Schöner Neuer Himmel - Ines Geipel - E-Book

Schöner Neuer Himmel E-Book

Ines Geipel

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Beschreibung

Die Idee war so ambitioniert wie anmaßend: den Kommunismus auch im All real werden zu lassen. Und die Realität? Um einen »Körper mit optimaler Normierung« zu kreieren, wurde ab den 70er Jahren im Osten in hochgeheimen Laboren geforscht. Was surreal klingt, findet sich belegt in den Akten des ostdeutschen Militärs, aber auch bei denen, deren Körper zum Material dieses Staatstraumas gemacht wurden. Eine dichte Erzählung, die ein scharfes Licht auf ein bislang ausgeblendetes Erbe der DDR wirft - und eine Zeitdiagnose über entgrenzte Körperforschung. Der Neue Mensch im All galt im Weltraumprogramm der Sowjetunion als absoluter Leitstern und löste in der DDR zwischen 1972 und 1989 eine gründliche Forschungstätigkeit aus. Die Unterwerfung und Beherrschung des Kosmos sollte durch Hochleistungsflieger, die sich über Jahre im All aufhalten konnten, möglich werden. Wie erschafft man diesen maximal normierten und bedürfnislosen Körper? Aus den Verschlussakten der DDR-Militärforschung, heute zugänglich im Militärarchiv Freiburg, setzt Ines Geipel ein verstörendes Bild zusammen: Experimentiert wurde nicht nur an Tieren, sondern auch an Menschen, in Krankenhäusern, Gefängnissen, an Soldaten und im Hochleistungssport. Das Streben nach der Vorherrschaft im Kosmos ist nicht Vergangenheit, sondern erfährt heute eine Renaissance.

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Seitenzahl: 259

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Ines Geipel

Schöner Neuer Himmel

Aus dem Militärlabor des Ostens

Klett-Cotta

Impressum

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 2022 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Rothfos & Gabler, Hamburg

unter Verwendung einer Abbildung von © IMAGO United Archives International

Gesetzt von Dörlemann Satz, Lemförde

Gedruckt und gebunden von GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-608-98429-3

E-Book ISBN 978-3-608-11851-3

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Unknown soldier

Der Neue Mensch

Kybernetik-Lampions

Kein Zutritt für Unbefugte

Fehlendes Schwerelot

Koppelmanöver

Abrek und Bion

Reliktstrahlung

Adäquate Bodenmodelle

Wir sind die Ersten

Revolution der Affen

Zurück in die Zukunft

Anmerkungen

Dank

Literatur

»Nach dem Timbre und der Lautstärke, dem Sprechtempo, der Wortwahl und dem Satzbau lässt sich der emotionale Zustand des Menschen beurteilen. Das Ziel des Experiments ›Sprache‹ besteht darin, aufgrund der Untersuchung der Frequenz- und Amplitudenzeitcharakteristiken der Sprache des DDR-Kosmonauten bei Aussprechen der Zahl ›226‹ auf deutsch (in der Transkription ›zwo sechsundzwanzig‹) seinen funktionellen Zustand unter den realen Flugbedingungen einzuschätzen. Das Experiment ›Sprache‹ sieht die weitere Vervollkommnung der Methoden zur medizinischen Überwachung des Gesundheitszustandes der Kosmonauten während des Fluges vor.«

BArch (Berlin), DY 30/69605, S. 89, unnummeriert.

Unknown soldier

Doppeltext. 26. April 2018. Der Tag begann wie oft die Tage, die einem später nicht mehr aus dem Kopf gehen: normal, schön, sonnig. Und das in Berlin. Ein normaler Himmel, der normale Kaffee. Ich musste in die Stadt. Für 11 Uhr war eine Pressekonferenz angesetzt. Auf dem Podium drei Frauen. Sie würden ihre Geschichten erzählen. Ich hatte zu moderieren und war entsprechend vorbereitet.

