Gespenster-Krimi 160 - Raymond Haffner - E-Book

Gespenster-Krimi 160 E-Book

Raymond Haffner

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Beschreibung

Im Jahr 1902 sticht im Hamburger Hafen der Passagierdampfer ›Friedrich der Große‹ in See. Sein Ziel ist Singapur, und an Bord befindet sich Mali Bannák, die junge Gattin des siamesischen Botschafters in Deutschland. Was die meisten der anderen Passagiere nicht wissen: Mali ist auf der Flucht vor einer dämonischen Macht, die ihr nach dem Leben trachtet! Einer Macht, der kein Mensch gewachsen ist - bis auf den attraktiven Ethnologen Professor Barth, der sich seit langer Zeit mit fremden Kulturen und dem Übersinnlichen befasst. Ihm hat sich Mali anvertraut in der Hoffnung, dass er sie beschützen kann vor dem namenlosen Grauen!

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Seitenzahl: 134

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Inhalt

Cover

Reise ins Verderben

Vorschau

Impressum

Reise ins Verderben

von Raymond Haffner

Auf den Straßen des Tiergartenviertels

Berlin, 28. August 1902, kurz nach Mitternacht

Phraya Suan spazierte über den Kemperplatz. Die Straßen des nächtlichen Tiergartenviertels waren menschenleer, und Suan sah keinen Grund, sein breites Grinsen zu unterdrücken.

Mit federnden Schritten ging er an dem neuen Rolandbrunnen vorbei. Dem Kaiser gefiel der Brunnen nicht, hieß es. Er war ihm zu neobarock. Suan lachte leise vor sich hin. Einfach unglaublich, worüber sich die Leute ärgern konnten, wenn die Welt doch so schön war.

Er dachte an die Frau seiner Träume. Endlich, endlich war sie sein. Seit fast einem Jahr hatten sie sich verstohlene Blicke zugeworfen. Als der neue Botschafter aus Bangkok eingetroffen war und sich vorgestellt hatte, war Suan sofort die atemberaubende Schönheit an seiner Seite aufgefallen. Seitdem hatte er von Mali geträumt.

Und vor einem Monat war es endlich passiert.

Sie war sein.

Stets mussten sie sich vor den wachsamen Augen des Botschafters und seiner Lakaien verbergen, aber das machte das Spiel nur reizvoller und die Belohnung süßer, so wie heute Nacht.

»Warum starrst du mich so an?«, hatte sie noch vor ein paar Minuten lächelnd geflüstert.

»Ich präge mir dein Bild ein – wie du da liegst –, und dann nehme ich es mit nach Hause«, hatte er geantwortet.

Und es stimmte: Während er leise pfeifend in die Bellevuestraße einbog, schwebte Mali vor seinem inneren Auge – ihr Lächeln, ihr verschwitztes Haar, das ihr im Nacken klebte, ihr geschwungener Rücken und ihre Hüften, die er kurz zuvor noch fest umklammert hatte.

Etwas sah aus dem Fenster auf die vom gelblichen Licht der Straßenlaternen erleuchtete Straße.

Kalte Augen hefteten sich auf den jungen Mann, der ohne große Eile durch das schmiedeeiserne Tor schritt und auf die Haustür zuging.

Die Tür öffnete sich. Die Tür schloss sich. Das Opfer war in der Falle.

Mit einem kaum hörbaren Schnarren verschmolz der Beobachter mit den Schatten.

Ein Chanson vor sich hin summend, trat Suan ein und machte Licht. Er hängte seinen Sommermantel in die Garderobe und ging dann hinüber zum Salon. Er wollte nur einen kleinen Abendtrunk zu sich nehmen.

Die Straßenlaterne vor dem Haus warf etwas Licht ins Zimmer. Suan ging schnurstracks zu der Anrichte mit den Getränken.

Doch mit einem Mal wurde ihm bewusst, dass etwas nicht stimmte. Dort, wo die Schatten am dunkelsten waren, bewegte sich etwas.

Suan blieb abrupt stehen. Seine Augen weiteten sich. Ein leises Scharren ertönte, etwas Schweres ließ den Parkettboden knarren. Die Finsternis starrte ihn an und setzte zum Sprung an.

Ein markerschütternder Schrei entfuhr Suans Kehle.

Und er hörte erst auf zu schreien, als er keine Kehle mehr hatte.

