Gesperrte Ablage - Ines Geipel - E-Book

Gesperrte Ablage E-Book

Ines Geipel

2,1

Beschreibung

Der DDR-Diktatur ist es gelungen, auch nach ihrem Untergang das Gedächtnis der Öffentlichkeit im Hinblick auf die Geschichte des literarischen Schaffens zu beeinflussen. Das einfache Bild, das während ihrer Existenz vorherrschte, ist das von den "staatstragenden" Künstlern und deren "Kontrapunkten", den kritischen, aber trotzdem loyalen Autorinnen und Autoren, die oft auch im Westen zu Berühmtheit gelangen konnten. Ein sehr geschöntes Bild, denn in Wahrheit ist dies nur der zugelassene Teil der Literaturgeschichte - bestimmte Stoffe und Ästhetiken, ja, alles wirklich Nonkonforme, Experimentelle, Widerständige wurde konsequent behindert, unterdrückt, verfolgt, verschwiegen, abgelegt und weggesperrt. Wenn Kunst etwas mit Freiheit zu tun hat, dann ist dies die wahre Literaturgeschichte Ostdeutschlands, und sie muss gegen die nach wie vor zähe Propaganda eines Systems erzählt werden. Ines Geipel und Joachim Walther tun dies detail- und kenntnisreich und eröffnen den Blick auf ein literarisches Leben, das trotz lebensgefährlicher Konsequenzen für die Freiheit des Wortes einstand.

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Ines GeipelJoachim Walther

GESPERRTEABLAGE

Unterdrückte Literaturgeschichtein Ostdeutschland 1945 – 1989

LILIENFELD VERLAG

Gedächtnissiegel Buchenwald

Vorwort von Ines Geipel

Angsträume und literarische Gegenwelten

Vorwort von Joachim Walther

Ines Geipel

ERSTER TEIL

1945 –1968

Die Stunde Neuschuld

Unmittelbarer Nachkrieg

Die Gruppe 47 Ost

Isolationen

Archipel der Angst

Auswuchten des Stalinismus

Niemandsland der dritten deutschen Literatur

Das Projekt der Spaltung

Nach dem Mauerbau

Zeitalter des Misstrauens

Einschluss, unversöhnt

Außerhalb der Sprachkapsel

Aushärtungen

Den Horizont um den Hals

Rückrufungen und Kältespiele

List, Aberwitz, Gedankenaufsicht

Joachim Walther

ZWEITER TEIL

1969 –1989

Machttheater in Betrieb

Nach dem Prager Frühling

Die siebziger Jahre

Kristallisationen

intra muros

Aufbruch im Verfall

Kahlschläge, immer wieder

Idealismus als Staatsverleumdung

Mehr Orte, mehr Widerworte

Kunst als außerstaatliches Leben

DDR-Agonien

Hintergrund achtziger Jahre

Ästhetisch-politische Individuationen

Wo die Worte wahr sind

Spott, feindlich-negativ

Das „Holde Reich“, eine Enklave

Das Wort wird Ort

Agonie und Finale

Individuationen, Endpunkt: Haft

Anmerkungen

ANHANG

Das Archiv unterdrückter Literatur in der DDR

Die Autorinnen und Autoren im Archiv unterdrückter Literatur in der DDR

Kurzbiografien, Archivbestand und Veröffentlichungen

Literaturhinweise

Personenregister

Abkürzungsverzeichnis

Danksagung

GEDÄCHTNISSIEGEL BUCHENWALD

Vorwort von Ines Geipel

1. April 2015. Zum 70. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Buchenwald bringt die ARD zur besten Sendezeit und für ein Millionenpublikum die Neuverfilmung des Lagerromans „Nackt unter Wölfen“ von Bruno Apitz. Der MDR, der die Großproduktion übernommen hat, kündigt an, dass es sich nicht um ein Remake, sondern ausdrücklich um eine „Neuinterpretation“ handelt. Die Produzenten erhoffen sich eine „neue deutsch-deutsche Debatte über Antifaschismus“. Die „Mitteldeutsche Zeitung“, der „Tagesspiegel“, die „Superillu“ berichten vorab von den Dreharbeiten im tschechischen Vojna. Die „Sächsische Zeitung“ warnt: „Das Risiko ist groß, dass der MDR mit der Neuverfilmung die Erinnerungskultur seiner Zuschauer durcheinanderwirbelt oder sie vor den Kopf stößt.“ Wie im routinierten Strom unseres Erinnerungsprogramms mittlerweile üblich, folgt unmittelbar auf den Streifen eine Dokumentation, die „den sozialistischen Heldenmythos und die Lagerwirklichkeit auf dem Ettersberg zueinander in Beziehung setzen“ soll. Die Rezeption von Film und Dokumentation fällt stark, ja mehrheitlich überschwänglich aus: „Eine Revision der antifaschistischen Bibel“ schreibt „Die Zeit“, „Die Neuvermessung des antifaschistischen Urmeters“ mutmaßt „Die Welt“.

Und was war nun neu? Der Roman „Nackt unter Wölfen“ hat alles, was einen Stoff zur gedächtnispolitischen Mega-Saga macht. Erzählt wird der dramatische Kampf deutscher Kommunisten um das Überleben eines kleinen jüdischen Jungen im KZ Buchenwald in der Schlussphase des Krieges. Schicksal und Schmerz, Verbrechen und Leid, Opfer und Täter, Erinnerung und Schuld, Realität und Fiktion werden in einer Weise verzahnt, dass nicht nur das Buch, sondern auch die Rezeption viele Auflagen erlebte. Diese Langzeitrezeption hat verschiedene Ursachen. Eine liegt darin, dass im Zusammenhang mit „Nackt unter Wölfen“, der „literarischen Gründungsurkunde der DDR“1, auch mehrere Auflagen der Umgruppierung und Entstellung von historischer Wahrheit stattgefunden haben.

„Nackt unter Wölfen“ als Ikone, als DDR-Grundfeste, als Staatsmythos einer Diktatur. Wie war es dazu gekommen? Was konnte mit dieser „Gründung“ etabliert und was verdeckt werden? Welche Stoffe, welche Themen? Was wurde aussortiert? Wie bedingten sich Öffentlichkeit und Nichtöffentlichkeit hierbei? Und was musste eisern verschwiegen werden? Wie lief die Rezeptionsgeschichte einer DDR-Großerzählung wie „Nackt unter Wölfen“ ab und wie dagegen die der anderen, der unterdrückten Stimmen im Osten Deutschlands? Welche Funktion wurden Altar und Krypta im Hinblick auf das geistige Erbe der DDR zugesprochen? Und wie gelang schließlich die Neucodierung dieses Memorialmassivs nach dem Systembruch von 1989, obwohl in den neunziger Jahren durch endlich möglich gewordene Forschung ein differenzierter Blick auf Buchenwald und damit auch auf die Kollektividentität der DDR möglich geworden war?

Bruno Apitz (1900 – 1979), der Autor des Romans, wurde am 4. November 1937 in Buchenwald interniert. Der „Funktionshäftling“ mit der Nummer 2417 arbeitete zunächst in Schacht- und Baukommandos, ab Mai 1938 im Kommando Bildhauerei und wurde ab Dezember 1942 auf Initiative der „Häftlingsselbstverwaltung“ ins Kommando Pathologie und damit an einen neuralgischen Ort des Lagers vermittelt. Dort wurde er „Zeuge der Mitte 1941 begonnenen und systematisch durchgeführten Ermordung von Kranken durch Giftinjektionen sowie medizinischer Experimente zur Entwicklung eines neuen Impfstoffes gegen Fleckfieber“2, schreibt sein Biograf. Als die Lager-SS am 6. April 1945 – nur Tage vor der Befreiung des Lagers – den Befehl ausgab, 46 Häftlinge müssten um acht Uhr morgens am Schild III antreten, stand auch Bruno Apitz auf der Liste. Die Auslieferung hätte den sicheren Tod bedeutet. Der Befehl traf vor allem Langjährige, die konkretes Wissen über die innere Struktur des Lagers hatten, speziell über die Giftmordpraxis und die medizinischen Experimente in Buchenwald. Alle 46 Todeskandidaten, darunter 32 Deutsche, konnten fünf Tage lang versteckt und schließlich auch gerettet werden. Zusammen mit 21.000 Überlebenden, die noch im Lager waren, wurden sie am 11. April 1945 von der US-Armee befreit.

Das Ende des Zweiten Weltkrieges, das Ende von Hitler, seines Terrors und seiner Lager. „Von allen Schlachten, die der Antifaschismus geschlagen hat, ist das Kapitel Buchenwald eines der heroischsten“3, war bereits Ende 1945 in der ersten, von deutschen Kommunisten veröffentlichten Buchenwald-Geschichte zu lesen. In keinem anderen Lager hatte sich der kommunistische Widerstand so „außergewöhnlich effektiv“4 organisieren können wie auf dem Ettersberg oberhalb von Weimar – unter den 56.000 Häftlingen, die in Buchenwald zu Tode kamen, waren 72 Kommunisten. Das Kammergebäude, das Büro der Arbeitsstatistik und das Lazarett standen ab 1942 unter der Kontrolle roter Funktionshäftlinge. Es waren Schlüsselstellungen innerhalb einer Zwangsgemeinschaft, die über Leben und Tod entschieden, und es waren Machtpositionen, die sich auszahlten.

Als das Lager befreit wurde, zeigten sich die eintreffenden US-Geheimdienstler irritiert darüber, einer ganzen Zahl deutscher Kommunisten gegenüberzustehen, die „wie wohlhabende Geschäftsleute“5 aussahen. Die Rede war von „selbsternannten Aristokraten“ 6.

„Ab 1942 kam es innerhalb der Häftlings-Selbstverwaltung zur Ablösung der ‚Grünen‘, der Kriminellen, durch die ‚Roten‘, die besser organisierten Kommunisten, was die Lagerbedingungen generell verbesserte. Der durch politische Häftlinge aufgestellte Lagerschutz verringerte die Anwesenheit der SS und damit die Gewalt im Lager.“7 Bei allen Verdiensten, darunter auch dem, in den letzten Tagen des Lagers die Evakuierung von zehntausenden Juden verzögert und damit viele Leben gerettet zu haben, geriet das kommunistische Lagernetzwerk mit der Befreiung von Buchenwald allerdings unter den Akutverdacht, aktiv in die Verbrechen der Nazis verstrickt gewesen zu sein. Die Anwürfe zielten auf strafrechtlich relevanten Mord als ein innerhalb des Lagers systematisiertes Disziplinierungsprinzip, aber auch auf Machtgier und Nutznießerei.

