Anguckallergie und Assoziationskettenrasseln - Inez Maus - E-Book

Anguckallergie und Assoziationskettenrasseln E-Book

Inez Maus

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Beschreibung

»Anguckallergie und Assoziationskettenrasseln« schließt zeitlich und inhaltlich unmittelbar an die Schilderungen in »Mami, ich habe eine Anguckallergie« an. Analysierend und dabei stets lesbar und nacherlebbar berichtet die Autorin, wie sie ihren Sohn Benjamin durch die Schulzeit bis zur Mittleren Reife begleitet. Benjamin betritt das schwierige Land: Autismus-Diagnose, Schulwechsel und Pubertät sind die großen Themen dieses sehr persönlichen Reiseberichts. Auch die kleinen Probleme und Freuden des Alltags haben bei einem Heranwachsenden mit Autismus immer noch ein »Extra« im Gepäck, wie »Benjamins Zitatenschatz« veranschaulicht. Die Tagebücher, die ohne jegliche Intention, sie einmal zu publizieren, entstanden, ermöglichen es der Autorin, diese Zeit sehr detailreich, chronologisch exakt und inhaltlich genau zu beschreiben. Es werden Erfahrungen mit Institutionen und Fachleuten geschildert, Therapieerfolge und vergebliches Mühen sowie eigene Sichten und Lösungsansätze dem Leser anvertraut. Dieses Buch bringt für jeden, der beruflich oder privat im Umfeld von jungen Menschen mit Autismus engagiert ist, ein Reiseandenken mit. Mit einem Vorwort von Herrn Pieter Smessaert, Dipl.-Psych., PPT; Berlin.

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Inez Maus

ANGUCKALLERGIE UND ASSOZIATIONSKETTENRASSELN

Mit Autismus durch die Schulzeit

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2014

Aus Rücksicht auf die beteiligten Personen wurden die Namen im Buch geändert.

Gebrauchs- und Handelsnamen sowie Warenbezeichnungen wurden nicht besonders kenntlich gemacht. Aus der Bezeichnung einer Ware mit dem für diese Ware eingetragenen Warenzeichen kann also nicht geschlossen werden, dass diese im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten ist.

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.dnb.de abrufbar.

Copyright (2014) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte bei der Autorin

Coverbild „Heimat“ (Zeichnung von Benjamin, 9 Jahre)

Abdruck des Gedichtes auf Seite 39 mit freundlicher Genehmigung von

Prof. Dr. Dr. h. c. Otfried Siegmann

Umschlaggestaltung: Tino Hemmann

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Vorwort

Ein Kind entdeckt die Welt.

Das geht nicht ohne Liebe, Zuwendung, Verständnis und Unterstützung. Für die meisten Menschen ist das Erleben einer weitgehend spontan, unmittelbar und intuitiv sich im alltäglichen Zu- und Miteinander immer wieder neu herstellenden Nachvollziehbarkeit, Entsprechung, Übereinstimmung zentraler Dreh- und Angelpunkt ihres Lebens, die sich zwischen dem eigenen Selbst- und Welterleben und den Sicht- und Erlebensweisen der anderen sowie zwischen dem eigenen Handeln und dem Handeln der anderen Menschen ergibt. Eine besondere Bedeutung haben dabei immer die ersten, die frühen Beziehungserfahrungen. Hier entstehen und entfalten sich Selbstsicherheit, Handlungs- und Kommunikationsfähigkeit.

Benjamin ist anders.

Ausgehend von ihren Erinnerungen und Tagebuchnotizen eröffnet uns die Autorin einen Zugang zur Entwicklung ihres Sohnes Benjamin von der Einschulung bis zum Erwerb des mittleren Schulabschlusses und seinem Übergang in die gymnasiale Oberstufe. In sehr konkreter Weise schildert sie, welche Schwierigkeiten Benjamin hat, sich in unserer Welt zu bewegen, das Handeln, die Absichten, die Wünsche der Menschen, mit denen er alltäglich zu tun hat, zu verstehen. Genauso konkret wird geschildert, wie die Menschen, die alltäglich mit Benjamin zu tun haben, Schwierigkeiten haben, sein Verhalten, sein Denken, sein Fühlen zu verstehen. Benjamins sehr spezifische, „andere“ Wahrnehmung und Wahrnehmungsverarbeitung sowie die daraus resultierenden Verhaltens-, Lern- und Kommunikationsweisen waren für ihn selbst und für alle, die mit ihm zu tun hatten, eine große Herausforderung.

High-Functioning-Autismus.

Die Diagnose trifft Benjamins Mutter „wie ein Schlag mit dem Holzhammer.“ „Ich hatte mir doch tatsächlich eingeredet, dass diese […] von einer Fachärztin für Kinderheilkunde vermuteten autistischen Züge von allein wieder verschwinden würden.“ „Ich hatte mich einer trügerischen Sicherheit hingegeben und Benjamin als so eine Art Grenzgänger gesehen, der jederzeit das eine oder andere Land betreten konnte. […] Nun hatte Benjamin also das schwierige Land betreten und mir verschlug es wieder einmal die Sprache. Ich hatte so viele Fragen und konnte keine einzige herausbringen, ich hatte unendlich viele Tränen und musste sie alle unterdrücken. […] Ich fühlte mich plötzlich wie in einer Sackgasse, obwohl sich eigentlich genau genommen nichts geändert hatte. Den Problemen wurde doch lediglich ein Name gegeben.“

Schlüsselbedeutung für Benjamins konstruktive Entwicklung, für seinen gelungenen Weg ins Leben hat dabei das konsequente, beharrliche und nicht nachlassende Bemühen seiner Mutter, ihren Sohn immer wieder neu zu verstehen und zu unterstützen. Dies und ihre Fähigkeit, die eigene Rat- und Orientierungslosigkeit sowie die damit verbundenen Gefühle von Ohnmacht und Hilflosigkeit auszuhalten, war und ist letztlich nichts anderes als Ausdruck ihrer Liebe zu ihrem Kind. Psychologen nennen das eine stabile und gute Bindungserfahrung ermöglichen.

Das, was sich in den Jahren vor der Einschulung von Benjamin bereits andeutete, zeigte sich auch während seiner gesamten Schulbesuchszeit, nämlich: Fachleute sind, weil sie Fachleute sind, nicht notwendig kompetent im Umgang mit Kindern, die „anders“ sind. Bemerkenswert ist, dass dort, wo Lehrerinnen und Lehrer bereit und fähig waren, sich neugierig, offen und lernbereit auf Benjamin einzulassen, sie auch einen Zugang zu den Stärken seiner Persönlichkeit erhielten. Hierdurch ermöglichten sie Benjamin Normalität in seinem schulischen Alltag. Ähnliches gilt auch für die Therapeuten, Psychologen und Ärzte, die mit ihm zu tun hatten.

Menschen mit einer autistisch strukturierten Persönlichkeit entwickeln notwendig andere Erlebensweisen und andere Lebensformen als Menschen mit neurotypisch strukturierter Persönlichkeit. Alle Menschen sind anders. Den Mitmenschen in seinem Anderssein zu akzeptieren und mit ihm „im schwierigen Land“ zusammen zu leben, ermöglicht Normalität für alle.

„Anguckallergie und Assoziationskettenrasseln“ ist ein gutes und lesenswertes Buch. Es kann helfen, Normalität zu ermöglichen.

Dipl.-Psych. Pieter Smessaert

Psychologischer Psychotherapeut

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Prolog

Der Superwunsch

Der, die, das – was?

Ein auf der Spitze stehendes Dreieck

Marburg

Die Zeit der Weltfragen

Silly und Kira

Der Höhlenolm

Ein Fledermausdetektor

Stromausfall

Drosophila

Ein Schneeball

Mäuse

Epilog

Dank

Glossar

Literatur

Quellen

Benjamins Zitatenschatz

Weitere Informationen

Prolog

Jeder Tag bringt Freude und Leid. Auch aus Steinen, die einem in den Weg gelegt werden, kann man Schönes bauen.

Johann Wolfgang von Goethe

An einem kalten, trüben Wintertag bin ich gerade dabei, das angenehm warme Konferenzzimmer eines komfortablen Hotels zu verlassen, als ich von zwei Frauen abgefangen und um ein Gespräch gebeten werde. Schnell stellt sich heraus, dass beide in einer Wohneinrichtung für schwerbehinderte Menschen arbeiten. Sie bitten mich um Ratschläge zum Umgang mit einem jungen Mann mit Autismus, der nicht spricht und in seinem Verhalten als schwierig beschrieben wird. Völlig erstaunt frage ich meine Gesprächspartnerinnen, warum sie auf die Idee kämen, ich könnte ihnen weiterhelfen. Sie antworten mir, dass sie aus dem, was ich während der Fortbildung über die ersten sechs Lebensjahre meines Sohnes erzählt habe, schließen, dass sein heutiger Entwicklungsstand dem ihres Klienten entsprechen müsse.

Nun erfahre ich Folgendes: Der junge Mann, der diesen beiden Frauen offensichtlich am Herzen liegt, aber auch viele Probleme bereitet, kam im Alter von knapp sechs Jahren, nicht sprechend und mit autistischen Symptomen, in die Wohneinrichtung. Vieles von dem, was ich zuvor berichtet hatte, war den Betreuerinnen auch von der Mutter ihres Klienten bei dessen Aufnahme in die Einrichtung mitgeteilt worden. Zu diesem Zeitpunkt sei die Mutter aber physisch und psychisch nicht mehr in der Lage gewesen, ihren Sohn weiterhin zu Hause zu betreuen.

Plötzlich habe ich das Gefühl, in einem Paralleluniversum zu stehen. Wäre der Weg dieses jungen Mannes auch Benjamins Weg gewesen, wenn wir eine andere Richtung gewählt und ihn mit drei oder auch mit sechs Jahren in eine der uns empfohlenen Ganztagsbetreuungen gegeben hätten? Niemand wird diese Frage jemals beantworten können, aber mich überläuft an dieser Stelle ein eisiger Schauer und ich verspüre gleichzeitig einen der seltenen Momente, wo ich restlos davon überzeugt bin, dass wir das Richtige für unseren Sohn getan haben – trotz der vielen, jahrelang andauernden Zweifel.