Heute ist der 26. April 2021. Genau heute vor drei Jahren ist etwas in mein Leben getreten. So sagt man wohl später dazu. Ich weiß noch, wie ich während der Pressekonferenz vorn auf der Bühne stand. Im Saal viele Medienvertreter. Rechts neben mir die drei Frauen. Ich trat irgendwann zwei, drei Schritte zurück, sodass ich von hinten auf ihre Rücken sehen konnte. Als würden die auch reden, dachte ich. Als ginge das, gleichzeitig nach vorn und nach hinten. Als hätte beides nichts miteinander zu tun. Eine Art Doppeltext. Die Frauen sprachen von Missbrauch und Gewalt im Sport. Ruhig, klar, entschieden. Jedenfalls musste es sich im Saal so angehört haben. Sie sagten ihre Sätze. Die Journalisten stellten ihre Fragen. Es sah nach einer völlig normalen Pressekonferenz aus.

Es ist der 26. April 2021. Ich sitze am Küchentisch und fange an, dies aufzuschreiben. Ich denke an einen Bericht. Das erste Bild ist das mit den Rücken, das zweite die Mail, die ich zwölf Stunden nach der Pressekonferenz erhalten habe. Sie liegt vor mir und hat diesen Inhalt: »Tja, Schätzchen, Du hast Deinen Spaß gehabt. Viel zu lange, wie wir finden. Nun sind wir dran, und das wird nicht lustig werden. Dabei wird kein Stein auf dem anderen bleiben. Worauf Du Dich verlassen kannst. U. S.« 

Ich bekomme ab und zu solche Mails, die mit »Schätzchen« beginnen. Hallo, Schätzchen oder hör mal, Schätzchen oder sag mal, Schätzchen. Sie werden ausgedruckt und in einem speziellen Hefter abgelegt. In meinen Augen sind es Zeitzeugen. Die Schätzchen-Mail vom 26. April 2018 hatte die E-Mail-Adresse unknownsoldier@ – und landete nicht in dem Hefter. Sie blieb auf dem Schreibtisch liegen. Unknown soldier. Was offenbar nach Bedeutung klingen sollte, ein bisschen nach geheimer Mission. Aber was war davon zu halten? Wollte mir jemand Angst machen? Und wieso? War das nicht ein bisschen dick aufgetragen? Wenn ich heute an die Situation zurückdenke, habe ich die Nebelbilder von Gerhard Richter vor Augen. Das Verschwommene, Unscharfe, die unklaren Konturen. Aber vielleicht braucht es gar kein Bild. Vielleicht sollte ich einfach nur versuchen aufzuschreiben, was sich ereignet hat. 

Der unbekannte Soldat. Ich musste zuerst an das Grab des unknown soldier in Canberra denken, das ich vor Jahren mal besucht hatte. Die vielen roten Blumen an der Wand. Es waren Mohnblumen. Etwas später kam ich auf Tarnanzüge, runtergeklappte Visiere und auf meinen Vater. Fast 15 Jahre Hauptabteilung IV der Staatssicherheit, Militärausbildung, Späher, Grenzgänger, Westagent mit acht verschiedenen Identitäten. Er war der unbekannte Soldat in meinem Kopf. Aber brauchte es ihn, nur weil es mal wieder eine bescheuerte Mail gegeben hatte? Ich zögerte. Das Ding mit dem Osten. Es war mit den Jahren nicht einfacher geworden. Etwas war zurückgekommen, hatte sich verschoben, bewegte sich in Endlosschleife. So jedenfalls mein Eindruck. Was vor 20 Jahren noch gesichert schien, worüber es Dissertationen, viel Forschung und fundiertes Wissen gab, war mittlerweile unklarer denn je. Rutschig, vage, wie ohne Boden. Mehr und mehr schien der Osten weggefragt zu werden, zurückgeschrieben, ausgeblendet, umerzählt.