Vor allem französische, polnische und tschechische Häftlinge waren es, die im Moment der Lagerbefreiung schwere Anklage erhoben und den deutschen Buchenwald-Kommunisten jedes Recht auf Heldenstilisierung absprachen. Das erste alliierte KZ-Dossier, veröffentlicht am 24. April 1945, hielt denn auch konsterniert fest: „Der Bericht schildert, wie die Häftlinge selbst einen tödlichen Terror innerhalb des Nazi-Terrors organisierten.“8 Diese Aussage zielte ausdrücklich auf die Organisation in Buchenwald und führte aus: „Der kommunistische Lagerschutz war direkt verantwortlich für einen großen Teil der in Buchenwald begangenen Brutalitäten. Nicht alle Züchtigungen und Tötungen wurden von SS-Wachen ausgeführt.“9 Im Hinblick auf den erbitterten Machtkampf innerhalb der Häftlingsstruktur auf dem Ettersberg hieß es weiter: „In Auschwitz hatten die Polen dieselbe herrschende Position inne wie die Kommunisten in Buchenwald. Sie versuchten, in ihrem neuen Heim [Buchenwald, I. G.] dieselbe Art von Kontrolle an sich zu reißen. Aber Lagerinsassen bestätigten, daß die Kommunisten den polnischen Angriff leicht niederschlugen, indem sie viele Polen in der Typhus-Versuchsstation zur Hinrichtung brachten.“10 Französische Häftlinge hatten gegenüber den US-Behörden vor allem die Selektiermethoden deutscher Kommunisten angeprangert. Das Dossier gab dazu an: „Auf Grund ihrer westlichen Einstellung stellten auch sie [die ankommenden französischen Häftlinge in Buchenwald, I. G.] eine Bedrohung für die deutsche kommunistische Herrschaft dar. Fast alle aus den ersten Transporten wurden sofort in das gefürchtete Lager Dora geschickt, was fast den sicheren Tod bedeutete.“11

Aufgrund der manifesten Vorwürfe fahndeten die US-Behörden deshalb nicht nur nach SS-Verantwortlichen, sondern auch nach deutschen Kommunisten wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Eine Kerngruppe wurde nach der Befreiung von Buchenwald für Wochen auf dem KZ-Gelände festgesetzt, da gegen sie ermittelt wurde. Es kam zu Verhaftungen. Die Offenlegung der mörderischen Lagerpraxis hätte aber die „kommunistische Kampfgemeinschaft“ zwangsläufig desavouiert, worüber sich auch die remigrierten Moskau-Kommunisten um Walter Ulbricht, die einen Großteil der Buchenwaldkader umgehend in ihre Politstruktur aufnahmen, völlig im Klaren waren. Das „bessere Deutschland“ im Osten mit Mördern zu starten, selbst wenn diese als Häftlinge ums blanke Überleben unter extremen Zwangsbedingungen zu kämpfen gehabt hatten, wäre öffentlich nicht zu vermitteln gewesen. Das Wissen war brisant und damit Gefahr im Verzug.

Und schon wieder ging es um Macht, jetzt um die neue Macht im Osten. Der zahlenmäßig deutlich größeren Gruppe von 796 kommunistischen Buchenwaldhäftlingen stand die kleine Moskau-Gruppe von lediglich 218 Kommunisten gegenüber, von denen viele im Land des Großen Bruders für die Zeit nach dem Zusammenbruch instruiert und ausgebildet worden waren und nun ans Politruder drängten. Nur drei Männer der alten Parteispitze waren im Großen Terror von 1937 / 38 nicht umgekommen: Wilhelm Florin, Wilhelm Pieck und Walter Ulbricht. Auch sie besangen heroisch, nicht so sehr sich, sondern die ruhmreiche Sowjetunion, und schwiegen dabei ihr parteigebundenes Eidschweigen, aus Angst, aus Verdrängung, der Karriere wegen oder aus Scham über den eigenen Verrat, ohne den die sowjetischen Jahre nicht zu überleben gewesen wären. Sie waren Menschen ohne Vergangenheit, verschworene Schweiger, denen es bei ihrer Rückkehr ganz zupasskam, dass der Malus der Geschichte kurz nach Kriegsende vorerst vor allem eine Richtung kannte: Buchenwald. Hier gab es Anwürfe, die einiges Potential für Einschüchterungen, Drohungen, Erpressungen bargen. Noch im September 1945 hatte die Parteispitze die ersten internen Anhörungen gestartet, in denen es zu unmissverständlichen Aussagen gekommen war. Ein Genosse hatte über seine Zeit in Buchenwald berichtet: „Die Krankenbetreuung befand sich bei der Gruppe Walter Bartel, die diese Funktion ausnützte, um unerwünschte Genossen zu beseitigen. ‚Die Todesspritze‘ [gemeint sind Injektionen mit Phenol, Luft oder Krankheitserregern, I. G.] wurde natürlich mit stiller Zustimmung aller Häftlinge auch zum Töten von SS-Agenten gebraucht. Die Gruppe Walter Bartel faßte u. a. den Beschluß, mich ‚zu beseitigen‘. Nur zufällige, glückliche Umstände retteten mich vor der Todesspritze. Ernst Busse, zuerst Lagerältester, wurde zum ersten Kapo im Krankenhaus bestellt. Sein Stellvertreter war Otto Kipp, der das ‚Spritzerkommando‘ leitete. Dieses Kommando führte die Befehle der SS, Häftlinge zu ermorden, aus. Auf Anweisung verschiedener kommunistischer Organisationen im Lager sollte es mit der Spritze für die Arbeiterbewegung gefährliche Elemente beseitigen.“12

Walter Ulbricht startete im Herbst 1946 eine parteiinterne Untersuchung, die die Anschuldigungen klären und die Lagerpolitik der roten Kapos von Buchenwald rekonstruieren sollte. 19 Kommunisten, die in Buchenwald zur inneren „Selbstverwaltung“ gehört hatten, mussten aussagen. Das Ergebnis: Die Vorwürfe wurden erstaunlicherweise fast ausnahmslos entkräftet und den Beschuldigten „hervorragende Verdienste“ im Lager bescheinigt. Trotz präziser Informationslage schluckte die Kommission nebst Pieck und Ulbricht also das dunkle Buchenwaldwissen. Warum? Der Fraktionskampf war auf diesem Weg gewonnen und die Buchenwaldgruppe so in der Hand der Moskauer, leicht erpress- und für die neue Linie disziplinierbar.

Mit der parteiinternen Reinwaschung war das Problem allerdings nicht aus der Welt. Die Ermittlungen in der sowjetischen Besatzungszone (SBZ) liefen weiter. Noch 1950 griff die sowjetische Militäradministration (SMAD) in dieser Sache zu und verhaftete Ernst Busse, nach 1945 Innenminister und stellvertretender Ministerpräsident in Thüringen, sowie Erich Reschke, zunächst Thüringer Polizeipräsident und dann Zuchthaus-Chef von Bautzen, zwei kommunistische Buchenwald-Spitzenkader, die aufgrund der Anklagen von Mitgefangenen beide nach Workuta in den Gulag verschleppt wurden.

Und mittlerweile war es auch im Westen zu öffentlichen Reaktionen gekommen. Im Frühjahr 1947 berichteten westdeutsche Zeitungen im Vorfeld des Dachauer Buchenwaldprozesses über das „Geheimnis von Buchenwald“13. Das ab da offene Geheimnis wuchs sich zum politischen Stigma aus. Es war wie Milch, die in Wasser strömt. Es träufelte, sickerte und breitete sich aus, ohne Widerstand.

Von den 796 deutschen Kommunisten, die sich nach ihrer Repatriierung vom Ettersberg aus auf den Weg in ihre Heimatorte gemacht hatten, stiegen nicht wenige in Ost und West in den Wiederaufbau von Kommunalverwaltungen und Behörden ein. Etliche aus dem kommunistischen Buchenwald-Führungskader machten in der SBZ rasch steile Politkarriere. Walter Bartel etwa wurde der Büroleiter des ersten und einzigen DDR-Präsidenten Wilhelm Pieck. Helmut Thiemann, in der SBZ als Rolf Markert zum Schutz vor den US-amerikanischen Ermittlungen maskiert, stieg 1954 zum Geheimdienstchef von Sachsen auf und blieb das bis 1981, als Generalmajor des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS). Im parteiinternen Bericht im Hinblick auf seine Buchenwaldzeit und die Opferung anderer Gefangener hatte Markert – zu der Zeit in äußerster Bedrängnis – vor seiner Partei überaus deutlich zu Protokoll gegeben: „Entweder wir lehnen diese Arbeit ab und bleiben menschlich zwar sauber, oder wir geben die Position auf und werden dadurch indirekt Mörder an unseren eigenen Genossen … Da unsere Genossen mehr wert waren als alle anderen, mussten wir also einen Schritt gemeinsam mit der SS gehen, und zwar in der Vernichtung von aussichtslos kranken und kollabierenden Menschen … Dass ich die Liquidierung nicht alleine durchführen konnte, versteht sich von selbst. Dazu gehörte ein ganzer Apparat. Derselbe bestand fast nur aus Genossen, mit denen ich nur als Exekutive arbeitete. Die Anweisungen bekam ich ja nur durch die Partei.“14 Markert wurde beschuldigt, an der Ermordung von u. a. 176 sowjetischen Mithäftlingen aktiv beteiligt gewesen zu sein.15 Zur Anklage kam es nie. Ihn retteten offenkundig parteiinterne Seilschaften.

So, wie sich die Buchenwald-Kommunisten im Lager als eiserne Kampfelite verstanden hatten, so entschlossen gingen die schwer Traumatisierten nach 1945 gegen ihr politisches Stigma vor. Die Version der maßgeblichen Verstrickung wurde ihr neuer Feind, der mit allen Mitteln bekämpft wurde. Die Strategien des Überlebens im Lager verlängerten sich im bewährten Freund-Feind-Modus in die Zeit des Kalten Krieges hinein. Denn die einsickernde Milch der Geschichte musste um jeden Preis gestoppt werden, mit einem ehernen Gegengedächtnis in Schwarz-Weiß. Die inkriminierten Buchenwald-Kommunisten starteten gegen den Malus der Glaubwürdigkeit folglich eine umso offensivere Abwehrstrategie: Kampagnen wurden in Szene gesetzt, Ausschüsse und Komitees gegründet, Gedenkveranstaltungen vorbereitet, Korrespondenzen in alle Welt eröffnet, Überlebendenverbände polarisiert, Fragebögen im Sinne eines verbindlichen Narrativs über den Komplex Buchenwald eingeholt. Nervöser Aktivismus, dem es gelang, einen Heldenkatechismus zu installieren, der Lagergeschichte und kommunistischen Widerstand zunehmend verklärte. Der exklusive Ton einer geschlossenen Kampfgemeinschaft aus internationaler Solidarität, Widerstand, Märtyrertum und Selbstbefreiung erlitt mit der Zeit eine derartige Realitätsausdünnung, dass sich auf Buchenwald eine massive Gedächtnisplatte legte, die das Lager als Geschichtsgrab versiegelte, sakrosankt gegenüber jeder Klärung.