Was war aber nun dieses Richtige? Im ersten Teil meines Buches, das den Titel „Mami, ich habe eine Anguckallergie“ trägt, ist die Entwicklung unseres Sohnes von seiner Geburt bis zu seiner Einschulung nachzulesen. Diese Jahre erwiesen sich als permanenter Kampf im Strudel alltäglicher „Kleinigkeiten“. Jeder Tag begann mit folgenden Fragen: Tue ich das Richtige? Tue ich genug? Was kann ich anders machen? Warum habe ich wieder keinen Erfolg gehabt?

Benjamins beinahe vollständige Sprachlosigkeit führte uns manchmal an den Rand der Verzweiflung, bewirkte aber auch, dass jedes verständliche Wort, welches er produzierte, bei uns wie ein Samenkorn auf warme, feuchte Erde traf. Mit sieben Jahren ist seine gesamte Entwicklung trotz aller Hindernisse und noch bestehender Probleme so weit vorangeschritten, dass wir das Wort HOFFNUNG endlich wieder großschreiben.

Der Superwunsch

Der Mensch, der den Berg versetzte, war derselbe, der anfing, kleine Steine wegzutragen.

Chinesisches Sprichwort

Schon Wochen vor Benjamins siebentem Geburtstag hatten wir damit begonnen, Kataloge, Prospekte und Werbung aus Kinderzeitungen zu sammeln, um unserem Sohn eine Möglichkeit zu geben, seine Geburtstagswünsche zu äußern. Er sollte Bilder von dem, was er sich wünschte, einfach ausschneiden und auf ein Blatt Papier kleben. So konnten wir sicher sein, dass wir seine Wünsche richtig verstehen würden. Mühsam versuchten wir ihm zu erklären, dass Wünsche keine Bestellungen sind und dass sich die schenkende Person von den Wünschen des Geburtstagskindes etwas aussuchen konnte. Benjamin betrachtete ausgiebig das angebotene Material, schnitt aus und klebte auf – mit großer Konzentration und lebhaftem Eifer. Hatte er unsere Ausführungen verstanden? Wir bezweifelten dies, denn seine Wunschliste hätte für drei Kinder ausgereicht. Er betrachtete zufrieden sein Werk, aber plötzlich befiel ihn eine große Unruhe, er gestikulierte mit den Armen und schleuderte uns eine unverständliche, lange Rede entgegen. Wir konnten sie nicht entschlüsseln. Im Laufe der folgenden Woche wiederholte sich die Szene tagtäglich, immer dann, wenn Benjamin aus der Schule kam und seinen im Flur aufgehängten Wunschzettel zu Gesicht bekam. Langsam glaubte ich zu verstehen, was Benjamin so sehr aufwühlte. Die quälende Ungewissheit darüber, welcher Wunsch von seiner sorgsam zusammengestellten Wunschliste erfüllt werden würde, schien ihm die Vorfreude auf seinen Geburtstag gänzlich zu rauben. Mir kam der rettende Einfall, ihm einen „Superwunsch“ vorzuschlagen. Ich sagte ihm, dass er einen Wunsch zum Superwunsch erklären durfte, den wir ihm auf jeden Fall erfüllen werden. Erleichtert setzte er sofort ein überdimensionales Kreuz auf seine Wunschliste neben das große LEGO-Raumschiff und ab diesem Moment vermochte er seinem Geburtstag gelassener entgegenzusehen. An jenem Tag konnte ich nicht ahnen, dass die Tradition des Superwunsches bis zu seinem achtzehnten Geburtstag bestehen bleiben würde. Und irgendwie kam es mir ein bisschen wie eine verkehrte Welt vor. Meine beiden anderen Jungen fanden es immer aufregend, nicht zu wissen, was für Geschenke sie erhalten würden, und Benjamin brauchte Klarheit und Sicherheit, um die gleiche Geburtstagsfreude empfinden zu können.

Benjamins Klassenlehrerin Frau Ferros praktizierte ein äußerst merkwürdiges Bewertungssystem, da im ersten Schuljahr noch keine Noten vergeben wurden. Einen Monat nach Schulbeginn fanden wir am Ende der Woche eine kleine Sonne im blauen Mitteilungsheft unseres Sohnes und waren darüber äußerst erfreut. Als wir Benjamin jedoch loben wollten, schrie er: „Nein!“ Dann schnappte er ein paar Mal nach Luft und erklärte schließlich: „Kleine Sonne – böse Kinder! Große Sonne – liebe Kinder!“ Was er allerdings „Böses“ gemacht haben sollte, das konnte er uns nicht sagen. Vier Tage später hatte ich mein erstes von unzähligen Elterngesprächen mit Frau Ferros. So brachte ich in Erfahrung, dass eine kleine Sonne für hervorragende schulische Leistungen und schlechtes Benehmen stand, wogegen es eine große Sonne nur gab, wenn auch das Betragen tadellos gewesen war. Was nützte dieses System, wenn Benjamin überhaupt nicht wusste, was er falsch gemacht hatte?! Frau Ferros erklärte mir verärgert, dass unser Sohn im Fahrstuhl andere Kinder trete, auf dem Schulhof schubse, sich mit einem Mitschüler raufe, gelegentlich kratze und dann im Gespräch alles abstreiten würde. Sie trug mir auf, mit Benjamin darüber zu reden. Unser Gespräch war mitten in der Hofpause beendet, da ich zu ihren Schilderungen nicht wirklich etwas sagen konnte. Dieses Kind, welches sie mir gerade beschrieben hatte, war mir vollkommen unbekannt. Beim Verlassen des Schulhauses sah ich, dass Benjamin allein und ganz traurig, „wie ein Häufchen Unglück“ trug ich damals in mein Tagebuch ein, auf der Kante der Blumenrabatte saß. Seltsamerweise war ich nach dem soeben Gehörten nicht verärgert über meinen Sohn, sondern er tat mir unendlich leid, als ich ihn dort so sitzen sah, und ich verließ die Schule bedrückt und deprimiert. Auf dem Heimweg grübelte ich, warum sich Benjamin im Unterricht tadellos verhielt, in den Pausen aber vollkommen ungezogen wirkte. Dafür gab es nur eine Erklärung: Die Pausen waren unstrukturiert, unvorhersehbar, unsicher und einer solchen Gefahr konnte er nur mit Widerstand begegnen. In der Vorschule hatte es derartige Verhaltensprobleme schon deshalb nicht gegeben, weil die Vorschüler die Hofpausen im Klassenraum verbrachten und erst zu einem späteren Zeitpunkt den Hof aufsuchten.

„‚Sofort hörst du mit dem Gerede auf! Ich weiß keine Antwort! Vielleicht bist du ein wenig anders als die anderen, vielleicht ist es das. Für dieses andere gibt es aber keine extra Schulen. Deshalb gehörst du zu uns. Du bist mein bester Schüler, du weißt Dinge, die andere nach sechs Schuljahren nicht kennen. Ja, vielleicht bist du anders.‘ […] ‚Aber das ist mir egal‘, […] ‚ganz egal ist mir das! […]‘“1 Diese Zeilen las ich einige Jahre später gerade zu der Zeit, als ich mit dem Sichten meines Materials zum Buch beschäftigt war, und dabei musste ich schwermütig feststellen: So einen Lehrer hätte Benjamin benötigt! So einen Lehrer, der seine Stärken erkennt sowie fördert, seine Schwächen akzeptiert und seine Hände schützend über ihm ausbreitet. So einen Lehrer, wie den Lehrer Mengen in der fiktiven Geschichte über die Kindheit des kleinen Hugo Hassel zur Zeit des Nationalsozialismus.

Wir beschlossen, die Situation ein paar Wochen zu beobachten, bevor wir handeln würden. Die Größe der verdienten Sonnen war so unbeständig wie das Herbstwetter und Benjamin litt jedes Mal furchtbar, wenn er nur eine kleine Sonne für seine Bemühungen einer ganzen Woche erhalten hatte. Da unser Sohn bei den handgezeichneten Sonnenbildern oft nicht sicher feststellen konnte, ob sie denn nun groß oder klein waren, und er deshalb unzählige Male bei seiner Lehrerin nachfragte, änderte Frau Ferros ihr System. Nun gab es für schulische Bestleistungen immer eine große Sonne, welche bei Bedarf von einer fetten schwarzen Wolke verdunkelt wurde. Diese Methode war für Benjamin wenigstens eindeutig und er erntete ab diesem Zeitpunkt für das gesamte Schuljahr große Sonnen. Immer wieder verdunkelten fast halbseitige, düstere Wolken seine wohlverdiente Sonne, beispielsweise weil: „Er ist mit seinen Straßenschuhen auf dem Teppich, auf dem die anderen Kinder spielen.“ Manchmal breiteten sich die Strahlen aber auch ganz ungehindert aus. Unser Vorschlag, Benjamin die Hofpause zu ersparen, wurde aus Personalmangel abgelehnt, außerdem brauche unser Sohn „frische Luft zwischen den Unterrichtseinheiten“.

Eine geschwollene, rote Nase, gepaart mit daneben befindlichen Flecken, prangte in Benjamins Gesicht, als er kurz vor den sehnsüchtig erwarteten Herbstferien von der Schule nach Hause gebracht wurde. Bis zum Abend verfärbte sich die schmerzhaft aussehende Prellung ins Bläuliche. Kevin, ein Schüler aus seiner Klasse, hatte ihm „sei Schuh auf Nase haun“, das erfuhr ich auf meine erschreckte, eindringliche Nachfrage. Ich konnte bei meinem Sohn keinen Ausdruck von Schmerz, Wut, Hass, Rachedurst oder etwas Ähnlichem ausmachen. Auch den Grund für diese Attacke erfuhr ich nicht, denn Benjamin wollte oder konnte nicht darüber reden und sein Mitteilungsheft schwieg genauso. Ob auch Kevin Spuren der Auseinandersetzung davongetragen hatte, blieb ebenfalls im Dunkeln. In den nächsten Monaten wies Benjamin immer wieder einmal tiefe Kratzer oder Blutergüsse auf. Die Ursache dafür lag in dem eigentlich löblichen Bestreben von Frau Ferros, Benjamin einen Freund zu verpassen. Aber die Situation in der Klasse erwies sich als für Freundschaften schwierig. Drei Mädchen der Klasse saßen im Rollstuhl und kamen gut miteinander aus. Ein weiteres Mädchen und ein Junge litten an schweren Erbkrankheiten und verbrachten mehr Zeit im Krankenhaus als in der Schule. Übrig blieb nur noch Kevin, ein hyperaktiver Junge mit Aufmerksamkeitsdefizit, bei dem zwei Jahre später noch eine Lernbehinderung festgestellt wurde. Ich denke, dass beide Knaben von den sozialen Anforderungen dieser Situation hoffnungslos überfordert waren, was zu den rhythmischen Aggressionen führte.

