihnen als Kinder das Gefühl, dass die Probleme zu lösen sind. Später, zu einer Zeit, in der nicht nur Schwächen, sondern immer mehr die Stärken ihres Bruders für sie erlebbar wurden und damit in den Vordergrund traten, sie aber auch verstanden hatten, dass der Autismus ihres Bruders nicht einfach verschwindet, blieb Benjamin für sie in erster Linie der Bruder. Der Bruder, mit dem man leidenschaftlich diskutieren kann, dem man seine Erlebnisse und Gefühle anvertrauen kann, der oft bei brennenden Fragen einen sehr rationalen Rat geben kann, der manchmal mit scheinbar banalen Anliegen zu ihnen kommt – aber nicht der Autist.

Da sich dieses Buch mit der Situation der Geschwister von Kindern mit Autismus beschäftigt, entscheide ich mich in diesem Fall, die Perspektive meiner Kinder ohne Autismus zu übernehmen.

Autistische Erscheinungsbilder in einem Spektrum mit fließenden Übergängen anzusiedeln, halte ich für sinnvoll, da in vielen Fällen die Ausprägungsformen nicht eindeutig voneinander getrennt werden können. Im medizinischen und therapeutischen Bereich bietet dieses Modell eine klare Richtlinie für die diagnostische und entwicklungsfördernde Arbeit.

Trotz meiner bejahenden Haltung werde ich in diesem Buch, wenn es um Geschwisterthemen geht, aus zweierlei Gründen nicht die Begriffe Autismus-Spektrum oder Autismus-Spektrum-Störung verwenden. Zum einen ist jedes Kind mit Autismus zwar irgendwo im Spektrum angesiedelt, aber für die Geschwister ist nicht das Spektrum, sondern nur der Autismus der Schwester oder des Bruders in dieser ganz speziellen, individuellen Ausprägungsform von Belang. Zum anderen ist die Formulierung Störung für dieses Buch unpassend, denn im Zusammensein der Geschwister spielen nicht nur Probleme, Nichtkönnen oder mangelnde Fähigkeiten eine Rolle, sondern Besonderheiten, und zwar im positiven Sinne, Spezialinteressen oder herausragende Fähigkeiten bereichern die Geschwisterbeziehungen auf eine ganz eigene Art und Weise, die oft den Horizont erweitert.

Was in diesem Buch absichtlich fehlt, ist Mitleid. Mitleid auszudrücken, setzt einen Zustand des Leidens beim Gegenüber voraus. Ein Kind mit Autismus in der Familie ist eine Herausforderung und Bereicherung gleichermaßen, aber kein Zustand des Leidens, auch wenn es sich vielleicht manchmal so anfühlt. Betreuungsarbeit erfordert nicht Mitleid, sondern Mitgefühl, was Einfühlungsvermögen und Verständnis impliziert.

An dieser Stelle möchte ich mich bei allen Angehörigen von Kindern mit Autismus bedanken, die mir Details ihrer Familiengeschichten anvertrauten und es damit ermöglichten, meine persönlichen Erfahrungen auf eine breitere Basis zu stellen, vieles verallgemeinern zu können. Meinen Kindern, die einen neuen Weg des familiären Zusammenlebens mit uns gegangen sind und die uns ab einem gewissen Alter tagtäglich vorgelebt haben, was Inklusion wirklich bedeutet, ohne zur damaligen Zeit diesen Begriff zu kennen, danke ich von ganzem Herzen. Ebenso meinem Mann, der mich bei all meinen Vorhaben immer unterstützt hat. Den Mitarbeitern des W. Kohlhammer Verlages gilt mein Dank dafür, dass sie dieses Projekt ermöglicht haben. Insbesondere danke ich Ulrike Albrecht, meiner Lektorin, für die bereichernde Zusammenarbeit.

Zu guter Letzt sei erwähnt, dass ich dem Lesefluss zuliebe die verschiedenen Berufsgruppen in der männlichen Form benutze. Pädagoginnen, Therapeutinnen, Psychologinnen und alle Vertreterinnen weiterer Professionen fühlen sich bitte hier ebenfalls angesprochen. Weibliche Familienmitglieder wie Mütter und Schwestern sind in diesem Fall privilegiert, da die deutsche Sprache für sie eigene Bezeichnungen bereithält.

Berlin, im Januar 2017Inez Mauswww.anguckallergie.info

1 Einführung in die Betreuung autistischer Kinder

Was ist Autismus? Diese Fragestellung könnte das ganze Buch füllen.

Um dies zu verhindern, gebe ich an dieser Stelle eine kurze und etwas ungewöhnliche Antwort: »Autismus ist eine Wahrnehmungsstörung. Autisten nehmen Reize genauer oder ganz anders auf als normale Menschen. Aufgrund dieser Störung verhalten sie sich anders. Außerdem haben manche eine erstaunliche Begabung in einem Gebiet, wie z. B. ein erstaunliches Gedächtnis. Diese Autisten sind aber wenige. Einige Autisten werden gar nicht erkannt, weil sie z. B. Probleme im Sozialbereich haben und deshalb für verrückt gehalten werden. Autisten können sich aber durch viel Training wie normale Menschen verhalten. Doch dieses Training ist hart, und viele Leute, z. B. Eltern und andere Verwandte, geben schnell auf, weil sie auf starken Widerstand bei den Autisten stoßen. Für Autisten muss nämlich der Tag einen festen Ablauf haben. Wird dieser Ablauf gestört, reagiert der Großteil der Autisten mit Nervenausbrüchen. Deshalb brauchen die anderen starke Nerven und viel Geduld, bis der Autist einen Fortschritt macht.« So erklärte mein vierzehnjähriger Sohn mittels einer PowerPoint-Präsentation seinen Brüdern, was seine Diagnose bedeutet.