Der Roman „Nackt unter Wölfen“ erschien also 1958 in einer Phase forcierter Gedächtnisbetonierung. Bruno Apitz hatte die Anschuldigungen und anhaltenden Angriffe gegenüber seinen Kampfgenossen natürlich mitbekommen. Er wusste um die zahlreichen Degradierungen und Verhaftungen. Er wusste auch um das Speziallager Nr. 2, eines der zehn Lager des SMAD auf ostdeutschem Gebiet, das schon im August 1945 auf dem Gelände von Buchenwald eingerichtet worden war. 28.000 Inhaftierte saßen dort ein, 7000 starben. Und er wusste um die ausgesprochen fragile politische Situation in der DDR nach dem Volksaufstand am 17. Juni 1953 und die zunehmende Vereisung zwischen Ost und West.

„Nackt unter Wölfen“ war 13 Jahre nach der Befreiung aus dem Lager zuallererst der Versuch einer Selbstvergewisserung. Bruno Apitz wollte Zeugnis ablegen, über einen Todesraum, über den erlittenen Schrecken, über Angst und Überlebensschuld. Und er musste es wohl auch. Die Jahre in Buchenwald waren eine schwere Hypothek. Ihn quälte die Erfahrung, aber auch die nach Ende des Krieges erfolgte Zurückweisung der Erinnerung, vor allem die durch seine Partei. Das Rohmaterial des Manuskripts kann so den Blick dafür freilegen, dass und wie der Autor seinen Roman zum Zeugen von Buchenwald machen wollte. Er hatte ihn nötig, als Anwalt, zur Durcharbeitung seines Traumas, zur Verteidigung seiner Erlebnisse und als Verpflichtung.

Dabei war der Status des Zeugen in mehrerer Hinsicht unversichert. Zunächst einmal war er nicht gewollt. Als Bruno Apitz sich im November 1954 mit einem Buchenwaldstoff an die DEFA wandte, wurde er abgelehnt. Anfang 1955 bat er beim Berliner Vorstand des Deutschen Schriftstellerverbandes mit einem 55-seitigen Typoskript um ein Darlehen für die Arbeit an einem Roman. Auch von dort bekam er ein Nein. Es ging ihm nicht gut zu der Zeit: Er lebte praktisch mittellos, seine Ehe war geschieden, der Körper durch die lange Haftzeit angegriffen, der Stoff bedrängte ihn. Es waren Freunde und der Mitteldeutsche Verlag Halle, die ihn bestärkten, an dem Buchprojekt festzuhalten. Zweieinhalb Jahre dauerte der Schreibprozess. „Beängstigend war“, schrieb sein fast dreißig Jahre jüngerer Lektor Martin Gustav Schmidt alias Martin Gregor-Dellin, der, politisch unter Druck geraten, noch im Produktionsprozess des Buches in den Westen flüchtete, „daß die Manuskriptsendungen immer länger auf sich warten ließen, je weiter es dem Ende zuging.“16

Im Oktober 1957 war der Roman endlich fertig. Aber was für ein Text war da entstanden? Welche Darstellung des nicht darstellbaren Grauens, welche Worte für das Unsagbare? Durfte sich das Geschriebene außerhalb der Erzähl-Erlaubnis bewegen, auf die sich das rote Schweigekollektiv nach Buchenwald selbst eingeschworen hatte? Denn bereits im April 1945 hatten die US-Behörden irritiert festgestellt, dass die vernommenen deutschen Kommunisten alle denselben stereotypen Lagerbericht ablieferten: „Wenn die Armeeuntersuchungsbeamten die Mitglieder der kommunistischen Organisation über ihre Grausamkeitsmethoden befragten, war es, als wenn sie gegen eine glatte Wand rannten. Kein Kommunist gab mehr zu, als ‚daß die kriminellen Elemente in dem Kampf um die Macht rauh behandelt wurden‘.“17

„Nackt unter Wölfen“ ist ein bislang kaum ausgeloteter Vexierraum um Realität und Fiktion. Hatte Bruno Apitz ausdrücklich darauf verwiesen, dass der Text als Roman verstanden werden solle, machte er ihn genauso ausdrücklich zu einer Rehabilitationsschrift, mit seinen konkreten Lagererfahrungen als gravitativem Kern. So sind die frühen Berichte von Apitz über das reale Buchenwald teilweise wortwörtlich in den Text aufgenommen worden. Auch die Widmung, die dem Roman vorangestellt ist, nimmt direkten Bezug auf die reale Geschichte: „Ich grüße mit dem Buch unsere toten Kampfgenossen aller Nationen, die wir im Lager Buchenwald zurücklassen mußten. Sie zu ehren, gab ich vielen Gestalten des Buches ihre Namen.“18

Dieses Changieren des Autors und besonderen Zeitzeugen im Hinblick auf die Realität ist sicherlich ein Grund für die unermüdliche Rezeption des Buches geworden. Kaum ein Leser, der mit diesem Schlüsselroman nicht auch sein Bild von Buchenwald geformt hätte. Doch stellt sich damit nicht umso dringlicher die Frage nach dem Status des Textzeugen? Denn wer erzählt hier eigentlich was? Oder auch: Welche Realität wird mit dem Roman freigelegt? Wie viel Erinnerung wird ihm gestattet? Existiert die „glatte Wand“ auch im Text? Und wenn ja, was geschieht vor ihr und was hinter ihr?

Mit der Fassung, die im Oktober 1957 abgeschlossen vorlag, reagierte Bruno Apitz unmittelbar auf den chronischen Verdacht, der im Hinblick auf die „rote Kampfgemeinschaft“ seit Ende des Krieges im Raum stand. Im Grunde genommen hielt er gar direkt auf die Anwürfe zu und baute die Handlung entlang der faktischen Konfliktmasse auf. Dabei wurden die systematische Ermordung von Mithäftlingen durch Giftinjektion und unter Assistenz der deutschen Kommunisten genauso wenig ausgespart wie die Rolle der roten Kapos im Hinblick auf die Transportlisten.

Susanne Hantke, die Herausgeberin der 2014 neu edierten Ausgabe von „Nackt unter Wölfen“, die sich zum Ziel gesetzt hatte, die 1957 fertig gestellte Autorenfassung freizusetzen, legte denn auch folgerichtig nahe: „Apitz wollte nicht nur die Erfolge politischer Funktionshäftlinge bei widerständigen Aktionen herausstellen, sondern er wollte vor allem die zwiespältige Erfahrung ihrer Ohnmacht und ihres Ausgeliefertseins bei der Verrichtung der von der SS angeordneten Tätigkeiten zu einer Erzählung verdichten.“19 Doch damit war der heikle Grat zwischen Zwangssituation und eigenen Verbrechen von vornherein nivelliert. Die diskreditierten Vorgänge wurden in der Erstfassung nicht abgewehrt, abgewehrt wurden die Dimension des Geschehens, die Frage nach der Eigenbeteiligung und die nach einem angemessenen Umgang damit.

Die historische Wahrheit blieb in dieser Version unausgesprochen und als tiefere Realität hinter der „Wand“ verborgen. Die Großbotschaft lautete: Das kommunistische Netzwerk versuchte, in einem Kosmos aus Terror und Gewalt zu überleben, und diese Not rechtfertigte alle Mittel.

An der brutalen Zwangssituation im Lager kann es fraglos keinen Zweifel geben. Auch wäre es historisch ohne Maß, dem Kommunisten Bruno Apitz entgegenzuhalten, er hätte seinen Überlebensbericht dem seiner Partei angeglichen. Sie hat ihn gerettet. Dennoch könnte die Darstellung des strittigen Geschehens und sein Ort im Text mittels Abgleich der historischen Dokumente Aufschluss darüber geben, was und vor allem bis wohin der Roman eigentlich erzählt. Denn evident ist, dass der Autor den Leser zwar an das Inkriminierte heranführt, aber strafrechtlich Relevantes jeweils hinter häufig hochemotionalisierten Textmasken verschwinden lässt.

So wird etwa in einer Schlüsselszene über den SS-Lagerarzt „Papa Berthold“20 am Anfang des Romans das „Abspritzen“ eines polnischen Häftlings geschildert und der mutmaßliche „Missbrauch“21 des Lagerschutzes thematisiert, die systematische Abspritzpolitik der deutschen Kommunisten aber im Hinblick auf ihre polnischen Mithäftlinge bleibt strikt ausgespart. Die Szene wird somit entlastend ambivalent besetzt, die Beteiligung an den Verbrechen aber im Unerreichbaren hinter der Wand abgelegt.

Dem uneigentlichen Erzähler kommt bei dieser Deckarbeit eine aufklärerische Sonderrolle zu. Er ist es, der die Mehrwandigkeit des Romans lesbar macht und darin selbst zum Signalsystem wird. Sein Weg durch das Buch macht die problematischen Szenen zu Chiffren, die an die konkreten Daten der Auslöschungen im Lager und die Großtraumata der deutschen Kommunisten in Buchenwald heranführen. Der implizite Textzeuge verweist durch sie hindurch, nach innen wie nach außen. Der involvierte Leser ist so stets im Bilde, der nicht involvierte bleibt mit dem zensierten Buchenwaldgedächtnis außen vor. Bruno Apitz bricht das kommunistische Sprachverdikt demzufolge nicht auf, vielmehr überlässt er es dem impliziten Textzeugen, im Binnenraum des Romans Verweise zu platzieren, um das Unsprechbare sprechen zu lassen. Diese äsopsche Deckarbeit wiederholt sich im Buch bei der Rettung des jüdischen Jungen, der, als Stefan Jerzy Zweig Anfang 1941 in Krakau geboren, am 5. August 1944 zusammen mit seinem Vater auf dem Bahnhof Buchenwald eintraf. Zu einem Zeitpunkt, als das Lager durch die ankommenden Transporte aus Auschwitz und die Evakuierungszüge aus Polen und Frankreich kollabierte und die rote Selbstverwaltung den meisten Einfluss im Lager hatte. „Vieles deutet darauf hin, dass es nach dem Luftangriff vom 24. August 1944, der alle Probleme des Lagers potenzierte, eine vorübergehende Übernahme der wichtigsten Funktionen des Lagers durch die Oberschicht der Häftlingsverwaltung gab.“22Es war vor allem diese Konstellation, die das Überleben des Dreijährigen in Buchenwald überhaupt nur möglich machte. Dass die Umstände dabei gänzlich andere waren als im Buch beschrieben und Stefan Jerzy Zweig bei aller grundsätzlichen Bedrohung von Anbeginn kein illegales Kind war, konnte der 1987 veröffentlichte Bericht des Vaters Zacharias Zweig, „Mein Vater, was machst du hier …?“23, detailliert klarstellen. Auch die reale Rettung des Jungen verlief auf drastische Weise anders als in „Nackt unter Wölfen“ beschrieben: Für den 26. September 1944 hatte die Gestapo einen Transport mit 200 Kindern und Jugendlichen nach Auschwitz zusammengestellt, darunter auch Stefan Jerzy Zweig mit der Nummer 200. In letzter Minute wurde er ins Krankenrevier gebracht und erhielt dort eine Fieberspritze. Nach seiner Genesung blieb er bis zur Befreiung von Buchenwald im Kleinen Lager, aufopfernd geschützt durch seinen Vater Zacharias Zweig.