Der stürmische, verregnete Herbst zwang Conrad, sich häufiger drinnen aufzuhalten, und brachte ein neues Hobby unseres Erstgeborenen zum Vorschein. Da die tägliche Spielzeit am Computer von uns limitiert wurde, kam Conrad auf die wunderbare Idee, seine Computerspiele mithilfe von LEGO-Steinen und -Platten nachzubauen, was nicht selten den gesamten Fußboden seines geräumigen Zimmers bedeckte. Benjamin wurde von dieser Beschäftigung magisch angezogen. Irgendwann beschloss Conrad, seinem Bruder ein Mitbaurecht zu gewähren, was er nicht bereute, denn Benjamin kannte jedes noch so winzige Detail aus Conrads Spielen, obwohl er nur hin und wieder seinem Bruder beim Spielen über die Schulter geschaut hatte. Jedes Mal, wenn Conrad glaubte, sein Bruder würde sich irren, wurde er eines Besseren belehrt. Noch erstaunlicher aber war, dass Benjamin die Ansicht der Jagd durch diverse Labyrinthe mühelos in eine fehlerfreie Aufsicht auf das ganze verschlungene System umwandeln konnte. Conrad wusste diese Hilfe durchaus zu schätzen. In dieser Zeit begann unser mittlerer Sohn auch damit, seine Gedanken zu zeichnen. Da er uns inzwischen offenbar mehr mitteilen wollte, als er verbal hervorbringen konnte, produzierte er Berge von Zeichnungen, auf denen immer Tierfamilien mit drei Kindern zu sehen waren. Über den Köpfen der einzelnen Familienmitglieder schwebten Gedankenblasen, die mit kleinen Bildchen angefüllt waren. Einige seiner Zeichnungen zeigten aber einen wohlproportionierten Jungen, der ringsherum von überaus dichten Blasen voller winziger Comics und Codes eingehüllt wurde. Benjamin kam zwar mit seinen Zeichnungen immer noch nicht zu uns, um sie uns zu präsentieren, aber er ließ es bereitwillig zu, dass wir uns seine gemalten Erzählungen anschauten, und manchmal führte dies sogar zu einem erhellenden, kleinen Gespräch. Oft stellte er über viele Tage hinweg Fortsetzungen der spannenden Geschichten einzelner Tierfamilien her und es war für keinen von uns schwer herauszufinden, welche Figur auf den Werken wen darstellte. So bekamen wir einen begrenzten Eindruck davon, wie Benjamin uns als Familie und unsere Interaktionen wahrnahm.

Zwei Monate nach Beginn der Sensorischen Integrationstherapie hatte die Therapeutin Jenny Benjamin schon so weit gebracht, dass er problemlos auf sie zuging und bei Übungen, die ihm leichtfielen oder Spaß machten, eine gute Mitarbeit zeigte. Die Tatsache, dass Jenny keinerlei Probleme mit meiner Anwesenheit im Therapieraum hatte, stellte einen wesentlichen Faktor dieser positiven Entwicklung dar. Für mich war das eine äußerst seltene und sehr wertvolle Erfahrung. Fand ich einmal keinen Babysitter für Pascal, so waren die Therapiestunden laut Jennys Aussagen überaus uneffektiv, da Benjamin kaum zu einer Kooperation zu bewegen war. Aus diesem Grund kam es ab und zu vor, dass Jenny auch Pascal in den Therapieraum mitnahm, was dazu führte, dass er seinen Bruder um dessen Therapie glühend beneidete. Im Oktober wandelte sich das bloße Schaukeln in der Hängematte dahingehend, dass Benjamin nun während des Schaukelns versuchte, Säckchen von unterschiedlicher Größe mit den verschiedensten Füllungen in einen Korb zu werfen, an einer Kiste zu ziehen und Gegenstände mit Händen oder Füßen umzustoßen. Für unseren Sohn waren das schon motorische Meisterleistungen und großartige Fortschritte. Im Dezember gab es einen herben Rückschlag, da Jenny wegen ihres Urlaubs und einer Krankheit drei Monate nicht anwesend sein konnte und für uns eine Vertretung organisiert hatte. Diese Vertretung verlor bereits in der ersten Stunde mit Benjamin die Nerven und wollte uns hinauswerfen, da ihr kleiner Patient völlig hysterisch auf die Veränderung reagierte, zu keiner Mitarbeit zu motivieren war und nur wild sowie ziellos im Therapieraum umherrannte. Damit die Therapiezeit nicht völlig ungenutzt verstrich, dirigierte ich Benjamin für den Rest der Stunde in die Hängematte, wo er sich erschöpft und apathisch von mir hin- und herwiegen ließ. An diesem Zustand änderte sich nicht viel im Laufe der kommenden Monate und als Jenny gesund und erholt endlich wieder auftauchte, waren Benjamins vorherige Fortschritte fast gänzlich verschwunden. Mit einer wahren Engelsgeduld begann Jenny von vorne und bereits im Frühjahr darauf schaffte es Benjamin, auf einer Schaukel bäuchlings zu liegen und sich selber Schwung zu geben. Dabei spielte er Ninja und versuchte, mit aller Kraft Matratzen von unterschiedlicher Größe und Form umzustoßen, die in einiger Entfernung aufgestellt waren. Zum ersten Mal spürte ich dabei, dass ihm eine körperliche Betätigung Spaß machte und er sich offenbar in seinem Körper wohlzufühlen begann.

Um die unübersehbaren Erfolge der Ergotherapie zu festigen, führten wir zu Hause möglichst viele der Übungen, soweit dies mit unseren Mitteln möglich war, ebenfalls durch. Der erste Versuch, ein paar einfache Therapiegegenstände zu bestellen, scheiterte allerdings kläglich, da die einschlägigen Lieferanten zu dieser Zeit nicht an Privatpersonen lieferten. Mein Mann Leon gab jedoch nicht auf, telefonierte geduldig herum und fand schließlich einen Händler für Kindergarten- und Therapiebedarf, der uns unter anderem die gewünschte „Kuschelmuschel“ lieferte. Dabei handelte es sich um zwei mit Styroporkügelchen gefüllte Säcke, die mittels eines Reißverschlusses zu einer muschelförmigen Höhle zusammengesetzt werden konnten. Da sich die Styroporkügelchen ideal an jede Körperform anpassen und somit einen leichten, aber gut spürbaren Druck auf alle Körperpartien ausüben, tragen sie zur Verbesserung des vestibulären Raumgefühls und der Tiefenwahrnehmung bei. In der Praxis sah das so aus, dass Benjamin durch die körperliche Basisstimulation beim Benutzen der Muschel sichtlich ruhig und fühlbar entspannt wurde. Fortan kroch er jeden Tag nach der Schule erst einmal für mindestens eine halbe Stunde in diese über alles geliebte Wohlfühlhöhle und fand dort nun auch seinen unverzichtbaren Platz beim Vorlesen oder beim Anschauen eines Videofilmes. Die Kuschelmuschel hatte nur ein Problem: Unsere anderen beiden Kinder liebten sie genauso abgöttisch wie Benjamin. Pascal konnte sich vormittags, wenn Benjamin in der Schule war, darin austoben, aber für Conrad mussten wir mühsam Benutzungszeiten mit Benjamin aushandeln, damit er sich nicht zurückgesetzt fühlte. Viele kleine Spiele wie beispielsweise ein kniffliges Geräusche-Memory, eine selbst befüllte Tastbox oder auch ein im wahrsten Sinne des Wortes tierisches Pustespiel habe ich gebastelt, um uns den Stress des Besorgens zu ersparen und vor allem, weil Benjamin mit Spielen, die auf seine speziellen Interessen abgestimmt waren, viel leichter zu einer Mitarbeit zu bewegen war. Auch diese therapeutisch ausgerichteten Spiele fanden außergewöhnliches Interesse bei Benjamins Geschwistern, was meine Arbeit erheblich erleichterte.

Inzwischen war es nicht mehr zu übersehen, dass Benjamin ein zaghaftes Mitteilungsbedürfnis entwickelte. Nachdem er an einem eisigen Januartag mit Conrad verschiedene Zauberkunststücke eingeübt hatte, kam er zu uns, um sie uns vorzuführen. Normalerweise hatte Conrad seinen Bruder im Schlepptau, wenn er uns etwas präsentieren wollte, woran auch Benjamin beteiligt war. Gerührt stellten wir fest, dass dieses Mal die Initiative von Benjamin ausging, da Conrad uns schon oft mit Zaubertricks unterhalten hatte, sodass er an diesem Sonntag keine Lust dazu verspürte. Der Höhepunkt der kleinen Darbietung bestand darin, dass unser mittlerer Sohn LEGO-Bausteine hinter seinen Ohren verschwinden ließ und wir ihm ansehen konnten, dass er stolz auf seine Leistung war. Hätten wir nicht jahrelang auf solche kleinen Selbstverständlichkeiten warten müssen, wäre dieser Moment mit Sicherheit nicht so kostbar gewesen. Benjamins zartes Sich-Öffnen ermutigte mich, das Spielen mit einem Puppentheater zu probieren. Wir besorgten eine überwiegend rote Stoffbühne, weil Rot seine damalige Lieblingsfarbe war, und Winnie-Puuh-Handpuppen aus weichem Plüsch, da meine beiden jüngeren Kinder diese bezaubernden Figuren und auch die amüsanten Trickfilme liebten. Mit der Aussicht auf köstliche Fliegenpilze aus gekochtem Ei, roter Paprika und Mayonnaise ließ sich Benjamin darauf ein, an dieser Aktivität teilzunehmen. Dabei machte ich eine sehr interessante Beobachtung. Während Pascal und auch Conrad mit viel Fantasie Handlungsstränge erfinden wollten, begnügte sich Benjamin damit, Geschichten aus seinen Kinderzeitungen nachzuspielen. Er war aufgeregt und schwer zu verstehen, aber da ich all diese Geschichten irgendwann schon mehrere Male vorgelesen hatte, erkannte ich sie wieder. Dabei kam es auch vor, dass er Tom und Jerry durch Tigger und Ferkel darstellen ließ. Während meine Randkinder üppige Ausführungen anfingen und dann aber nicht so recht wussten, wie ihre Handlungen denn enden sollten, waren Benjamins Vorführungen kurz, knapp und in sich geschlossen.