Mit dieser Beschreibung beleuchtet er nahezu alle Facetten des Autismus, ohne komplizierte Fachtermini zu benutzen oder Symptomlisten durchzugehen. Da es inzwischen reichlich Bücher über Autismus gibt – einschließlich des von mir verfassten Buches Kompetenzmanual Autismus (2020) –, soll dies vorerst zu dieser Fragestellung genügen. Im Kontext der Geschwister autistischer Kinder wird sich dem Leser im Verlauf dieser Ausführungen ein vielfältiges Bild des Autismus erschließen.

1.1 Facetten von Betreuung

Betreuer, also Personen, die betreuende Tätigkeiten ausüben, werden im schulischen Bereich in einigen Bundesländern eingesetzt, um Erzieher zu unterstützen. Sie dürfen in dieser Funktion bspw. keine Gruppe von Kindern allein beaufsichtigen. Eine weitere Definition dieses Berufsbildes beschränkt sich auf pflegerische Leistungen für Kinder mit Behinderung, die an Regelschulen inkludiert werden. Schon ein Blick auf die Synonyme zum Wort Betreuung, die von Beratung, Versorgung und Behandlung über Pflege, Begleitung, Beaufsichtigung bis zu Bildung reichen (duden.de, 2015), verdeutlicht, dass Betreuung weit mehr beinhaltet, als Hilfe zur Erziehung zu leisten. Allerdings findet sich auch im Sprachgebrauch eine Aufweichung der begrifflichen Grenzen, denn oben genannte Synonyme für Betreuung schrumpften im Laufe eines Jahres auf Bemutterung, Pflege, Sorge, Versorgung (duden.de, 2016).

Daher scheint es geboten, die Begrifflichkeiten zu definieren, bevor sie in diesem Buch Verwendung finden: Betreuung von Kindern umfasst Fürsorge, Aufsicht, Umgang und Förderung (▸ Abb. 1.1).

Abb. 1.1:Die Komponenten von Betreuung

Fürsorge bedeutet die Befriedigung physischer und psychischer Grundbedürfnisse. Um die Erfüllung physischer Grundbedürfnisse zu sichern, ist u. a. das Bereitstellen von Nahrung, Kleidung, Unterkunft und Beschäftigungsmaterial unerlässlich. Für eine gesunde psychische Entwicklung benötigt ein Kind Geborgenheit, es muss geliebt werden, sollte sich beschützt fühlen und Vertrauen entwickeln können. Die Fürsorge- und Erziehungspflicht der Eltern dient dazu, eine gesunde körperliche und seelische Entwicklung des Kindes zu gewährleisten.

Aufsicht sichert die physische und psychische Unversehrtheit eines Kindes und ist altersabhängig bei jedem Kind in unterschiedlichem Maße notwendig. Bei autistischen Kindern kann eine Weglauftendenz (▸ Kap. 4.1) die Aufsicht erschweren. Es besteht eine größere Gefahr, dass sich diese Kinder verletzen, z. B., weil kein Festhalten in Nahverkehrsmitteln stattfindet, da häufig keine Automatisierung von Handlungen erfolgt. Ein abweichendes Schmerzempfinden (▸ Kap. 5.5) und unklare Äußerungen, sowohl verbal als auch nonverbal (▸ Kap. 5.7), erschweren ebenfalls die Beaufsichtigung autistischer Kinder.

Umgang beschreibt die Art und Weise, wie das Miteinander gestaltet wird. Bei einer Kontaktaufnahme mit autistischen Kindern kann es hilfreich sein, Körper- und/oder Blickkontakt zeitweise zu verringern oder zu vermeiden. Aufgrund der veränderten Wahrnehmung vieler autistischer Kinder (▸ Kap. 5.4) muss die Umgebung angepasst werden, und die Strukturierung von Raum und Zeit (▸ Kap. 5.9) hilft, den Alltag zu bewältigen. Alltägliche Verrichtungen bedürfen häufig einer Anleitung und Erfolgskontrolle, die das alterstypische Maß weit übersteigen kann (▸ Kap. 4.7.2). Auch sprachliche Besonderheiten (▸ Kap. 5.7) beeinflussen den Umgang, so verstehen autistische Menschen häufig jede Äußerung wortwörtlich oder fühlen sich ohne direkte Anrede nicht angesprochen.

Förderung umfasst in Bezug auf Kinder die Erhaltung und Entwicklung von Fähigkeiten und den Erwerb von Fertigkeiten. So ermöglichen bspw. die Fähigkeiten zu hören, Gehörtes zu verarbeiten und Laute zu produzieren das Erlernen von Sprachen. Förderung wird häufig mit Therapie oder Nachhilfe synonym verwendet, ist aber viel umfassender. Jede Beschäftigung mit einem Kind ist Förderung, ebenso wie Bildung, Freizeitaktivitäten und letztendlich auch besondere Maßnahmen, um ein Kind auf seinem Weg voranzubringen. Im häuslichen Bereich ist eine Förderung des autistischen Kindes u. a. folgendermaßen möglich: Motorik und Wahrnehmung können mithilfe von speziellen Übungen trainiert und verbessert werden (▸ Kap. 4.7.2). Bildkarten eignen sich zum Äußern von Bedürfnissen, aber auch zur Anbahnung von Sprache und zum Aufrechterhalten der Kommunikation. Schwierigkeiten im Bewerten von Handlungen können mit visuellen Hilfen wie der Aktivität Scales of Justice (Attwood, 2006; Waage der Gerechtigkeit, ▸ Kap. 5.8) abgebaut werden.

Die Beispiele zu den Komponenten der Betreuung sind nicht zufällig gewählt, sondern prägen die Beziehung zu den Geschwistern maßgeblich, im positiven oder negativen Sinn, je nachdem, wie damit im Alltag umgegangen wird.