Auf der Liste für den Kindertransport nach Auschwitz am 26. September 1944 hatte auch der zehnjährige Sinto-Junge Rudolf Blum gestanden. Als sein sechs Jahre älterer Bruder Willy Blum von der bevorstehenden Trennung erfuhr, entschied er sich, bei ihm zu bleiben, und meldete sich ebenfalls für den Transport. Zu dieser Liste existiert ein Anhang „Berichtigung zum Transport Auschwitz“ der SS-Lagerverwaltung Buchenwald. Auf ihr sind zwölf Namen gestrichen worden, darunter der von Stefan Jerzy Zweig. Stattdessen ist unter der Häftlingsnummer 74254 der Name „Blum, Willy, geb. 26. 6. 1928“, verzeichnet. Rudolf und Willy Blum fuhren beide nach Auschwitz und wurden dort vergast.

Die Deportation der 200 Kinder am 26. September 1944 nach Auschwitz gehört zum emotionalen Tiefengedächtnis von Buchenwald. „Das ist eine der grausigsten Erinnerungen meiner Verschlepptenzeit. Diese Kinder wussten genau, was sie erwartete. Sie weinten und schrien, als man sie in die Wagen hineinstieß“24, gab der französische Häftlingsarzt Victor Dupont vor dem Nürnberger Gerichtshof zu Protokoll. Die konkrete Szene der ungeschützten und verzweifelten jüdischen Kinder und Sinto-Kinder, die mit Karabinern und Maschinenpistolen zusammengetrieben wurden, blieb im Roman allerdings ausgespart, das heißt hinter der Erzählwand. Stattdessen machte Bruno Apitz eine einzelne heroische Kindsrettung, erkämpft allein vom kommunistischen Lagerwiderstand, zum Kernnarrativ seines Buches. Erst diese Manipulation des Realen – seine Entkoppelung, Umschreibung, Amalgamierung und Symbolisierung – machte den Text zur idealen, weil willkürlichen Projektionsmaske, auf der hunderte Buchenwaldkinder für die Ideologie geopfert, die toten Kampfgenossen dagegen zur Verpflichtung wurden. Ihre Realnamen werden im Roman ausdrücklich genannt.

Der Status des Textzeugen aber war noch in anderer Hinsicht bedroht. Anfangs ungewollt, dann dem mehrwandigen Gedächtnisfilter des parteiergebenen Autors erlegen, musste „Nackt unter Wölfen“ nach Manuskripterstellung schließlich auch noch durchs zähe DDR-Zensurmahlwerk. Und das, obwohl das symbolische Kapital des Romans von den SED-Oberen mittlerweile durchaus verstanden worden war. Denn der Roman passte, ja er galt jetzt sogar als entschieden gewollt, zu einer Zeit, da eine ganze Crew von Gedächtnispolitikern angestrengt am Mythosblock Buchenwald arbeitete. Die Eröffnung des Nationaldenkmals Buchenwald im September 1958 stand unmittelbar bevor. Ein Datum, das den kollektiven Identitätshort der DDR begründen sollte und das auch tat. Ein gut ausgesteuerter Roman über das Lager, der die Massen tatsächlich erreichte, würde der dringend nötigen Machtsicherung der SED durchaus dienlich sein können.

Das augenscheinliche Umdenken in Bezug auf Autor und Text dürfte aber auch noch einen anderen Grund gehabt haben. Denn im August 1957 hatte sich Bruno Apitz – seltsam pünktlich kurz vor Fertigstellung seines Romans – unter dem Decknamen „Brendel“ dem Ministerium für Staatssicherheit angedient. Seine Schweigeverpflichtung gegenüber dem MfS ist auf den 21. August 1957 datiert. Brendel, eine gleichnamige Figur aus „Nackt unter Wölfen“, gehörte als Häftling im KZ Buchenwald zum umstrittenen Lagerschutz, der von deutschen Kommunisten verwalteten Lagerpolizei.

Aber alle realen, fiktiven oder auch geheimdienstlichen Lagerwie Textpolizisten nutzten nichts. Die Partei brauchte für den anstehenden Monumentalisierungsakt eine lupenreine Buchenwaldversion, die über jeden noch so geringen Zweifel am Exklusivkarma des kommunistischen Widerstands erhaben war. Was nichts anderes bedeutete, als dass auch dieses Manuskript durch alle Instanzen musste. Und von denen gab es einige: den Verlag zuallererst, dann die Hauptverwaltung Verlagswesen beim Ministerium für Kultur als Druckgenehmigungsbehörde, das Komitee der antifaschistischen Widerstandskämpfer, aber auch allerhand Mentoren und Begutachter wie die ehemaligen roten Kapos Walter Bartel, Robert Siewert und Richard Großkopf, die schon aus Selbstschutz heraus kein Interesse an einer realitätsnahen Darstellung der Buchenwald-Verhältnisse haben konnten. Und es gab ja auch noch das Politbüro des Zentralkomitees der SED.

Laut Erinnerung des Lektors Martin Gustav Schmidt hatte die Hauptverwaltung Verlagswesen die Druckgenehmigung im Winter 1957 / 58 für das Buch bereits erteilt, da stach die oberste Zensurinstanz doch noch durch: „Das Amt leitete eine Kopie des Manuskripts ans Politbüro des Zentralkomitees der SED weiter, indem sich zu jener Zeit außer Ulbricht und Grotewohl vermutlich die Genossen Norden, Hager, Kurella, Becher und Fröhlich in Krisenfällen mit der Darstellung der Parteiarbeit in der Literatur befassten. Die damalige Zusammensetzung des Politbüros lässt keine anderen Schlüsse zu. Es waren denn auch nicht weniger als sieben Fahnenabzüge, die das Zentralkomitee der SED vom Mitteldeutschen Verlag anforderte. Die Druckgenehmigung wurde angehalten.“25

Jeder Satz des Romans dürfte daraufhin noch einmal hektisch durchgeschüttelt worden sein. Als „Nackt unter Wölfen“ nach einem Dreivierteljahr Textprüfung im Frühsommer 1958 schließlich erscheinen konnte, kannte die Erstausgabe keinerlei ambivalente oder auch unter Verdacht stehende Passagen mehr. Unter der Hand seiner Zensoren samt Selbstzensur war das erhoffte Rehabilitationsbuch zum Politmärchen degradiert, die Erinnerungen des Autors in rigorosem Stil enteignet worden. Die Tilgung betraf alles, was auf die tatsächliche Verantwortung der kommunistischen Politführung im Lager hätte zielen können: ihre systematische „Abspritz“-Politik, die prekären Todeslisten, die fragliche Lagerbefreiung oder auch die konkrete Rettungsgeschichte des Jungen. Der gesiebte Text hatte keine Mehrwandigkeit, kein Signalsystem und keinerlei nervöse Spuren mehr. Alles gelöscht. Aufschlussreich die Härte, mit der die entlastenden Zwischenerinnerungen des Autors dabei für nichtig erklärt wurden. Heraus kam ein Roman aus reinen kommunistischen Helden, aus grandiosem Triumph des Guten über das Böse, aus großer, weihevoller Ernsthaftigkeit, so vage und im Ungefähren, dass jede noch so leise Frage an der teflongleichen Erzählwand abgeprallt wäre.

Ein verletztes Buch, ein verletztes Gedächtnis und ein einmal mehr auf sich und seine Erinnerungen zurückgeworfener Autor, der in einem Interview auf die Frage nach seinem Lektor nur noch zwei Worte wusste: „Walter Ulbricht!“26 Gleichwohl hatte „Nackt unter Wölfen“ über Nacht ein spektakuläres Echo. Die erste Auflage von 10.000 Exemplaren war sofort vergriffen. 18 Monate später waren bereits 200.000 Exemplare über die Ladentische gegangen. Die immense und nicht abreißende Rezeption des Romans hatte diverse Ursachen. Im Kern aber lässt sich das Buch als Nukleus für eine zu dem Zeitpunkt synchron laufende Tiefenformierung von DDR-Staat und DDR-Gesellschaft lesen. Das ostdeutsche Publikum fand sich mit „Nackt unter Wölfen“ als Staatsbibel in den Zustand einer solidarisch verbundenen Opfergesellschaft hinein, als „Sieger der Geschichte“, ohne jede Schulddynamik, Verstrickung und ohne jede Widersprüchlichkeit. Die noch junge DDR-Gesellschaft wurde mit dem Buch politisch zum Kind, das sich auf kommunistische Weise hatte retten lassen. Die Staatsoberen wiederum konnten mithilfe dieses Stoffes in der fragilen Phase nach dem 17. Juni 1953 ihr politisches Monopol auf das bessere, weil antifaschistische Deutschland fundamentieren.

Im September 1958 wurde die Nationale Mahn- und Gedenkstätte Buchenwald mit allem ideologischen Tamtam eröffnet. Am Vorabend der Denkmalseinweihung brachte der Rundfunk der DDR eine von Bruno Apitz bearbeitete Hörspielfassung des Romans. 1960 erschien die Dokumentation „Buchenwald – Mahnung und Verpflichtung“, eine erste, 650 Seiten umfassende Sammlung von Dokumenten und Zeitzeugenberichten über das Lager. Ebenfalls 1960 wurde ein Fernsehspiel, basierend auf dem Roman, erstausgestrahlt. 1963 kam der DEFA-Film „Nackt unter Wölfen“ unter der Regie von Frank Beyer, den bis Anfang 1964 eine Million Zuschauer gesehen hatten. 1970 hielt das Buch Einzug in die Lehrpläne der DDR-Oberschulen und wurde fortan in jeder 9. Klasse gelesen. Das Buchenwald-Staccato war Programm, ein Absolutum und zur Staatsdoktrin geworden. Buchenwald, die gedächtnispolitische Hypnose, unter der Millionen Ostdeutsche durch eine Politik der komplementären Drehung DDR-loyal gemacht wurden: verschweigen, wegerzählen, umdeuten, nivellieren, ausblenden, vermeiden, vergessen. Es war ein Mimikry-Angebot der neuen Macht. Das Mehrheitsbewusstsein nahm es an. Der Druck war enorm.