Fragt man die, die sich damit auskennen, reden sie auf seltsame Art von Restauration und wirken müde dabei. Was aber bleibt von einem Land, was von einem System, das es nicht mehr gibt? Was war sein Kern? Was ist sein Erbe, wenn es mehr sein soll als persönliche Erinnerung? Und wieso unknown soldier? Wer wollte da in den Raum zurück? Mein Blick blieb auf den beiden Buchstaben hängen. U. S. Schon merkwürdig. Noch dazu, weil der unbekannte Soldat offenbar zu dem führte, was mich selbst seit geraumer Zeit beschäftigte.

Pneumatisches. Wenn ich unterwegs bin, habe ich immer den kleinen Mac dabei. Insofern kann ich relativ gut nachvollziehen, wann ich wo und in welchen Einrichtungen, Behörden oder Archiven gesessen habe. In der Woche vor dem 26. April 2018, so besagt es der Computer, war ich im Militärarchiv Freiburg. Dort bin ich eigentlich ganz gern. Die Tage an diesem Ort sind auf angenehme Weise ritualisiert: die Eingangstür mattweiß, metallen, sachlich. Das pneumatische Geräusch, fein, schleifend. Hinter ihm ein kalter Sog. Es macht klick, ich muss durch die Schleuse und bin drin.

Der April vor drei Jahren war heiß, der Freiburger Lesesaal eine Eisbox. Ich hatte Socken dabei. Auf der Ausgabentheke lag mein Aktenberg. Der Mann, der ihn mir rüberschob, lächelte mir sanftmütig zu. Ich zog den Stapel zu mir. War das der Anfang? Schon länger hatte ich einen Begriff in meinem Kopf: Militärisch-Industrieller Komplex, auch MIK genannt. Zu DDR-Zeiten haben wir oft Witze darüber gemacht. Kamen wir an einer Russenkaserne vorbei, sagten wir MIK. Roch es irgendwie silbern nach Strahlen, hieß es MIK. Gesperrte Gelände, schwarze Löcher des Systems – das war MIK. Worum es sich dabei handelte? Wen hätten wir fragen sollen? 

Polytrauma. Mit 1989 war MIK passé. Verschwunden, wie so vieles? Doch irgendwie hatte sich MIK in mir festgehakt und beanspruchte sein Eigenleben. Das virtuelle Auge, das bionische Gehirn, GPS, Sea Hunter, die geplanten Mars-Cities der NASA – wenn ich etwas hörte oder las, was mit Militär und Forschung zu tun hatte, zogen die drei Buchstaben durch meinen Kopf wie Leuchtbojen. Irgendwann dachte ich: Was soll’s, ein Stoff ist es ja allemal. Außerdem: Wieso weiß man eigentlich so wenig davon? Oder weiß nur ich nichts davon? Also versuch es, fahr nach Freiburg. Wenn etwas über MIK zu erfahren ist, dann da. In Freiburg liegt, das hatte ich im Internet recherchiert, was zum Komplex DDR-Militärforschung gehört oder mindestens das, was noch von ihm vorhanden ist. Dokumente zur Militärmedizinischen Akademie Bad Saarow und dem Zentralen Militärlazarett, zum Institut für Luftfahrtmedizin Königsbrück, dem Marinemedizinischen Institut Stralsund, der Akademie der Wissenschaften, dem Interkosmos-Programm. Ein Bestand, der vom Bundeswehrkommando Ost – das nur von Oktober 1990 bis Juni 1991 existiert hatte – ans Militärarchiv Freiburg übergeben wurde. MIK. Als ob man einer ungenauen Erinnerung nachginge, etwas, womit man gelebt hat, ohne es je ergründet zu haben. Eine abgestorbene Imagination, ein Stück Kalter Krieg, eine Verschwörungstheorie? Vielleicht hatte es ja eher mit dem zu tun, was in uns ist. Mit dem Hund der Geschichte, der die Spur aufnimmt und lostrottet, weil er muss, die Schnauze nah am Boden.

