Die UFO-AKTEN 65 - Raymond Haffner - E-Book

Die UFO-AKTEN 65 E-Book

Raymond Haffner

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Beschreibung

Zwei schreckliche Morde erschüttern die thailändische Community von Seattle. Während die Polizei darin nur beklagenswerte Beziehungstaten sieht, kommt im Kreise der Gemeinde der Verdacht auf, dass eine Verschwörung dahintersteckt. Und so erreicht Cliff Conroy und Judy Davenport über Senator Campbell der Auftrag, nach Seattle zu reisen und ihre Ermittlungen aufzunehmen. Dort angekommen weist sie Phra Yen, der Abt eines buddhistischen Klosters, auf eine zwielichtige Gestalt namens Bao hin. Der Mann, einst selbst Mönch, soll einen düsteren Pfad eingeschlagen haben und mit den Taten in Verbindung stehen. Um diesem Tipp nachzugehen, begeben sich die Bundesmarshals sofort auf die Suche und erkennen bald, dass der Geheimnisvolle bereits tiefe Spuren in der Stadt hinterlassen hat ...


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Seitenzahl: 151

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Inhalt

Cover

Der Magier von Seattle

UFO-Archiv

Vorschau

Impressum

Raymond Haffner

Der Magier von Seattle

Sanook Dee Karaokebar

Seattle, Washington, 01. März 2024, 01:45 Uhr

Die letzten Gäste waren gerade gegangen. Yui, die Besitzerin der Karaokebar, wischte daraufhin die Tische sauber, stellte Stühle hoch und begab sich schließlich mit zwei schwarzen Plastiktüten voller Abfälle durch den kleinen Lagerraum zur Hintertür. Dann trat sie in die enge Gasse hinaus und sog genüsslich die kühle Luft ein. Das tat gut, denn nach einem langen Abend voller Gesang und Alkohol war das Raumklima in ihrer Bar wirklich unerträglich stickig geworden. Im nächsten Augenblick wollte sie die Mülltüten neben der Tür abstellen, als sie plötzlich stutzte. Da saß jemand in der Ecke. Ihr Herz setzte einen Schlag lang aus, als ihr klar wurde, was sie sah. Ihre Augen weiteten sich, die Abfallsäcke fielen zu Boden und ein spitzer Schrei zerriss die nächtliche Stille ...

Da saß An, die vor einer Stunde noch ausgelassen in der Bar ein Lied nach dem anderen geschmettert hatte.

Zu ihren Füßen lag Benz, auch sie gehörte zu Yuis Stammgästen. Ihr Körper war blutüberströmt, die Augen starrten ins Nichts.

An hielt weiterhin das Messer in der Hand. Ihre Augen waren halb geschlossen. Teilnahmslos sah sie geradeaus und würdigte die schreiende Yui keines Blickes.

Im nächsten Moment rannte die Besitzerin der Bar davon. Sie lief durch das Lager, in den Gastraum und hinaus auf die Straße, vorbei an der Busstation und immer weiter, bis sie endlich die Kraft fand, ihr Smartphone aus der Tasche zu ziehen und mit zitternden Fingern 911 zu wählen.

Highway 385

South Dakota, 02. März 2024, 08:00 Uhr

»Gehst du dran? Es ist Campbell«, sagte Cliff, hielt Judy sein Smartphone hin und lenkte den Winnebago in die nächste Ausfahrt. Hecken und Büsche entlang der Straße, die hier als Windschutz dienten, versperrten die Sicht auf benachbarte Felder und Gebäude.

»Na, hoffentlich bleibt uns Zeit zum Frühstücken«, murmelte Judy und nahm den Anruf entgegen: »Guten Morgen, Senator. Hier spricht Judy Davenport. Mr. Conroy hört mit.«

»Guten Morgen an Sie beide«, meldete sich Campbell. »Bitte entschuldigen Sie, wenn ich gleich zur Sache komme: Ich möchte, dass Sie nach Seattle fliegen. Heute noch.«

»Worum geht es denn?«, fragte Judy.