Privates Arbeitszimmer des Ethnologen Professor Dr. Wilhelm Barth

Berlin, 28. August, kurz nach dem Frühstück

Mit gerunzelter Stirn las Wilhelm den Brief, den er soeben geschrieben hatte. Er hatte lange überlegt, ob er sich zum dem Thema Kolonien äußern sollte. Die Begeisterung für die Politik des Kaisers hatte auch vor der akademischen Welt nicht haltgemacht, doch für Wilhelm waren besonders die Berichte über die Niederschlagung des Boxeraufstands in China geradezu bestürzend.

Öffentlich zu machen, was er dachte, wäre allerdings riskant gewesen, und er war mit seinen 39 Jahren zu jung, um ein solches Risiko eingehen zu können. Also hatte er sich schließlich entschieden, ein vertrauliches Schreiben an mehrere Bekannte zu verfassen.

Wirklich zufrieden mit dem Ergebnis war er allerdings nicht. Etwas umständlich schrieb er über Zivilisation und Barbarei und scheiterte in seinem Unterfangen letztlich schon deshalb, weil jeder unter diesen Begriffen etwas anderes verstand.

Seufzend lehnte er sich zurück, nahm die randlose Brille mit den runden Gläsern ab und rieb sich die Augen.

In diesem Moment klopfte es.

»Ja«, rief Wilhelm.

Die Tür öffnete sich, und sein Assistent Xaver Böttcher trat ein. »Hier ist ein Gast für Sie, Professor«, sagte er zögerlich. »Mali Bannák, die Gattin des siamesischen Botschafters.«

Wilhelm war verblüfft. Er war dem Botschafter und seiner Frau bei zwei oder drei offiziellen Anlässen begegnet, war aber nicht mit ihnen bekannt.

»Hat sie gesagt, was sie will?«

Xaver schüttelte den Kopf. »Sie will mit Ihnen sprechen. Sagt, es sei dringend. Ehrlich gesagt wirkt sie auf mich außerordentlich verstört.«

Wilhelm überlegte. Dann zuckte er ratlos die Schultern. »Tja, dann bringen Sie sie zu mir.«

»Professor.« Xaver verschwand in der Diele.

Kurz darauf war der Klang hoher Absätze zu hören. Wilhelm erhob sich, ging um seinen Schreibtisch herum und putzte dabei nervös seine Brille.

Xaver erschien wieder. Über dem Arm trug er einen Damenmantel. »Bitte, Frau Botschafter, treten Sie ein.«

Sie trug einen flachen weißen Hut, ein mit blauen und orangefarbenen Blüten verziertes weißes Reitkleid aus Bastseide und Damenstiefel aus hellem Leder. Das rabenschwarze Haar hatte sie zu einem Knoten gebunden, aus dem sich jedoch mehrere Strähnen befreit hatten. Ihre Haut war etwas heller als die der meisten Siamesen, und auch die etwas untypischen Gesichtszüge verrieten die ursprünglich persische Herkunft ihrer Familie.

In ihren weit aufgerissenen Augen stand die blanke Angst.

»Professor Barth, es ist etwas Schreckliches passiert.« Sie kam auf ihn zu und ergriff seine Hände. »Bitte helfen Sie mir.«

»Frau Botschafter«, erwiderte Wilhelm stockend. »Sie scheinen ... Sie scheinen sich nicht ganz wohlzufühlen. Bitte setzen Sie sich doch.«

»Haben Sie vielen Dank.« Sie setzte sich auf den ihr angebotenen Stuhl und schloss für einen Moment die Augen.

Wilhelm nahm ihr gegenüber Platz. »Xaver, bringen Sie Tee«, sagte er. Dabei ging es ihm in erster Linie darum, seinen Assistenten deutlich zu machen, dass er sich zurückziehen sollte.

Xaver zuckte zusammen und eilte davon.

»Nun also.« Wilhelm räusperte sich. »Erzählen Sie mir doch bitte, worum es geht, Frau Botschafter.«

»Mali. Bitte nennen Sie mich einfach Mali.« Sie lächelte schwach. »Es mag Ihnen als ungebührliche Vertraulichkeit erscheinen, aber es wäre mir wohler dabei.«

Wilhelm räusperte sich erneut und nickte schließlich, wenn auch widerwillig. »Schön. Nun ja. Sehr gern. Mali also. Sie, äh ... Sie sprechen übrigens sehr gut deutsch. Wenn ich mich nicht täusche, sind Sie erst seit einem Jahr in Berlin.«

»Danke, Professor«, antwortete Mali. »Ich habe einen sehr guten Lehrer.« Ihr Lächeln erstarb. »Das heißt: Ich hatte einen sehr guten Lehrer. Deswegen bin ich hier. Mein guter Freund Phraya Suan ist in der vergangenen Nacht ermordet worden – von einem Schwarzmagier!«

Wilhelm saß da wie versteinert.

