Gesellschaft des Zuhörens - Hanzi Freinacht - E-Book

Gesellschaft des Zuhörens E-Book

Hanzi Freinacht

0,0
21,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Wie jeder Philosoph, der etwas auf sich hält, hat der ›skandinavische Hegel unserer Zeit‹, Hanzi Freinacht, sein (erstmals in deutscher Sprache vorliegendes) Buch in totaler Zurückgezogenheit verfasst: allein in den Alpen lebend und mit Ausblick auf eine majestätische Bergwelt. In einem atemberaubenden Parcours durch Geschichte, Politik und Entwicklungspsychologie pflügt sich Freinacht durch die moderne Welt und hinterlässt am Wegesrand eine lange Spur geschlagener Gegner und zerbrochener, überholter Ideen. Voller Witz und Poesie sowie in kühnen Posen, die oft ans Arrogante und Obskure grenzen, schreitet er voran, um seinen Leserinnen und Lesern ein tiefes, neues Verständnis unserer Zeit zu vermitteln. Dabei erforscht Freinacht auch die kulturelle Fortschrittlichkeit der skandinavischen Länder und stößt uns mit der Nase auf die wichtigsten Lösungen für einige der drängendsten Probleme der Welt: Wir müssen eine tiefere und psychologischere Form der Fürsorge entwickeln, eine, die Freinacht als »Gesellschaft des Zuhörens« bezeichnet. Freinachts Buch führt Sie nicht nur tief hinein in die metamoderne Philosophie und lehrt Sie die Bedeutung der Entwicklungspsychologie für ein Verständnis der Gegenwart. Es gibt Ihnen auch die Tools an die Hand, um sich selbst und die Menschen in Ihrer Umgebung neu kennenzulernen. Und: Sie werden erkennen, wie wichtig es ist, die Weiterentwicklung von Menschen und der Gesellschaft durch politische Maßnahmen zu unterstützen. Sind Sie bereit, an dieser wagemutigen grand tour teilzunehmen?

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 827

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Hanzi Freinacht

Gesellschaft des Zuhörens

Auf dem Weg in die Metamoderne

© 2017 Erstveröffentlichung unter dem Titel The Listening Society: a Metamodern Guide to Politics. Book One im Verlag Metamoderna ApS, www.metamoderna.org unter der ISBN 978-87-999739-0-3.

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN (Print) 978-3-96317-355-4

ISBN (ePDF) 978-3-96317-916-7

ISBN (ePUB) 978-3-96317-917-4

Copyright © 2023 Büchner-Verlag eG, Marburg

Coverabbildung © DeinSatz Marburg | tn

Übersetzung aus dem Englischen (mit Ausnahme des Prologs): Sabine Manke; Übersetzung des Prologs: Timotheus Böhme und Ulrike Brandhorst; Redaktion des Gesamtmanuskripts: Ulrike Brandhorst, Sabine Manke

Grafik S. 1–2: Jan Hendrik Ax, janhendrikax.de/

Das Werk, einschließlich all seiner Teile, ist urheberrechtlich durch den Verlag geschützt. Jede Verwertung ist ohne die Zustimmung des Verlags unzulässig. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie, detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

www.buechner-verlag.de

Unsere Mission ist, kurz gefasst, diese:

Die zahlreichen physischen Kämpfe der ausgebeuteten Armen mit den psychologischen Kämpfen der verlorenen und leidenden Seelen in der Welt der Reichen zusammenzuführen.

Diese Kämpfe auszuweiten, um eine Zeit und Raum übergreifende Nachhaltigkeit zu erlangen.

Diese Solidarität auszuweiten, um das ungeheure Leid und die Vielzahl an Perspektiven im Reich der Lebewesen in seiner Ganzheit zu begreifen.

Und diesen Kampf zu vertiefen, bis er als Spiel wiedergeboren wird.

Inhalt

VorspannPrologDer politische Metamodernismus ist die ZukunftWer ist Hanzi Freinacht?Bronze-, Silber- und Gold-LeserEinführung: Was wir erreichen müssenÜber dieses Buch und den FolgebandMetamodernismus: der philosophische AntriebAkademische BlasphemieDie Lesenden begehren aufIhre erwartbaren EinwändeMehr erwartbare EinwändePsychoaktive TexteAufrichtige IronieErster Teil: Die neue politische LandschaftKapitel 1: So hat sich Politik gewandeltDie progressivsten Länder der WeltPostmaterialistische WerteEine Meta-Ideologie hat bereits gewonnenIn der Politik gibt es keine »Mitte«Ein unlukrativer Pakt für die WählerKapitel 2: KrisenrevolutionNeu ausgehobene GräbenHacker, Hipster und HippiesPolarisierung und Trumpismus – ein ErklärungsversuchDie mehrdimensionale KrisenrevolutionDie Wumms-GleichungKapitel 3: Der politische Metamodernismus in KurzformDie GrundideeSoll man Menschen wirklich glücklich machen?Verachten Sie das Glück nicht!Das Gefüge aus Schmerz und GlückseligkeitDen Kampf aufnehmenDie Risiken annehmenKapitel 4: Möglich und notwendigJa, es ist möglichUnd ja, es ist notwendigWas das für unseren Alltag bedeutetEin empirisches Beispiel: Meditation in SchulenEmotionale, soziale und kollektive IntelligenzNa, fühlen Sie sich schon provoziert?Kapitel 5: Die AlternativeDie Partei ohne InhaltEin echter VorsprungTransnationalismus, aber wirklichDie metamoderne AristokratieKapitel 6: Politische PhilosophieDie transpersonale Sichtweise: Jenseits des IndividuellenAus der Warte der KomplexitätJenseits von Links und Rechts, endlichNicht-lineare PolitikAbschied vom liberalen UnschuldslammZweiter Teil: Psychologische EntwicklungKapitel 7: Über StufentheorienDas fehlende PuzzleteilZur Verteidigung von Hierarchien unter MenschenPer Anhalter zur HierarchieEinführung in die ErwachsenenentwicklungDomänenspezifische Entwicklungstheorien»Globale« Stufentheorien der EntwicklungKapitel 8: Kognitive EntwicklungMeister L. CommonsDas Modell hierarchischer Komplexität (MHK)Was ist Intelligenz? Der Papagei sprichtKapitel 9: Die wichtigsten StufenStufe 10-AbstraktEinführung in Stufe 10-AbstraktAnschauliches Beispiel aus der WissenschaftsgeschichteDas gehtErfundenes BeispielDas geht nichtEinige Stufe-10-Abstrakt-AufgabenWie Menschen auf Stufe 10-Abstrakt über Politik denkenWie man einen Menschen auf Stufe 10 erkenntStufe 11-FormalEinführung in Stufe 11-FormalAnschauliches Beispiel aus der WissenschaftsgeschichteDas gehtErfundenes BeispielDas geht nichtEinige Stufe-11-Formal-AufgabenWie Menschen auf Stufe 11-Formal über Politik denkenWie man einen Menschen auf Stufe 11 erkenntStufe 12-SystematischDas gehtErfundenes BeispielDas geht nichtEinige Stufe-12-Systematisch-AufgabenWie Menschen auf Stufe 12-Systematisch über Politik denkenWie man einen Menschen auf Stufe 12 erkenntStufe 13-MetasystematischErfundenes BeispielWie Menschen auf Stufe 13-Metasystematisch über Politik denkenNein, ich kann es immer noch nicht glauben. Niemals!Konsequenzen für die GesellschaftKapitel 10: Symbolische EntwicklungRealdialektikCode und kognitive EntwicklungTeleologie und Determinismus?Kapitel 11: Die SymbolstufenDie ersten drei Symbolstufen: A, B und CSymbolstufe D-Postfaustisch (oder -Traditionell)Symbolstufe E-ModernSymbolstufe F-PostmodernSymbolstufe G-MetamodernLetzte Anmerkungen zu den SymbolstufenKapitel 12: Subjektive ZuständeRachegelüsteHohe Zustände, niedrige ZuständeDie Skala subjektiver ZuständeJenseits der EmotionenKapitel 13: Nach Höherem strebenEine Definition von »Spiritualität«Wie sich das tägliche Leben im Durchschnitt anfühltWas es bedeutet, seinen Zustand weiterzuentwickelnBeispiel einer Person in hohem ZustandKönnen niedrigere Zustände gut sein?Das Glaubwürdigkeitsproblem höherer ZuständeWarum sich spirituelle Gemeinschaften in Kulte verwandelnKapitel 14: TiefeAgonie und EkstaseTiefe vermessenTiefe entwickelnSchönheit, Geheimnis und TragödieTiefe als SchönheitTiefe als GeheimnisTiefe als TragikKapitel 15: Probleme mit WeisheitHelle und dunkle TiefeWeisheit ist überbewertetÜber Weisheit und KlugscheißerAm Beispiel Bertrand Russells’Kapitel 16: Das effektive Werte-MemDer seltsame OnkelWarum »Spiral Dynamics« nicht funktioniertVom wMem zum effektiven Werte-MemDie verschiedenen Dimensionen der Entwicklung kommen zusammenAnnäherung an das effektive Werte-MemArchaisches Werte-MemAnimistisches Werte-MemFaustisches Werte-MemPostfaustisches Werte-MemModernes Werte-MemPostmodernes Werte-MemMetamodernes Werte-MemKapitel 17: Wesentliche SchlussfolgerungenTod dem TürkisEine höhere Form des Säkularismus erhebt sichWarum sich mit einem Baby abmühen?Vorsicht vor KlischeesEinige dringend benötigte ZwischentöneEine unausgewogene Entwicklung macht Sie krankDer Stein der WeisenReißt sie in Stücke, verschont niemandenFolgen für die globale GesellschaftFalls Sie es immer noch nicht begriffen habenEntwicklung ist wichtig IBevölkerungen höherer StufenWarum die Postmodernen die Welt nicht retten könnenDie große BandbreiteEntwicklung ist wichtig IIAnhang MetamodernismusDrei Bedeutungen des Begriffs MetamodernismusDas metamoderne ParadigmaDie Metamoderne Haltung zum LebenDie metamoderne Sicht auf WissenschaftDie metamoderne Sicht auf die RealitätDie metamoderne Spiritualität, Existenz und ÄsthetikDie metamoderne Sicht auf GesellschaftDie metamoderne Sicht auf den MenschenHerkunft des Begriffs »Metamodernismus«Der Unterschied zwischen Postmoderne und MetamodernismusEinem neuen Metamodernismus zur Existenz verhelfenEndnoten