Die Klimaanlage rasselt. Vor mir die Akten, die Signaturen. Ich schaue aus dem Fenster. Wo ich bin? Im April 2018. Ein Feld früher Sommerwolken schiebt sich gemächlich am Archivfenster vorbei. Ich denke an Verheißung, an Willenlosigkeit, an Überblick und Weite. Ich sitze über brösligen Papieren. Archive sind seltsame Räume. Im Grunde Zeitkapseln. Jemand verschließt das Jetzt, zieht einen durch einen langen Flur, trödelt eine Weile rum, um dann irgendwo stehenzubleiben, vor etwas, was zwar geschehen ist, aber noch keine Zuordnung gefunden hat. Es ist noch unterwegs, ohne Landung. 

Auf meiner Bestellliste für die Archivwoche im April 2018: »Klinik und Therapie ausgewählter Sabotagegifte«, »Folgen ionisierender Strahlung aufs Gewebe«, »Neue Erkenntnisse über die Panik im Gefecht«, »Plazentaforschung«, »Medizinische Vorbereitung von Kosmonautenkandidaten«, »Selbstmordversuche Strafgefangener aus psychiatrischer Sicht«, »Blutersatzmittel«, »Leistungsorientierte Verwendungen von Frauen«, »Polytrauma«[1]. Themen, die mir im digitalen Bestellsystem ins Auge gefallen waren. Aber wo anfangen? Beim Himmel. Auf alle Fälle da. Bei der Frage nach bewohnbaren Zonen und außerirdischem Leben. Bei dem, was größer, älter, unendlicher ist als alles, was wir uns vorstellen können. Sollte es nicht was geben auch ohne uns? 

Isolationscontainer. »Der Mensch ist nach wie vor das universellste, biegsamste und wichtigste Glied in einem Steuersystem, wobei eine sinnvoll abgestimmte Verteilung von Funktionen zwischen Mensch und Automaten zu einer Erhöhung der Zuverlässigkeit des Gesamtsystems führt.«[2] Das steht so am Anfang der Habilitationsschrift des Flugmediziners Hans Haase, Jahrgang 1937, vom Institut für Luftfahrtmedizin in Königsbrück, nur ein paar Kilometer von Dresden entfernt. Das Institut, eine Einrichtung der Nationalen Volksarmee (NVA), unterstand dem Ministerium für Nationale Verteidigung. Haase war stellvertretender Direktor des Instituts, zwischenzeitlich Vorsitzender der ständigen Arbeitsgruppe »Kosmische Biologie und Medizin«[3] innerhalb des Interkosmos-Programms und betreute auch Sigmund Jähn, den ersten Deutschen im All. Generalmajor Sigmund Jähn umrundete im Sommer 1978 die Erde. Hans Haase verteidigte seine Kosmonauten-Studie im November 1988. Dazwischen liegen zehn Jahre, in denen nicht nur in Königsbrück »systematisch an raumfahrtmedizinischen Projekten gearbeitet« wurde, wie einem Sitzungsbericht der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin aus dem Jahr 2008 zu entnehmen ist.[4]

Ein System im System, das systematisch ausgeforscht wurde. Was sollte das sein? Flüge ins All sind ultimative Heldenprojekte, mit jeder Menge Strahlebildern und ordentlich Nationalpathos obendrauf. Vielleicht liegt es ja an den steifen Raumanzügen, an dem ganzen anachronistischen Outfit, dass mir die Bildgeschichte der Weltraum-Titanen nie recht plausibel vorkam. Viel Winkewinke aus der Kapsel, weiches Schweben im All, breitbeiniges Gehopse auf dem Mond. Als sähe man einem Trupp von Entrückten beim Spielen im Nirgendwo zu, behütet einzig vom Universum. Aber was bekamen wir da eigentlich zu Gesicht?