»Es hat zwei Morde gegeben. In den Augen der Polizei handelt es sich hier um nichts Besonderes: Täter und Opfer kannten sich. Zudem war Alkohol im Spiel. Und nicht zuletzt gibt es umfangreiche Geständnisse.«

»Aber Sie meinen, es steckt mehr dahinter?«, schaltete sich Cliff ein.

»So ist es. Durch einen Kontaktmann beim Seattle Police Department weiß ich, dass die Täter davon gesprochen haben, ein Geist habe ihnen den Befehl zum Morden gegeben. Man hat sie in einem eigenartigen Zustand der Betäubung vorgefunden, was man momentan noch mit Drogeneinfluss erklärt. Ich möchte, dass Sie dort ermitteln, wo die Polizei meint, schon alles zu wissen.«

»Wo sollen wir ansetzen? An die Täter werden wir im Moment doch sicher nicht herankommen, oder?«, erkundigte sich Judy.

»Ihnen wurde eine Akte zusammengestellt. Sie finden sie auf dem UFO-AKTEN-Server. Vorab nur soviel: Täter und Opfer gehören zur thai-stämmigen Community der Stadt. Mein Kontakt beim SPD hat mir den Namen eines buddhistischen Abtes genannt, mit dem Sie als Erstes sprechen sollten. Sein Name ist Phra Yen.«

Die Stimme des Senators wurde mehr und mehr von einem näher kommenden Rattern übertönt. Scheinbar ging Campbell auf einen Hubschrauber zu, dessen Pilot gerade den Start vorbereitete.

»Seine Adresse?«, fragte Cliff.

»Alles auf dem Server!«, rief Campbell. »Ich wünsche Ihnen viel Glück. Und guten Flug.« Dann legte er auf.

Cliff hielt an. Sie hatten das Diner erreicht, in dem sie frühstücken wollten. Es hatte eine glänzende Metallfassade in den Farben Rot und Weiß, große Fenster mit Neonlichtern und ein retro-inspiriertes Schild über der Eingangstür. Dieser nostalgische Ort strahlte den gemütlichen Charme der 1950er-Jahre aus und versprach hausgemachte Küche und freundlichen Service. Auf das Ambiente mussten sie nun allerdings verzichten.

»Ich hole uns was zum Mitnehmen«, entschied Cliff. »Checkst du währenddessen die Flüge nach Seattle?«

Judy nickte. »Schon dabei.«

Rapid City Regional Airport

South Dakota, 02. März 2024, 12:15 Uhr

»Da ist es ja«, merkte Cliff an und deutete auf eine der Dateien im etwas unübersichtlichen Meer aus weißen Punkten oder besser gesagt Sternen. »Die Datei mit dem Titel Mariners.« Er und seine Partnerin hatten sich kurz zuvor auf dem UFO-AKTEN-Server eingeloggt und navigierten sich nun durch die Sammlung von hochgeheimen Dokumenten.

Judy runzelte die Stirn. »Mariners?«

»Baseball«, meinte Cliff.

Judy sah ihn irritiert an. »Von Baseball hat Campbell doch gar nichts gesagt.«

»Die Mariners sind aus Seattle«, erklärte Cliff. »Die Baseballmannschaft.«

»Ach so. Klar.« Judy verdrehte die Augen. »Da hätte ich lange gesucht.«

Nicht immer waren die Codenamen der Dateien und Projekte der Organisation, für die sie arbeiteten, leicht zu erraten. Es half daher, wenn Campbell ihnen sagte, wonach sie suchen mussten.

Judy klickte auf das Symbol und überflog die Titel der Dateien. »Du hast recht. Das ist die richtige Akte.«

Eine größere Reisegruppe ging plappernd an ihnen vorbei. Alle schienen gleichzeitig zu reden – von den Großeltern bis zu den Kleinkindern. Das Klappern von Rollkoffern und das Gedudel aus einem Handylautsprecher verstärkten die aufgeregte Atmosphäre.

Während die Kinder herumtobten, bemühten sich die Erwachsenen, die Gruppe zusammenzuhalten.

Cliff und Judy hielten in ihrem Gespräch inne. Obwohl sie auf dem Boden an einer Wand saßen und niemand einen Blick auf den Bildschirm von Judys Laptop hätte erhaschen können, waren sie lieber ein bisschen zu vorsichtig.