Als der am authentischen Ort gedrehte DEFA-Film 1963 in die Kinos kam, verstärkte er im Zuschauer noch einmal die Bereitschaft, „Nackt unter Wölfen“ als Realität anzunehmen. Als 1964 obendrein das „reale Buchenwaldkind“ Stefan Jerzy Zweig in Israel gefunden und in der DDR kalkuliert in Szene gesetzt wurde, waren Fiktion und Wirklichkeit praktisch deckungsgleich geworden. Es war, als hätte man einen Mythos zu allem noch heiliggesprochen. Dem enthusiastischen Amnesieprogramm im Land war kaum mehr etwas entgegenzusetzen. Auch der Autor, mit seiner Deckarbeit allein gelassen, erlag dem staatseigenen Diktum und empfahl sich Staat und Partei als treuer Vasall und stalinistischer Hardliner. Zwar hatte Bruno Apitz seine Zuarbeit für den DDR-Geheimdienst nach zwei Jahren aufgekündigt, aber sie war als Loyalitätsbezeugung auch nicht mehr nötig gewesen. Sein Schicksal, sein Welterfolg mit „Nackt unter Wölfen“ und seine exponierte Stellung als Dauerrepräsentant der jungen DDR waren ohne Rest aufgegangen im Kult des historischen Siegers und in eine vollständige Angepasstheit, die ihn zu einem der schneidigsten Propagandisten des Systems machte, egal, wozu und wohin es ihn berief. Als es um ein Gutachten zu Inge und Heiner Müllers verbotenem Stück „Die Umsiedlerin“ ging – ein Vorgang, der das Künstlerpaar in schlimmste Not brachte –, verfasste er es, und zwar in härtestem Ton. Als es um den Bau der Berliner Mauer im August 1961 ging, begrüßte er ihn, weil mit ihm die „Annexion der DDR und der Dritte Weltkrieg verhindert wurde“27. Die oppositionellen Literaten in der DDR kanzelte er harsch ab. In Sachen deutsch-deutsche Teilung erwies er sich als einer ihrer exponiertesten Verfechter. Sein Credo war lodernd und in einer unmissverständlichen Sprache: „sofort zur Waffe zu greifen und mein Leben hinzugeben für den Inhalt meines Seins als Kommunist: den Kampf um die Verwirklichung der sozialistischen Gesellschaftsordnung“28.

Der Komplex Buchenwald als die zementierte gedächtnispolemische Achse der DDR. Es dürfte keinen Ort in Deutschland geben, an dem sich rote und braune Gewaltwelten so nahe kamen und im Nachhinein derart kategorisch wieder getrennt wurden. Zumindest hätte Buchenwald als der denkbar ungeeignetste Ort für eine Großinszenierung gelten müssen, die als Lüge zum emotionalen Fundament einer Diktatur wurde. Aber die Gedächtnisplatte Buchenwald wurde gelegt und hatte eine hermetische Wirkung. Etwas schloss sich ab. Zugleich machte sie mit Kriegsende das Szenenplateau für den kommunistischen Osten Deutschlands aus, ja dürfte ihm sogar einiges an Anziehungskraft garantiert haben. Eine Platte, auf der auch die Literaturlandschaft der DDR verhandelt wurde.

Das Bild dieser Landschaft nimmt bislang zwei agierende Gruppen auf: die „staatstragenden“ Künstler zum einen und deren „Kontrapunkte“ als kritische, aber dennoch loyale Stimmen zum anderen, die oft auch im Westen zu Berühmtheit gelangten. Dieses Bild ist noch immer verzerrend, da unvollständig. Und das, obwohl die offizielle Archivlage nach dem Ende der DDR „besonders günstig genannt werden kann. Erstaunlich vieles von dem, was damals nicht publiziert werden konnte oder was die Hintergründe des Veröffentlichten in neuem Licht erscheinen lässt, hat sich erhalten.“29 Ein Resümee, das jedoch nur für die zu DDR-Zeiten zugelassenen und damit öffentlich gewordenen Autorinnen und Autoren zutrifft, nicht aber für die dritte Gruppe der unterdrückten Stimmen, die Gegenstand dieses Buches sind.

Werner Mittenzwei, Gründungsdirektor des Zentralinstituts für Literaturgeschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR, hatte in seinem Buch „Die Intellektuellen. Literatur und Politik in Ostdeutschland 1945 – 2000“30 den literarischen Intellektuellen nicht ohne Grund als jemanden bezeichnet, der mit seiner Arbeit in der Öffentlichkeit etwas bewirkt. „Man könnte den literarischen Intellektuellen als einen Signalisten der Gefühls- und Gedankenwelt von Menschen, des Mentalitätspotentials einer Nation, Klasse oder sozialen Gruppe bezeichnen. Auf diese Weise nimmt der Intellektuelle eine repräsentative Gestalt an.“31 Bruno Apitz war ein solcher Repräsentant. Repräsentanten schaffen Referenzräume, Resonanzräume, Rezeptionsräume.

Dabei werden die aktuellen Kanon-Auseinandersetzungen zum Bestand der ostdeutschen Literatur naturgemäß weniger zwischen den Schreibenden geführt. In den Feuilletons, beim MDR, in Verlagen mit DDR-Tradition, an Germanistischen Instituten oder öffentlichen Literaturorten wird die vorhandene Energie vor allem dafür genutzt, sich weiterhin an den Leitbildern des Sozialismus abzuarbeiten. Man bewegt sich in Evidenzsystemen: Begriffe, Namen, elaborierte Diskurse und Rezeptionslinien sind über Jahrzehnte eingeführt. Kanalisierte Denkschablonen haben einen erstaunlichen Langzeitwert. Ideologische Interessen bleiben ideologische Interessen, Mimikry-Angebote bleiben Mimikry-Angebote. Und so versuchen sich aktuelle Sekundärnarrationen erstaunlich konstant an einer kategorischen Entpolitisierung der kategorisch politisierten Literatur in der DDR. Das vor 1989 Verschwiegene muss auf diese Weise ein zweites Verschweigen ertragen.

Als „Nackt unter Wölfen“ am 1. April 2015 als Neufassung erstausgestrahlt wurde, stand zwangsläufig die Frage im Raum, ob es der MDR-Produktion gelingen würde, den Mythos Buchenwald zu destruieren. Der Stand der historischen Forschung hätte es hergegeben, ja verlangt. Stefan Kolditz, der in Ostdeutschland geborene Drehbuchautor, äußerte in einem Interview, dass das Werk dazu beitragen möge, die noch immer getrennten kollektiven Gedächtnisse in Ost und West zusammenzuführen. Die Schlussszene des Films zeigt den kleinen jüdischen Jungen. Seine Hand berührt vorsichtig den Körper des sterbenden Kommunisten, der ihn gerettet hat. Die Conclusio des Streifens setzt somit auf Engführung von jüdischer und kommunistischer Leidensgeschichte. Ein eklatanter historischer Missbrauch.

In vielen Sequenzen sind die Filmemacher der 2014 freigelegten Erstfassung des Romans gefolgt und rekonstruieren im Bild, was einst die Zwischenerinnerungen von Bruno Apitz gewesen waren: eine deutlich widersprüchlichere Lagerwelt, die fehlende heroische Selbstbefreiung, ein nicht allwissendes rotes Widerstandsnetz, vielmehr Angst und Willkür. Aber auch die sogenannte „Neuinterpretation“ kommt an der Tatsache nicht vorbei, dass ihr Narrativ an der glatten Erzählwand abgeprallt ist, als könnten alle Lehren von 1989 ohne Schaden über Bord geworfen werden. Bruno Apitz ist mitten in diesem Rezeptionsschub von Neuherausgabe, Film und Dokumentation mit aufschlussreicher Verve zum „Oppositionellen dreier deutscher Staaten“32 umerzählt, die Deckerzählung an der Oberfläche lediglich eine Runde weitergedreht worden.

Also was war daran nun neu? In der Kernlüge nichts.

ANGSTRÄUME UND LITERARISCHE GEGENWELTEN

Vorwort von Joachim Walther

Wenn es ihn so locke, solle er doch versuchen, trotz des Verbotes hineinzugehen: So spricht der Türhüter in Kafkas Parabel „Vor dem Gesetz“ zu dem, der Einlass begehrt, ihn aber zu Lebzeiten nicht erhält, obwohl, so beteuert der Türhüter, dieser Eingang nur für ihn offen gehalten werde, und merkt noch an, er sei mächtig, doch nur der unterste der Türhüter, die von Tür zu Tür mächtiger würden, so dass den Anblick bereits des dritten nicht einmal er mehr ertragen könne.

Hier haben wir in literarischer Fiktion die Wirklichkeit gewordene Metapher des Totalitären. Das nicht einsehbare Innere der Staatsgewalt. Das streng bewachte, doch inexistente Geheimnis, die Verhüllung des Kerns durch verschwörerische Geheimhaltung. Die demonstrativ ausgestellte Macht, die mehrfach gesicherten Zugänge zu dem pyramidalen, hierarchisch organisierten Bau. Die über allem schwebende, unberechenbare Drohung und die daraus landesweit gewebte engmaschige Angst. Die DDR fügte Kafkas Alptraum die zynische Arroganz der Dialektikjongleure mit ihrer komplementär gewendeten marxistischen Semantik hinzu: die Deklaration des Zwanges als Freiheit, des Diktatorischen als demokratisch, des Verschlossenen als offen, des Innen und Außen als verbunden, des hartleibigen Provinzialismus als propagierte Weite und Vielfalt. Dazu noch: Die alles durchdringende Konspiration und Kontrolle. Die Abschnürung als fortschreitende Selbststrangulation. Die Aushärtung einer Idee zur fixen Ideologie bis hin zu deren sklerotischer Selbstlähmung. Die Verhinderung geistiger Osmose mit der Welt als kontraproduktiver Effekt, der das Vakuum im Inneren und damit die Implosionsgefahr fortwährend erhöhte. Das Selbstzerstörerische des Stabilisierungswahns der zu keiner Zeit legitimierten und deshalb unsicheren Machthaber. Die systematisch organisierte Überwachung der Bilder und Worte, so dass jeder Kreative vor dem Gesetz zu erscheinen hatte, das ihm die Tür zur ohnehin beschränkten Öffentlichkeit entweder mit dem Vorbehalt, den Zugang jederzeit und ohne weitere Begründung wieder versperren zu können, öffnete oder aber vorübergehend bis dauerhaft schloss.