Vorspann

Prolog

»Okay, okay, ich hab’s verstanden, wirklich. Da gibt es dieses Gerede von etwas, das sich ›politischer Metamodernismus‹ nennt – man sagt, es sei eine neue Ideologie, die freiheitliche Demokratie und Kapitalismus, so wie wir sie kennen, ablöst. Heimlich, still und leise, so meinen ihre Verfechter, bewerkstellige sie die völlige Zerstörung von Sozialismus, Liberalismus, Konservatismus und ökologischer Bewegung, schlage sie diese mit ihren ureigenen Waffen – und ließe indes viele Menschen verletzt zurück. Es heißt, der politische Metamodernismus sei in der Lage, das Leben von Millionen und Abermillionen von Menschen langsam, aber auf umfassende Weise zum Besseren zu wenden, indem er Sozial- und Wirtschaftssystem tiefgehender ausgestaltet und uns so in eine vernünftigere und freundlichere Welt führen wird. Das Sozialsystem des politischen Metamodernismus bezeichnet man als eine ›Gesellschaft des Zuhörens‹ – eine listening society. Es heißt, all dies werde sich langsam, aber unweigerlich im Rahmen der kulturellen und wirtschaftlichen Entwicklung der sozial und technisch am weitetesten fortgeschrittenen Gesellschaften der Welt, wie zum Beispiel den skandinavischen, ergeben. Es sei nicht nur für jeden Einzelnen ausgesprochen empfehlenswert, sondern sogar ein Dienst an der Menschheit und dem Rest der leidenden Tierwelt, die ›Listening Society‹ zu verstehen und sich mit ihr zu verbünden. Natürlich sind damit, wie bei allen mächtigen Dingen, auch Risiken verbunden … Aber: Ist das überhaupt real?«

Nun, mein Freund, da zäumen Sie das Pferd von der falschen Seite auf. Ob etwas »real« ist, ist in gewisser Weise die dümmste Frage, die man stellen kann. Zumindest wenn man wenigstens eine ungefähre Ahnung davon hat, was Realität ist. Realität ist nämlich sehr viel mehr als das, was gemeinhin als »Tatsachen« betrachtet wird. Die wirkliche Realität lebt an der Kreuzung von Fakten und Fiktion. Sie entsteht genau dann, wenn unsere Vorstellungskraft – die Geschichten, die wir uns selbst erzählen – auf die Tatsachen der Welt trifft und sie in einen Kontext setzt. Der politische Metamodernismus wird durch einen rebellischen Akt real: dadurch, dass wir eine gute Story erzählen, die ihre Zuhörerschaft nicht mehr loslässt und sie bereichert.

Dieses Buch besteht hauptsächlich aus Fakten und mischt sie mit einem Quäntchen Fiktion – das heißt, dass ich Gefühle, Träume, Aphorismen, geistige Bilder und ein paar fundierte Vermutungen mit einflechte. Dabei spiele ich mit der Sprache und mit meiner Beziehung zu Ihnen, liebe Leserin, lieber Leser.

Abgesehen davon war Ihre Zusammenfassung aber ganz okay. Politischer Metamodernismus ist heute die weltweit wirkmächtigste Ideologie und es wäre dämlich, nichts darüber erfahren zu wollen. Ob Sie diese Ideologie nun mögen oder nicht, ob Sie sie befürworten oder nicht: Es ist angeraten, sich mit ihr zu beschäftigen.

Übrigens: Falls Ihnen beim Begriff »Ideologie« schaudert, können Sie ihn auch gerne ersetzen gegen »die Art und Weise, wie wir in Bezug auf die Gesellschaft denken und fühlen«. Denn das ist etwas, was wir alle unleugbar tun – selbst Sie.

Dieses Buch handelt von Ihnen: von Ihrer intellektuellen und emotionalen Entwicklung und Ihrem Platz und Status in dieser Welt. Es geht aber auch um die Gesellschaft und um Beziehungen, um andere Menschen und Tiere. Darum, wie uns ein tiefer gehendes soziologisches Verständnis der Welt helfen kann, ihr voll Mitgefühl zu dienen, und warum das so ist.

Fakten und Fiktion zu vermischen ist natürlicherweise etwas für Kinder und Verrückte. Genauer betrachtet wird allerdings klar, dass wir alle dies tun. Die Frage ist lediglich, wie bewusst und konstruktiv dies geschieht. Ich verwende das Quäntchen »Fiktion«, damit dieses Buch als Strömung der politischen und kulturellen Veränderung lebendig werden kann. Der Unterschied zwischen dieser Herangehensweise und trockeneren, eher traditionellen akademischen Büchern über Sozialwissenschaft besteht darin, dass dieses Buch zu seinem fiktionalen Anteil steht. Wir nehmen Hanzis Freinachts Rolle als Intellektueller nicht so ernst, aber dafür den notwendigerweise fiktionalen Anteil der Wirklichkeit umso mehr. Verabreicht mit einem Löffelchen fiktionalen Zuckers schmecken uns die Fakten am besten. Damit wir uns nicht falsch verstehen: Die bittere Medizin müssen wir trotzdem schlucken. So funktioniert das.

Die meisten politischen Intellektuellen, von Nancy Frazer bis Milton Friedman, von Noam Chomsky bis Arne Næss1, werfen sich in diese dämlichen Posen, um möglichst seriös und wissenschaftlich zu wirken. Doch dabei bleiben sie ihren Ideen emotional verhaftet und erzählen zu Tränen rührende (fiktive) Geschichten darüber, warum ihre eigene Perspektive die richtige ist und sie selbst demütige Helden und Diener der Wahrheit. Ich nehme diese lächerliche Maske hiermit ab. Und ehrlich gesagt sollten Sie dies auch tun. Aber wie lässt sich diese Maske abnehmen? Nun, indem Sie zugeben, dass Sie sie tragen – und sie anschließend bewusster einsetzen.

Ich erzähle Ihnen diese Geschichte jetzt einfach und dann können Sie damit herumspielen. Denn nur so beginnt das Handeln. Nur so können wir die Welt tatsächlich verändern – und unterwegs ein sehr schönes, wenn auch gefährliches Abenteuer erleben. Politik ist, genau wie das Leben, immer ein Experiment. Wir müssen bereit sein, Risiken einzugehen. Wir müssen bereit sein, verletzt zu werden, wenn wir tiefgehenden Wandel (mit allen Vor- und Nachteilen) herbeiführen wollen – eine echte Veränderung, die den Namen auch verdient hat.

Der politische Metamodernismus ist die Zukunft

Ich will Ihnen also etwas erzählen über das, was ich politischen Metamodernismus nenne. Dabei handelt es sich um eine neue Sicht auf Politik, die nicht nur verändert, wie wir Politik machen, sondern auch und zuallererst die Rolle, die ihr in der Gesellschaft zukommt. Natürlich verändert diese neue Sicht auch unsere Ziele in Hinblick darauf, was wir in der Gesellschaft erreichen wollen, und erklärt uns, warum das so ist.

Grob vereinfacht strebt der politische Metamodernismus eine Gesellschaftsform an, die als Nachfolgerin der »modernen Gesellschaft« betrachtet werden kann und gleichzeitig über das hinausgeht, was wir für gewöhnlich darunter verstehen. Nehmen wir zum Beispiel ein modernes Land wie Schweden und machen wir uns bewusst, wie sehr es sich politisch, sozial und wirtschaftlich in den letzten hundert Jahren verändert hat. Wie sehr sich seine Bevölkerung verändert hat. Wo kommen zum Beispiel die ganzen Hacker, Yoga-Praktizierenden und veganen Feministinnen her?

Die Sozialdemokraten des frühen 20. Jahrhunderts hatten eine Ideologie – und zwar eine Vision beziehungsweise eine klare Vorstellung davon, wie der zukünftige Sozialstaat aussehen sollte. Dieser Staat hat sich zu großen Teilen erfolgreich materialisiert. Aber seit ein paar Jahrzehnten fehlen uns solche Visionen oder Ziele, obwohl die Welt sich schneller verändert als je zuvor und wir mehr technische Möglichkeiten haben, als dies jemals der Fall war. Wo also sind unsere großen politischen Visionen?

Im Ernst: Wo sind sie? Die Linke kämpft nur noch um den Erhalt des Sozialstaats, die Grünen setzen sich für die Nachhaltigkeit unserer bestehenden Gesellschaft ein, die Rechtsliberalen wollen weiter das Wirtschaftswachstum ankurbeln und die Rechtsnationalen beziehungsweise die Rechtskonservativen wollen angesichts von Immigration und Globalisierung den alten Nationalstaat aufrechterhalten. All diese Bewegungen und Ideologien sind einer Vorstellung von Parteipolitik verhaftet, wie sie in der industriellen Gesellschaft mitsamt ihren Klassen und Problemen entstanden ist. Nichts davon bringt uns etwas wirklich Neues oder Substanzielles, was unsere Leben heute auf eine Art und Weise verbessern könnte, wie das einst der Aufbau einer modernen, freiheitlichen Demokratie mit Marktwirtschaft und Sozialstaat vollbracht hat. Welches System würde Entsprechendes für die Gesellschaft der Zukunft leisten, einer Gesellschaft, die – wie wir wissen – globalisiert, digitalisiert und postindustriell sein wird? In welche Richtung kann und soll sich unsere Gesellschaft entwickeln? Hat diese Frage keine Berechtigung? Ich finde, das hat sie. Ich finde, es ist zutiefst verstörend, dass wir – die Menschheit – nicht über diese Frage diskutieren.

Und hier kommt der politische Metamodernismus ins Spiel. Der politische Metamodernismus möchte eine Gesellschaft verwirklichen, die sich ebenso stark von der heutigen Gesellschaft (in Schweden, aber auch anderswo) unterscheidet wie das Schweden von heute von dem des frühen 20. Jahrhunderts. Alles wird sich ändern, sei es zum Guten oder zum Schlechten: Die Menschen werden anders wählen, anders lernen, anders arbeiten, leben und reisen. Sie werden sogar anders lieben und sich anders sozialisieren. Wir werden andere Vorstellungen von der Welt und unserem Platz in ihr haben. Einfach nur am Leben zu sein – selbst das – wird sich anders anfühlen.