»Das sind alles Interna aus dem Seattle Police Department«, sagte Cliff schließlich, als wieder Ruhe eingekehrt war. »Schau mal hier.«

»Zeugenaussagen, Verhörprotokolle, Gerichtsmedizin ...«, las Judy halblaut vor.

»Geh mal auf die Verhörprotokolle«, schlug Cliff vor.

»Wegen des Geistes, der den Mördern angeblich Befehle gegeben hat?«

»Ganz genau.«

Judy öffnete die Datei und suchte nach dem Wort ›Geist‹. Schon war die richtige Textstelle zu sehen, die sie sogleich vorlas: »Die Stimme war plötzlich da. Da war dieses Brennen unter der Haut. Und der Geist hat gesagt, ... er hat gesagt, dass ich zustechen muss, dass ich ... Ich konnte nichts tun, ich konnte nichts tun.«

»... bitte halten Sie Ihre Bordkarten bereit«, schallte es gerade durch das Terminal.

Schon begannen andere Reisende damit, sich vor dem Gate in einer geordneten Schlange aufzustellen.

Zudem sah man Flughafenmitarbeiter, die in der Nähe standen, um das Boarding durchzuführen.

»Komm, wir müssen«, sagte Cliff und erhob sich. »Den Rest lesen wir später.«

»Ja, Moment.« Judy tippte noch etwas in die Tasten. »Lass mich nur eben sehen, wo wir diesen Abt finden.«

Radisson Hotel Seattle Airport

Seattle, Washington, 02. März 2024, 19:25 Uhr

»Wir verschieben das besser auf morgen«, entschied Cliff. »Von hier bis zum Tempel dauert es auch mit dem Auto fast eine Stunde. Die Mönche wären zwar sicherlich auch jetzt noch bereit, mit uns zu sprechen, aber ich will nicht unhöflich sein. Wir gehen daher lieber morgen früh dorthin und bringen etwas Gutes zu essen mit – als Gabe für den Tempel.«

»Guter Plan«, pflichtete ihm Judy bei.

Sie saßen im Moment in Cliffs Hotelzimmer – keine fünf Minuten vom Flughafen entfernt. Der Raum war groß, gut beleuchtet und mit einem Panoramafenster ausgestattet, das einen Blick auf das belebte Flughafengelände bot. In der Mitte des Zimmers befand sich ein bequemes Bett, frisch bezogen und einladend. Ein kleiner Schreibtisch mit einem bequemen Stuhl stand in einer Ecke. Obwohl das Zimmer keine luxuriösen Extras bot, war es genau das, was man nach einem anstrengenden Flug brauchte.

Judy durchforstete weiter die Akte ›Mariners‹, und Cliff suchte auf seinem Smartphone die relevanten Adressen für den kommenden Tag. Eine Weile schwiegen sie – jeder blickte nur auf den eigenen Bildschirm.

»Stell dir mal vor, da wäre wirklich was dran«, meinte Judy schließlich.

»Woran?«, fragte Cliff, während er damit begann, die Verfügbarkeit von Mietwagen in der Gegend zu prüfen.

»Na, an der Sache mit den Geistern«, erklärte Judy. »An Stimmen, die einem plötzlich den Befehl geben, etwas Schreckliches zu tun. Das arme Mädchen hier hat ihre Freundin getötet. Stell dir nur mal vor, dass sie etwas dazu gezwungen hat, dass sie in ihrem eigenen Körper gefangen war und zusehen musste, wie sie immer wieder zugestochen hat.« Sie schüttelte den Kopf.

Cliff blickte auf. »Als ehemalige Polizeipsychologin sollte dich doch eigentlich nichts mehr wundern.«

Judy winkte ab. »So war das nicht gemeint. Menschen sind zu allem fähig – da mache ich mir wirklich keine Illusionen, aber wo es kein klares Motiv gibt, da gibt es eben Drogeneinfluss oder diagnostizierbare Psychosen. Aber allein der Gedanke, dass ein Geist eine völlig gesunde Person brutale Verbrechen verüben lässt, ist doch zumindest unangenehm.«

»Wir haben inzwischen so viel gesehen«, erwiderte Cliff und seufzte. »Denk nur an die Sache mit dem Poltergeist1. Aber, ja: Die Vorstellung, einer solchen Macht ausgeliefert zu sein, ist ... albtraumhaft. Ich kann nur hoffen, dass wir eine Erklärung finden werden.«

Judy fiel etwas ein. »Zeugenaussagen, Täterbeschreibung ...«, murmelte sie vor sich hin, während sie tippte. »Ah, hier.« Dann überflog sie einige Absätze und schüttelte den Kopf.