Definiert man die DDR als moderne Diktatur, als poststalinistisches, totalitäres System der angestrebten totalen Kontrolle, so folgt daraus, dass sowohl das offiziell gesteuerte, funktionalisierte, kollektive Gedächtnis als auch das unbegrenzte und deshalb in Diktaturen generell der Eliminierung unterworfene kulturelle Speichergedächtnis und also die gesamten Literaturverhältnisse der sicherheitspolitischen Kontrolle der Partei und des Staates unterworfen sein mussten. Das hieß auch: Verhinderung eines Gegen-Diskurses oder der Entstehung eines Gegen-Gedächtnisses, Implantation einer staatlich-sakralen Erinnerungskultur mittels Mausoleen, Wimpeln, Plakaten, Abzeichen, Fahnen, Spruchbändern, Symbolen, Jahrestagen, Mahnmalen etc. Dazu: Schutzschilde vor häretischer Entzauberung, paranoide Verfolgung des freien Wortes, Gleichzeitigkeit von Kanonisierung und Zensurierung, Honorierung des Angepassten und Stigmatisierung des Kritischen. Das alles gehört unabdingbar zu dem fundamentalen, existentiell überlebenswichtigen Repertoire der Machtsicherung derart verfasster Gesellschaften.

Es ist offensichtlich, dass der literarische Raum in der DDR von der alles bestimmenden Partei bemessen, seine interne Ordnung von ihr bestimmt und überwacht, die einzelnen Literaturproduzenten durch die Türhüter eingelassen oder abgewiesen wurden, ebenso wie die literarischen Texte, die nach den kulturpolitischen Leitlinien der Partei einer selektierenden Bewertung unterlagen, deren Kriterien im normgebenden Konzept des „Sozialistischen Realismus“ und in daraus abgeleiteten Urteilsdichotomien wie formalistisch / dekadent – realistisch / sozialistisch; wahr – falsch; fortschrittlich – reaktionär oder simpel schädlich – nützlich gründeten.

Hier ist nicht der Ort, die Zensurgeschichte der DDR zu schreiben, doch sei auf die Kontinuität dieser speziellen Wortaufsicht hingewiesen. Schon in der Gründungsverordnung des Amtes für Literatur und Verlagswesen von 1951 bildete den Kern des Ganzen die Inhaltskontrolle und Begutachtung der von den Verlagen ausnahmslos zur Veröffentlichung einzureichenden Literatur. Auch später ging es der Partei immer wieder um die Verhinderung einer Literatur, die nicht mit den von ihr erlassenen Gesetzen des von ihr geschaffenen und kontrollierten Staates in Einklang stand, die ihr Meinungsmonopol und damit ihre Alleinherrschaft gefährdete. An diesem so schlichten wie rigiden Diktum änderte sich bis zum Staatsuntergang 1989 grundsätzlich nichts.

1984 erschien in Köln Erich Loests Bericht „Der vierte Zensor – Vom Entstehen und Sterben eines Romans in der DDR“, in dem er neben der staatlich institutionalisierten Zensur die Zensur durch die Verlage, die Selbstzensur und die Parteizensur als Zensurkomplex benannte. Erst nach dem Untergang der DDR wurde nach Öffnung und Sichtung der schriftlichen Hinterlassenschaften der Staatssicherheit ein weiterer Teil dieses Zensurkomplexes bekannt: die streng konspirativ gehandhabte Zensur durch eben dieses Ministerium. Dieser fünfte Zensor war der politisch konsequenteste und der einer modernen Diktatur adäquateste, da er sich bei der Bewertung literarischer Texte primär auf das politische Strafrecht konzentrierte und seinen Apparat und seine Methodik perfekt im unsichtbaren Bereich hielt. Der fünfte Türhüter war die schärfste Waffe gegen das freie Wort und verfügte flächendeckend über ein engmaschiges Netz hauptamtlicher und inoffizieller Mitstreiter. Er war die militärbürokratisch organisierte letzte Instanz. War ein Manuskript samt Autor durch alle vier Vorkontrollen geschlüpft, konnten es oder er noch immer in die MfS-Endkontrolle geraten und dort entweder strafrechtlich bewertet oder „operativ bearbeitet“ werden. Freilich funktionierte auch die vierfache Vorkontrolle in der DDR bereits vorzüglich, so dass die Staatssicherheit nicht selten lediglich die gemeldeten literarischen Abschüsse zu registrieren hatte und selbst nicht mehr einzugreifen brauchte.

Orwells negative Utopie „1984“ formierte sich in der DDR vor und nach 1984 mehr und mehr zur Realität. Der Oberzensor des Landes nannte sich offiziell „Stellvertretender Minister für Kultur“ und ließ sich gern mit dem Schmeichelnamen „Bücherminister“ titulieren, die Zensurbehörde hieß seit 1963 „Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel“, die staatlich organisierte Buchzensur „Druckgenehmigungsverfahren“. Auch fühlten sich die hauptamtlich bestallten Zensoren subjektiv nicht etwa als Verhinderer, sondern als Förderer der Literatur und fanden nach der Revolution von 1989 – stilistisch sensibel –, der Begriff Zensur sei unangebracht, weil er zu viele negative Assoziationen hervorrufe. Den Begriff meiden und die Praxis schönen: Einige der einstigen Sprachinspektoren wollten uns im Nachhinein weismachen, sie hätten in den letzten Jahren der DDR so rastlos wie selbstlos daran gearbeitet, das „Druckgenehmigungsverfahren“ zu vereinfachen und gar abzuschaffen, leider sei dem die Abschaffung des Staates zuvorgekommen. Die aktenkundige Wahrheit ist, dass die Zensur niemals abgeschafft, sondern lediglich besser kaschiert werden sollte. Bei ihrer Vorverlegung in die Verlage ging es um einen weiteren Schritt in Richtung brave new world, dessen ideales Endziel das Etablieren der Zensur in den Köpfen war. Jeder sein eigener Zensor, die Schere im Kopf, davon träumten die Retuscheure der Diktatur. Allein die individuell verinnerlichte Zensur ist die perfekte Zensur.

Auch die Zensur der Staatssicherheit zielte letztendlich auf das ideale Endstadium einer modernen Diktatur: auf die freiwillige Selbstzensur der Autoren. Die Allgegenwart der Staatssicherheit im literarischen Raum war schlimm, doch war sie nicht das Schlimmste. Noch schlimmer war, dass sie durch ihre Omnipräsenz einen gesamtgesellschaftlichen Angstraum erzeugte, der auch ohne direkte Repression wirkte, unsichtbar, subtil als Selbstzensur, als Denkblockade und als schwarzer Fleck. Zur ganzen Wahrheit einer Literatur in der Diktatur gehören nicht nur das Verstümmelte und das Unveröffentlichte, zu ihr gehören das Verhinderte, das Ungeschriebene und selbst das Ungedachte, was in kein Archiv der Welt je Eingang findet. 1980 meinte Jurek Becker, das meiste von dem, was verboten sei, werde gar nicht erst geschrieben. Doch auch mit diesem Satz sind wir noch nicht im Zentrum des Unheils angekommen, im geheimen Inneren moderner Diktaturen, die immer auch Gesinnungsdiktaturen sind.

In dem Roman „Kindheitsmuster“ schreibt Christa Wolf, die Galionsfigur der kritisch-loyalen DDR-Autoren, 1976 von ihrer Angst, zu viel zu erfahren und in eine Zone der Nichtübereinstimmung gedrängt zu werden. Noch 1984 spricht sie in einem Vortrag von ihrer Angst vor zu weit gehenden Einsichten als einem besonders starken, hartnäckigen und zugleich diffusen Widerstand, der sie daran hindere, zu tabubesetzten Themen etwas zu schreiben. Hier wird die Loyalitätsfalle der partiell praxiskritischen, doch der sozialistisch-kommunistischen Idee treuen Autoren offenkundig.

Nicht Staatssicherheit und nicht Zensur waren Kern des Übels, sondern eben diese Angst, die als ideologischer Virus in die Innenwelt der Ideen eingedrungen war und dort ihre verheerende Arbeit des Verhinderns verrichtete. Diese tief verinnerlichte Angst war die feinste und zugleich fürchterlichste Wirkung der DDR-Diktatur. Die konkret genannte Utopie war auf dem Weg zum finalen Heil. Die Verhinderer haben dann nichts mehr zu verhindern, da es bereits im Ansatz verhindert worden ist. Die Wortwächter brauchen nichts mehr abzutreiben, weil die Texte ungezeugt geblieben sind. Das verhängte oder selbst auferlegte Denkverbot ersetzt das Druckverbot. Die Selbstzensur das Deleatur.

Die Schwierigkeit war nicht, die Manipulationen am retuschierten Positiv zu durchschauen, sondern die hinter der Stirn unsichtbar patrouillierende Selbstzensur zu erkennen, die Negative unzensiert im innersten Archiv abzulegen und die Angst vor den zu weit gehenden Einsichten zu verlieren. Diese vollzogene Konsequenz macht den Unterschied zwischen affirmativen und kritisch-loyalen Autoren einerseits und systemkritischen wie subversiven Autoren andererseits.

Synchron mit Zensur und Selbstzensur wirkte durch etablierte zentrale Symbole (wie „Spartakus“, „Bauernkrieg“, „Buchenwald“ u. a.) und Mythen (wie dem „antifaschistisch-demokratischen“ Gründungsmythos) sowie einen als vorbildhaft propagierten und als Lektürekanon in den Schulen pädagogisch vermittelten Textkorpus „humanistischer“, „realistischer“ und „sozialistisch-realistischer“ Literatur aus Gegenwart und Vergangenheit ein weiteres Machtmittel, um die Funktionalisierung und Instrumentalisierung der Literatur möglichst im Konsens zu erreichen: der Kanon.

Der in jeglicher, also auch in der DDR-Diktatur, von oben gesetzte Kanon als ein komplexes System der Förderung und Privilegierung, flächendeckender Kontrollmechanismen sowie eines variablen und willkürlich einsetzbaren Instrumentariums der Sanktion und Repression sollte durch wegweisende Orientierung integrativ und stabilisierend wirken, was jedoch auch bedeutete, alles nicht zu Integrierende strikt auszugrenzen. Obwohl weder in ein Goldenes Buch noch in einen Index eingeschrieben, war dieser Kanon dennoch kein Phantom. Er wurde gesetzt, gepflegt und verändert von Institutionen und Personen. Ganz oben standen die programmatischen Festlegungen zu Literatur und Kunst auf den Plenen und Parteitagen der SED, vorbereitet von und institutionell organisiert in der Ideologischen Kommission, der Abteilung Kultur und dem Lehrstuhl Kunst und Literatur am Institut für Gesellschaftswissenschaften im ZK-Apparat der Partei, gefolgt von parteikontrollierten literaturwissenschaftlichen Instituten wie dem Zentralinstitut für Literaturgeschichte der Akademie der Wissenschaften oder den germanistischen Instituten an den Universitäten, in denen mehrheitlich marxistisch-leninistische, wenn auch in dogmatische und kritisch-loyale Geister geschiedene Literaturwissenschaftler beschäftigt waren, sodann die personell aufgeblähten und von der Partei angeleiteten Künstlerverbände und kulturbezogenen Vereine, dann zudem verdeckt präsent, doch praktisch äußerst wirksam der gesamte Zensurkomplex in seiner Funktion als Kanonhüter und die Staatssicherheit als letzte Bastion mit ihrem kurzen Draht zur exekutierenden DDR-Justiz.