Gute Freunde statteten uns wenige Wochen später einen Besuch ab und wurden von Pascal gedrängt, die allabendliche Gute-Nacht-Geschichte zum Besten zu geben. Alle drei Jungen lauschten gespannt, was es mit Ritter Blaubart, seiner Frau und dem rätselhaften, verschlossenen Zimmer auf sich haben könnte, obwohl Conrad das Märchen eigentlich schon kannte. Noch bevor dieses Rätsel durch den Vorleser hätte gelöst werden können, sprang unser quirliger Pascal erregt hoch und verkündete selbstbewusst seine Idee, die Geschichte allein zu Ende erzählen zu wollen. Fast alle waren begeistert von dieser Idee und der Einzige, der es nicht war, nämlich Benjamin, ertrug die plötzliche Planänderung mit bewundernswerter Fassung. Er rannte eine kleine Runde nach Luft schnappend im Kreis und setzte sich dann, für Außenstehende scheinbar ganz ruhig, auf seinen immer gleichbleibenden Vorleseplatz zurück. Pascal gab eine nette, kleine Geschichte zum Besten und überzeugte unsere Freunde wieder einmal von seinem Einfallsreichtum und seiner Redegewandtheit. Als der Vorleser nun zum zweiten Mal versuchte, das Ende des Märchens von Charles Perrault zu Gehör zu bringen, schnellte Benjamin in die Höhe und stellte sich kerzengerade sehr dicht vor unserem Bekannten auf. Mit den Worten „Iie auch“ machte er darauf aufmerksam, dass auch er die Geschichte zu Ende erzählen wollte. Darauf begann er, ohne auf eine Antwort zu warten, das Märchen von Beginn an zu erzählen – mit holpriger, lauter Stimme und noch vielen schwer verständlichen Wörtern. Aber es war keine bloße Nacherzählung des Gehörten, sondern die Präsentation eines sehr opulenten Bildes des Schlosses von Ritter Blaubart. Im Gegensatz zur Originalvorlage, in der die Räumlichkeiten wie folgt beschrieben wurden: „Am Morgen des nächsten Tages kamen die Besucherinnen dort an und begaben sich auf Entdeckungsreise durch die vielen Räume. Sie liefen ungeniert durch Säle und Flure […]“2, klang Benjamins Schilderung wie eine detaillierte Führung durch eine prächtige Sehenswürdigkeit. Er beschrieb alle Zimmer, die vom großen Saal abgingen, und klärte uns über deren kostbares Inventar auf. Da die Benutzung seiner Muttersprache noch immer keine Selbstverständlichkeit für unseren Sohn war und es selten genug vorkam, dass er vor Publikum sprach, ließen wir ihn gewähren, obwohl wir bemerkten, dass sich spätestens nach der Beschreibung des vierten Raumes eine gepflegte Langeweile bei unseren Freunden einstellte. Als er in seinem langen Monolog eine kurze Pause einlegte, nutzte ich die Gelegenheit, um mich nach dem Ende seiner Geschichte zu erkundigen. Sichtbar erleichtert antwortete er knapp: „Und im Nicht-Reingeh-Zimmer war schrecklicher Drache.“ Mir ist an jenem Tag plötzlich klar geworden, wie Benjamins Denken funktioniert. Er hatte vernommen, dass in dem Märchen ein Schloss eine Rolle spielt, und diese verbale Information setzte er sofort in ein Bild eines solchen Gebäudes um. Beim Nacherzählen rief er dieses in seiner Fantasie so facettenreiche Bild auf und gab es in Worten, die wahrscheinlich nicht im Entferntesten an sein schillerndes inneres Gemälde heranreichten, wieder. Zwei Dinge mussten uns dabei zwangsläufig auffallen. Zum einen spielten die handelnden Personen in Benjamins Erzählung nur eine Nebenrolle, im Gegensatz zu Pascal, dessen Protagonisten ein reichhaltiges Gefühlsleben offenbarten. Zum anderen unterlag unser mittleres Kind dem von ihm selbst nicht zu durchbrechenden Zwang, sein ganzes inneres Bild wiedergeben zu müssen. Erst nachdem er durch das für ihn körperlich anstrengende Sprechen und das kräftezehrende Aushalten der Besuchssituation völlig ausgelaugt war, konnte er meine Zwischenfrage nach dem Ende seiner Geschichte als Erlösung aus dieser Situation annehmen. Trotz all dieser Auffälligkeiten war für uns jedes von Benjamin mühsam hervorgebrachte Wort außerordentlich kostbar.

Das große, farbenfrohe Plakat mit der verlockenden Ankündigung des neuen Disney-Films fiel Benjamin während unserer Fahrt zur Therapie auf, worauf er unvermittelt verkündete, dass er ins Kino gehen wolle, um die im Film agierenden Krabbeltierchen „ganz groß“ zu sehen. Das war ein überraschender Wunsch, denn bis jetzt hatte seine Angst vor der Dunkelheit gemeinsame Kinobesuche stets verhindert. In den folgenden Tagen ließen uns die quirligen Helden des Filmes keine Ruhe: Sie tauchten in den Zeitschriften der Kinder auf, sie eroberten die Spielzeugläden und sie waren das favorisierte Gesprächsthema der anderen Kinder in der Schule. Mit äußerst gemischten Gefühlen beschloss ich daher, mich in dieses neuerliche Abenteuer zu stürzen, denn Benjamins glühende Wünsche hatten ihn schon oft über seine eigenen Schatten springen lassen. Ein kleines Kino in der Nachbarstadt schien mir geeigneter als unsere unübersichtlichen Großstadtkinos. Der Erwerb der Karten gestaltete sich äußerst schwierig, da Benjamin bereits beim Warten in der relativ kurzen Schlange immer wieder die Flucht ergreifen wollte und deshalb von mir festgehalten werden musste. Pascal, der an diesem Tag ebenfalls zum ersten Mal ein Kino besuchte, hielt sich an meiner anderen Hand fest, wobei er dies nicht aus Angst, sondern eher aus Aufregung und Ungeduld tat. Als ich die Eintrittskarten bezahlen musste, hatte ich keine Hand frei, weil das eine Kind mich nicht loslassen wollte, wogegen ich das andere Kind nicht loslassen konnte, denn direkt vor dem Kino befand sich der Busbahnhof und ich konnte nicht riskieren, dass Benjamin dort hinlief. Schließlich gelang es mir, Pascal an Conrad zu übergeben und mit einer Hand mühsam das Geld aus meiner Brieftasche zu ziehen. Danach suchte ich mit meinen beiden Kleinen die Toilette auf, wo ich sofort von zwei Frauen angegriffen wurde, weil sie der Meinung waren, dass Benjamin nichts auf der Damentoilette zu suchen habe. Was sollte ich denn tun? Ich hatte doch überhaupt keine andere Wahl, deshalb versuchte ich beharrlich, das unerträgliche Gezeter zu ignorieren.

Insektenspuren verzierten verheißungsvoll die sandfarbenen Wände und die dunkelrote Treppe, welche zum Kinosaal hinaufführte, was es Benjamin enorm erleichterte, diesen Weg zu bewältigen. Am Eingang des Kinosaals stockte er, folgte aber dann zögerlich seinen Brüdern. Vorsorglich hatte ich Randplätze gewählt, falls wir das Kino vorzeitig verlassen mussten. Aber wie würde Pascal reagieren, wenn ich ihn dann mitten aus dem Film reißen müsste? Gedanken über Gedanken hämmerten in meinem Kopf. Die wenigen Minuten bis zum Filmstart verbrachten alle Kinder um mich herum mit aufgeregtem Schnattern, Benjamin jedoch saß kerzengerade auf seinem weinroten, weichen Kinositz und verzog keine Miene. Als das Licht langsam ausging, sprang er auf meinen Schoß und fing an zu weinen. Weil sein Weinen lauter wurde, wollte ich bereits den Saal verlassen, aber dann erschienen die ersten Bilder auf der großen Leinwand und je lauter die Musik spielte, desto leiser schluchzte mein Sohn. Nach einer Weile verstummte sein Weinen und er folgte angespannt den abwechslungsreichen Taten der liebenswerten Leinwandhelden. Wurde der Film zu gruselig, so vergrub er sein Gesicht im Rollkragen meines Pullovers und hielt sich die Ohren zu. Er harrte bis zum Ende des Filmes aus und somit wurde „Das große Krabbeln“ zu seinem ersten Kinoerlebnis. Nach dieser Aktion war nicht nur Benjamin körperlich völlig ausgezehrt, sondern auch ich, und deshalb wünschte ich mir, ich könnte sofort ins Bett fallen, was vollkommen illusorisch war. Zudem bedauerte ich zutiefst, dass ich Pascal nicht mehr Aufmerksamkeit schenken konnte, da auch er an einigen Stellen des Films Trost und Zuspruch gebraucht hätte und zeitweise den Platz auf meinem Schoß beanspruchte, aber Benjamin hing zu fest an mir und gewährte seinem Bruder nur wenige Minuten ein Aufenthaltsrecht. Hätte ich Benjamin in seinen Stuhl gezwungen, dann hätte ich den ganzen Kinobesuch aufs Spiel gesetzt.