Das Ziel des politischen Metamodernismus besteht also darin, uns von der »modernen« Stufe der Gesellschaftsentwicklung (freiheitliche Demokratie, Parteipolitik, Kapitalismus, Sozialstaat) auf die nächste, »metamoderne« Entwicklungsstufe zu heben. Es geht darum, unsere freiheitliche Demokratie als politisches System, unsere politischen Parteien und ihre Ideologien, den Kapitalismus als Wirtschaftssystem und unseren Sozialstaat zu überbieten und zu ersetzen. Voilà. Habe ich nun Ihre Aufmerksamkeit?

Der politische Metamodernismus ist um eine zentrale Einsicht herum errichtet: Der Königsweg zu einer guten Zukunftsgesellschaft besteht in persönlicher Entwicklungund seelischem Wachstum. Menschen entwickeln sich sehr viel besser, wenn ihre innersten seelischen Bedürfnisse erfüllt sind. Wir suchen also nach einer »tieferen« Gesellschaft, einer Gesellschaft, die über mehr soziale Fähigkeiten und emotionale Intelligenz sowie eine existenzielle Reife verfügt.

Der politische Metamodernismus besteht aus drei Teilen:

Der Gesellschaft des Zuhörens(im Sinne eines aufmerksamen, der einzelnen Person zugewandten Sozialstaats) – sie wird der Sozialstaat der Zukunft, der auch emotionale Bedürfnisse miteinschließt und das psychologische Wachstum aller Bürger unterstützt. Eine Gesellschaft, in der alle gesehen und gehört werden (und nicht manipuliert und der Überwachung unterworfen – was die degenerierten Formen des Gesehen- und Gehörtwerdens sind).Ko-Entwicklung – eine Art des parteiübergreifenden, politischen Denkens, das Angelegenheiten des Egos wie emotionale oder ideologische Voreingenommenheiten in Schach hält und das generelle Klima im politischen Diskurs verbessern möchte: »Ich entwickle mich, wenn du dich entwickelst. Selbst wenn wir nicht einer Meinung sind, kommen wir der Wahrheit näher, wenn wir unvoreingenommen miteinander reden und die Standards im Umgang miteinander anheben.«Die skandinavische Ideologie – so bezeichne ich das politische System, das die langfristige Umsetzung einer Listening Society und einer gemeinschaftlichen Entwicklung befördern kann. Die Bezeichnung rührt daher, dass die ersten Keime dieser Ideologie in und um Skandinavien aufgegangen sind. Diese Weltanschauung umfasst sechs neue Formen der Politik, die gemeinsam dazu beitragen, die Gesellschaft von Grund auf neu zu gestalten. Hier geht es vornehmlich darum, Bürger vor neuen Formen der Unterdrückung zu schützen, die Begleiterscheinungen einer »tieferen« Gesellschaft sein können. Diese neuen Formen der Unterdrückung sind weniger leicht erkennbar und eher auf psychologischer Ebene angesiedelt als diejenigen, die wir aus dem 20. Jahrhundert kennen.

Wenn ich von politischem Metamodernismus spreche, meine ich also das Gesamt dieser drei Aspekte, wobei es in diesem Buch vor allem um die Gesellschaft des Zuhörens geht. Außerdem wird erklärt, wie wir uns als Menschen weiterentwickeln und psychologisch wachsen können. Dabei gehe ich davon aus, dass ein enger Zusammenhang zwischen dem intellektuellen, kognitiven und emotionalen Wachsen und Werden der Menschen und der positiven wie negativen Entwicklung einer Gesellschaft besteht. Deswegen sollte – beziehungsweise muss – es allererste politische Priorität werden, die psychologische Weiterentwicklung aller Mitbürger zu unterstützen.

Das nächste Buch mit dem Titel Die skandinavische Ideologie wird sich damit beschäftigen, wie Gesellschaften sich weiterentwickeln, wie dieses neue politische System funktioniert und wie es das heutige System der freiheitlichen Demokratie übertrumpfen wird.

Ich bin immer mehr davon überzeugt, dass der politische Metamodernismus herausragend dafür geeignet ist, gesellschaftliche Missstände zu beheben, wie zum Beispiel:

die vielschichtige ökologische Krise;die Unbeständigkeit der Wirtschaft;die extremen globalen Ungleichheiten;die weitverbreiteten Ängste und die »Entfremdung« der modernen Menschen;die Herausforderungen der weltweiten Migrationsbewegungen;den Übergang in eine postindustrielle, automatisierte und digitalisierte Wirtschaft;und die Herausforderungen einer transnationalen Governance.

In anderen Worten: Ich glaube, dass diese Weltanschauung einen konstruktiven Umgang mit den Hauptproblemen der Spätmoderne ermöglicht. Die Listening Society ist die Brücke, über die wir innerhalb weniger Generationen von der modernen Welt in eine metamoderne Gesellschaft gelangen können.

Im Grunde genommen definiert sich eine metamoderne Gesellschaft wesentlich als eine, die die Probleme der modernen Gesellschaft »gelöst« hat, ziemlich genau so, wie die moderne Gesellschaft die Probleme der vorindustriellen, traditionellen Gesellschaft »löste«, indem sie Armut, Krankheiten, Kriege, Leibeigenschaft, Sklaverei und den Missbrauch monarchischer Macht drastisch reduzierte.

Da metamodernes Denken unsere heutige Logik zum großen Teil in sich aufnimmt, eignet es sich auch für Sie persönlich – besonders, wenn Sie politische Ambitionen hegen. Dazu später mehr.

Wer ist Hanzi Freinacht?

Sollten Sie wie andere menschliche Tiere ticken, dann folgt Ihr soziales Denken einer rhetorischen Logik, wie sie Aristoteles vor über zwei Jahrtausenden dargelegt hat. Das bedeutet, dass, wenn Sie für die rationalen Argumente in diesem Buch, also den logos, empfänglich sein wollen – beziehungsweise wenn Sie überhaupt in der Lage sein wollen, das zu verstehen, was ich Ihnen hier mitteile –, Ihre Gefühle mit angesprochen werden müssen (pathos). Und Sie müssen – und das ist der eigentliche Punkt hier – eine Beziehung zu mir, dem Autor haben: zu meinem ethos. In diesem Zusammenhang werden Sie wahrscheinlich drei Dinge wissen wollen:

ob ich mich an die Realität halte oder ob es sich hier um schwerwiegende Wahrnehmungsstörungen handelt,ob ich moralisch gut oder schlecht und ob ich »auf Ihrer Seite« bin, undob ich intelligent, eine Kapazität und kompetent bin (also, ob meine Worte wirklich Gewicht haben).

Also wer ist dieser »große Hanzi Freinacht«, diese wagemutige Person, die meint, uns sogar von der nächsten Leitideologie erzählen zu können, die freiheitliche Demokratie und Kapitalismus überbieten und ersetzen wird? Ein Großteil der Antwort hängt von Ihnen ab, liebe Leserin, lieber Leser. Welche Stimme geben Sie diesen Worten in Ihrem Inneren? Denken Sie an Disneys König der Löwen: Ist meine Stimme so volltönend, vertrauenseinflößend und voller Güte wie die des Löwenkönigs? Oder ist es die quietschende, fiese und aufsässige Stimme dieser merkwürdigen Nazi-Hyänen, die gierig darauf warten, selbst ein Stück vom Fleisch zu ergattern? Oder spreche ich vielleicht mit der bösartigen, beherrschten Stimme des verräterischen Königsbruders? Hören Sie ein aufmüpfiges Kind, einen gealterten Meister oder einen aufgeklärten Akademiker?

Ich bin studierter Sozialwissenschaftler und politischer Philosoph. Im akademischen Bereich habe ich mich vor allem mit kriminologischen Fragen befasst, zum Beispiel mit Feldstudien innerhalb der Polizeikräfte und der Bedeutung der Ethnizität im Rechtssystem. Mein wichtigster Mentor war ein exzentrischer, aber faszinierender Psychologe und Mathematiker an der Harvard-Universität, Michael Lamport Commons, von dem das Modell der hierarchischen Komplexität (Model of Hierarchical Complexity – MHC) stammt. Dabei handelt es sich um eine mächtige psychologische Theorie, mit der wir uns in diesem Buch noch ausführlicher beschäftigen werden (Kapitel 8 und 9). Weite Teile der hier vorgestellten Ideen sind durchdrungen vom Genius des Commons’schen Werks und seiner umfassenden Anwendbarkeit auf zahlreiche Fragestellungen in Natur, Wissenschaft und Gesellschaft.

Was mich persönlich anbelangt, kann ich sagen, dass mir den Großteil meines Erwachsenenlebens ein Sinn für Tragik nachfolgte, eine subtile, aber alles durchdringende Traurigkeit, scheinbar Teil des Hintergrunds – gedämpft, ernst, reglos. Sie hat keinen Einfluss auf meine alltäglichen Erlebnisse oder Begegnungen. Ich kann optimistisch, ausgelassen oder gelassen sein. Aber sie steht im Mittelpunkt meiner Lebensziele, Hoffnungen und Entscheidungen. Ich glaube, dass viele Menschen dieses Gefühl kennen. Wenn ich darüber spreche oder diesbezüglich etwas andeute, bemerke ich oft, dass der Blick meines Gegenübers für einen Moment einfriert, aber auch wie dessen Augen etwas weicher werden. Vielleicht ist das ein Gefühl des Wiedererkennens.

Es kann sein, dass diese Traurigkeit ihre Wurzeln in meinen Lebenserfahrungen hat, in den (nicht besonders außergewöhnlichen) Widersprüchen und Widrigkeiten, die ich durchlebt habe. Erwachsenwerden hat für mich vor allem bedeutet, mit dieser Traurigkeit und einer damit einhergehenden tiefgreifenden und grundlegenden Angst Frieden zu schließen. Es war eine lange, schmerzvolle, existenzielle und – ich wage zu sagen – spirituelle Reise, in deren Verlauf ich paradoxerweise eine anscheinend nachhaltige Quelle des Glücks und des Sinns gefunden habe. Das wunde Herz selbst wurde so zum Hauptantrieb meines Lebenswerks. In ihrer reifen Form weitete sich diese ernste Traurigkeit aus. Sie wandelte sich in ein Empfinden für die Tragik dieser Welt, für das Leiden anderer und – vielleicht sogar noch mehr – in ein Bewusstsein für den Verlust von Schönheit und von Potenzialen, die niemals zur Umsetzung gelangen.