Gewiss gab es unter Autoren, Literaturwissenschaftlern und Verlagsmitarbeitern auch solche, die redlich bemüht waren, der geistigen Armut im Lande aufzuhelfen, gewiss ist der literarische Kanon in den vier DDR-Jahrzehnten verändert, auch erweitert worden, doch haben Partei und Staat zu keinem Zeitpunkt darauf verzichtet, Literaturen und Autoren auszugrenzen, zu unterdrücken und zu verfolgen, was die Schicksale der in der Bundesstiftung Aufarbeitung im Archiv unterdrückter Literatur versammelten Autoren belegen.

Zudem ist zu fragen, ob die von einigen Literaturwissenschaftlern heute ein wenig heroisch genannten „Kanonkämpfe“ nicht viel mehr hoffnungslos verspätete und nicht nur aus heutiger Sicht lächerlich anmutende, vormals mit vollem, mitunter gar heiligem Ernst ausgetragene Scharmützel waren, um, was an moderner Kunst und Literatur längst in der Welt und anerkannt war, noch einmal abzulehnen oder zuzulassen, weshalb die „Kanonkämpfe“ eher „Kanonkonvulsionen“ genannt zu werden verdienten. Sei es die Formalismus-Kosmopolitismus-Debatte in den fünfziger Jahren, sei es die um den Expressionismus, um Kafka, Musil, Trakl oder das Gezerre um Freud oder Nietzsche in den achtziger Jahren. Es war in jedem Fall immer schon zu spät, wurde aber dennoch mit Vehemenz ausgetragen: auf der einen Seite meist rückwärtsgewandte Kulturfunktionäre der Partei im Verbund mit dogmatischen Wissenschafts-Apparatschiks, auf der anderen Seite zur Diskussion zugelassene kritisch-loyale Schriftsteller und Literaturwissenschaftler, denen aber jederzeit die Zulassung entzogen werden konnte. Diese Auseinandersetzungen um literarhistorisch längst Erledigtes weiteten lediglich den offiziellen Kanon, der ohne ideelle Ausstrahlung auf die nonkonformen Autoren blieb, aber als materielle Gewalt auf sie zurückschlug, indem sie durch diesen Kanon und die daraus abgeleitete Kultur- und Zensurpolitik marginalisiert und ausgegrenzt wurden. An dessen Stelle setzten sie ihren eigenen, ideologiefreien, „stillen“ und offenen Kanon von unten, dessen Firmament signifikant andere Leitgestirne trug als der offizielle Kanon: die gesamte literarische Moderne der Welt als produktiver Vorrat, aus dem eigenen Land nur wenige Auserwählte, dazu vorurteilsfrei Philosophien und Ästhetiken aller Zeiten und Kulturen, was hieß: Chlebnikow statt Ostrowski, Benn statt Becher, Bourdieu, Deleuze, Lacan, Foucault, Derrida statt Marx, Engels, Lukács.

Bei den im Archiv unterdrückter Literatur in der DDR versammelten Primärtexten und dem zeithistorischen Sekundärmaterial handelt es sich um einen neuen, bisher nicht zugänglichen Fundus. Dessen Bewertung soll einen faktisch begründeten Blick auf bislang ausgeblendete Teile der in der DDR geschriebenen Literatur ermöglichen und insofern modifizieren, als der von der marxistisch-leninistischen Literaturwissenschaft vorgegebene und nach dem DDR-Untergang weitgehend fortgeschriebene Kanon aufgebrochen werden soll, um den 40 Jahre existenten literarischen Raum in der DDR neu zu vermessen. Dieses Buch, eine erste Überschau und Analyse des Archivbestandes, soll dazu ein Auftakt sein.

Dabei zeigt sich, dass das literarische Leben in der DDR heterogener und polarisierter war, als es die publizierten Texte aus dieser Zeit vermitteln. Angesichts der mittlerweile bekannten Zensurpraktiken und politischen Restriktionen in der DDR wird diese Tatsache kaum erstaunen. Doch gelangten die in der DDR nicht veröffentlichten literarischen Entwürfe, die ein anderes Bild von Staat und Gesellschaft als das offiziell propagierte wiedergaben, auch nach 1989 kaum an die Öffentlichkeit.

Die Sichtung der meist unveröffentlichten Texte zeigte zudem, dass deren Autoren politisch kalkuliert ausgesondert worden sind, da sie nicht bereit waren, kulturpolitisch angetragene stofflich-gegenständliche, thematische, aber auch formal-ästhetische Verformungen in Bezug auf die eigenen Schreibexistenzen zu gestatten.

Neben den aus verschiedenen Gründen nicht in diesem Archiv vorhandenen, aber von ihrer Schreibgenese und ihren Arbeitsbedingungen her dazugehörigen Schriftstellern wie Gert Neumann, Wolfgang Hilbig und etlichen weiteren Autoren muss die Literatur dieser nicht kanonisierten Urheber als Korpus notwendigerweise fragmentarisch bleiben: Vernichtung von Manuskripten und das organisierte Vergessen haben in etlichen Fällen ihr Werk getan. Auch die Frage, wie viele künstlerische Versuche abgebrochen, wie viele literarische Lebensentwürfe in der DDR-Diktatur zerstört worden sind, wird kaum mehr zu beantworten sein. In einer Zeit, in der die sichtbaren Zeichen der zweiten deutschen Diktatur sukzessive schwinden, wird das Archiv unterdrückter Literatur in der DDR zu einem Dokumentationsort politischer und ästhetischer Widerständigkeit, zu für Folgegenerationen konkreten Belegen individueller Unbedingtheit, Zivilcourage und des Bewahrens geistiger Autonomie unter den Bedingungen eines totalitär verfassten Staates.

Ein nicht unwichtiges Motiv für die Gründung des Archivs wie für die zehnbändige Edition „Die Verschwiegene Bibliothek“ in der Büchergilde Gutenberg (2005 – 2009) war zudem, die in der DDR abgewiesenen Autoren moralisch zu rehabilitieren und ihren Texten, die dort keine Chance auf Publikation hatten, heute das zu geben, was Literatur zum Leben braucht wie der Mensch die Luft zum Atmen: Öffentlichkeit. Damit erhalten zumindest einige der einst verschwiegenen, verbotenen, zensierten, unterdrückten und bei der Staatssicherheit gesperrt abgelegten Texte nun endlich die Chance, ins kulturelle Gedächtnis der Nation gehoben und dort bewahrt zu werden.

Ines Geipel

ERSTER TEIL

1945 –1968

DIE STUNDE NEUSCHULD

UNMITTELBARER NACHKRIEG

Die Gruppe 47 Ost

Literarischer Neuanfang und modellhafte Nachkriegsöffentlichkeit, Talentformung und Freundschaftsfeste: Als der Schriftsteller Franz Hammer am 1. Juni 1947 auf der ersten Thüringer Schriftstellertagung in Weimar einen Arbeitskreis junger Autoren ausrief, war das nichts anderes als die Geburtsstunde der Gruppe 47 Ost. Immerhin reichlich ein Vierteljahr vor der Initiation der legendenumwobenen Poeten-Werkstatt im Westen gelang es ihm, 20 junge Stimmen zu versammeln, darunter etliche später in der DDR vielgelesene Autoren wie Armin Müller, Hansgeorg Stengel, Günther Deicke oder Harry Thürk, die sich schon einen Tag später in Hammers Wohnung im Nietzsche-Haus in der Luisenstraße einfanden.

Die Zeit roch nach Anfang, Hoffnung, Aufatmen. Der Hunger nach geistiger Auseinandersetzung, nach Austausch und Öffentlichkeit war so unmittelbar nach dem Hitler-Desaster immens. Der Modus der Zusammenkunft: frische Texte vorstellen, debattieren und dabei das Neue auf brennendste Art zerreißen.33

Die Genese der Gruppe 47 Ost lässt sich somit durchaus als Paradigma für die Sprach-, Denk- und Wirkmöglichkeiten junger Intellektueller – mit wenigen Ausnahmen waren alle Kreismitglieder zwischen 1920 und 1930 geboren – in den unmittelbaren Jahren nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus im Osten Deutschlands lesen. Drei Jahre waren der avancierten Idee nur gegönnt. Wenig Zeit für eine literarische Urszene, die es wohl ohnedies nur gab, da das Vorhaben unter besonderem Schutz stand. Denn der Thüringer Kulturbundsektion, für die Franz Hammer als Landessekretär fungierte, saß ab März 1946 die widerständige Geistesaristokratin Ricarda Huch vor, die in Jena lebte. Ihr Ruf als integre „Königin der inneren Emigration“ war auch bei den sowjetischen Kulturoffizieren, die im Sommer 1945 bei ihr in Sachen Kulturarbeit anfragten, über jeden Zweifel erhaben. Beinahe zeitgleich zu Huchs Amtsantritt war der Schriftsteller Theodor Plivier, später berühmt geworden für seine Kriegstrilogie „Stalingrad“, „Moskau“, „Berlin“, auf Betreiben des Kulturbundchefs und Moskau-Emigranten Johannes R. Becher zum Landesvorsitzenden gemacht worden. Thüringen als kulturelles Pilotprojekt für den Osten? Zumindest erhielten die Jungen am Anfang gehörig Unterstützung. Das thüringische Kultus- und auch das Volksbildungsministerium förderten. Schon Ende 1947 konnte Franz Hammer Autorinnen und Autoren auf honorierte Lesungen einladen und Stipendien vergeben. Er holte Fachreferenten in den Kreis, organisierte Tagungen und gewann den „Thüringer Volksverlag“, der die Patenschaft für seine Schützlinge übernahm. Eine geschickte Kooperation, weil sie erste Publikationen möglich machte. Der Arbeitsrhythmus der Gruppe 47 Ost schien nach knapp einem Jahr gefunden. Es hagelte Preise, Lesungen, Rundfunkaufnahmen, Veröffentlichungen. Viel öffentliches Renommee also.