Das positive Kinoerlebnis ließ Benjamin noch ein wenig furchtloser werden, sodass er als Nächstes eine Alien-Ausstellung in der Sternwarte besuchen wollte. Diese Wanderausstellung, welche Requisiten aus den verschiedensten Science-Fiction-Filmen präsentierte, war nur für eine Woche zu besichtigen und dementsprechend groß fiel der Andrang aus. Nach einer schier endlos scheinenden Wartezeit hielt ich die begehrten Tickets in der Hand und wir strebten voller Neugier dem Eingang zu. Schwere, schwarze Vorhänge mussten von mir beiseitegeschoben werden, um dahinter einen Blick auf große Finsternis zu erlangen. Ein paar verschiedenfarbige Neonlichter blitzten rhythmisch auf und düster grollende Geräusche waren zu vernehmen. An dieser Stelle verließ Benjamin schlagartig sein Mut und er war weder vorwärts noch rückwärts zu bewegen. Er versteifte sich zusehends. Zu unserem Leidwesen bestanden die Kassenschlange und die Strecke zum Eingang aus mit Metallgittern eng abgesteckten Wegen, sodass höchstens zwei Personen nebeneinander stehen konnten. Benjamins Zögern verursachte deshalb sofort einen Stau. Die Ausstellung wurde überwiegend von Vätern mit ihren Söhnen besucht, was dazu führte, dass Beschimpfungen wie „Muttersöhnchen“, „Feigling“ und „Weichei“ über uns ausgeschüttet wurden. Viel jüngere Kinder als Benjamin waren vor uns ohne sichtbare Furcht erwartungsvoll durch diesen Vorhang geschlüpft. Die offene Feindseligkeit der hinter uns Wartenden sowie ihr schadenfrohes Gelächter über Benjamins Angst zeigten mir, dass es keinen Sinn hatte, einen Vermittlungsversuch zu unternehmen. Ich begab mich in die Hocke, umklammerte meinen Sohn fest und versuchte, mit ihm zu reden. Die sich unsanft vorbeidrängende Besuchermenge steigerte durch massive, grobe Zusammenstöße das Unwohlsein von Benjamin bis ins Unerträgliche. Er zitterte, weinte und rief immer wieder verzweifelt: „Will rein, will rein!“, war aber gleichzeitig zu keiner Bewegung in irgendeine Richtung fähig. Ich hatte keine Idee, was ich als Nächstes tun könnte, und die Minuten schienen sich wieder einmal zu Stunden zu dehnen. Conrad schlug ich vor, ohne uns hineinzugehen, und ich vereinbarte einen Treffpunkt vor der Sternwarte, falls Benjamin gar nicht hineinzubewegen wäre, aber Conrad wollte uns nicht allein lassen. Am liebsten hätte ich uns alle von diesem Ort weggebeamt, vielleicht auf eine einsame Insel, wo ich dann stundenlang Benjamin dabei zuschauen könnte, wie er feinkörnigen Sand durch seine Finger rieseln lassen würde und nichts, rein gar nichts, tun müsste.

Als ich gerade darüber nachdachte, warum all diese Menschen mit ihren problemlosen Kindern absichtlich oder auch unbewusst so gemein zu uns waren und niemand außer mir und Conrad die Sorgen dieses kleinen Menschleins in meinen Armen zu beachten schien, nahm Benjamin ruckartig meine Hand, wischte damit seine Tränen ab und zog mich wortlos zu dem schweren Vorhang. Er schaute sogar noch einmal zurück, um sich zu vergewissern, dass Conrad uns folgte. Voller ängstlicher Anspannung und mit rot geweintem Gesicht betrat er nun wacker die mystischen Räume. Obwohl Benjamin zu dieser Zeit weder die „Star Wars“-Filme noch die „Enterprise“-Fernsehserie kannte, wurde er doch magisch angezogen von den prächtigen Kostümen, geheimnisvollen Masken, funkelnden Laserschwertern…Zu einer lebensgroßen Figur von Neelix aus der Enterprise-Fernsehserie „Raumschiff Voyager“ sagte er: „Der da kocht immer.“ Und mir ist bis heute unklar, woher er das wissen konnte, denn seine Lesefertigkeiten waren in der ersten Klasse noch nicht sehr ausgeprägt. Oder hatte er vielleicht doch das Schild gelesen? Noch weitaus überraschter war ich von Benjamins Bemerkung zum Alien-Körper aus Roswell: „Der da in Wüste gefunden.“ Den Mut meines Sohnes belohnte ich am Ausgang mit einer schaurig schönen Alien-Figur aus Plüsch, welche sich heute immer noch in seinem Besitz befindet. Dieser Ausstellungsbesuch stellt wohl auch die Geburtsstunde von Benjamins außergewöhnlichem Interesse an Filmen und Büchern mit Science-Fiction-Themen dar, was uns heute nicht mehr verwundert, denn: „Viele Menschen mit Autismus sind Anhänger der Fernsehserie Raumschiff Enterprise. Ich bin seit der ersten Folge ein Fan. Als ich aufs College ging, hatte die Serie großen Einfluß auf mein Denken, da jede Folge der Originalserie eine Moral hatte. Die Personen hatten eine Reihe fester moralischer Regeln zu befolgen, die von der Vereinigten Sternenförderation ausgegeben worden waren. Ich identifizierte mich besonders mit dem logischen Mr. Spock, da ich mich seiner Art zu denken vollkommen anschließen konnte.“3 Ähnlich wird Benjamin in ein paar Jahren beim Konsum dieser und verwandter Serien empfinden.

Conrad war ein Kind, welches seine Sachen immer gern überall ausbreitete, und so ließ er an einem gewittrigen Sonnabend in den Osterferien einen Ordner, in den er gerade seine Schulsachen abheften wollte oder besser sollte, auf Benjamins Bett liegen, weil ihm wieder einmal eingefallen war, dass er etwas trinken mochte. Benjamin war ein Kind, welches sich immer auf Stühle oder Polstermöbel fallen ließ und sich beinahe mit einem Hechtsprung ins Bett begab, was wohl beides mit seiner ungeschickten Motorik zusammenhing. An jenem unglücklichen Tag vergaß Conrad, die Klammern des Ordners zu schließen, und Benjamin, dessen Computerpause gerade begonnen hatte, sprang auf sein Bett, um etwas zu lesen. Ein markerschütternder Aufschrei ließ uns herbeistürzen. Unser mittlerer Sohn war genau in die Klammern des Ordners geraten und sein linkes Bein blutete fürchterlich, weil eine neun Zentimeter lange Risswunde sich in sein Schienbein geschnitten hatte. Wir mussten blitzschnell eine Entscheidung treffen, denn das austretende Blut ließ Benjamin bereits hysterisch werden. Da die vertraute Kinderärztin keine Sprechstunde hatte, konnten wir nur die Notaufnahme aufsuchen, wo die Wunde dann geklammert oder geklebt werden würde. Oder aber wir nahmen eine Narbe in Kauf und versorgten die Wunde selbst. Aufgrund unserer äußerst schlechten Erfahrungen mit fremden Ärzten in ungewohnten Situationen entschieden wir uns für Letzteres. Seitdem ziert eine Narbe das Bein unseres Sohnes, was ihn aber nie wirklich gestört hatte, da er in der Folgezeit feststellte, dass viele Kinder solch bleibende Eindrücke auf ihren Körpern aufweisen. Die Hechtsprünge ins Bett gewöhnte sich Benjamin durch diesen Unfall leider nicht ab und nachdem er damit auch das zweite Bett zerschmettert hatte, ging Leon dazu über, mit den Resten des ersten Bettes jahrelang immer wieder die Latten des Lattenrostes zu erneuern und den Rahmen zu stabilisieren.

Mit neun Jahren brachten wir Conrad auf dessen inständigen Wunsch hin die Regeln des Brettspiels „Die Siedler von Catan“ bei, sodass wir dieses spannende Spiel fortan häufiger am frühen Abend spielten. Mit sieben Jahren verlangte Benjamin, ebenfalls in die Regeln dieses Spiels, welches eine Altersempfehlung ab zehn Jahren trug, eingeweiht zu werden. Ich war sehr skeptisch und fürchtete mich vor allem vor Benjamins Frustrationsreaktionen, falls er den Sinn des Spiels nicht begreifen würde. Leon zweifelte keinen Moment an den Fähigkeiten unseres Sohnes und so machten wir uns sogleich ans Werk. Ich las das komplizierte Regelwerk vor und Leon demonstrierte an einzelnen Spielzügen, was die verschiedenen Regeln bedeuteten. Aber Benjamin war äußerst ungeduldig und wollte endlich „richtig“ spielen. Im richtigen Spiel zeigte sich dann, dass unser Sohn nicht nur die Regeln perfekt beherrschte, sondern dass er auch taktisch klug spielte und vor allem durch sein ausgesprochen gutes Gedächtnis immer genau wusste, welche Rohstoffkarten sich bei welchem Spieler befanden. Er wurde schnell zu einem ernst zu nehmenden Gegner.

Benjamins gesamte Entwicklung verlief irgendwie disharmonisch. Auf der einen Seite ließ er sich von Conrad dazu anregen, ihm bei einem komplizierten Wikinger-Bastelbogen zu helfen. So erstellten die beiden innerhalb einer Woche ein gesamtes Wikingerdorf mit rustikalen Gebäuden, stabilen Booten, filigranen Figuren und nützlichen Tieren. Damit erreichte Benjamin eine motorische und soziale Meisterleistung. Dann wiederum brachte es unser Sohn fertig, mit unendlicher Geduld an vier aufeinanderfolgenden freien Tagen kleine Monster aus LEGO-Bausteinen zusammenzusetzen. Diese acht Tütchen mit LEGO-Bausteinen hatte Benjamin bei McDonald’s erbeutet und nun war er damit beschäftigt, jedes Monster in allen vier möglichen Variationen wieder und wieder aufzubauen. Außerdem bot das Anleitungsheft Kombinationen aus je zwei, vier und allen acht Monstern an, welche ebenfalls von unserem Sohn auf Reproduzierbarkeit überprüft wurden. Andere Bauvarianten, als die im Anleitungsheft aufgezeigten, probierte er nicht aus. Damals fand ich seine Ausdauer bewundernswert und sah nicht den stereotypen und repetitiven Charakter seiner Handlungen. Stellte das etwa eine Art Auszeit für ihn dar, um für die nächste Meisterleistung genug Kraft zu sammeln?