Dieses Buch spricht eher den Geist an, es ist ein Werk des Intellekts. Ich stelle darin Ideen und Konzepte vor, um mein Anliegen zu untermauern und Ansichten zu entwickeln, die ich mit Ihnen teilen möchte. Aber, werte Freundin, werter Freund, seien Sie sich bewusst, dass ich dies aus einer subtilen Sehnsucht meines Herzens heraus schreibe. Ich möchte herausfinden, wie diese Gesellschaft in der realen Erfahrung von Menschen und ihren Mitlebewesen besser werden kann. Ich bin zu der Überzeugung gelangt, dass es solche Möglichkeiten und Wege nicht nur gibt, sondern dass sie gegenüber unserer heutigen Form der Politik und des Wirtschaftens zunehmend einen Wettbewerbsvorteil aufweisen und sinnvoll sind. Ebenso bin ich davon überzeugt, dass diese Wege durch Sie selbst hindurch verlaufen, liebe Leserin, lieber Leser. Doch dieses Vorgehen ist schwierig und gefährlich, worauf ich in diesem und dem Folgeband noch näher eingehen werde.

Vielleicht täusche ich mich auch und diese Wege sind nicht gangbar, aber ich möchte doch wenigstens diese Gedanken mit Ihnen teilen und sehen, wohin sie führen. Ich kann nur hoffen, dass irgendwo irgendjemand zuhört und versteht. Und auch ich werde Ihnen meinerseits zuhören, soweit es meine emotionalen und intellektuellen Fähigkeiten erlauben.

Während ich dieses Buch schreibe, lebe ich allein in einem Haus im französischsprachigen Teil der Schweizer Alpen. Ich habe es mir von einem wohlhabenden Mann und seiner Familie geliehen. Soweit ich weiß, ist er Milliardär, aber ich habe nicht nachgefragt. Er ist ein Selfmademan, der früher als Banker tätig war. Ein Physiker und philosophischer Entdecker, der meine Ideen seit einiger Zeit unterstützt. Mittlerweile betrachte ich ihn als guten Freund. Zwar lebe ich zurzeit fernab von der Familie und all denen, die mir in Freundschaft oder Liebe verbunden sind, aber so konnte dieses Buch in Ruhe und Frieden geschrieben werden. Mit Blick auf die majestätischen Berggipfel, die sanften, grünen Täler mit ihren Siedlungen und einem vielgestaltigen, von rauen Felskanten gezeichneten Horizont, der sich meist von einem strahlend blauen Himmel abhebt. Das Haus ist groß und aus Holz, ein sogenanntes Chalet, mit riesigen Fenstern, die das Licht hereinlassen und einen weiten Blick gestatten. Wochen- und monatelang treffe ich keine anderen Menschen.

Ich halte mich an einen festen Plan: täglich drei Stunden Meditation, eine Stunde körperliche Ertüchtigung, einen halben Tag Studium und einen halben Tag Schreiben. Ich ernähre mich vegan mit einem hohen Anteil an Nüssen und Beeren und nehme B12 und Omega 3 zur Nahrungsergänzung. Manchmal gehe ich alleine in den Bergen spazieren, gebe mich Tagträumen hin oder spreche mir laut Passagen aus dem Buch vor. Während meines Lebens hier denke ich für gewöhnlich nicht einmal an Familienleben, heiße Typen, Sex mit Studierenden, Hasch oder LSD – es sei denn als gesellschaftliche Gegenstände.2 Im Haus gibt es auch eine Sauna und einen großen Whirlpool vor einem riesigen Fenster mit Blick in die Bergwelt. Nur die summenden Fliegen leisten mir Gesellschaft im schäumenden Wasser. Und die Philosophen. Und die Ideen. Und das entschlossene Ringen um eine tiefgreifende, wirkmächtige Veränderung der Gesellschaft.

Ist Hanzi jetzt gut oder böse? Ich weiß es nicht genau. Manche nennen Hanzi Freinacht einen Spieler, der mit seinem eigenen Leben, allzu gefährlichen Gedanken und der Zukunft unserer Gesellschaft spielt. Andere gehen so weit, mich einen Scharlatan zu nennen, einen Betrüger oder Angeber, einen intellektuellen Hochstapler. Ich stellte zu große Fragen, spräche mit zu großer Überzeugung und zu lebendig und verführerisch über zu große Themen. Da kann ich wohl kaum Gutes im Schilde führen, oder?

Ich gebe nicht vor, nur aus den lautersten Absichten heraus zu handeln. Aber ich bin felsenfest davon überzeugt, dass es in risikoreichen Zeiten einen Spieler braucht, der bereit ist zum höchsten und vielversprechendsten Einsatz. Und in den verworrensten Diskursen kann nur ein Scharlatan die Wahrheit aussprechen.

Bronze-, Silber- und Gold-Leser

Ich bin auch davon überzeugt, dass dieses Buch, sollten seine Ideen sich verbreiten, eine Menge freundlicher und intelligenter Menschen vor den Kopf stoßen und verwirren wird – auf viele verschiedene, feinsinnige wie abgründige Arten.

Vielleicht bilde ich mir auch nur ein, dass meine Worte solche Auswirkungen haben können. Aber tatsächlich glaube ich, dass Schreiben niemals etwas Demütiges hat, immerhin geht es dabei um stundenlanges Monologisieren ohne Unterbrechung oder Entgegnung. Und wenn man über die Gesellschaft spricht, und das auch noch mit analytischer Strenge, dann kommt es vor, dass man Menschen verletzt. Ob es nun also anmaßend ist oder nicht: Ich glaube, dass ich die Wirkung meines Textes durchaus richtig einschätze.

Trotzdem fahre ich ohne Anflug von moralischem Skrupel fort, zu schreiben und zu veröffentlichen. Ein echter Autor darf sich bei wichtigen Themen nicht den Illusionen intellektueller oder gesellschaftlicher Unschuld hingeben. Gedanken und Ansichten sind so wichtig, dass sie jedwede Verletzung anderer aufwiegen.

Wie wir in späteren Kapiteln im zweiten Teil dieses Buches sehen werden, sind diese Verletzungen entwicklungspsychologisch erklärbar. Dieses Buch zu schreiben hat etwas ähnlich Vulgäres an sich, wie einem kleinen Kind sexuell aufgeladene Bilder zu zeigen. Viele – oder die meisten – Menschen sind einfach noch nicht bereit, die hier geteilte Botschaft zu empfangen. Das gilt auch für die meisten Gesellschaften, sozialen Gruppen oder Milieus.

Doch in diesem Fall sind es nicht die Jüngsten, für die meine Ansichten die größte Bedrohung darstellen. Es sind nicht ihre Vorstellungen, die auf die Probe gestellt werden. Meine ideale Leserin ist ungefähr zehn Jahre alt. Sie ist begabt, aber in der Schule fügt sie sich nicht so gut ein. Nicht immer tut sie das, was Eltern oder Lehrer ihr sagen. Die digitale Welt von heute ist ihr Element. Als Erwachsene wird sie idealistisch sein und Dinge hinterfragen – und sie wird spüren, dass etwas in unserer Gesellschaft grundlegend falsch läuft. Wenn sie ein Universitätsstudium beginnt oder anderweitig ihre Sicht der Welt weiterentwickelt, wird sie feststellen, dass die Bildungsangebote, die Antworten ihrer Eltern und Lehrkräfte, der Medien und der führenden Persönlichkeiten allesamt nicht weit genug reichen. Dass sie irgendwie das Ziel verfehlen. Dass sie ihrer Realität nicht gewahr werden, der neuen Realität. Und dann ist da Hanzi Freinacht, der das, was sie erlebt, in Worte fasst. Der Zusammenhänge herstellt. Sie schaut in den Spiegel und ihr wird klar, dass sie diejenige ist, die eine völlig neue Gesellschaft auf den Weg bringt.

Eine weitere Ursache für Verletzungen ist der unvermeidliche Missbrauch von Ideen. Philosophen, Soziologinnen und Wirtschaftswissenschaftler, ja sogar Physiker und Mystikerinnen, haben allesamt Fehlinterpretationen erfahren und ihre Werke wurden pervertiert und missbraucht. Dadurch haben sie direkt oder indirekt Verletzungen und Verwirrung ausgelöst. So wird es zweifellos auch dem auf diesen Seiten vorgestellten politischen Metamodernismus ergehen. Und wie die Arbeit aller Denker wird auch meine Arbeit, wenn sie Fuß fasst, in mancher Hinsicht positive und in anderer Hinsicht negative Auswirkungen haben. Das liegt in der Dialektik begründet, die dem Leben eignet.

Auf einer persönlicheren und intimeren Ebene errichten Menschen psychologische Barrieren, um sich vor dem Schmerz zu schützen, der entsteht, wenn treffende Ideen ihre Überzeugungen und emotionalen Voreingenommenheiten ins Wanken bringen. Der üblichste Abwehrmechanismus ist natürlich der, das Buch einfach wegzulegen, es zu ignorieren und zu vergessen. Zur Verfügung steht aber auch, das Buch lächerlich zu machen, es mehr oder weniger bewusst falsch zu interpretieren oder sich bestimmte Details herauszupicken, diese infrage zu stellen und dabei das Gesamtbild außer Acht zu lassen. Oder eben sich den Text von einer fiesen Hyänenstimme gesprochen vorzustellen.

Sie können alle diese Strategien gerne anwenden. Im Laufe der Jahre konnte ich so oft beobachten, wie viel Schmerz im Ringen mit der metamodernen Perspektive entsteht. Menschen werden von ihr besessen, sie leisten Widerstand, sie wüten, sie verfluchen oder schmähen sie, sie greifen auf Selbstzensur zurück oder finden Gründe, um sich fürchterlich vor den Kopf gestoßen zu fühlen. Mir ist der Grund dafür bewusst: Meine Theorien beleidigen das vorherrschende moralische Empfinden der Menschen aufs Tiefste. Ich spucke ihren politischen Identitäten, seien diese rechts oder links, anarchistisch oder konservativ, geradewegs ins Gesicht. Es ist die altehrwürdige Aufgabe des Philosophen, auf alles zu scheißen, was Ihnen wert und heilig ist, und zu zeigen, dass Ihre Götter falsch sind.