Die Kosmonauten-Studie von Hans Haase setzt für den Realitätscheck ein präzises Datum: den 1. 10. 1976. An diesem Tag fuhren sieben Männer, die nach einem zähen Verfahren unter 300 DDR-Militärpiloten ausgesucht worden waren, ans Militärmedizinische Institut Königsbrück. Jeder der sieben sollte in den kommenden Wochen seinen persönlichen Hypertest durchlaufen. Es ging um körperliche Fitness, technisches Wissen, um Raumorientierung, Motorik, im Grunde um die generelle Tauglichkeit für einen Flug in den Kosmos. Nur vier von ihnen wurden nach den harten Testwochen in die Sternenstadt bei Moskau abkommandiert. Zwei blieben am Ende übrig: Sigmund Jähn und Eberhard Köllner. Sie waren ab da Forschungskosmonauten und absolvierten eine knapp zweijährige Spezialausbildung: mehrtägige Aufenthalte in der »Surdo-Kammer« – einem Schweige- und Isolationscontainer, eine Flugausbildung auf der MiG-21, die Ausbildung auf Raumflugsimulatoren, Spezialtraining in der Thermokammer bis 60 Grad, Parabelflüge, Training auf der Humanzentrifuge, Training im Hochgebirge, Autogenes Training, endlose Theoriestunden.[5]

Waren sie froh darüber? Fühlten sie sich als Auserwählte? Wie ging mehrtägige Isolationskammer? Was für ein Körper sollte da eigentlich in den Himmel katapultiert werden? Ich höre, wie sich in mir Luken, Kammern, Kapseln schließen und etwas nach innen geht. Draußen auf dem Gehweg vorm Archiv laufen Menschen vorbei. Ich höre ihre Schritte, ihre Stimmen, ihr Lachen und denke an die Freundlichkeit des Lebens. Drinnen, in der Mappe, liegen die Jahre 1976, 1977, 1978. Im Osten waren das leise Jahre. Es bröckelte. Man konnte es hören. Ich lebte in einer Internatsschule im Thüringer Wald. Als wir nach den Sommerferien Anfang September 1976 wieder zusammentrafen, erzählte Claudia, meine Freundin aus Zeitz, von Oskar Brüsewitz. Der Pfarrer hatte sich zwei Wochen zuvor auf dem Platz vor seiner Kirche mit Benzin übergossen und dann angezündet. Ein öffentliches Zeichen, das bemerkt wurde und sich einbrannte. Wir lagen in unseren Betten und sprachen über den lichterlohen Mann, über sein Nein in unserer lauten Stille.

Quellensätze. Eine Akte ist eine Akte und zunächst nichts anderes als ein Zufallsfund. Soll sie irgendwann für etwas relevant werden, braucht es allerhand Verknüpfungspunkte. Quellensätze, Kontexte, eine Art Gewebe, in dem das einzelne Dokument mit anderen, mit der Zeit, mit weiteren Ereignissen zu sprechen beginnt. Es braucht einen roten Faden, bei Lichte besehen einen Gedächtnisraum. Es ist allerdings nicht so einfach mit dem Erinnern. Es heißt, wir bauen im Nachhinein um. Wir wollen die mit den dicken, weißen Schleifen gewesen sein, die Hüterinnen der großen Träume. Die Heiteren, die Starken, die Anführerinnen. Wir wollen Blindschleichen in uns gestopft, Köpper gekonnt und uns mit den Jungs gedroschen haben. Das Nachhinein kreiselt nicht gern, es erzählt lieber Heldengeschichten. Aber wie damit das Faktische der Zeit finden, wie ihr begegnen, sie nochmal abklopfen, befragen? Und was soll das überhaupt? Braucht es das? Ja klar, auf jeden Fall. Das aufgelassene Erbe des Ostens findet noch immer keinen Ort, keinen Konsenspunkt. Das dürfte verschiedene Gründe haben. Was noch immer fehlt, ist die historische Zuordnung. Was fehlt, ist der Blick auf die Erfahrungswucht nach mehr als 50 Jahren Diktaturerfahrung. Und trotz anderslautender Beteuerungen fehlt nach wie vor Forschung. Glaubt denn ernsthaft jemand, dass wir hier durch sind, dass das schon alles gewesen ist? 