1.2 An der Betreuung beteiligte Personengruppen

Um Missverständnissen vorzubeugen, werde ich immer dann, wenn verschiedene Berufsgruppen und Personen im Umkreis der Familie, die in die Betreuung der Kinder involviert sind, angesprochen werden, die Formulierung Betreuende benutzen. Ein Arzt oder Therapeut deckt ebenso wie Lehrer und Erzieher oder auch die Verwandten des Kindes bestimmte Bereiche der Betreuung ab. Welche das konkret sind, wird im Folgenden erläutert.

Eltern erbringen Betreuungsleistungen in sämtlichen Bereichen, was sich zwangsläufig aus ihrer Rolle als Erziehungsberechtigte ergibt (▸ Abb. 1.2). Großeltern, Verwandte, Freunde und Bekannte sind in dem Maße an der Betreuung der Kinder beteiligt, wie ihnen diese Aufgaben von den Eltern übertragen werden.

Auf der anderen Seite betreuen Erzieher, Lehrer, Ärzte, Krankenschwestern, Therapeuten und gelegentlich auch Einzelfall- oder Schulhelfer sowie andere Personengruppen ein Kind.

Abb. 1.2:Die Komponenten von Betreuung – Eltern

Mitarbeiter von Bildungseinrichtungen (▸ Abb. 1.3) haben Aufsichtspflichten, sie müssen mit den Kindern umgehen, und sie leisten einen wesentlichen Anteil an der Förderung des Kindes, aber sie decken nicht den Bereich der Fürsorge ab. Allerdings fließen bei jüngeren Kindern im Kindergarten- oder frühen Grundschulalter Elemente der psychischen Grundbedürfnisse wie Schutz und Vertrauen in die Betreuung ein.

Abb. 1.3:Die Komponenten von Betreuung – Mitarbeiter von Bildungseinrichtungen

Mitarbeiter von medizinischen Einrichtungen (▸ Abb. 1.4) müssen erhöhten Anforderungen im Bereich der Aufsicht gerecht werden, da bei autistischen Kindern eine Weglauftendenz und Veränderungsängste derartige Situationen dominieren. Ein abweichendes Schmerzempfinden und die schwierige Deutung von unklaren verbalen und nonverbalen Äußerungen können eine Untersuchung bzw. Behandlung erheblich erschweren. Hier bestimmt der Umgang mit dem Kind über Erfolg oder Misserfolg der Untersuchung oder Behandlung.

Abb. 1.4:Die Komponenten von Betreuung – Mitarbeiter von medizinischen Einrichtungen

Durch eine definierte Therapiesituation fallen die Aufsichtsfunktionen bei Mitarbeitern von therapeutischen Einrichtungen (▸ Abb. 1.5) weitestgehend weg, ausgenommen Therapien, die im Freien stattfinden. Hier liegt der Schwerpunkt der Betreuung auf den Bereichen Förderung und Umgang. Gerade bei autistischen Kindern hängt der Erfolg der Förderung entscheidend vom Umgang ab.

Eine Personengruppe, die nicht (wesentlich) an der Betreuung des autistischen Kindes beteiligt sein sollte, aber immer unmittelbar damit konfrontiert ist, fehlt in dieser Aufzählung noch: Es sind die Geschwisterkinder (▸ Abb. 1.6).

Geschwister decken genau wie Eltern alle Bereiche der Betreuung ab, das ergibt sich zwangsläufig aus der Existenz der Familie. Sie nehmen Anteil an der Befriedigung von Grundbedürfnissen des besonderen Kindes der Familie, und sie sind passiv oder aktiv in dessen Förderung einbezogen, zumindest dann, wenn sie zu Hause anwesend sind. Sie fühlen sich verpflichtet, aufmerksam zu sein, wenn sie mit dem autistischen Kind zusammen sind, und sie werden zwangsläufig Regeln und Rituale im Alltag, die einem Beruhigen des Familienlebens dienen, befolgen, weil sie selbst davon profitieren, wenn Situationen nicht eskalieren.

Abb. 1.5:Die Komponenten von Betreuung – Mitarbeiter von therapeutischen Einrichtungen

Abb. 1.6:Die Komponenten von Betreuung – Geschwister

1.3 Probleme von Eltern autistischer Kinder und Elterntypen bezogen auf die Einstellung zum autistischen Kind

Bevor ich darauf eingehe, wie verschieden Eltern mit der Tatsache, ein autistisches Kind zu haben, umgehen, skizziere ich kurz die häufigsten Probleme, mit denen Eltern zu kämpfen haben. Wenn ich im Folgenden die Formulierung Eltern benutze, dann meine ich damit neben den leiblichen Eltern eines Kindes ebenso alle anderen Formen von Elternschaft, bspw. in Form von Stiefeltern, Adoptiveltern, Pflegeeltern.

An erster Stelle der Probleme ist hier die Sorge um die Entwicklung des autistischen Kindes zu nennen, die sich schnell zu Zukunftsängsten steigern kann. Hilflosigkeit bis hin zu Verzweiflung dominiert streckenweise das Leben der Eltern. Zeit ist etwas, das ständig fehlt, ebenso ausreichend Schlaf und Erholung. Die Notwendigkeit finanzieller Einschränkungen kann aus der teilweisen oder vollständigen Aufgabe der Berufstätigkeit eines Elternteils resultieren. Ebenso verschlingen Fördermaterialien, Fahrkosten zu Therapien, die Beaufsichtigung von Geschwisterkindern oder selbst finanzierte therapeutische und Fördermaßnahmen finanzielle Mittel der Familie.