Wie sollte es auch anders sein? Um eine Gesellschaft wirklich voranzubringen, müssen wir anspruchsvolle Ideen vorlegen, die unsere heutigen Gesellschaften, selbst die idealistisch progressivsten unter ihnen, als unethisch, unfreundlich, primitiv, heuchlerisch und vorurteilsbeladen demaskieren. Das Bessere, so schrieb Voltaire, ist der Feind des Guten. Ich greife Ihr Zeitalter, Ihre Gesellschaft und Ihre Art zu leben an. Wenn Sie dieses Buch unerträglich finden, müssen Sie es nicht zu Ende lesen oder die darin enthaltenen zentralen Ideen kennenlernen oder verstehen.

Aber natürlich heiße ich Sie als intellektuellen und geistigen Widersacher willkommen. Für einen der Dialektik zugeneigten politischen Philosophen sind seine Nachfolger aus Bronze, seine kundigen Kritiker aus Silber und seine geistigen Widersacher aus geschmolzenem Gold. Unkundige Kritik ist hingegen nichts als der Schmutz an meinen Schuhen und den hochgekrempelten Ärmeln. Und dann ist da leider auch noch ein beachtlicher Teil an Katzengold.

Vor allem aber suche ich nach tatkräftigen Mitschaffenden mit starker Vorstellungskraft – Leute, für die diese ganzen gesellschaftlichen Hierarchien (bin ich besser als Hanzi oder andersrum?) und diese Fragen nach »gut oder böse« nicht so wichtig sind. Das sind Menschen, die wissen, wann es angebracht ist, sich einer Sache anzuschließen, Kritik zu äußern, aufzubegehren oder die Führung zu übernehmen. Sie sind Kinder, die liebend gerne spielen. Sie kümmern sich nicht um akademische Titel oder bürgerlichen »Erfolg«, oder darum, ob jemand sich an die Regeln ihres bevorzugten literarischen Genres hält. Sie erkennen die Melodie, die ich spiele, reihen sich in den Tanz ein und schaffen spielerisch eine neue Gesellschaft und eine neue Wirklichkeit.

Nach all diesen Klarstellungen behalten Sie bitte im Hinterkopf, dass Sie hier die Verantwortung tragen, nicht ich. Ich bin nichts als tote Buchstaben auf einem Papier oder einem Bildschirm. Sie erschaffen das hier durch Ihre Art zu lesen mit. Sie können mich auseinandernehmen, neu ordnen, zitieren, ignorieren, interpretieren und Teile von mir in einen Kontext stellen, von dem ich nicht einmal träumen kann. Die Lesenden, nicht die Schreibenden besitzen die Macht. Seien Sie also willkommen, Mitschaffende, ich bin Ihnen ausgeliefert.

Wie ein gewisser Zarathustra sprach:

»Gefährten sucht der Schaffende und nicht Leichname, und auch nicht Heerden und Gläubige. Die Mitschaffenden sucht der Schaffende, Die, welche neue Werthe auf neue Tafeln schreiben. Gefährten sucht der Schaffende, und Miterntende: denn Alles steht bei ihm reif zur Ernte.«3

Einführung: Was wir erreichen müssen

Was müssen wir mit diesem Buch erreichen? Sie werden eine politische und sozialwissenschaftliche Theorie kennenlernen, die – falls ausreichend Menschen sie verstehen – das Leben kommender Generationen dramatisch verbessern kann und dies auch tun wird. Zudem wird sie der Menschheit und anderen Lebewesen einen Ozean an Leid und Zerfall ersparen. Das behaupte ich.

Was Sie hier lesen, ist nichts anderes als ein Schlachtplan zur Veränderung der Welt – etwas, dessen wir alle dringend bedürfen in Anbetracht der enormen Herausforderungen, die vor uns liegen. Und die Welten von Mäusen und Menschen sind nun mal politischer Natur. Politik bedeutet Machtspiele. Macht spielt eine Rolle bei sämtlichen Angelegenheiten des Lebens. Wer trifft die Entscheidungen? Wen hält man für moralisch einwandfrei und sexy? Wer darf intelligent und seriös sein oder der coole, romantische Rebell? Wer die freundliche, weise Frau oder der langweilige alte Sack? Wer hat lediglich schlechte Karten auf der Hand in einem Kampf, den man mit diesem Blatt nur verlieren kann? Welche Ideen regieren die Welt und schleichen sich so tief in unsere Gedanken und Träume, dass sie die Realität unseres Alltags schaffen und strukturieren? Das, mein Freund, meine Freundin, sind politische Fragen im eigentlichen Sinne.

Also, metamoderne Politik ist das Thema der Stunde. Was heißt das? Lassen Sie mich beginnen, indem ich Ihnen einige Fragen stelle. Ich möchte Ihnen jetzt Ihr eigenes Unwissen demonstrieren. Ich verstehe, dass das ein harter Schlag in Ihr schönes Gesichtchen sein könnte – absolut keine nette Sache. Aber Hanzi Freinacht ist nicht nett, sondern er hat recht. Und das ist etwas ganz anderes. Ich starre Ihnen jetzt direkt in die Augen und frage Sie langsam:

Erste Frage: Was ist menschliche Entwicklung?Zweite Frage: Was ist gesellschaftliche Entwicklung?Dritte Frage: Was ist Freiheit?

Die intellektuell weniger begabten Leser und Leserinnen unter Ihnen sind bereits jetzt damit beschäftigt, Wege aus diesem Würgegriff zu ersinnen:

»Wer sagt, dass es überhaupt so etwas wie menschliche Entwicklung gibt? Ich für meinen Teil bin so demütig und wertschätzend anderen gegenüber, vor allem Kindern, niedlichen Tieren und indigenen Kulturen, dass mir das Thema Entwicklung vollkommen egal ist. Und wer behauptet eigentlich, dass Freiheit so wichtig wäre? Ich meine, ein guter Mensch wie ich lebt für die Würde und die Pflicht, anderen zu dienen, und rennt nicht herum und versucht, ›frei‹ zu sein, was auch immer das heißen soll.«

Das Problem mit dieser Antwort ist, dass Sie sich selbst viel zu ernst nehmen und dafür das reale Leiden anderer Menschen und Lebewesen viel zu leicht. Lassen Sie mich das erklären.

Lassen Sie uns sagen, Sie sind »intellektuell so aufgeschlossen« und »moralisch so entwickelt«, dass Ihnen die menschliche Entwicklung tatsächlich egal ist. Das heißt, es bekümmert Sie nicht, wenn Ihr eigenes Kind hungert, sein Körperwachstum stockt, seine Gehirnentwicklung behindert und sein geistiges und emotionales Erleben für den Rest seines Lebens gezeichnet wird. Denn ich frage mich schon: Für wen halten Sie sich, dass Sie sich ein Werturteil über menschliche Entwicklung anmaßen? Vielleicht wäre ein verkümmertes Leben besser. Bingo.

Ach, und Sie sind so demütig, dass Sie meinen, Gesellschaften entwickelten sich nicht? Sie verändern sich nur und Sie könnten nicht sagen, welche besser wäre. Dann mache ich Sie jetzt zu einem Sklaven in meiner Kolonie, einer Baumwollplantage. Sie werden in Armut leben und selbst dazu beitragen, dass man Ihre Familie tötet, sollten Sie selbst Widerstand leisten. Wie bitte? Sie meinen, das sei barbarisch? Moment mal? Ich dachte, Sie wären über diese unbedeutenden Entwicklungsmodelle für die gesellschaftliche Wirklichkeit erhaben? Hmm, ich höre das nicht so gern, dass Sie andeuten, die heutige Gesellschaft wäre weiter entwickelt als das Amerika des 18. Jahrhunderts. Diese Arroganz!

Na gut, dann werden Sie in Nordkorea leben und unter Androhung der Todesstrafe alles an Zuneigung aufbringen müssen, dessen sie fähig sind, um tiefe Liebe zu Kim Yong-un zu empfinden, für den Rest Ihres Lebens. Und denken Sie dran: Er beobachtet Sie im Schlaf. Was heißt schon Freiheit? Wie können Sie es wagen, mir zu sagen, dass Liebe zum allerhöchsten Führer nicht Freiheit in ihrer erhabensten Form darstellt? Sehen Sie sich nur diese Wangen und diese Uniform an – und diese Frisur! Wie können Sie es wagen?

Also, falls das Ihre Reaktion war, machen Sie sich intellektuell und emotional selbst etwas vor. Natürlich sind Ihnen diese Dinge nicht egal und es wäre intellektuell und moralisch unhaltbar, wenn das anders wäre – auch wenn Sie aus guten Gründen »Freiheit« und »Entwicklung« andere Begriffe vorziehen mögen. In Wirklichkeit brennen Sie für diese Begriffe und wären mutmaßlich auch bereit, für sie zu sterben; eher als jemals ein Patriot bereit war, für sein Land zu sterben, oder eine Revolutionärin für die eigene Sache.

Intellektuell aufrichtigere und emotional reifere Leserinnen und Leser versuchen stattdessen, die Frage tatsächlich zu beantworten. »Äh, Sie meinen genau jetzt? Einfach so spontan, ohne Vorbereitung?« – Ja, genau jetzt. Ganz spontan. Genau so: Was ist die Hauptstadt von Frankreich? Paris. Wie viele Fingern haben Sie? Zehn (vermutlich). Was ist Freiheit?

Einige von Ihnen haben vielleicht Teilantworten auf diese Frage, aber ich liege sicher nicht falsch in der Annahme, dass diese nicht gerade klar, detailliert oder befriedigend sind. Es ist für uns nicht selbstverständlich, diese Fragen zu beantworten, selbst wenn wir eine Wissenschaftlerin mit einem Doktortitel in Philosophie sind. Denken Sie mal darüber nach. Wir haben diese drei Dinge – individuelle und gesellschaftliche Entwicklung ebenso wie Freiheit –, für die wir auf eine Weise brennen, dass wir dafür unter Umständen sogar unser Leben opfern würden. Und dennoch haben Sie, verdammt noch mal, keine Ahnung, worüber Sie eigentlich sprechen.