»Was?«, fragte Cliff.

Judy winkte ab. »Ach, es war nur so eine Idee. Ich musste an die schwarzen Sonnen denken. Es hätte ja sein können, dass auch in Seattle extraterrestrische Parasiten am Werk gewesen sind – aber von schwarz verfärbten Augen ist hier nirgendwo die Rede. Das wäre ja sicher vermerkt worden2.«

»Wir behalten es aber mal im Hinterkopf«, entgegnete Cliff.

»Ich bin jedenfalls gespannt, was der Abt zu sagen hat«, gab Judy zurück und gähnte.

»Ich auch«, pflichtete ihr Cliff bei. »Aber heute wollen wir das Thema ruhen lassen. Ich bestelle jetzt noch schnell was zu essen, schon allein, um den Flugzeugfraß vergessen zu können. Und dann sollten wir nicht allzu spät schlafen gehen, denn wenn wir morgen um 08:00 Uhr beim Tempel sein wollen, müssen wir früh aufstehen.«

Thai Community Temple Wat Buddhadham

Seattle, Washington, 03. März 2024, 08:10 Uhr

Cliff stellte den Mietwagen auf dem Parkplatz neben dem Tempel ab. Zu beiden Seiten ragten Nadelbäume in den Himmel empor. Der Duft von Erde und Wald erfüllte die Luft. Vögel zwitscherten.

Trotz der frühen Stunde waren kaum noch freie Parkplätze vorhanden, da die Gemeinde um das letzte Mordopfer trauerte.

Kurz nach dem Bekanntwerden der schrecklichen Taten waren Bilder von den Toten am Eingang des Tempels aufgestellt worden. Es handelte sich um Fotos aus einer glücklicheren Zeit, die nun entfärbt worden waren. Schließlich lebten die jungen Menschen, die den Betrachter fröhlich anlächelten, nicht mehr.

Judy wollte gerade die Beifahrertür öffnen, als Cliff sie zurückhielt. »Wenn wir ein Gespräch mit einem der Mönche beginnen wollen, legen wir die Handflächen aneinander und führen die Fingerspitzen kurz zur Stirn. Und wenn die Mönche sich setzen, dürfen wir nicht stehen bleiben, sondern setzen uns ebenfalls hin, am besten so, dass wir sie dabei nicht überragen.«

Judy lachte. »Okay, ich halte mich dran. Woher weißt du das alles?«

Cliff blickte übertrieben bedeutungsschwer drein. »Ich interessiere mich nicht nur für die Philosophie dahinter, sondern auch für die gelebte Praxis. Außerdem benehme ich mich ungern daneben.«

Judy lachte. »Also schön, los geht's.«

Der Tempel war alles in allem sehr unscheinbar – eher ein umzäunter Park mit ein paar kleinen Hütten, einem einstöckigen Flachbau, bei dem es sich offensichtlich um das eigentliche Gotteshaus handelte, und einem überdachten Gebetsbereich mit ein paar Tischen. Letztere bogen sich förmlich unter dem Gewicht der Speisen, die die Gläubigen mitgebracht und dem Tempel gespendet hatten.

Cliff und Judy stellten ihre eigenen Gaben ebenfalls auf einem der Tische ab, zogen sich dann die Schuhe aus und betraten den Tempel.

Die Wände waren mit traditionellen buddhistischen Kunstwerken und Wandmalereien geschmückt, die Geschichten aus dem Leben des Buddha darstellten. In der Mitte der gegenüberliegenden Seite des Raumes stand ein Altar mit einer überlebensgroßen Buddha-Statue. Vor dem Altar hatte man Opfergaben aufgestellt: Blumen, Räucherstäbchen und Kerzen.