Eltern erleben häufig abwertendes Verhalten in der Öffentlichkeit (▸ Kap. 4.2), aber auch bei Fachpersonen und in der eigenen Familie (▸ Kap. 4.3). Dabei werden alle Kinder der Familie von der Umgebung als schlecht erzogen wahrgenommen (▸ Kap. 3.1.2 & ▸ Kap. 4.2.1). Dies tritt verstärkt auf, bevor die Diagnose Autismus gestellt wird.

Der Freundeskreis schrumpft, weil sich die Freunde zurückziehen oder weil keine Zeit bleibt, um bestehende Freundschaften zu pflegen. Neue Freundschaften entstehen häufig aufgrund ähnlicher Familiensituationen. Das autistische Kind schränkt zudem spontane Aktionen der Familie zum Teil erheblich ein.

Neben den Problemen und Sorgen, die aus dem unmittelbaren Alltagsgeschehen hervorgehen, gibt es jene, die sich aus dem Feld der Erziehung und der kindbezogenen Emotionen der Eltern ergeben. Probleme entstehen bspw. durch möglicherweise fehlende soziale Belohnungen wie Lächeln und/oder Kuscheln/Schmusen sowie durch die Notwendigkeit der Erziehung eines autistischen Kindes über Kognition statt Intuition (vgl. Maus & Ihrig, 2024, S. 18, 21 f.).

Herausforderungen für Eltern entstehen ebenso durch Probleme mit Behörden sowie medizinischen und anderen Einrichtungen. Als Beispiele seien hier das Anzweifeln der Diagnose durch verschiedene Stellen, eine ermüdende Auseinandersetzung mit Behörden, die Ablehnung von Therapien durch Kostenträger, keine Aufnahme des autistischen Kindes in einer geeigneten Schule (z. B. Regelschule), die Verweigerung von Nachteilsausgleichen in der Schule, die Ablehnung einer Schulbegleitung und keine Anerkennung eines entsprechenden Pflegegrades genannt (vgl. Maus & Ihrig, 2024, S. 19).

Eine interessante und des Nachdenkens werte Sicht auf die Familie eines autistischen Kindes liefert der Schweizer Psychiater Thomas Girsberger: »Ich möchte [...] auf einen Zusammenhang eingehen, den man ebenfalls als Komorbidität bezeichnen könnte, nur liegt diese hier nicht ›innerhalb‹ des autistischen Kindes, sondern in der Familie. Denn auch sie kann in gewissem Sinne, wenn der Stress zu groß wird, krank werden« (Girsberger, 2015, S. 137).

Auch wenn ein autistisches Kind unbestritten das Leben der Familie bereichert und allen Beteiligten neue Sicht- und Denkweisen aufzeigt, sollte die Belastung, die aus der Befriedigung der speziellen Bedürfnisse dieses Kindes resultiert, nicht außer Acht gelassen werden, denn sie spielt ebenso eine Rolle im Umgang mit den Geschwistern.

Eltern zeichnen sich durch unterschiedliche Einstellungen zum autistischen Kind aus. Es gibt Eltern, die:

1.

sich mit der Diagnose, den Besonderheiten und den Fördermöglichkeiten ihres Kindes auseinandersetzen,

2.

die Diagnose ihres Kindes um jeden Preis geheim halten wollen,

3.

wahrscheinlich ein autistisches Kind haben, aber jegliche Hilfe zur Stellung einer Diagnose ablehnen,

4.

vorgeben, dass ihr Kind autistisch ist oder Autismus hat.

Alle Eltern, die dieses Buch lesen, gehören zweifelsohne zur erstgenannten Gruppe. Diese Eltern gehen gewöhnlich in Bezug auf Autismus sensibel mit den Geschwisterkindern um.

Eltern der zweiten und dritten Gruppe werden mit den Geschwisterkindern nicht über die Probleme sprechen, die der Autismus des einen Kindes mit sich bringt. Bisweilen wird Geschwisterkindern sogar verboten, außerhalb der Familie über die Besonderheiten der Schwester oder des Bruders zu reden.

Hans Asperger schrieb in seiner Habilitationsschrift: »Der autistische Psychopath ist eine Extremvariante der männlichen Intelligenz, des männlichen Charakters« (Asperger, 1944, S. 129). Ohne sich eingehender mit der Thematik zu beschäftigen, verleiten positive Seiten des Autismus vereinzelt Eltern dazu, sich ein solches Kind zu erträumen, zumal das Asperger-Syndrom im Englischen auch als little professor syndrome bezeichnet wird, was auf Uta Friths Übersetzung von Aspergers Schrift (Asperger, Frith, 1991) zurückgeht. Geschwisterkinder sind in einer derartigen Familiensituation mit Eltern, die der vierten Gruppe zuzuordnen sind, automatisch auf der Verliererseite.

Die Einstellung der Eltern zu ihrem autistischen Kind ist besonders für Pädagogen, Therapeuten und andere Fachpersonen von Bedeutung.

2 Einführung in das Thema Geschwister

Das Wort Geschwister war bis vor Kurzem in der deutschen Sprache ein Pluralwort. Inzwischen setzt sich die Verwendung in der Einzahl (das Geschwister), die zuvor der Fachsprache vorbehalten war, auch im allgemeinen Sprachgebrauch immer mehr durch. Das Wort Geschwister leitet sich von dem althochdeutschen Wort giswestar ab, womit die Gesamtheit der Schwestern beschrieben wurde.

Geschwisterbeziehungen sind i. d. R. die längsten Beziehungen, die ein Mensch in seinem Leben unterhält. Geschwister kann man sich ebenso wie die Eltern nicht aussuchen. Ein japanisches Sprichwort sagt: Die Geschwister sind der Fremden Anfang. Dieses Sprichwort vermittelt einerseits die Botschaft, dass Geschwister einander ähnlich sind, aber nie ganz gleich. Andererseits schaffen Geschwister in ihrer Rolle als der Fremden Anfang füreinander die Voraussetzung, um sich schrittweise auf das Leben als Erwachsene vorzubereiten.