Kurz vor Ende seines ersten Schuljahres musste sich Benjamin der jährlichen Routineuntersuchung durch die Schulärztin unterziehen, wobei diese Untersuchungen nur an Sonderschulen, jedoch nicht an Grundschulen durchgeführt wurden. Die Schulärztin stellte bei dieser Untersuchung Folgendes fest: „Bekannte Einschränkungen und Sprachentwicklungsverzögerung“. Aber was verstand sie unter „Bekannte Einschränkungen“? War sie immer noch der Meinung, dass Benjamin eine geistige Behinderung hatte oder war sie nur nicht bereit, ihren Irrtum zuzugeben? Zusätzlich zu dieser Routineuntersuchung wurden von der Klassenlehrerin halbjährlich Berichte über die Entwicklung der Kinder verfasst, so gab es zu den Winterferien den „Entwicklungsbericht unter rehabilitativer Sicht“ und zum Schuljahresende den „Entwicklungsbericht zur Lernentwicklung“. Die Therapeutinnen verfassten außerdem noch einen „Anhang zum Entwicklungsbericht“. In ihrem allerersten Bericht behauptete Frau Ferros, dass Benjamin „ein motorisch sehr unruhiger Junge mit einer gesteigerten Geschäftigkeit“ sei und „autistische Züge“ habe, was interessant war, weil Benjamin bis dahin keine derartige Diagnose bekommen hatte und weil Frau Ferros ein halbes Jahr später unbeirrt die Meinung vertrat, dass alle aufgetretenen Probleme ihre Ursache in unserer nicht konsequenten Erziehung und in Benjamins mangelnder Mühe um gutes Benehmen, nicht aber in möglichen autistischen Zügen, hätten. Laut dem Bericht der Klassenlehrerin löse Benjamin Mathematikaufgaben schon, bevor die Aufgabe erklärt werde, und verfüge über außergewöhnliches naturwissenschaftliches Wissen, wobei er auch die Lehrerin korrigiere. So habe er in einer Sachkundestunde dazwischengerufen, dass Spitzmäuse keine Mäuse sind, sondern Insektenfresser. Sie beklagte, dass er in der Schule keine Wörter mit Silbenkärtchen lege und große Schwierigkeiten beim Erlesen neuer Wörter habe. Zu Hause dagegen konnte ich beobachten, dass Benjamin Worte aus DUPLO-Bausteinen unaufgefordert auf seinem Teppich zusammensetzte. Im Laufe des Schuljahres hatte Benjamin erfreulicherweise begriffen, dass er nicht nur Aufgaben, die an ihn persönlich gerichtet wurden, zu erledigen habe, sondern dass er auch Anforderungen erfüllen muss, die an die Klasse gerichtet werden. Frau Ferros’ Patentrezept zur Sprachentwicklung sah folgendermaßen aus: „Es muss das Anfangsziel aller auf Benjamins Sprache einwirkender Erwachsenen sein, die lautreine Aussprache der für ihn wichtigen und besonders oft benutzten Wörter wie Therapie, Computer, Lego, Namen der Familienmitglieder, der Mitschüler, der Wochentage, Arbeitsmaterialien, lesen, schreiben, rechnen, ausruhen…zu fordern, zu kontrollieren und durchzusetzen. Wir dürfen nicht zufrieden sein mit dem, was er sprachlich anbietet […].“ Mit dieser Aussage hatten wir so einige Probleme, denn lautreine Aussprache zum jetzigen Zeitpunkt zu verlangen, könnte Benjamin wegen drohender Überforderung sehr schnell wieder zum Verstummen bringen. Unserer Meinung nach musste er erst einmal anhaltende Freude an der Kommunikation entwickeln und einen Zustand erreichen, wo er das ständige Bedürfnis nach Mitteilung verspürt. Erst danach sollten phonematische Übungen beginnen. In der Liste der „oft benutzten Wörter“ befanden sich nur zwei Wörter, die unser Sohn mit angenehmen Empfindungen verband, Computer und LEGO, wobei er das Wort LEGO zumindest zu Hause immer korrekt aussprach. Wo sollte also der Anreiz für Benjamin liegen, wenn er ungeliebte oder zurzeit für ihn noch bedeutungslose Wörter üben sollte? Das konnte nur in Frustration enden, aber wir als Nicht-Pädagogen standen mit unserer Meinung auf verlorenem Posten.

Das nahende Ende jedes Schulhalbjahres bedeutete für uns auch, dass wir die Schulwegbeförderung für Benjamin aufs Neue beantragen mussten. Nach dem ersten Schuljahr bekamen wir jahrelang einen abschlägigen Bescheid, obwohl unser Sohn vom Versorgungsamt als hilfsbedürftig eingeschätzt wurde und die Notwendigkeit einer ständigen Begleitung nachgewiesen war. Nur mit Widersprüchen und ärztlichen Gutachten gelang es uns dann doch immer wieder, eine Beförderung durchzusetzen. Erst kurz bevor Benjamin die Schule verließ, fand ich heraus, warum dies so war. Da auch die Schule eine Stellungnahme zur Schulwegbeförderung abgeben musste, schrieb Frau Ferros jedes Mal, Benjamin könne den Schulweg allein zu Fuß zurücklegen oder mit dem Rad fahren. Das war kompletter Unsinn, denn unser Sohn beherrschte zwar die Regeln zum Überqueren einer Straße in der Theorie, in der Praxis hatte er jedoch keinen Plan zum Überqueren einer Straße und war auch nicht in der Lage, Fahrrädern auszuweichen. An einer Straße stehend konnte Benjamin nicht entscheiden, welche Informationen wichtig und welche unwichtig waren, und er vermochte keineswegs die Geschwindigkeit herannahender Fahrzeuge einzuschätzen, sodass er die Straße überhaupt nicht überquerte oder einfach drauflos lief. Radfahren zu erlernen, war zu dieser Zeit noch völlig undenkbar. Ich hatte gerade damit begonnen, ihm das Rollerfahren beizubringen.

Das am vorletzten Schultag stattfindende Schulsportfest beendete Benjamins erstes Schuljahr. Eltern waren herzlich eingeladen und so begab ich mich voller freudiger Erwartung zusammen mit Pascal in die Schule. Kurz nach der Eröffnung des ersten Wettbewerbs, dem Korbzielwerfen, setzte strömender Regen ein, sodass alle Stationen panikartig ins Innere des Schulgebäudes verlegt werden mussten. Trotz dieser plötzlichen Änderung behielt Benjamin seine starke Motivation und gab sich unglaubliche Mühe, was dazu führte, dass er in der Hälfte der Übungen als Klassenbester abschnitt und viele Punkte für die Mannschaftswertung ergattern konnte. Diese traumhaften Leistungen verdankten wir in erster Linie der Sensorischen Integrationstherapie, denn da es sich um eine Schule für Körperbehinderte handelte, hatten die meisten Wettbewerbe einen physiotherapeutischen Hintergrund. Disziplinen, in denen Benjamin besonders erfolgreich abschnitt, wie Streichholzschachtel-Weitpusten (97 cm!), Slalomlauf mit Ball oder Rollbrettfahren, stellten wichtige Bestandteile seiner Therapie dar. Im Zusammensetzen eines Riesenpuzzles auf Zeit war er sogar auf Schulebene unschlagbar. Dinge aus einer Fühlkiste zu identifizieren und Kegeln, beides feste Bestandteile unseres häuslichen Trainingsprogramms, erfüllte er mit großem Eifer und es war eine ungetrübte Freude, ihm dabei zuzusehen. Pascal durfte alle Übungen außerhalb der Wertung durchführen und so war dieser Tag auch für meinen Jüngsten sehr aufregend. Benjamins Erfolge stärkten sein Selbstbewusstsein von Station zu Station ein bisschen mehr. Aber als die Endwertung bekannt gegeben wurde und seine Klasse nur den dritten Platz unter den Grundschulklassen belegte, was aber für eine erste Klasse wegen der fast ausschließlich älteren und erfahreneren Konkurrenten ein sehr gutes Ergebnis war, da packte eine frustrierende Enttäuschung meinen Sohn und er weinte bitterlich über sein vermeintliches Versagen. Niemand vermochte ihn davon zu überzeugen, dass er an diesem Tag eine wundervolle Leistung vollbracht hatte.

Bereits in den Osterferien hatte Benjamin den Wunsch geäußert, verreisen zu wollen, was für uns völlig überraschend kam. Bis jetzt war jeder Versuch einer Fremdübernachtung mit unserem Sohn kläglich gescheitert, sodass hinterher niemand erholt war und nicht nur Benjamin unter den Nachwirkungen der traumatischen Erlebnisse litt. Wir beschlossen daraufhin, auf gemeinsame Urlaube mit Benjamin zu verzichten, bis er dazu bereit sein würde. Meistens verreiste ich mit unseren anderen beiden Kindern oder auch mit nur einem Kind, wobei Benjamin bei jeder Abreise froh zu sein schien, weil er nicht mitkommen musste. Nun wusste unser Sohn aber nicht nur ganz sicher, dass er verreisen wollte, sondern auch wohin: „LEGOLAND“, was uns wiederum nicht so sehr überraschte. Benjamins erste Reise wurde von uns penibel vorbereitet. Da ich mit Conrad bereits zwei Jahre zuvor das LEGOLAND in Dänemark besucht hatte, verfügte ich über reichliches Anschauungsmaterial. Ich las Benjamin meine Tagebuchaufzeichnungen vor, wir ließen Conrad seine Geschichten zu unseren Fotos erzählen und wir gaben Benjamin die alten Prospekte zum Studieren, was er immer wieder tat. Wir übten Abläufe und Verhaltensregeln im Hotel ein und Benjamin war eifrig bei der Sache und versicherte uns immer wieder, dass wir uns keine Sorgen machen mussten: „Keine Angs, ie schaff das.“ Er schien wirklich reif zu sein für seine erste Reise.