Auf einem langen Podest saßen sechs Mönche und beteten. Vor ihnen kniete die Gemeinde, die fast gänzlich südostasiatischer Herkunft war. Viele weinten lautlos. Ab und zu war ein unterdrücktes Schluchzen zu hören. Es roch nach Räucherstäbchen.

In einem angrenzenden Zimmer, dessen Doppeltür weit offen stand, war die aufgebahrte Leiche zu sehen. Gerade trat jemand an die Tote heran und goss ein paar Tropfen Wasser über ihre ausgestreckte Hand.

Cliff und Judy setzten sich in den hinteren Teil des Raumes und warteten, bis die Mönche ihr Gebet beendet hatten. Kaum war dies geschehen, kam einer der Männer in orangefarbenen Gewändern zielstrebig auf sie zu. Er war schon alt. Trotzdem ging er nicht gebeugt. Seine bloßen Arme waren kräftig und seine Augen blickten wachsam um sich.

Als er sie erreicht hatte, erhoben sich Cliff und Judy und führten die Fingerspitzen der aneinander gelegten Hände zur Stirn.

»Namasagan krap, Luang Phor«, sagte Cliff, denn plötzlich war ihm wieder eingefallen, mit welcher Anrede man einen thailändischen Mönch anzusprechen hatte.

Die ernste Miene des Mannes hellte sich auf. »Seien Sie gesegnet«, sagte er freundlich. »Ich bin Yen, der Abt dieses Tempels.«

»Ich bin Cliff Conroy und das ist Judy Davenport«, stellte Cliff sie vor. »Wir wollten uns kurz mit Ihnen unterhalten.«

Der Abt nickte. »Das habe ich mir schon gedacht. Kommen Sie bitte mit«, erwiderte er. Dann ging er voraus, aus dem Tempel, um das Gebäude herum und zu einer Hütte. Daneben stand ein kleines Holzhaus auf einer einzelnen Stütze, das ein unwissender Beobachter für ein großes Vogelhaus halten mochte. Aus der Nähe sah man jedoch die in Goldfarbe aufgetragenen Verzierungen, den Teller mit Obststücken und die Limonadenflasche samt Strohhalm. Das Haus war als Heimstätte für Geister gedacht und die Nahrungsmittel als Gabe für die unsichtbaren Bewohner.

Der Abt öffnete die Tür der Hütte und bat Cliff und Judy, einzutreten. Die Hütte entpuppte sich dabei als winziges Büro.

»Setzen Sie sich. Ich nehme an, es geht um die Morde.«

Judy und Cliff nahmen dem Abt gegenüber Platz.

»So ist es«, sagte Judy etwas erstaunt. »Man hat uns an Sie verwiesen. Haben Sie denn mit uns gerechnet?«

Der Abt nickte. »Ein Mitglied meiner Gemeinde hat gewisse Kontakte, über die ich nicht näher sprechen will und die ich im Detail auch gar nicht kenne. Über ihn ist der Kontakt zu Ihnen oder Ihrem Auftraggeber hergestellt worden. Wie ich, war er der Meinung, dass die Morde weitere Nachforschungen erfordern.«

Cliff und Judy wechselten einen vielsagenden Blick.

»Es hieß, Sie könnten uns vielleicht etwas Wichtiges sagen, ... etwas, das die Polizei bisher ignoriert hat«, warf Cliff ein.

Der Abt nickte ernst. »Die Detectives sind natürlich schon hier gewesen und haben mich befragt, weil ich alle Beteiligten kenne. Ich habe ihnen gesagt, dass Opfer und Täter befreundet waren, dass sie sich aus den Clubs kannten, aus den Bars, von Studentenpartys. Alles junge Leute, die ihr Leben noch vor sich hatten.« Er seufzte. »Das hat ihnen gereicht. Die meisten Morde geschehen nun mal in der Familie, im Freundeskreis, unter Bekannten ...« Er blickte von Cliff zu Judy und wieder zurück. »Aber das ist nicht die einzige Verbindung«, fuhr er fort. »Eine viel wichtigere Verbindung ist die zwischen den beiden Tätern: Wenige Monate zuvor sind An und Connor in den Dunstkreis eines üblen Kerls geraten. Sein Name ist Bao, und ich bin mir sicher, dass das kein Zufall ist, auch wenn die Polizei das wohl anders sieht. Beide, An und Connor, haben sich von ihm tätowieren lassen.«