In der Kunst im Allgemeinen und in der Literatur im Besonderen werden Geschwisterbeziehungen häufig thematisiert, wobei auch dem Fehlen oder der Abwesenheit von Geschwistern Raum eingeräumt wird. Johann Wolfgang von Goethe bezeichnet Geschwister poetisch als »Mitgeborne«, die sich »spielend fest und fester mit sanften Banden aneinanderknüpften« (Goethe, 1786, Erster Aufzug). Dieses Aneinanderknüpfen mit sanften Banden gelingt allerdings nicht immer spielend. Faktoren, die ein Aneinanderknüpfen der Geschwister im Kindesalter erschweren, sind neben einer schwierigen familiären Situation – wie bspw. die psychische Erkrankung eines Elternteils oder das Vorkommen von Gewalt in der Familie – eine Behinderung oder chronische bzw. lebensverkürzende Erkrankung eines oder mehrerer Kinder.

Ebenso wie die Literatur beschäftigt sich auch die bildende Kunst mit Geschwisterbeziehungen. Ein Hinweis auf eine schwierige Geschwisterbeziehung lässt sich in dem Gemälde Cornelia, die Mutter der Gracchen (1785) der schweizerisch-österreichischen Malerin Angelika Kauffmann finden (▸ Abb. 2.1). Das Gemälde zeigt eine überlieferte Episode aus dem Leben einer römischen Familie ungefähr im Jahr 150 v. Chr. Cornelia präsentiert einer anderen Frau stolz ihre Kinder als ihren wertvollsten Schatz. Das rechte Kind auf dem Gemälde fällt dabei durch eine ungelenke, gebückte Haltung und eine unsicher wirkende Beinstellung auf. Der Blick dieses Kindes ist leicht nach unten in den Raum gerichtet, nicht zu den anderen Personen der Szene. Das Kind daneben führt dieses Kind durch Umfassen des Handgelenkes, anstatt dass sich die Handflächen der Kinder berühren, obwohl das rechte Kind altersmäßig betrachtet diese Hilfestellung nicht bräuchte. Ein fürsorglicher Blick des führenden Kindes erweckt den Anschein, dass diesem Kind solche Handlungen bereits vertraut sind (Maus, 2024a).

Abb. 2.1:Angelika Kauffmann: Cornelia, die Mutter der Gracchen (Bildnachweis: Klassik Stiftung Weimar, Museen, Inv.-Nr.: G 2405)

Geschwisterdynamiken sind immer noch ein von der Forschung vernachlässigtes Thema. Dieses Forschungsdefizit verwundert, wenn man bedenkt, welche Komplexität Geschwisterbeziehungen über die gesamte Lebensspanne aufweisen. Zudem gibt es noch vielfältige kulturell geprägte Unterschiede bezüglich der Erwartungen an die Geschwisterkinder und der Rollen, die ihnen zugeschrieben werden. Die Beziehung, die Geschwister zueinander eingehen, ist »die erste relativ frei regulierbare Beziehung« im Leben der Kinder, weil Geschwister »in der Regel nicht existenziell aufeinander angewiesen sind« (Eberhardt, 2020). Im Gegensatz dazu ist die Beziehung von Kindern zu ihren Eltern von Abhängigkeiten unterschiedlichen Charakters geprägt.

Eine beidseitige Geschwisterbeziehung beginnt eineinhalb bis zwei Jahre nach der Geburt des jüngeren Kindes. An diesem Punkt der Entwicklung ist das jüngere Kind in der Lage, Interaktionen mit dem älteren Kind ohne Anwesenheit eines Elternteils auszuführen. Geschwister sind wechselseitig signifikante Bindungspersonen, die füreinander eine sichere Basis darstellen, wobei häufig die älteren Kinder diese Rolle stärker ausfüllen. Geschwister sind ebenfalls Experten für das seelische Erleben jenseits der Elternperspektive (Brock, 2020). Die Geschwisterbeziehung zeichnet sich immer durch eine Koexistenz von Liebe und Rivalität/Eifersucht aus. Solange sich diese Koexistenz in einem gesunden Rahmen bewegt, führt sie dazu, dass Geschwister Konfliktlösungsstrategien und Frustrationstoleranz entwickeln.

Die Qualität einer Geschwisterbeziehung wird maßgeblich vom Verhalten der Eltern beeinflusst. Wenn Eltern den Geschwistern zugestehen, Konflikte allein zu lösen, aber gleichzeitig Notfällen vorbeugen, und wenn sie dafür sorgen, dass jedes Kind seine individuellen Freiräume unabhängig von den Geschwistern hat, sind schon einige gute Bedingungen für eine funktionierende und liebevolle Geschwisterbeziehung geschaffen.

Geschwister nehmen verschiedene Rollen füreinander ein. Diese Rollen lassen sich unterteilen in solche, die Geschwister für eine gesunde Entwicklung einnehmen sollten, und solche, die sie nicht einnehmen sollen. In der folgenden Tabelle (▸ Tab. 2.1) werden Beispiele für Geschwisterrollen gegeben.