Vor seinem inneren Auge tauchten Bilder auf – Bilder, an die er sich nur sehr ungern erinnerte.

Er sah den jungen Laoten vor sich, dem ein schwarzes, teerartiges Geschwür den Leib zerfraß. Er sah das ungewöhnlich große Krokodil aus dem brackigen Wasser des Mekong auftauchen und sich vor dem Klang der Zimbeln zurückziehen. Er sah die Träger um das nächtliche Lagerfeuer sitzen, die Schutzamulette in den zitternden Fingern, hinter ihnen das tiefe Knurren in der Dunkelheit.

»Lassen Sie mich Ihnen zuerst mein Beileid ausdrücken«, sagte Wilhelm nach einer Weile. »Es tut mir sehr leid, dass Sie einen guten Freund verloren haben. Ich kann mich an den Phraya erinnern. Ich meine, er hat an der Kadettenanstalt in Lichterfeld studiert. Und jetzt ... ermordet, sagen Sie? Also, das ist wirklich schrecklich. Ganz ungeheuerlich! Ich werde dazu gleich einen guten Freund von mir befragen, der bei der Polizei arbeitet.« Seine Stimme klang weniger herzlich, als er beabsichtigt hatte.

»Auch ich bin angriffen worden«, erklärte Mali, ohne sich für die Beileidsbekundung zu bedanken. »Von einem Schwarzmagier, Professor«, wiederholte sie.

Wieder schwiegen sie. Über den breiten Schreibtisch hinweg sahen sie einander an, und Wilhelm erkannte, dass es keinen Sinn hatte, so zu tun, als wisse er nicht, was er wusste.

Gerade öffnete er den Mund, um etwas zu sagen, da trat Xaver wieder ein und servierte den Tee.

Das leise Klappern des Geschirrs und das Einschenken des Tees unterstrichen das angespannte Schweigen noch. Erst als Xaver das Zimmer wieder verlassen hatte, fragte Wilhelm: »Und wie hat dieser Angriff ausgesehen?«

Mali biss sich auf die Unterlippe und brauchte nun ihrerseits eine Weile, um zu antworten. Es war leicht zu sehen, dass sie kurz davor war, in Panik zu geraten. Doch es gelang ihr, sich zu fassen und Wilhelms Blick zu erwidern.

»Ich war allein im Schlafzimmer. Ich war noch wach, und auf einmal waren da ... Schritte auf der Treppe. Sie kamen näher, die Treppe herauf, zu mir. Dann habe ich gehört, wie sich die Zimmertür öffnet. Alles war dunkel, ich konnte nur einen Schemen ausmachen. Da war ein ... ein Schnarren, wie von einem Tier. Ich habe versucht, etwas zu erkennen. Irgendetwas hat sich in der Dunkelheit bewegt. Die Schatten haben sich ausgebreitet. Es war, als würde jemand das letzte bisschen Licht im Zimmer auslöschen. Ich konnte die Fenster kaum noch sehen. Dann ist etwas auf mich zugesprungen – blitzschnell, wie eine Spinne auf ein Insekt. Aber ich hatte das hier!«

Mali zog ein seidenes Taschentuch aus ihrer Handtasche, in das sie etwas eingewickelt hatte. Sie legte es auf den Schreibtisch und breitete das Taschentuch aus. Die Bruchstücke eines dicken Jadearmreifs kamen zum Vorschein.

»Den hat mein Vater mir geschenkt, bevor mein Mann und ich nach Europa aufgebrochen sind«, erklärte sie. »Sie wissen sicherlich, was das ist. Der Stein hat mich beschützt. Er hat den Angriff abgewehrt. Aber die Schatten waren stark. Sie haben sich mit aller finsteren Kraft gegen den Schutzstein gestemmt. Es hat gezischt und gestunken. Ich konnte nichts sehen, und dann war plötzlich alles vorbei. Die Schatten haben sich zurückgezogen – so plötzlich, als hätte jemand das Licht eingeschaltet. Die Bruchstücke des Reifs lagen auf der Bettdecke. Im Flur hörte ich Schritte, die sich schnell entfernten. Dann habe ich nach den Dienern gerufen.« Wieder griff sie in ihre Handtasche. »Auf dem Boden lag das hier.«

Zögerlich nahm Wilhelm die kleine Bambusflasche entgegen und drehte sie in der Hand.