LEGO-Figuren in der Größe von Grundschulkindern taten ihren Dienst auf allen Fluren des Hotels und berühmte Gemälde aus LEGO-Bausteinen wie beispielsweise Da Vincis „Mona Lisa“ zierten die in warmen Farbtönen gehaltenen Wände. Benjamin erkundete das gesamte Hotel jeden Morgen sowie jeden Abend und begrüßte alle Figuren oder wünschte ihnen eine gute Nacht. Ich musste ihn mit jedem Plastik-Hotelangestellten fotografieren, erst dann war er zufrieden. Am ersten Abend im Hotelrestaurant riss sich mein Sohn schmerzhaft von meiner Hand los, noch bevor wir einen abgelegenen Tisch ausmachen konnten. Sofort befürchtete ich, er könnte jetzt die Flucht ergreifen oder eine aufsehenerregende Plünderung des Abendbrot-Büfetts durchführen, aber Benjamin stürzte zu einem niedrigen Fensterbrett, welches mit bunten Stofffähnchen auf Holzsockeln geschmückt war. Unbeirrt und zielsicher ergriff er ein Deutschlandfähnchen, rannte mit seiner Beute laut polternd quer durch den gesamten Gastraum und stellte es mit einem harten Aufprall auf einem unbesetzten Tisch am Fenster ab, um sich dann selber auf einen dunkelgrün bezogenen Stuhl erschöpft fallen zu lassen. Glücklicherweise überlebte das zierliche Fähnchen die Attacke, denn schon beim stürmischen Losrennen hatte Benjamin die skeptische Aufmerksamkeit der anderen Gäste auf sich gezogen. Sprachlos stand ich noch immer am Eingang und die inzwischen eingetroffene Bedienung führte uns langsam zu unserem Tisch, zu Benjamins Tisch. Jetzt konnte ich im üppigen Garten vor dem riesigen Fenster ein hübsches Wasserspiel erblicken, welches die komplette Aufmerksamkeit unseres Sohnes beanspruchte. Ich hätte keinen besseren Platz für ihn auswählen können. Benjamin hatte im Bruchteil einer Sekunde den ganzen Raum überblickt und auch den Sinn der Fähnchen sofort durchschaut, die ich im ersten Moment nur für eine interessante Dekoration hielt, weil sie extrem ordentlich auf dem Fensterbrett aufgereiht waren. Aber sie dienten dazu, dem Personal anzuzeigen, welche Sprache die Gäste beherrschen. Auf dem üppigen Büfett fanden wir knusprige Fischstäbchen und zur übergroßen Freude der Kinder Pommes frites in der Form von LEGO-Bausteinen. Damit war zumindest das Abendbrot für Benjamin gesichert, denn bei seinen Allergien und Überempfindlichkeiten gab es nicht viele Gerichte, die in Gaststätten für ihn genießbar waren.

Eine verglaste Röhre verband das Hotel mit dem LEGOLAND-Park und da der Parkeintritt für die Dauer des Aufenthaltes im Hotelpreis inbegriffen war, vermochten wir nach Belieben zwischen Hotel, Park und Umgebung zu wechseln, was uns den Aufenthalt erheblich erleichterte. Da Conrad vor ein paar Jahren schon einmal mit mir den Park erkundet hatte, konnten wir Benjamin die Auswahl der Aktivitäten überlassen. Wie nicht anders zu erwarten war, ließ er kein Fahrgeschäft aus und musste alles in unzähliger Wiederholung ausprobieren, wofür er vier Aufenthaltstage Zeit hatte. Mittags ernährte er sich ausschließlich von frisch gebackenen Waffeln. Beim spannenden Goldwaschen, wo experimentierfreudige Kinder in der Westernstadt in einer nachgebauten Goldwaschanlage kleine Pyrit-Stückchen, also sogenanntes Katzengold, mittels flacher Schalen aus einem hölzernen Flussbett waschen müssen, zeigte sich deutlich Benjamins visuelle Überlegenheit. Wir konnten gar nicht so schnell gucken, wie er die winzigen Goldstückchen aus dem feuchten Sand pickte. Das erregte sofort die Aufmerksamkeit und wohl auch den Neid der anderen Kinder, welche sich daraufhin dicht um unseren Sohn drängten, weil sie wahrscheinlich hofften, hinter sein Geheimnis zu kommen oder aber in seiner Nähe mehr Schätze zu finden. Benjamin war so fieberhaft mit seiner Tätigkeit beschäftigt, dass er scheinbar nichts davon mitbekam. In kürzester Zeit hatte er genug Goldstücke erbeutet, um dann die begehrte LEGOLAND-Münze daraus pressen zu können.

Ein ähnliches Erlebnis hatte ich ein halbes Jahr später, als ich mit Benjamin zum ersten Mal die „Grüne Woche“ in Berlin besuchte, welche die international wichtigste Messe für Ernährungswirtschaft, Landwirtschaft und Gartenbau ist und traditionell in den Messehallen am Funkturm stattfindet. An einem Messestand einer Ostseeregion befand sich ein verwittertes Holzboot, welches mit gelblichem Sand gefüllt war. Während die Eltern über attraktive Urlaubsangebote informiert werden sollten, durften ihre Kinder in diesem Boot nach winzig kleinen Bernsteinstückchen suchen. Das war so mühsam, dass die anderen kleinen Besucher froh waren, wenn sie ein oder zwei Stückchen gefunden hatten, und zufrieden weiterzogen. Benjamin dagegen fischte absolut zielsicher ein Stück nach dem anderen heraus und war sofort wieder die unfreiwillige Attraktion an diesem Stand, weil keiner der Umstehenden wusste, wie das denn funktionierte. Als sich seine kleine Hand sichtbar mit den honiggelben Schätzen füllte, kam eine üppige Frau im Trachtenkostüm vom Stand ziemlich wütend zu uns herüber und beschimpfte Benjamin, dass dies so nicht gedacht sei und dass er gefälligst auch noch etwas für die anderen Kinder übrig lassen solle. An mich gewendet, meckerte sie, ich solle meinem „Buben mal Anstand“ beibringen. Eine ältere, rothaarige Frau, die neben mir stand und Benjamin äußerst amüsiert und wohlwollend zugeschaut hatte, entgegnete: „Dann hängen Sie doch ein Schild auf: Nur einen Stein nehmen!“ Das ließ das Gemecker verstummen und ich war dieser Frau dankbar, denn es kam nicht oft vor, dass fremde Personen meinen Sohn spontan in Schutz nahmen. Trotzdem war es unendlich schwer, Benjamin aus dieser faszinierenden Tätigkeit zu reißen, denn im Gegensatz zum LEGOLAND, wo er zum Abschluss eine Münze prägen konnte, hatte diese Beschäftigung keinen Endpunkt, der ihm einen Ausstieg erlaubt hätte. Andere Kinder verließen diese Beschäftigung schnell wieder, weil sie so beschwerlich war oder weil der nächste Stand auch interessante Dinge zu bieten hatte. Aber für Benjamin war hier alles perfekt: Er konnte weichen Sand durch seine kleinen Finger rieseln lassen und wurde dafür noch mit kleinen Schätzen belohnt, die er wohlig in seiner rechten Hand zusammenpresste.

Für die Teilnahme an der LEGO-Fahrschule im LEGOLAND war Benjamin noch zu jung, was beinahe zu einer Krise geführt hätte, denn kleinere Kinder, die aber älter als Benjamin waren, durften daran teilnehmen und das verstand unser Sohn nicht. Ich zog Benjamin erst einmal weg und ließ ihn in einer kleinen Grünanlage zur Ruhe kommen. Conrad, der bei unserem ersten Besuch noch zu jung gewesen war, aber jetzt das erforderliche Alter erreicht hatte, wollte unbedingt die LEGOLAND-Fahrprüfung absolvieren, aber wie sollte das funktionieren? Ich versprach Benjamin eine LEGO-Schachtel und schlug ihm vor, Conrad mit seiner neuen Kamera in der Fahrschule zu fotografieren. Viel versprach ich mir nicht von diesem Angebot, aber ich bemerkte, wie mein Sohn ruhiger wurde und vielleicht über meinen Vorschlag nachdachte. Trotzdem blieb er einfach auf dieser Bank in der Sonne sitzen, während Conrad langsam ungeduldig wurde. Mein letzter Versuch bestand in dem Versprechen, hierher zurückzukommen, wenn Benjamin für die Fahrschule alt genug ist, und ich wusste genau, dass mein Sohn dies nicht vergessen würde. Ohne eine Antwort zu geben, marschierte Benjamin zur Fahrschule zurück, packte seine Kamera aus und stellte sich aufnahmebereit an den Besucherzaun. Natürlich haben wir dieses Versprechen eingelöst, allerdings nicht hier in Dänemark, sondern in dem damals neu eröffneten LEGOLAND Deutschland, weil dies Benjamins Wunsch war.