Tab. 2.1:Rollen von Geschwisterkindern

Rollen, die Geschwisterkinder einnehmen sollten

Rollen, die Geschwisterkinder nicht einnehmen sollten

sichere Basis

Erzieher

Spielgefährte

Elternteil

Vertrauter

Aufpasser

Konkurrent

Therapeut

Verbündeter

Co-Therapeut

Rivale

Pfleger

Vorbild

Lehrer

Motivator

Begleitperson

Erklärer

Erklärer

Beschützer

Beschützer

Einige der Rollen, die Geschwister füreinander einnehmen sollten, gestalten sich aufgrund der sozialen Schwierigkeiten des autistischen Kindes anders (▸ Kap. 5.7 & ▸ Kap. 5.8). Rollen, die Geschwisterkinder nicht (bzw. nur äußerst kurzfristig) einnehmen sollten, sind die klassischen Rollen eines Erwachsenen wie bspw. der Co-Therapeut, die Aufsichtsperson, die Pflegeperson. Ein Geschwisterkind, dem Eltern (oder Fachpersonen über Einwirkung auf die Eltern) eine solche Rolle abverlangen, wird instrumentalisiert, indem dem Kind eine Funktion zugeschrieben wird, die mit einem erwarteten Ergebnis verknüpft ist. Dies steht der freien Entfaltung der eigenen Persönlichkeit des Kindes diametral entgegen, bietet kaum Chancen auf eine gute Geschwisterbeziehung und erschwert eine positive Beziehung zu den Eltern (Maus, 2024a).

Geschwisterkinder lernen viel voneinander – und das gilt ebenso, wenn ein Kind mit einer Behinderung unter ihnen ist. Wenn das Geschwisterkind aber dauerhaft oder häufig als Therapeut, Co-Therapeut, Aufsichtsperson oder Begleitperson (bspw. zu Therapien) eingesetzt wird, kann es seine Rolle als Geschwister nicht ausfüllen, weil diese aufgrund dieser Anforderungen durch eine partielle Erwachsenenrolle ersetzt wird.

Die Rollen des Erklärers und Beschützers sind in obiger Tabelle (▸ Tab. 2.1) zweimal aufgelistet. Hier hängt die Zuordnung zur einen oder anderen Gruppe von der Ausgestaltung der Rolle ab. Dies möchte ich an Beispielen verdeutlichen:

Rolle des Erklärers

Ein Kind erklärt dem anderen, wie man eine Puppe bekleidet oder wie man mit Bausteinen baut. Solch ein Erklären stärkt die Geschwisterbeziehung.

Ein Kind erklärt dem autistischen Kind, was man unter Autismus versteht. Dieses Erklären im Sinne von Aufklärung würde beide Kinder überfordern. Eine Aufklärung aller Familienmitglieder über Autismus ist die Aufgabe erwachsener Bezugspersonen.

Rolle des Beschützers:

Ein Kind sorgt dafür, dass dem autistischen Kind im Buddelkasten die Sandformen nicht von einem anderen Kind weggenommen werden. Auch solch eine Handlung trägt zu einer funktionierenden Geschwisterbeziehung bei.

Ein Kind bekommt die Aufgabe, in der Hofpause die Schwester oder den Bruder zu beschützen, weil das autistische Kind bspw. drangsaliert oder gemobbt wird. Das beauftragte Kind benötigt die Hofpause wie jeder andere Schüler zur Entspannung und Erholung. Die Betreuung des autistischen Kindes einschließlich der Lösung des Problems während der Hofpause ist Aufgabe erwachsener Personen.

Geschwisterbeziehungen sind in der Kindheit meist eng und intensiv. Im jungen Erwachsenenalter werden diese Beziehungen lockerer, besonders dann, wenn die erwachsenen Kinder eigene Familien gründen. Eine erneute Intensivierung erfährt eine Geschwisterbeziehung oft, wenn die Eltern der Geschwister aufgrund ihres Alters auf zunehmende Hilfe angewiesen sind.

Wenn ich im Folgenden die Formulierung Geschwister benutze, dann meine ich damit neben den biologischen Geschwistern wie Voll- und Halbgeschwister auch alle anderen Formen des familiären Zusammenlebens von minderjährigen Kindern wie bspw. Stief- und Pflegegeschwister.

3 Außen- und Innensicht auf Geschwister von Kindern mit besonderen Bedürfnissen

Es muss schwer sein, Nachschub großzuziehen.Benjamin (15 Jahre)

Oft wird die Frage gestellt: »Autismus und Beziehung, ist das nicht ein Widerspruch?« Die Frage ist falsch formuliert, denn alle autistischen Menschen haben Beziehungen. Sie haben auf jeden Fall die Beziehungen, die nicht frei wählbar sind. Dies sind u. a. Beziehungen zu den Eltern, Großeltern und Geschwistern. Personen, die solch eine Frage stellen, beziehen sich dabei auf frei wählbare Beziehungen. Aufgrund der Schwierigkeiten im kommunikativen und sozialen Bereich haben autistische Menschen einige Hürden zu überwinden, wenn sie frei wählbare Beziehungen eingehen wollen.

Geschwister haben keine Wahl, ob sie eine Beziehung zum Kind mit Behinderung im Allgemeinen und zum autistischen Kind im Besonderen eingehen wollen oder nicht, denn sie können sich der Familie (zumindest im jüngeren Alter) nicht entziehen und müssen demzufolge eine Beziehung zum Kind mit besonderen Bedürfnissen aufbauen. Auch die Qualität einer solchen Beziehung wird entscheidend von den Eltern bestimmt, sodass sich für Fachpersonal hieraus die wichtige Aufgabe ergibt, Eltern in einer positiven Elternschaft zu bestärken und sie über die speziellen Geschwisterdynamiken aufzuklären.