»Sie wissen bestimmt auch, was das ist«, meinte Mali.

»Da scheinen Sie sich sehr sicher zu sein«, erwiderte Wilhelm tonlos.

Sein Blick wanderte zu einem seiner Regale, in dem neben einer ganzen Reihe verschiedenster Kuriositäten auch ein paar Bambusfläschchen standen.

Mali lehnte sich vor und sah ihn eindringlich an. »Professor, bitte. Ich habe Ihre Vorlesung zu laotischem Volksglauben besucht. Ich weiß, dass Sie alle Geschichten kennen, die ich auch kenne. Ich weiß, dass Sie mit Schwarzmagiern und ihren Opfern gesprochen haben. Natürlich weiß ich auch, dass Sie vor einem deutschen akademischen Publikum nicht den Verdacht aufkommen lassen wollen, Sie könnten etwas von alldem glauben, aber jemand, der gesehen hat, was Sie gesehen haben ... Sie wissen, dass all dies existiert!«

Wilhelm hielt es für klüger, nicht darauf zu antworten. Stattdessen fragte er: »Und was wollen Sie nun von mir, verehrte Mali? Auf welche Weise, glauben Sie, könnte ich Ihnen behilflich sein?«

Sie wandte sich von ihm ab und blickte nun selbst zu dem Regal hinüber, in dem die Bambusfläschchen standen. Als sie ihn wieder anblickte, wirkte sie nicht mehr ängstlich. Jetzt lag in ihren Augen ein gefährlicher Glanz. Wilhelm spürte, wie sich seine Nackenhaare aufrichteten.

»Bringen Sie den Schwarzmagier zur Strecke!«, sagte Mali. Dann erhob sie sich. »Ich setzte alle meine Hoffnungen in Sie, Professor.«

Vor dem Haus Phraya Suans, Bellevuestraße

Berlin, 28. August, vormittags

»Morgen, Egon«, begrüßte Wilhelm seinen alten Schulfreund.

»Grüß dich, Wilhelm.« Der Polizeiinspektor legte die Finger an den Hut. »Hatte ja eigentlich nicht vor, mir die Schweinerei persönlich anzusehen. Aber wenn es denn dein Wunsch ist ...« Mit einer Handbewegung deutete er auf die offene Haustür, neben der ein Polizist stand. »Nach dir.«

Wilhelm zögerte einen Moment. Da war etwas in ihm, das ihn zurückhielt. Das Haus schien zu vibrieren, sich auszudehnen. Er nahm die Brille ab und rieb sich die Augen. Seine Hände waren schweißnass.

Dann gab er sich einen Ruck und ging die steinernen Stufen zur Eingangstür hinauf.

In diesem Moment kamen ihm zwei Polizisten entgegen. Beide sahen blass aus. Der vordere fluchte vor sich hin, unterbrach sich abrupt, als er den Inspektor bemerkte, und salutierte zackig.

Wilhelm betrat die Diele und roch sofort das Blut. An der Tür zum Salon blieb er stehen.

Plötzlich war er überzeugt, dass da etwas hinter ihm war. Etwas schlich sich an ihn heran, spannte die Muskeln, setzte zum Sprung an ... Ruckartig drehte er sich um.

Doch da war nichts.

Zu seiner Linken trat gerade Egon ins Haus und rümpfte die Nase; zu seiner Rechten führte eine Treppe ins erste Stockwerk hinauf.

Wilhelm atmete hörbar aus und versuchte, sich zu beruhigen. Dann wandte er sich erneut um und betrat den Salon.

Überall war Blut. Es sammelte sich in Lachen auf dem unebenen Parkettboden, bedeckte kreuz und quer die Wände, war auf Gemälde und Mobiliar gespritzt. Doch das war nicht das Schlimmste. Die Leiche Phraya Suans lag auf einem blutdurchtränkten Teppich. Die Gliedmaßen waren verdreht. Der Kopf und Teile des Torsos lagen auf der anderen Seite des Zimmers. Es sah aus, als habe eine gewaltige Kraft den Toten auseinandergerissen.