Als die Ehrenpräsidentin Ricarda Huch am 4. Oktober 1947 den Ersten Deutschen Schriftstellerkongress34 eröffnete, markierte dieser Auftritt mitten in den intendierten Aufbruch hinein jedoch eine erste und ernste Zäsur. Denn ihre Rede, die in gewohnt universellem Huch-Format das Konzept des deutschen Weltbürgers aufrief, wurde zugleich ihr Abschied. Wenige Stunden später floh sie – desillusioniert und hochgradig genervt von Kontrolle, Dirigismus und neuer Gewalt – aus der sowjetischen Besatzungszone. In ihrem Vermächtnis, das sie vor 300 Kollegen im Berliner Hebbel-Theater sprach, sah Ricarda Huch den Weg der deutschen Literatur nach 1945 insbesondere in der Deutschen Einheit, der Überwindung der geistigen und politischen Isolation des Landes und in der Annäherung zwischen innerer und äußerer Emigration. Als auch Theodor Plivier – dem wachsenden Druck aus Ostberlin erlegen – Anfang 1948 in den Westen ging, war der politische Rückbau nach dem kurzen Aufatmen von 1946 / 47 schon offenbar. Thüringen hatte seine besten Köpfe verloren, noch ehe überhaupt von Aufbruch wirklich die Rede sein konnte.

Ricarda Huch mit Melvin J. Lasky, Erster Deutscher Schriftstellerkongress 1947(Bildherkunft: Helga Hegewisch-Lasky)

Und auch die Gruppe 47 Ost blieb von der brisanten politischen Gemengelage und dem Terror in der sowjetischen Besatzungszone nicht verschont. Am 18. Juni 1948 wurde Gerhard-Rolf Wenzel, einer der Hauptinitiatoren des Kreises, verhaftet. Dem 27-Jährigen, 1921 in Sondershausen geboren, wurde vorgeworfen, von Juni bis November 1947 für die Westberliner SPD konspirativ tätig gewesen zu sein. Tatsächlich gab es nichts, was man gegen den engagierten Journalisten und Schriftsteller in der Hand hatte. Alle Ermittlungen liefen ins Leere. Dennoch wurde im Juli 1948 in Weimar ein pseudojuristisches Verfahren eröffnet, bei dem Gerhard-Rolf Wenzel wegen Spionage angeklagt und zu 25 Jahren Zuchthaus verurteilt wurde.35 Ein extremes, wenn auch übliches Urteil in diesen Jahren. Und so musste der junge Dichter am 19. Juli 1948 seine Haftzeit im berüchtigten Zuchthaus Bautzen antreten.

Noch während des Militärtribunals zu Wenzel, konkret am 13. Juli 1948, war es in Sondershausen zur „Auflösung eines Arbeitszirkels von Schumacherleuten“36 gekommen. Jeder, der in Thüringen mit dem SPD-Politiker Kurt Schumacher in irgendeiner Form in Verbindung stand und ermittelt werden konnte, wurde verhaftet. Die Gründung der SED im April 1946 zog ihre Kreise. Seit der Zwangsvereinigung von KPD und SPD hatten 20.000 Sozialdemokraten in der SBZ ihre Arbeitsstellen verloren, 100.000 flohen in den Westen, 5000 hatte man in Lager gesperrt, 400 waren ermordet worden.

Die Nachricht von der Verhaftung ihres Kollegen hatte die Literatengruppe nur Stunden später schon erreicht. Aber was war geschehen? Wo war „der Lange“ abgeblieben? Niemand wusste etwas. Die Vaterfigur des Kreises, der 1903 in Dresden geborene Schriftsteller Gustav Leuteritz, ein Freund von Gerhard-Rolf Wenzel und Kulturredakteur der „Täglichen Rundschau“, dem Organ der sowjetischen Militäradministration, wurde nur Tage nach Wenzels Verhaftung von der sowjetischen Leitung seiner Zeitung einbestellt. Das als Befragung getarnte Treffen wurde zum gezielten Tribunal. Als der Druck auf den verängstigten Leuteritz groß genug war, kamen die Sowjets mit ihrer Forderung heraus: Spitzeldienste als Loyalitätsbekundung. Gustav Leuteritz würde seine Reputation nur wiederherstellen können, wenn er für den KGB arbeitete und Informationen über den Kreis und sein Umfeld lieferte. Er zögerte, dann willigte er ein.

Aus einem späteren Brief von Erna Leuteritz, seiner Ehefrau, an Johannes R. Becher vom 9. Oktober 1955 geht hervor, dass ihr „Mann mit der Verpflichtung nicht fertig geworden“ sei und „überhaupt nicht mehr schreiben konnte“37. Zwei Jahre lang hatten beide die Situation besprochen, dann habe sie ihm geraten, sich „den sowjetischen Freunden anzuvertrauen“38. Am 14. Juli 1952 sei er zu einer „Unterredung mit den sowjetischen Genossen“39 gegangen. Von da war er nicht mehr zurückgekommen. Gustav Leuteritz wurde unmittelbar nach seiner Verhaftung ins Straflager Workuta deportiert, in den Gulag am Nördlichen Eismeer. Am 2. Juni 1954 sei er dort gestorben, berichtete ein Mithäftling später nach seiner Rückkehr aus dem ewigen Eis. Erna Leuteritz hörte nie mehr etwas von ihrem Mann. Sie erhielt auch keine offizielle Todesnachricht. 1956 ließ sie ihn für tot erklären.

Gruppe 47 Ost, mittig sitzend Franz Hammer, Zweite von rechts Ursula Adam, hinten Dritter von rechts Gerhard-Rolf Wenzel(Bildherkunft: Literaturarchiv der Akademie der Künste Berlin)

Gerhard-Rolf Wenzel starb am 21. Oktober 1950 im Zuchthaus Bautzen an Tbc. In seiner Krankenakte dieses Tages ist zu lesen: „Patient verfällt zusehends, nimmt nichts mehr zu sich, fällt am Nachmittag in Agonie, Exitus 21.35 Uhr.“40 Mit knapp zwei Metern hatte Gerhard-Rolf Wenzel am Ende keine 50 Kilo mehr gewogen. Vier Tage nach seinem Tod fand die Feuerbestattung des 29-Jährigen statt. Die Eltern erhielten daraufhin einen Brief: „Die Strafanstalt Bautzen Abteilung V teilt Ihnen mit, dass Ihr Sohn Gerhard-Rolf Wenzel, geb. 10. 5. 1921, am 21.10.1950 an einer Infektionskrankheit in hiesiger Anstalt verstorben ist. Betreff der Sterbeurkunde wenden Sie sich bitte an das Standesamt in Sondershausen. Der Nachlass Ihres Sohnes kann hier gegen Quittungsleistung empfangen werden. Volkspolizei-Inspekteur Bausch, Leiter der Strafanstalt Bautzen.“41

Im Sommer 1948 saß die 27-jährige Ursula Adam im thüringischen Naumburg und schrieb Protestgedichte für die Freilassung ihres Kollegen Gerhard-Rolf Wenzel. Wie er und Gustav Leuteritz gehörte auch sie zu den Gründungsmitgliedern der Gruppe 47 Ost. In einem Lebenslauf, datiert vom April 1947, schrieb die 1922 in Naumburg Geborene: „1941, mit 19 Jahren, wurde ich zwangsweise Telefonistin, kam nach Halle, später München, Hamburg, zuletzt Weißenfels, wo ich mich 1944 für die Pflege meiner schwerkranken, gelähmten Mutter befreien konnte. In München nahm ich an zwei Hörersemestern Philosophie an der Universität teil. Während der schweren Krankenpflege meiner Mutter begann ich, den Lebensunterhalt durch Malerei zu verdienen. Im April 1945 wurde meine Mutter bei einem Bombenangriff getötet. Hatte ich schon vorher Gedichte verfasst, so führte mich dieses Ereignis zur Schriftstellerei.“42

Bedrohte, ortlose, schwere Kriegsjahre, die sie teilte mit den anderen aus der Gruppe, die vor allem auch eine Erfahrungsgemeinschaft war. Junge Aufbau-Dichter mit frühen Existentialbiografien, insbesondere bei den Männern. Unter anderen: Armin Müller, Jahrgang 1928, kam aus Niederschlesien, musste noch als 15-Jähriger in den Volkssturm und darauf in sowjetische Kriegsgefangenschaft. Hansgeorg Stengel, 1922 in Greiz geboren, wurde nach dem Abitur in die Wehrmacht eingezogen und geriet in Verona in amerikanische Kriegsgefangenschaft. Harry Thürk, 1927 in Oberschlesien geboren, wurde 1944 zum Fallschirm-Panzer-Korps Hermann Göring eingezogen und floh am Ende des Krieges nach Weimar. Hans Jürgen Geerdts, 1922 geboren, kam aus Danzig, 1940 trat er in die NSDAP ein, ab 1944 war er in der Wehrmacht und wurde noch wegen Wehrkraftzersetzung angeklagt. Günther Deicke wurde 1922 in Hildburghausen geboren, er war Führer der Hitlerjugend in Römhild, trat 1940 in die NSDAP ein, ging als Freiwilliger auf Minensuch- und U-Boote und wurde Marineoffizier. Rudolf Weiß wurde 1920 in Eisenach geboren, nach seinem Arbeitsdienst musste er zur Wehrmacht und erlitt 1943 eine schwere Verletzung an der Ostfront. 1944 trat er der NSDAP bei. Walter Stranka wurde 1920 im böhmischen Kaaden geboren, 1938 trat er der tschechischen Kommunistischen Partei bei, musste im selben Jahr nach Prag fliehen, wurde 1940 als Deutscher zur Kriegsmarine eingezogen, nach Kriegsende aus Tschechien vertrieben und landete in Weimar.

Aber wie kamen diese frühen Lebensbrüche zur Sprache, wie wurden Erfahrungen wie diese literarisch aufgenommen? Im Februar 1948 hatte Ursula Adam in einem Brief an Franz Hammer geschrieben: „Wir schreien zu viel nach dem, was nicht da ist, und rennen mit großen Worten um ein Leeres. Viel Staub wird aufgeblasen, manche Köpfe werden verdreht. Um das, worum es wirklich geht, kann man doch einen wahren Dichter oder Schriftsteller nicht erst aufklären. Er muss es in sich fühlen.“43 Ein früher Korrektur- und Distanzversuch, der direkt ins Arbeitsherz der Gruppe traf, da die Vorstellungen im Kreis in Sachen ideologische Zugeständnisse zunehmend divergierten. Franz Hammer als Kopf und Mentor des Kreises geriet im Mai 1948 in einer lancierten Kontroverse unter Beschuss. In der Hauptsache drehte sich der Angriff um seine Vermittler- und Funktionärsrolle. Nicht laut, aber doch vernehmbar hatte er versucht, sich der rüder werdenden SED-Politik in Sachen Kultur entgegenzustemmen. Zumindest versuchte er eine Zeitlang noch, die ihm Anvertrauten zu schützen, vor allem wenn sie nicht Mitglieder der Partei waren. Die staatlichen Reglementierungen aber nahmen zu. Der Druck auf die Gruppe erhöhte sich.