An dieser Stelle sei angemerkt, dass die Bezeichnung Geschwisterkinder für die Schwestern und Brüder eines Kindes mit Behinderung oder chronischer bzw. lebensverkürzender Krankheit im Kindheitsalter verwendet wird. Nicht gemeint sind die Kinder der Geschwister der Eltern, also die Nichten und Neffen. Die Benutzung des Begriffes Geschwisterkinder (im Englischen: sibkids, zusammengesetzt aus sibling und kids) im erstgenannten Sinne hat sich sowohl in der Fachliteratur als auch im Sprachgebrauch vieler Institutionen und Vereinigungen durchgesetzt (Grünzinger, 2005). Dieser Logik folgend gibt es ebenso die Formulierung erwachsene Geschwisterkinder, denn das Aufwachsen in solch einer speziellen Familiensituation kann sich bis in das Erwachsenenleben auswirken.

3.1 Außensicht auf Geschwister von Kindern mit Behinderung

Ungefähr zwei Millionen Kinder wachsen in Deutschland mit Geschwistern auf, die behindert oder chronisch krank sind (rbb-online, 2016). Im Jahr 2019 gab es laut Angaben des Statistischen Bundesamtes (Mikrozensus) knapp 13,5 Millionen minderjährige Kinder in Deutschland, wobei fast drei Viertel der Kinder mit einem Geschwister oder mit mehreren Geschwistern in einem Haushalt lebten (Bundeszentrale für politische Bildung, 2021). Führt man beide Zahlen in einer Abschätzung unter Annahme vereinfachender Randbedingungen zusammen, so ergibt sich, dass ungefähr jedes fünfte Kind in Deutschland mit der Problematik konfrontiert ist, mit einem mehr oder weniger betreuungsintensiven Geschwisterkind aufzuwachsen. Das Kapitel 3.1 beschäftigt sich mit der Außensicht auf Geschwister eines Kindes mit Behinderung und beschreibt Auffälligkeiten, die bei diesen Kindern auftreten können.

Seit Mitte der 1980er-Jahre sind Geschwister von Menschen mit Behinderungen oder chronischen bzw. lebensverkürzenden Erkrankungen zum Thema wissenschaftlicher Untersuchungen geworden. Die Ergebnisse der Studien, die sich überwiegend auf das Kindes- und Jugendalter beziehen, zeichnen sich allerdings aufgrund einer großen methodischen Vielfalt und selektiver Stichproben durch eine geringe Vergleichbarkeit aus. Lange Zeit orientierte sich die Forschung zu Geschwisterkindern an den Defiziten. Der Fokus lag auf der jeweiligen Störung und die dadurch verursachten Probleme und Belastungen der Geschwisterkinder standen im Mittelpunkt der Erhebungen. Nach der Jahrtausendwende setzte ein Umdenken ein, welches die defizitär orientierte Betrachtungsweise durch eine ablöste, welche »auf Bewältigungsformen und positive Auswirkungen der speziellen Erfahrungen« fokussiert (Hackenberg, 2008, S. 79).

3.1.1 Situation von Geschwisterkindern aus der Sicht von Pädagogen und Psychologen

Eine Integrationserzieherin berichtete mir vom Bruder eines Kindes mit Behinderung: »Der Junge wird überhaupt nicht wahrgenommen, er scheint in der Familie nicht zu existieren.« Diese Aussage und obige Schätzung brachten mich auf die Idee, eine Umfrage unter Personen, die beruflich mit Kindern arbeiten, durchzuführen, um Erkenntnisse zur Situation von Geschwistern eines Kindes mit Behinderung aus der außerfamiliären Sicht zu gewinnen.

Mithilfe eines Fragebogens sollte herausgefunden werden, ob minderjährige Geschwister eines Kindes mit Behinderung im außerhäuslichen Bereich durch bestimmte Verhaltensweisen auffallen und, wenn dies der Fall ist, welche Verhaltensweisen das sind und unter welchen Bedingungen sie beobachtet werden. Als behindert wurden für diese Fragestellung Kinder mit einer dauerhaften medizinischen Diagnose festgelegt, nicht jedoch Kinder mit Problemen, die einer speziellen, zeitlich begrenzten Förderung bedürfen.

Ausgegeben wurde der Fragebogen in Berlin und im Land Brandenburg an Schulen verschiedener Typen sowie an gemeinnützige Vereine, die Unterstützungsleistungen für Familien anbieten. Der Rücklauf ergab 59 ausgefüllte Fragebögen. Die Rücklaufquote lässt sich nicht ermitteln, da die Fragebögen per E-Mail und durch Kopieren weiterverbreitet wurden, sodass die tatsächlich in Umlauf gebrachte Anzahl nicht bekannt ist. Die Befragung erfolgte im Zeitraum von Dezember 2014 bis Februar 2015. Der Fragebogen diente der Ermittlung von Trends. Zur übersichtlichen Darstellung in Tabellenform wurden die Ergebnisse der Auszählung gerundet (5-%-Stufen).

Der berufliche Umgang mit Kindern war Grundvoraussetzung für die Teilnahme an der Befragung. Das Alter der zu betreuenden Kinder spielte keine Rolle. Nach der speziellen beruflichen Ausrichtung wurde nicht gefragt. Aus den Zusatzinformationen, die freiwillig gegeben wurden, ergibt sich eine berufliche Bandbreite, die von Lehrern, Erziehern und Psychologen bis zu Integrationserziehern sowie Sonder- und Sozialpädagogen reicht.

Mehr als 60 % der Teilnehmer gaben an, keine Erfahrung mit minderjährigen Geschwistern eines Kindes mit Behinderung zu haben. Wenn mehr als die Hälfte der beruflich mit Kindern arbeitenden Personen aussagt, keine Erfahrung mit Geschwistern eines Kindes mit Behinderung zu haben, aber in jeder Schulklasse laut obiger Schätzung mindestens eins dieser Kinder sein müsste bzw. ist, dann legt dies die Vermutung nahe, dass das Bewusstsein dafür, dass ein Kind mit Behinderung in der Familie ein ebenso entwicklungsgefährdender Fakt sein kann wie ein Migrationshintergrund oder die Herkunft aus einem sozial schwachen Umfeld, wenig ausgeprägt ist.