Wilhelm schauderte. In seinen Ohren rauschte es. Gern hätte er sich hingesetzt. Stattdessen zwang er sich, alles sehr genau in Augenschein zu nehmen.

In diesem Moment trat Egon neben ihn. »Den hat's zerfetzt«, stellte er lakonisch fest.

»Hast du so was schon mal gesehen?«, erkundigte sich Wilhelm halblaut.

»Gott, nein, hab ich nicht, Wilhelm.« Egon schnaubte. »Was denkst du denn, wo wir hier sind? In China?«

»Ich glaube nicht, dass man so etwas in China öfter zu sehen bekommt als hier, Egon«, erwiderte Wilhelm etwas irritiert. Unwillkürlich musste er an den Brief denken, den er an diesem Morgen geschrieben hatte. »Ich denke nicht, dass irgendein Mensch irgendwo auf der Welt zu so etwas in der Lage ist.«

»Vielleicht war es ein Tiger«, murmelte Egon.

Wilhelm wandte sich dem Inspektor zu. »Ein was?«

»Ein Tiger, Wilhelm. Du müsstest doch wissen, was ein Tiger ist.«

»Ich weiß, was ein Tiger ist, Egon.« Wilhelm runzelte die Stirn. »Und du bist ein Polizeiinspektor mit Abitur und Hochschulabschluss und solltest wissen, dass das kein Tiger gewesen sein kann. Oder treibst du Scherze mit mir?«

Egon trat einen halben Schritt näher heran. »Ich sag dir was: Ich weiß nicht, wer oder was dieses widerliche Durcheinander hier angerichtet hat, aber ich weiß, wer dafür verantwortlich ist.« Während er sprach, senkte er die Stimme. »Der Mann da hatte eine Affäre mit der Ehefrau des siamesischen Botschafters. Das ist gewissermaßen ein Staatsgeheimnis, also halt bloß den Mund, Wilhelm. Ich wusste das bis heute auch nicht, aber im Ministerium gibt es Leute, die wissen solche Dinge. Und diese Leute haben mich heute unterrichtet. Für mich bedeutet das: Die Ermittlungen werden nur auf dem Papier geführt. Es interessiert mich also nicht, wie das hier passiert ist. Das ist eine Sache unter Chinesen.«

»Siamesen«, korrigierte Wilhelm tonlos.

Egon winkte ab. »Wie auch immer. Die sollen das machen, wie sie wollen mit ihrer Blutrache oder was auch immer.«

»Blutrache gibt es in Siam nicht«, erklärte Wilhelm frostig. »Und glaub mir, wenn ich es dir sage: Am anderen Ende der Welt stehen die Dinge nicht anders als hier. Das da«, er deutete auf die Leiche, »ist nicht nur in Berlin unerklärlich, das wäre es auch in Bangkok. Und übrigens auch in Peking, Tokio, Bombay, Kairo und Chicago.«

Egon zuckte mit den Schultern. »Von mir aus. Klar ist, dass ich die Sache auf sich beruhen lassen muss. Wir verhaften hier keine königlichen Botschafter. Soweit kommt's noch. Der arme Hund hat sich eben mit der falschen verheirateten Frau eingelassen.«

Während Egon sprach, fiel Wilhelms Blick auf einen bräunlichen Gegenstand, der unter einer Kommode lag. Mit zwei großen Schritten ging er durch das mit Blut bespritzte Zimmer, ging in die Hocke und zog den Gegenstand hervor.

Es war ein Bambusfläschchen.

Egon sprach weiter, aber Wilhelm hörte nicht zu. Er sah nur das geöffnete Fläschchen in seiner Hand, las die Schriftzeichen und spürte die Kälte, die von der Flasche ausging.

Ein Kloß verstopfte ihm die Kehle. Irgendwo meinte er ein leises Schnarren zu hören. Er zuckte zusammen. Gehetzt sah er sich im Zimmer um.

Doch da war nur Egon, der die Stirn runzelte. »Alles in Ordnung, Wilhelm?«, fragte er. »Du bist ganz blass um die Nase. Ich weiß, du glaubst an Gespenster und solchen Unsinn. Aber hier gibt's nur eine sehr, sehr tote Leiche. Was hast du da überhaupt?«

Wilhelm richtete sich auf und beruhigte sich langsam.

Er hielt die kleine Bambusflasche hoch. »Kann ich die mitnehmen?«