Judy legte den Kopf schief. »Ist dieser Bao dafür bekannt, Menschen unter Drogen zu setzen oder dergleichen?«

Der Abt schüttelte den Kopf, und seine Miene verfinsterte sich. »Nein. Bao ist kein Drogendealer. Er war einmal einer meiner fleißigsten Brüder hier im Tempel. Ich habe ihn wirklich als strebsamen und beliebten Weggefährten wahrgenommen. Aber irgendwann hat er Wege beschritten, von denen man sich fernhalten muss. Ein Schatten ist auf ihn gefallen. Düstere Dinge geschehen nun, wo er seine geheimen Werke verrichtet.«

Als der Mönch das sagte, meinten Judy und Cliff zu spüren, wie es in dem kleinen Büro kälter wurde, als es ohnehin schon war. Judy fröstelte.

Der Abt schrieb derweil etwas auf einen Notizzettel. »Hier. Das ist Baos Adresse. Aber ich warne Sie: Er ist mächtig – wenn auch auf eine Art, die Sie nicht verstehen können.«

Sozialbausiedlung Tristar

Seattle, Washington, 03. März 2024, 10:05 Uhr

»Das muss es sein«, sagte Cliff und blickte an dem dunklen Turm empor. Die Fassade war sicherlich einmal weiß gewesen. Jetzt war sie grau. Die matten Strahlen der vormittäglichen Sonne und die feuchte Luft hüllten das sechzehnstöckige Wohnhaus in einen matten Dunst. Cliff lenkte das Mietauto einmal um den Block. Es war einer von vier identisch aussehenden Klötzen. Wenige Menschen waren auf den Straßen zu sehen. Müll lag auf den Gehwegen. Die geparkten Autos waren allesamt beschädigt.

Vor dem Eingang des Wohnblocks B hielt Cliff schließlich an. Sie stiegen aus und begaben sich zögerlich in das verlassene Foyer. Beide Fahrstühle waren defekt – sicherlich nicht erst seit heute. Sie machten sich also wohl oder übel an den Aufstieg – hinauf bis in den sechzehnten Stock. Schummrige Lichter im fensterlosen Treppenhaus und der widerhallende Klang ihrer Schritte begleiteten sie bis in die oberste Etage, wo Bao wohnte.

In dem schmalen Flur sahen sie sich eine Weile um. Es war dreckig und es stank. Das einzige Fenster weit und breit wies lange Risse auf. Pappkartons auf dem Boden schienen einem Obdachlosen bis vor Kurzem als Wohnstätte gedient zu haben.

Vor einer Tür am Ende des Ganges blieben sie stehen. »1615«, sagte Cliff leise. Das war die Apartmentnummer, die der Abt ihnen genannt hatte. »Hier muss es sein.«

Sie lauschten. Kein Laut war zu hören.

»Nichts«, stellte Judy fest und seufzte. »Na gut, klopf an.«

Cliff klopfte.

Es ertönte kein Laut, auch kein Zeichen ließ sich vernehmen, das darauf hindeutete, dass sich auf der anderen Seite der Tür jemand aufhielt.

»Damit wären wir hier auch schon wieder am Ende«, merkte Cliff an.

»Wir müssen das Haus von der Straße aus observieren und warten, bis er wiederkommt«, schlug Judy vor. »Aber vorher können wir zu Mittag essen, am besten irgendwo, wo man uns auch gleich ein paar Fragen beantworten kann.«

Cliff nickte. »Aber bevor wir das machen, fragen wir mal nebenan. Schaden kann es ja nicht.«

Sie gingen also zur Tür der Nachbarwohnung. Dahinter lief ein Fernseher.

Cliff klopfte an.

Sie warteten eine Weile, aber in der Wohnung rührte sich nichts.

»In dieser Gegend würde ich auch nicht aufmachen, wenn ich keinen Besuch erwarte«, warf Judy schulterzuckend ein.