Zu Beginn der Befragung wurde ermittelt, ob die Teilnehmer über Erfahrungen im Umgang mit Geschwistern eines Kindes mit Behinderung verfügen. Die mit Nein antwortenden Pädagogen einer Berliner Inklusionsschule tauschten sich nach der Befragung mit ihren Kollegen, die entsprechende Erfahrungen besitzen, aus und stellten dabei fest, dass sie doch Geschwister eines Kindes mit Behinderung betreuen und unterrichten. In Kenntnis der familiären Situation bewerteten sie daraufhin die Verhaltensauffälligkeiten dieser Kinder bedeutend toleranter.

Hier drängt sich der Gedanke auf, Eltern zu empfehlen, die Besonderheiten ihres Familienlebens in der Schule und im außerhäuslichen Umfeld uneingeschränkt offenzulegen, eventuell sogar, bevor Probleme mit dem Geschwisterkind auftreten. Jedoch ist ein derartiges Offenlegen nur eine der Optionen, die Eltern haben. Es ist eine Möglichkeit, die nicht immer Vorteile bringt (▸ Kap. 4.2.2). Jede Familie kann nur für sich und abhängig von der entsprechenden Situation entscheiden, was und wie viel sie von den behinderungsbedingten familiären Problemen wo preisgibt.

Der Median der Berufserfahrung der befragten Personen lag bei 12 Jahren, wobei als Minimum 1 Jahr und als Maximum 30 Jahre Berufserfahrung angegeben wurden. Der überwiegende Teil der Teilnehmer (85 %) betreut nur wenige Geschwister eines Kindes mit Behinderung pro Schuljahr.

Jedoch beobachteten fast alle Teilnehmer Auffälligkeiten bei den Geschwisterkindern (▸ Kap. 3.1.3), deren Ursache sie in der schwierigen Familiensituation sehen. Diese Auffälligkeiten treten laut Befragung sowohl im Freizeit- als auch im Unterrichtsbereich auf, wobei Auffälligkeiten im Unterrichtsbereich etwas seltener beschrieben wurden. Die Angabe, dass Schwierigkeiten »eher zu Hause« auftreten, wurde vom Fragebogen nicht vorgegeben, sondern vom Bearbeitenden hinzugefügt.

Einige Befragte konkretisierten die im Fragebogen formulierte schwierige Familiensituation als Ursache für das Auftreten von Auffälligkeiten. Sie gaben an, dass die Schwierigkeiten des Geschwisterkindes dadurch hervorgerufen werden, dass die Eltern auf das Kind mit Behinderung sehr fokussiert sind, sich den Geschwisterkindern weniger zuwenden oder den Geschwistern die Verantwortung für das Kind mit Behinderung übertragen.

Das Alter des Geschwisterkindes in Bezug auf das Kind mit Behinderung scheint keinen Einfluss auf das Auftreten von Auffälligkeiten zu haben. Intensität, Dauer und Art der Auffälligkeiten wurden hierbei nicht in die Betrachtung einbezogen.

Die folgende Tabelle (▸ Tab. 3.1) fasst die Ergebnisse der Befragung zusammen. In der Tabelle sind die Originalfragen wiedergegeben.

Tab. 3.1:Auswertung des Fragebogens zur Situation von Geschwistern eines Kindes mit Behinderung

Frage

Quantifizierung

Ergebnisse

Verfügen Sie über persönliche Erfahrungen im beruflichen Umgang mit Geschwistern behinderter Kinder?

40 % ja60 % nein

Seit wie vielen Berufsjahren arbeiten Sie mit Geschwistern behinderter Kinder?

Median: 12 JahreMinimum: 1 JahrMaximum: 30 Jahre

Wie oft haben Sie mit Geschwisterkindern behinderter Kinder zu tun?

1 bis 5 Kinder pro Schuljahr

85 %

6 bis 20 Kinder pro Schuljahr

10 %

mehr als 20 Kinder pro Schuljahr

5 %

Gibt es Auffälligkeiten, die Sie bei diesen Kindern beobachten und deren Ursache Sie in der schwierigen Familiensituation sehen würden?

95 % ja5 % nein

Treten Ihrer Erfahrung nach Auffälligkeiten häufiger im Freizeit- oder im Unterrichtsbereich auf?

häufiger im Freizeitbereich

40 %

häufiger im Unterrichtsbereich

10 %

in beiden Bereichen etwa gleich häufig

45 %

(eher zu Hause)

5 %

Wann beobachten Sie häufiger Auffälligkeiten?

wenn das Geschwisterkind jünger ist

25 %

wenn das Geschwisterkind älter ist

20 %

das Alter des Geschwisterkindes in Relation zu dem des behinderten Kindes scheint nicht von Bedeutung zu sein

55 %

3.1.2 Situation von Geschwisterkindern aus der Sicht anderer Personengruppen

»Und zur Krönung des Ganzen fragte sie mich noch, ob sich denn meine beiden anderen Kinder überhaupt altersgerecht entwickeln würden« (Maus, 2013, S. 103). Diese Frage stammte von einer Person, die meinen damals als verhaltensauffällig geltenden Sohn beurteilen sollte und die ihre Unterschrift über folgende Zeilen gesetzt hatte: Ärztin für HNO-Heilkunde, Ärztin für Phoniatrie-Pädaudiologie, Leiterin der Beratungsstelle für Hör- und Sprachbehinderte.

In der Diskussion nach Vorträgen berichten Eltern immer wieder über ähnliche Erfahrungen. Diese Erfahrungen stammen meist aus der Zeit, bevor die Diagnose Autismus