Dieses Buch (wie auch seine Fortsetzung) befreit Sie von diesem Übel. Im Anschluss an die Lektüre werden Sie ein wesentlich fortgeschritteneres Verständnis psychologischer und gesellschaftlicher Entwicklung haben. Im Folgeband werden Sie außerdem ein umfassendes und neuartiges Verständnis elementarer politischer Konzepte wie Freiheit und Gleichheit erlangen. Dann werden Sie wirklich wissen, wovon Sie sprechen. Natürlich nur für den Fall, dass Ihr Geist Sie nicht wieder mithilfe von Jedi-Kniffen austrickst und Sie sich in intellektuelle Unaufrichtigkeit flüchten, um dem Verstehen zu entkommen. Im Grunde genommen werden Sie von zwei verschiedenen Arten intellektueller Blindheit geheilt:

Entwicklungsblindheit – was bedeutet, dass Sie durchgängig nicht in der Lage sind, die Entwicklungsstadien von Menschen, Tieren und Gesellschaften zu erkennen.Blindheit gegenüber subjektiven Empfindungen – was bedeutet, dass Sie durchgängig nicht in der Lage sind, die subjektiven Aspekte des Lebens wahrzunehmen und auf welche fundamentale Weise diese Gesellschaft und Wirklichkeit formen.

Es gibt andere Formen von Blindheit, auf die dieses Buch ebenfalls zu sprechen kommt, aber diese beiden sind die wichtigsten. Leider sind sie in unserer Gesellschaft wie auch in den wissenschaftlichen Communitys sehr weit verbreitet.

Abgesehen davon bietet dieses Buch eine ziemlich einzigartige Perspektive auf Leben, Gesellschaft und Existenz, die in eigentlich allen Lebensbereichen von Nutzen ist.

Über dieses Buch und den Folgeband

Nach dem Einleitungskapitel, das Sie gerade gelesen haben, entfaltet sich dieses Buch – grob skizziert – in zwei Hauptteilen:

Der erste Teil erklärt die Grundlagen der metamodernen Politik. Kapitel 1 erläutert, wie das gesamte politische Spektrum sich gewandelt hat (und warum). Das anschließende Kapitel widmet sich der großen Krisenrevolution, die unser gegenwärtiges Zeitalter prägt. Das dritte Kapitel führt einige Beispiele der Gesellschaft des Zuhörens an und Kapitel 4 erörtert, wie und warum diese in der Praxis umsetzbar ist. Das fünfte Kapitel stellt neue politische Praktiken vor, darunter auch, wie die »prozessorientierte politische Partei« funktioniert, während das sechste Kapitel das Thema der metamodernen politischen Philosophie behandelt.

Der zweite Teil beschreibt, was mit der psychologischen Entwicklung des Menschen gemeint ist. Es hat elf Kapitel. Das erste führt in das Thema ein, während sich die nachfolgenden Kapitel wesentlichen Aspekten der Frage widmen, was psychologische Entwicklung für ein menschliches Wesen bedeutet: Je zwei Kapitel widmen sich dem Scharfsinn, dem Lernen, dem Wohlbefinden und der Weisheit und zwei abschließende Kapitel führen dies alles zusammen in einer Theorie, die ich als »effektives Werte-Mem« bezeichne (effective value meme). Immer wieder habe ich festgestellt, dass sich alles, was ich über metamoderne Politik lehre, auf magische Weise in Luft auflöst, solange Leute diesen Teil nicht verstehen: Warum Entwicklung wichtig ist. Es bleibt einfach nichts hängen, egal wie clever oder gebildet das Publikum ist. Ich habe das mit einem Raum voll Harvard-Professoren und -Professorinnen probiert (sie stammten aus den Bereichen Recht und Psychiatrie), aber ohne jeden Erfolg. Auch nur die schlichteste metamoderne Erkenntnis scheint vollkommen unverständlich zu sein. Doch in dem Moment, in dem Leute ihre Entwicklungsblindheit hinter sich lassen, folgt der Rest quasi zwangsläufig. Aber heißt das nun, dass wir erwachsene Menschen in ihren verschiedenen Entwicklungsstadien erforschen müssen? Ja. Genau das heißt es.

Das abschließende Kapitel zieht eine Bilanz des gesamten Buches.

Und in Die skandinavische Ideologie werden wir uns dann der Frage widmen, wie die Gesellschaft als ganze sich durch verschiedene Stadien hindurch entwickelt. Danach stellen wir sechs neue Formen von Politik vor, die zur Schaffung der metamodernen Gesellschaft notwendig sind, und diskutieren, wie der Metamodernismus bestehende Ideologien (Sozialismus, Liberalismus usw.) aus dem Feld schlägt. Dabei setzen wir den Metamodernismus in Beziehung zu den »gefährlichen Träumen« des 20. Jahrhunderts: den utopischen und totalitären Bewegungen von Kommunismus, Faschismus und New Age. Nur dass der Totalitarismus in diesem Zusammenhang – entgegen unserer geschichtlichen Erfahrungen – nicht eindeutig böse ist. Aber das ist eine lange Geschichte.

Zugegeben: Diese beiden Bände sind gefährliche Bücher. Aber angesichts der Tatsache, dass wir in Zeiten leben, die man milde gesagt als interessant bezeichnen könnte, halte ich sie für notwendig.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass dieses Buch Ihr Leben verändern wird und das nächste dann die Welt. Oder vielleicht werden eher Sie das tun – wenn Sie beide Bände gelesen haben.

Metamodernismus: der philosophische Antrieb

Worum geht es nun beim Begriff »Metamodernismus«, den ich andauernd verwende? Er bezeichnet eine Art Philosophie, eine Weltsicht. Er weicht stark von dem ab, was wir normalerweise in der Schule lernen, auch an den Universitäten. Er unterscheidet sich vom allgemeinen »modernen« Weltverständnis.

Viele Leute meinen, Philosophie sei eine bestimmte Tätigkeit: dass man Bücher darüber schreibt oder bestimmte Radiosendungen hört, dass man tagträumt oder mit Freunden diskutiert. Aber Philosophie ist mehr als das. Es ist

die Art, wie man die Welt sieht (die Ontologie beziehungsweise die Frage »Was ist real?« und die Epistemologie beziehungsweise die Frage »Wie kann man Sachen wissen?«),sowie der Platz, den man in ihr besetzt (Ihre Vorstellung eines »Selbst«),und was man für richtig oder falsch hält (Ethik oder Ideologie).

Jeder und jede hat also eine Philosophie. Ob jemand betet oder nicht, Geld spart, Fremden hilft oder daran arbeitet, die Tiersklaverei zu beenden – all diese Dinge wurzeln in der Philosophie einer Person (wie auch in ihrer psychologischen und kognitiven Entwicklung, wie wir sehen werden).

Dieses Buch handelt nicht von Philosophie, sondern von Politik, Gesellschaft und psychologischer Entwicklung. Aber es ist verfasst als ein Ausdruck metamoderner Philosophie. Metamodernes Denken ist der Motor, der dieses Buch in Bewegung setzt. Wir müssen über Gesellschaft reden – aus einer metamodernen Perspektive. Genau das machen wir in diesem Buch. Das Entscheidende ist, wohin das Auto fährt, nicht wie der Antrieb funktioniert. Wir machen hier ein »Show it, don’t tell it«, indem wir metamodernes Denken in Aktion vorführen. Damit Sie sehen, wie fruchtbar und wirkmächtig es sein kann.

Um nur einige wenige Worte zum Metamodernismus zu sagen: Der Begriff stammt von zwei niederländischen Kulturwissenschaftlern (Timotheus Vermeulen und Robin van der Akker), die ihn populär gemacht haben. Sie wollen einige neue Trends in den Künsten ausgemacht haben und sind der Ansicht, dass diese Trends Ironie und Sarkasmus mit Aufrichtigkeit und Verletzbarkeit verbinden. Auf den kommenden Seiten werde ich dieses Motiv vertiefen.

Vermeulen, van der Akker und andere halten den Metamodernismus also für eine Art kulturelle »Phase«, eine Art Mode beziehungsweise einen bestimmten Geist in Kunst und Kultur, der in jüngster Zeit immer häufiger zu beobachten ist. Meine Verwendung des Begriffs »Metamodernismus« baut auf diesem Verständnis auf, aber ich füge zwei weitere Bedeutungen hinzu. Die erste Bedeutung ist, dass Metamodernismus eine Art Philosophie darstellt, einen Antrieb für unseren Geist. Die zweite Bedeutung ist, dass Metamodernismus eine Entwicklungsstufe darstellt. Es ist meine Arbeitshypothese, dass wir als Menschheit uns zu einer metamodernen Entwicklungsstufe weiterentwickeln können.

Für den Fall, dass Sie ins Innere des Motors blicken wollen, um einen kurzen Überblick über die metamoderne Philosophie zu erhalten, gibt es einen Anhang am Ende dieses Buches. Dort finden Sie eine detailliertere, stärker akademisch ausgerichtete Vorstellung des Metamodernismus als kultureller Phase und als Philosophie. Sie können den Antrieb betrachten, von dem Hanzis Denken und Schreiben in Bewegung gesetzt wird. Er ist für Gold-Leserinnen und -Leser sowie philosophisch Mitschaffende gedacht, aber nicht vonnöten, um den Rest des Buches und seine Hauptideen zu verstehen.

Akademische Blasphemie

Die heiligen Hallen der Wissenschaft werden heimgesucht von einem Phantom (wenigstens in den Sozial- und Geisteswissenschaften): dem Phantom des Narzissmus. Die oftmals trockenen, repetitiven Seminare und furchtsamen akademischen Debatten scheinen uns vage, aber verlockende Versprechungen zuzuflüstern: Himmelfahrt, Unsterblichkeit, Passion und Offenbarung.