Der absolute Höhepunkt unserer Reise ereignete sich am letzten Abend. Am Morgen hatten die Kinder am täglichen Bauwettbewerb teilgenommen, wo jeder Teilnehmer aus maximal fünfzig Bausteinen ein Objekt nach Belieben bauen konnte. In einem großen, roten Regal, welches sich über eine ganze Wand des äußerst geräumigen Wettbewerbsraumes erstreckte, wurden die Kunstwerke gesammelt. Wo frühmorgens nur ein paar vereinzelte Gebilde standen, war am frühen Abend kein Plätzchen mehr frei. Zur Siegerehrung füllte sich der Raum unerträglich mit Menschen und die Jury schritt lange an der Wand auf und ab. Dann nahmen sie drei Bauwerke pro Altersgruppe aus dem Regal und gingen damit zum Richtertisch, wo die endgültigen Sieger bestimmt wurden. Benjamin hatte eine detaillierte, schwarze Ameise gebaut und war in seiner Altersgruppe unter den drei Werken der Vorauswahl. Dies versetzte ihn in pure Aufregung, sodass er zu zittern anfing. Nachdem der Preis in der untersten Altersgruppe vergeben war, wurde tatsächlich der Name unseres Sohnes aufgerufen. Da die Mitarbeiter Dänen waren, klang sein Name ein wenig komisch, sodass ich die Ansage für ihn wiederholte, weil er keinerlei Bewegung zeigte. Ich erklärte ihm noch einmal, dass er gewonnen hatte und dass er jetzt nach vorne gehen und seinen Preis abholen sollte. Ich freute mich so sehr über Benjamins Sieg, dass ich spürte, wie ein paar Tränen in meine Augen drängten. Jetzt fragte der Mitarbeiter der Jury auf Deutsch und Englisch, ob denn der Gewinner der Altersgruppe 5-8 Jahre im Raum sei, worauf Conrad aufsprang und stolz auf seinen Bruder zeigend „Ja, hier, hier!“ rief. Benjamin war noch immer bewegungsunfähig und alle Urlauber ringsherum schauten uns neugierig und erwartungsfroh an, also nahm ich ihn auf den Arm und trug ihn zum Richtertisch, obwohl mir bewusst war, wie komisch es wohl aussah, wenn ich einen Siebenjährigen durch den Raum trug. Ein Mitglied der Jury gratulierte unserem Sohn und überreichte ihm eine Urkunde auf Deutsch, da die Bauwerke beim Abgeben mit dem Namen des Kindes, der Nationalität und dem Titel des Kunstwerkes versehen werden mussten. Außerdem erhielt Benjamin eine große Kiste mit Lego-Bausteinen. Der Blitz des abschließenden Siegerfotos erschreckte ihn unheimlich. Er wollte nun auch seine Ameise mit nach Hause nehmen, aber das ging nicht. Also überredete ich den Mitarbeiter, der das Tierchen gerade in einen Nebenraum entführen wollte, es mich vorher noch fotografieren zu lassen. Damit gab sich Benjamin letztendlich auch zufrieden. Als Monate später im LEGO-Katalog Kästen zum Kreieren von Insekten auftauchten, kam Benjamin eines Tages zu uns gerannt, zeigte auf das Katalogbild und meinte völlig überdreht: „Das ist meine Ameise!“

Wieder zu Hause angekommen, zog eine euphorische Stimmung durch die gesamte Familie, denn obwohl der kleine Urlaub zumindest für einen Teil der Familienmitglieder körperlich anstrengend sowie auslaugend war und wir nach unserer Rückkehr erst einmal ein paar Tage zur physischen Erholung benötigten, werteten wir die Reise als vollen Erfolg und hatten uns damit wieder ein Stückchen Normalität im Familienalltag zurückerobert. Mit Benjamin zu verreisen, blieb auch in den folgenden Jahren schwierig, aber sofern die Urlaube nicht länger als vierzehn Tage dauerten und mit Aktivitäten wie Kinobesuchen, Burg- oder Museumsbesichtigungen, Erkundungen von Freizeitparks…angefüllt waren, lief alles ganz gut. Faule Tage ohne Strukturen waren nicht möglich, weil unser Sohn dann nichts mit sich anzufangen wusste und nur noch quengelte, weil er nach Hause fahren wollte. Nach dem Entwickeln der Bilder fiel mir auf, dass Benjamin auf allen Fotos, die ich von den Kindern mit den verschiedensten Animateuren geschossen hatte, immer einen gepflegten Sicherheitsabstand zu dem schaurigen Piraten, dem würdevollen König oder den anderen Unterhaltern wahrte, während Conrad auf allen Bildern in Körperkontakt mit den fremden, aber liebenswerten Personen stand. Obwohl Benjamin es war, der diese Fotos von mir forderte, duldete er keinen um seine Schultern gelegten fremden Arm und gab niemandem seine Hand. Ein anderes Foto zeigte unsere Kinder zusammen mit ein paar fremden Kindern, wie sie am Lagerfeuer des großen Indianerhäuptlings saßen und die Arme im wilden, spielerischen Kriegsgeschrei nach oben rissen. Der Häuptling saß zwischen Conrad und Benjamin und erst auf dem Foto erkannte ich, dass er Benjamins Arme hochgehoben hatte und in der Luft festhielt, was Benjamin aber nicht zu stören schien. Als ich dieses Foto verblüfft Leon zeigte, sagte er dazu: „Die haben eben gut geschultes Personal, wenn sie mitbekommen, wenn ein Kind nicht mitgeht, und ihm dann helfen.“ Dieses Foto ist mein liebstes Urlaubsfoto, weil so viele verborgene Wahrheiten in einem einzigen Bild stecken.

Der, die, das – was?

Die Weisen sagen: Beurteile niemand, bis du an seiner Stelle gestanden hast.

Johann Wolfgang von Goethe

Benjamins Vorschullehrerin, die wir für immer in guter Erinnerung behalten werden, hatte recht gehabt. Unser Sohn nahm an der Schulaufführung für die diesjährigen Schulanfänger teil und das machte uns sehr stolz, obwohl wir uns diese Darbietung aus Platzgründen nicht anschauen durften. Er spielte einen Hahn in einem Waldmärchen und ich hatte für ihn ein Kostüm aus weichem Baumwollstoff genäht, sodass seine Erzieherin sogar „Recht vielen Dank für das wunderschöne Kostüm!“ in sein Mitteilungsheft schrieb. Es war Benjamins bisher größter Auftritt, wobei er schauspielern und einige Male „Kikeriki!“ rufen musste. Noch vor einem Jahr war dies für uns nahezu unvorstellbar gewesen.

Anabel, ein Mädchen aus Benjamins Klasse, bescherte unserem Sohn seine allererste Einladung zu einem Kindergeburtstag. Ich rief daraufhin Anabels Mutter an, um mit ihr über meinen Sohn zu reden und um ihr zu verstehen zu geben, dass Benjamin nicht allein auf der Party bleiben wird. Sie erwiderte, dass Anabel eine Einzelfallhelferin habe, die bei der Kinderbetreuung auf der Feier helfen würde, und so vereinbarten wir, dass ich dann operativ entscheiden werde, ob ich bleibe oder gehe. Dies war wieder eine neue Herausforderung für uns, obwohl Benjamin schon viele Geburtstagspartys seiner Brüder mehr oder weniger durchlitten hatte. Solche Feiern zu Hause mit fremden Kindern ließen sich nur durchführen, wenn Leon anwesend war, weil Benjamin an derartigen Tagen eine Person für sich zum Abschirmen, Aushalten oder auch manchmal zum Mitmachen benötigte, wie beispielsweise bei LEGO-Bauwettbewerben oder beim Puzzeln auf Zeit. Anabel, ein spastisch gelähmtes Mädchen im Rollstuhl, hatte eine gesunde Zwillingsschwester. Die Mutter der beiden Mädchen war alleinerziehend. Während Anabel nur Benjamin eingeladen hatte, freute sich ihre Schwester Isabel auf vier Gäste. Wir würden also auf sechs unbekannte Personen treffen und mit diesen den Nachmittag verbringen, das war eine enorme Herausforderung.

Unterwegs versetzte mich mein Sohn in Erstaunen, weil er für jedes Mädchen eine einzelne Rose kaufen wollte. Woher hatte er nur solche Ideen? Vielleicht aus einem Trickfilm? Anabel war über diese Rose hocherfreut, sie sagte, dass wäre ihr schönstes Geburtstagsgeschenk, und ihre Mutter zeigte sich erleichtert über meine Anwesenheit, da die Einzelfallhelferin plötzlich erkrankt war. Beim Essen des selbst gebackenen Geburtstagskuchens fiel Benjamin wie immer durch sein enormes Esstempo und die verzehrte Menge auf, aber ich konnte ihn nur am Tisch halten, wenn er aß, denn sonst würde er zum Fernseher laufen, einen Videofilm aus dem kleinen Regal darunter ziehen und damit gegen den Fernseher klopfen, so wie er es schon kurz nach der Begrüßung getan hatte. Isabels Gäste witzelten über Benjamins Tischmanieren, aber mein Sohn reagierte darauf nicht und ich war unschlüssig, wie ich mich jetzt verhalten sollte. Noch ehe ich einen Entschluss fassen konnte, wechselten sie das Thema und begannen, sich haarsträubende Witze über Behinderte zu erzählen. Ich fand das völlig unangemessen und wäre am liebsten explodiert, aber sowohl Anabel als auch ihre Mutter blieben ganz ruhig und warteten ab, bis das Thema zu den Pokémons gewechselt wurde. Also verhielt ich mich auch ruhig, schließlich war es nicht Benjamins Party. Die nachfolgenden Spiele lehnte mein Sohn konsequent ab, da aber Anabels Mutter ihm ihrerseits den Fernseher verweigerte und ihm stattdessen Isabels leicht chaotisches Zimmer zum Spielen anbot, waren alle damit zufrieden. Später gab es zu Benjamins Freude dann doch noch einen kurzen Trickfilm und ein lustiges Spiel, welches er mochte. Bei diesem Spiel lagen verschiedene Süßigkeiten auf dem Tisch und ein Kind musste den Raum verlassen, während die verbleibenden Kinder eine Süßigkeit auswählten. Dann wurde das Kind wieder hereingerufen und durfte so lange Süßigkeiten vom Tisch nehmen, bis es auf die ausgewählte Süßigkeit zeigte und damit das nächste Kind an der Reihe war. Die Regeln hatte Benjamin verstanden, da er aber glaubte, dass es ein bestimmtes Abräumprinzip gibt, testete er verschiedene Varianten: Er versuchte rasend schnell zu sein, er entfernte eine Sorte nach der anderen und in der dritten Runde probierte er eine farbliche Abfolge. Es frustrierte ihn, dass er das Prinzip nicht verstand, weil er keine gültige Regel finden und das Zufallsprinzip nicht akzeptieren konnte. Die gerade fertig gewordenen Pommes frites verhinderten glücklicherweise, dass die Situation eskalierte. Anabels Mutter dankte mir für meine Hilfe und fragte beim Verabschieden, ob Benjamin denn einmal zu Anabel zum Übernachten kommen wolle, weil doch alles sehr gut gelaufen sei. Ich war so überrascht von diesem unerwarteten Angebot, dass ich schnell erwiderte, ich müsse erst in Ruhe mit Benjamin darüber reden. Sie wandte sich meinem Sohn zu: „Und Benjamin, hat es dir bei uns gefallen?“ „Gut“, war seine Antwort.