Weil das Modell jeder akademischen Lehrkraft die großen mythischen Geistesgrößen der Vergangenheit sind, können wir alle vorgeben, so zu sein wie diese, ohne auch nur empirische Ergebnisse oder andere relevante Fortschritte vorzulegen (was in der Medizin oder Physik immerhin teilweise anders ist). Es reicht völlig aus, einen bestimmten arroganten, »gelehrten« Habitus zu demonstrieren, und schon kann man sich in dem Gefühl sonnen, außergewöhnlich und talentiert zu sein. Wir tun, als wären wir äußerst selbstsicher, wenden einen eindrucksvollen Jargon an und werfen uns so in die Posen unangreifbarer Brillanz und überwältigender moralischer Überzeugung. Solche Extravaganzen sind allerdings nur möglich auf Kosten unserer armen Kollegen, die das aushalten müssen und im Zuge dessen weniger Redezeit, Aufmerksamkeit und Anerkennung erhalten.

Das macht das Phantom Narzissmus zu etwas, das im alltäglichen Austausch und sozialen Wettstreit an den Universitäten im Zaum gehalten werden muss – damit das akademische Sozialgefüge nicht seine Funktion verliert, in Konflikten untergeht und nur wenig echte Arbeit geleistet werden kann. »Dann habe ich meinen Aufsatz eben nicht pünktlich fertiggestellt, na und? Das ist Wittgenstein auch passiert!« Stellen Sie sich nur das Chaos vor, wenn die Menschen in allen Bereichen mit solchen Sachen einfach so davonkommen würden.

Hauptwerkzeug, um das Phantom des Narzissmus unter Kontrolle zu halten, ist die Verpflichtung, sich bestimmten Normen und Tugenden zu unterwerfen (und sich gegenseitig diesbezüglich Rechenschaft abzulegen). Diese Normen und Tugenden sind – zumindest oberflächlich betrachtet – im Hochschulleben auf dem Vormarsch: Demut, aufrichtige Arbeitsbündnisse sowie die Anerkennung ausschließlich zuverlässiger Ergebnisse – wie zum Beispiel durch Peer-Review-Verfahren abgesicherte Aufsätze oder verdiente Forschungsstipendien. Es ist, als würden sich Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen gegenseitig unmerklich in eine etwas demütigere Rolle drängen – in die des professionell Forschenden und nicht mehr in die der prophetischen Geistesgröße. Und es gibt gute Gründe für diese Neuausrichtung.

Unter bestimmten Umständen ist eine solche Bescheidenheit allerdings nicht ratsam, und man hat mehr davon, sich außerhalb der Hallen akademischer Tugend zu bewegen. Nicht immer ist ein wissenschaftlicher Text die beste Form, um seine Gedanken zu präsentieren oder tatsächlich neue zu entwickeln. Es gibt sogar soziologische Studien, die diese These unterstützen: Die Wissenschaft eignet sich eher für kleine, schrittweise Fortschritte in der Grundlagenforschung, während die meisten bahnbrechenden Innovationen aus anderen Bereichen kommen.4

Wenn Sie, wie in diesem Buch, eine neue übergreifende Sichtweise vermitteln wollen, müssen Sie unter Umständen mit der Wissenschaft und ihren Normen ganz brechen. Vielleicht müssen Sie die dunkelsten Rituale vollziehen, die schwersten Lästerungen begehen, um verbotene Geister hervorzulocken: Gehab dich wohl, Achtbarkeit (ich hab’ dich nie geliebt), hallo, neue Wahrheit, willkommen, neue Perspektiven.

Ich komme aus der Wissenschaft, deswegen weiß ich ungefähr, was all die Philosophen, Juristinnen, Ökonomen, Soziologinnen, Politikwissenschaftler, Anthropologinnen, Historiker und Psychologinnen im Schilde führen. Und keiner von ihnen kann Ihnen die Erkenntnisse vermitteln, die dieses Buch zu bieten hat. Nicht die Neomarxisten, nicht die auf eindrucksvolle Weise datengestützten, digitalisierten Komplexitätsökonomen, nicht die ökologie- und nachhaltigkeitsorientierten Wirtschaftswissenschaftlerinnen, nicht die Tierrechtsaktivisten, nicht die Chaostheorie-Forscherinnen am Santa Fe Institute, nicht die Postmaterialistinnen, Transhumanisten, Postkonstruktivisten, spekulativen Realisten, Cybersemiotikerinnen, Enaktivisten und Neurophänomenologen und auch die anderen Metamodernisten, die in den Kulturwissenschaften und auf dem Gebiet der Kunst tätig sind, vermitteln diese Erkenntnisse nicht. Bitte entschuldigen Sie all diese komplizierten Wörter; sie dienen lediglich dazu, die Wissenschaft von ihrem hohen Ross zu holen.

Wenn Sie ein Intellektueller sind, haben Sie vermutlich ein oder zwei Lieblingsdenker. Und, noch wichtiger, Sie verwenden Ihr eigenes Verständnis dieser Geistesgrößen oft dazu, sich selbst zu versichern, dass die anderen es »einfach nicht richtig verstehen«. Aber verschafft Ihr Lieblingsdenker Ihnen, der Leserin, dem Leser, einen Platz »über und jenseits« dieses Buches?

Keinesfalls (außer Sie lesen es erst in der Zukunft). Er oder sie kann Sie nicht retten – nicht Gilles Deleuze, nicht Alain Badiou, Slavoj Žižek, Karen Barad, Roy Bhaskar, Quentin Meillassoux, Ken Wilber, Susanne Cook-Greuter, Otto Scharmer, David Graeber, Stephen Wolfram, Manuel DeLanda, Nick Bostrom, Peter Sloterdijk, Paul Tillich, Murray Bookchin, Roberto Unger, André Gorz, Viktor Frankl, Alan Watts, Fritjof Capra, Buckminster Fuller, Christopher Alexander oder ihre jeweiligen Anhänger und Anhängerinnen. Entschuldigen Sie bitte das Namedropping (und den hohen Anteil an Männern).

Auch die Mainstream-Soziologie wird sicher nicht ausreichen: Weder Poststrukturalismus noch Foucault’sches Denken oder Queer Theory à la Judith Butler, Postkolonialismus, Diskursanalyse, Kritische Theorie, die Habermas’sche Theorie, Intersektionalität, Weltsystemtheorie, Luhmanns Systemtheorie, Mertons »Theorie mittlerer Reichweite«, Bourdieus Tradition, Netzwerktheorie, Rational-Choice-Ansatz, mathematische Soziologie, Ethnomethodologie, sozialer Konstruktivismus oder Interaktionismus. Entschuldigen Sie bitte auch das Begriffsdropping.

Keine Psychoanalytikerin und kein nobelpreistragender Ökonom reichen aus, nicht einmal die noch nicht mit Preisen bedachten Theoretiker der Peer-to-Peer- und Sharing-Ökonomie.

Weder politische Führerinnen noch Führungskräfte aus der Wirtschaft, Neurowissenschaftlerinnen, Physiker, Verhaltensbiologinnen, Logiker, Kosmologinnen, spirituelle Gurus, Zenmeisterinnen und auch nicht Bruce Lee können Ihnen ein solches Verständnis vermitteln. Keine und keiner von ihnen hat eine hinreichend umfassende Vorstellung vom politischen Leben, um Ihnen die Antworten zu verschaffen, die Sie in diesem und dem Folgeband erhalten.

All diese Ansätze werden Sie auf Ihrem Weg ein Stück weit voranbringen, aber keiner von ihnen umfasst ein metamodernes Verständnis von Politik. Sie werden einfach diesen Text studieren müssen, um den Dreh in Sachen politischer Metamodernismus herauszubekommen. Kein kleiner Anspruch zugegebenermaßen. Natürlich gilt auch hier: All diese Menschen haben ihre Stärken auf anderen Gebieten. Und Sie sicherlich auch. Und ich bin der große Hanzi Freinacht. So ist das Leben eben, auch so eine Realität, mit der Sie klarkommen müssen, hier an der vielversprechenden Kreuzung von Fakten und Fiktion.

Vielen der Genannten schulde ich eine Menge und die meisten ihrer Werke sind wesentlich bedeutsamer als mein eigenes. Aber worauf ich hier hinauswill, ist, dass ich keinem von ihnen zugeordnet werden kann. Ich bestelle keines der von ihnen bearbeiteten Felder; ich reklamiere ein vollkommen neues. Ihr Lieblingsphilosoph wird Sie nicht retten, und sei er auch Charles Sanders Peirce. Tatsächlich fordere ich Sie hiermit heraus, auch nur eine einzige Quelle in dieser Welt aufzutun, die in irgendeiner Hinsicht der Gesamtaussage dieses Buches und seiner Fortsetzung ähnelt. Das, zeitgenössischer Leser, zeitgenössische Leserin, wird Ihnen nicht gelingen.

Natürlich könnte Hanzi Freinacht in dieser wunderschönen transpersonalen Welt, in der alle mit allem auf unzählige hyperkomplexe Weisen verbunden sind, ohne die inspirierenden und bahnbrechenden Arbeiten von so ziemlich allen der oben Genannten gar nicht existieren. Genauso, wie ich nicht ohne Sie existieren kann, liebe Lesende. Sie haben Anteil an meiner Erschaffung: Durch Ihren mutigen Akt, die Worte eines Fremden zu lesen, erschaffen Sie mich mit.

Die Lesenden begehren auf

Was müssen wir sonst noch mit diesem Buch erreichen? Wir statten Sie mit einer mehrdimensionalen Landkarte zur politisch-psychologischen Entwicklung aus. Sie werden einige grundlegende Dynamiken der Entwicklung von Gesellschaften und ihren Bürgern kennenlernen, sowie die Richtungen, in welche diese Entwicklung verläuft, und wie verschiedene Typen von Menschen in diese Karte hineinpassen. Und ja, das schließt auch Sie selbst ein.

Für die meisten von Ihnen wird das zwangsläufig zu einer enttäuschenden Lektüre – noch ein Grund zu versuchen, diesem Text keine Beachtung zu schenken und ihm zu widerstehen. Schließlich werden Sie aller Wahrscheinlichkeit nach eher keinen superschmeichelhaften Teil dieser Karte bewohnen. Das trifft nur für wenige Leute zu. Aber das ist in Ordnung. Und, wie wir sehen werden, gibt es andere Gesichtspunkte im Leben, die wichtiger sind. Trotzdem sind Sie wahrscheinlich besser dran, wenn Sie sich der Karte bewusst sind, so dass Sie in der Welt erfolgreich navigieren können. Besonders wenn Sie jemand sein sollten, der in unserer Gesellschaft vergleichsweise viel Macht besitzt. Ich kann nur hoffen, dass Sie diese für gute Zwecke einsetzen. Lassen Sie uns nun mit der Einführung ins Buch fortfahren.

»Moment mal. Ich bin immer noch sauer auf Sie, weil Sie mich einige Seiten weiter vorne beleidigt haben. Und dann besaßen Sie auch noch die Dreistigkeit, sich selbst zu brüsten, direkt nachdem Sie mich niedergemacht haben. Sie sind so ein überhebliches Arschloch.«

Ach, wirklich? Wenn das zutrifft, waren Sie vielleicht so aufgebracht bei Ihrer Lektüre der letzten Seiten, dass Ihnen einige sehr wichtige Punkte entgangen sind. Vermutlich sollten Sie das Buch niederlegen, einen langen, schonungslosen Blick in den Spiegel werfen, wieder runterkommen und dann den letzten Abschnitt noch einmal lesen. Wissen Sie, Sie können nicht wirklich mit mir streiten. Ich bin bloß toter Text, der zu Ihrer Verfügung steht, schon vergessen?

»Sagen Sie mir nicht, was ich tun soll. Hier geht es um meine Gefühle. Ich lese dieses Buch vor allem deswegen, weil es mir ein bestimmtes Gefühl vermittelt. Und Sie lösen in mir ein schlechtes Gefühl aus, vielleicht schmeiße ich Sie also einfach weg. Ich hasse Sie schon jetzt, Hanzi. Ich erkenne Sie als den faulen, manipulativen und verderbten Apfel, der Sie wirklich sind, und werde Sie als solchen auch bloßstellen.

Offen gesprochen gehen mir Ihre Gefühle am Arsch vorbei, mein Lieber. Wir versuchen hier, etwas zu erreichen, hören Sie? Immerhin wollen wir entscheidend dazu beitragen, einer Vielzahl von Menschen und anderen Lebewesen einen Ozean an Leid und Herabsetzung zu ersparen. Wenn Sie das auch wollen, werden Sie anfangen müssen, Ihre Verantwortung als Lesender wahrzunehmen, und damit aufhören, mit einem Stück Text zu streiten. Erinnern Sie sich: Sieselbst tun das. Sie sind der Schöpfer.

Wenn diese Ketzereien gegen die Wissenschaft Sie nicht provozieren – wunderbar. Sie könnten zu den würdigeren meiner Leser und Leserinnen gehören, ein emotional stabiler und ideenreicher Mitschöpfer unserer Zeit.

Und keine Angst, Sie werden noch rebellieren dürfen. Aber das müssen Sie zur rechten Zeit tun, mit den richtigen Erkenntnissen und dem richtigen Ziel.

Ihre erwartbaren Einwände

Ist das hier eine empirische Arbeit, das Ergebnis solider Wissenschaft? Einige Kapitel oder Teile von Kapiteln sind gut mit empirischen Erkenntnissen belegt, zum Beispiel die Kapitel über die kognitive Entwicklung (Kapitel 8 und 9). Es wird auf zahlreiche im Peer-Review-Verfahren entstandene Aufsätze zurückgegriffen, zusammen mit einigen anderen Quellen wie Schriften aus Publizistik, Wissenschaft und Philosophie. Natürlich kann man auch im Peer-Review-Verfahren entstandene Aufsätze für ihre Methodologie kritisieren, für ihre Interpretation der Ergebnisse und Ähnliches. Ich verwende qualitativ hochwertige Aufsätze und lasse zweifelhaftere weg.5 Und ich vermeide es, Quellenangaben zu machen, so gut ich kann. Sie werden nur ein Minimum an Quellen finden – gerade genug, um mehr über ein bestimmtes Thema herauszufinden und meine Behauptungen zu überprüfen. Trotzdem greife ich gelegentlich hin- oder weiterführende Debatten in den Anmerkungen auf. Für die fortgeschrittenere oder umfassender interessierte Leserschaft gilt: Dort werden Sie viele Antworten finden. Wenn es Ihnen nur darum geht, die Hauptaussage des Buches zu verstehen, können Sie diese überspringen.

Andere Teile des Buches basieren auf Argumenten und Verallgemeinerungen, die Sie kraft Ihrer eigenen Vernunft- und Geistesgaben abwägen und prüfen müssen, so wie das auch für Argumente anderer Gesellschaftstheoretikerinnen gilt. Sie sehen, Politik geht aus einem Zusammenspiel ritualisierter Formen von Wissen hervor, die wir »Wissenschaft« nennen, aber vielleicht noch mehr aus dem »gesunden Menschenverstand«, der unser alltägliches Leben bestimmt. Gesellschaftstheorie beginnt dort, wo Wissenschaft und Menschenverstand sich begegnen, wo Sie Ihren Geist disziplinieren und auf die besten wissenschaftlichen Studien zurückgreifen, die Sie finden können – und trotzdem bedarf es immer noch des gesunden Menschenverstands, um zu vernünftigen Annahmen über Gesellschaft, Politik und die soziale Realität zu gelangen.

Mal als Gedankenspiel: Hat jemals irgendjemand mittels einer wissenschaftlichen Methode »bewiesen«, dass die Menschenrechte gut sind? Hat jemals irgendjemand nachgewiesen, dass die freiheitliche, repräsentative Demokratie – samt Kapitalismus, Gerichten, Gefängnissen, Schulen und einem Sozialstaat – die beste Form von politischer und wirtschaftlicher Organisation ist? Hat jemals irgendjemand bewiesen, dass Feminismus gut oder schlecht ist oder dass uns das Glück und Leid anderer Lebewesen bekümmern sollte? Dass Englisch eine gute Sprache zum Kommunizieren ist? Nicht wirklich. Menschen habe gute oder schlechte Argumente für oder gegen diese Dinge vorgetragen, und manchmal werden diese Argumente durch verschiedene empirische Studien unterstützt, aber man kann sie nicht in irgendeinem strengen Sinne des Wortes »beweisen«.

Vertreter der politischen Linken werden nicht müde zu behaupten, dass sie die Wissenschaft auf ihrer Seite haben, mit so vielen Beweisen für die großen Übel, die Ungleichheit mit sich bringt, und für die glorreichen Vorteile des Sozialstaats. Aufseiten der Rechten hat man dagegen so viele Beweise, dass ihre marktfreundliche Politik uns eine niedrigere Arbeitslosenrate und mehr wirtschaftliches Wachstum beschert – und dadurch größere gesellschaftliche Stabilität und menschliches Glück. Die Grünen haben glasklare Beweise, dass der ganze Laden so oder so auseinanderfliegt und dass wir vermutlich aufhören sollten, die Umwelt zu zerstören. Die Liberalen haben jede Menge soziologische Beweise für die Vorteile einer De-Kriminalisierung von Drogen. Konservative haben jede Menge Beweise für das Gegenteil. Nehmen Sie die Einwanderung in westliche Länder als weiteres Beispiel – Berge empirischer Studien scheinen gleichermaßen Argumente zu liefern für eine restriktive wie für eine liberale Politik.

Die Wissenschaft tritt auf als Hure in den Gewändern einer Königin, als Hofnarr, der sich als König ausgibt – und das weitaus öfter, als uns bewusst ist. Wir erkennen nicht, wie leicht sie käuflich und verkäuflich ist und wie oft wir uns mit ihr vor dem ganzen Hofstaat lächerlich machen. Irgendwie ist man immer auf der Seite der Wissenschaft – so glaubt man zumindest. Und doch scheint es merkwürdigerweise, dass so viele intelligente und gebildete Leute Meinungen haben, die von Ihrer eigenen abweichen – und das, obwohl die Wissenschaft selbst doch klar und deutlich sagt, dass Sie recht haben. Die machen sich wohl alle etwas vor, nicht wahr?

Leute, die unbedingt wissen wollen, »ob das Wissenschaft ist«, wenn es um Gesellschaftstheorie, Philosophie und das Dasein geht, fristen ihr Leben in kindlicher Unkenntnis der unermesslichen Kontinente, welche die Wissenschaftsphilosophie und die Wissenssoziologie bilden – ganz zu schweigen von der fruchtbaren Disziplin der Metaphysik und dem sich erweiternden Feld der Kognitionspsychologie (das zudem erhebliche Auswirkungen auf unsere Sicht von Wissenschaft hat). Das betrifft – vermutlich aufgrund eines gravierenden Fehlers in unserem Bildungssystem – viele hochgebildete und talentierte Leute. Trotz aller zentralen Erkenntnisse, die unsere Zivilisation im Laufe des letzten Jahrhunderts erlangt hat und die gezeigt haben, dass Wissen auf eine Weise kontextuell ist, wie wir es uns zuvor nicht vorstellen konnten, halten Menschen irgendwie an der ödesten wissenschaftlichen Naivität fest. Sie werden angeführt von einem Narren und einer Hure.

Wissenschaft ist eine großartige Methode – oder besser: ein Methodenset – zum Verständnis der Welt. Aber reale menschliche Wesen mit ihren ganzen Alltagserfahrungen gründen ihre Weltsicht und politischen Meinungen auf viel mehr als Wissenschaft. Einfach weil wir das verdammt nochmal müssen. Wir, und das schließt auch Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen ein, haben ein Alltagsverständnis von der Gesellschaft, der Welt und uns selbst. Jeder Einzelne von uns hat eine eigene »Gesellschaftstheorie«, die in unseren »gesunden Menschenverstand« und unsere philosophische Grundeinstellung einfließt, randvoll mit Emotionen und unbewussten Vorannahmen. Ein großer Teil dieses Buches widmet sich der Erfassung dieses gesunden Menschenverstands – und dessen Weiterentwicklung.

Ihre eigene Gesellschaftstheorie, liebe Leserin, lieber Leser, kann mehr oder weniger detailliert ausformuliert, mehr oder weniger komplex, mehr oder weniger von Widersprüchen und logischen Schlupflöchern durchsetzt sein. Sie kann auf verschiedenen Formen wissenschaftlicher Erkenntnis aufbauen, die wiederum von mehr oder weniger fruchtbaren wissenschaftlichen Zweigen stammen und die mehr oder weniger verlässlich, mehr oder weniger relevant in Hinblick auf den vorliegenden Gegenstand sind. Ihre Deutung derselben kann mehr oder weniger abwegig sein.