Als der Flugmediziner Hans Haase mit seiner Kosmonauten-Studie 1976 die Schwerelosigkeit in den Blick zu nehmen versuchte, war ich 16. Ich weiß, wo ich zu dem Zeitpunkt war, was ich machte, wonach ich Sehnsucht hatte, was alles schon in mir war. Oder, um es mal auf den Punkt zu bringen: Ich kann die Freiburg-Akten nicht objektiv lesen. So und so bin ich drin, in der Auseinandersetzung um die Zeit, den Stoff, das Ungeklärte, um das Schweigen in den Verhältnissen. Das ist so und nicht zu ändern. Zwischen 1976 und 2018 liegen reichlich 40 Jahre. Noch vor kurzem hätte ich gesagt, dass das viel Zeit ist. Aber welche Quellen, welche Kontexte, welche Geschichte haben wir in uns so sicher, dass sie nicht ins Rutschen kommen?

Alles, von Anfang an. Ich musste an Jacob denken. Es war vor Wochen, vielleicht im Januar 2018, als er mich nach einer Veranstaltung in Berlin angesprochen hatte. Seit fünf Jahren war ich Vorsitzende der Doping-Opfer-Hilfe. Eine Organisation, die all diejenigen unterstützt, die aus dem Glanzbild des Sports herausgefallen sind. Hauptsächlich die, die mit dem Staatsdoping der DDR kollidiert waren. Was zu sehen und zu hören ist, wenn die Scheinwerfer ausgestellt sind und die Zeit nach dem großen Kämpfen beginnt, ist der Gesellschaft nicht zu vermitteln. Es interessiert sie nicht. Der Sport soll Siegmaschine, Weltgottesdienst ohne Gott oder was auch immer sein. Aber bitte nicht das Couchprogramm vermasseln. Sport ist schön, Sport ist gut, Sport ist für alle da. Und ansonsten? Schulterzucken, Pech gehabt, selber schuld. Dunkle Nachbilder sind uncharming. Am besten, sie kommen gar nicht erst vor.

Jacob und seine unruhigen Augen, die verwaschenen Jeans, die Basecape mit NY vorn drauf. Seine Art, sofort zur Sache zu kommen, mich an einen Tisch zu ziehen und Stapel an Fotos auszupacken. Seine Zeit als Zirkusakrobat. Hier, zeigte er stolz, das war ganz mein Ding. Auf dem Foto ein feingliedriger Körper, der ganz oben, direkt unter der Kuppel des Zirkuszeltes schwebte. Auf der anderen Seite zwei Hände, bereit, ihn aufzufangen. Da ist irgendwann mal was schiefgegangen, meinte er und sah mich unverwandt an. Und dann? – War’s vorbei. War zu viel Angst da, und ich bin zu den Rennfahrern. 

Seine Zeit auf dem Rennrad und der nächste Packen Fotos. Und Urkunden. Und Medaillen. Das habe ich genauso seriös behandelt wie die Zirkusnummer, versicherte er. Ich nickte und sah ihn zum ersten Mal länger an. Warum sind Sie da?, fragte ich. Jacob erklärte: Ich stand auf dem Vorplatz des Dresdner Hauptbahnhofs. Ein Auto kam. Wir fuhren eine knappe Stunde. Wir stiegen aus, und ich verbrachte die nächsten zehn Wochen in einem Zimmer neben Sigmund Jähn. – Neben Sigmund Jähn? Dem ersten Deutschen im All? Der Mann mit dem Basecap schob weiter Fotos über den Tisch, als müssten die irgendwas beweisen. Auf einem er, sehr jung, mit Lorbeerkranz um den Hals, das Gesicht verschwitzt, strahlend. Wann war das? – 1974. – Ich meine, das mit Sigmund Jähn? – Auch so um die Zeit. Aber das habe ich erst später kapiert, als der mir im Fernsehen unentwegt aus seiner Flugkapsel zuwinkte.

Jacobs Augen, sein Körper, dünn wie eine Gurke. Er erzählte was von Nadeln, Drähten, Biopsien. Sind Sie sicher, dass da was mit Ihnen gemacht wurde? Eine Frage, die ich mir hätte sparen können. Deshalb war er ja da. Er schüttelte den Kopf: Es gibt nichts, keine Unterlagen, kann man komplett vergessen. Ich sah in sein Gesicht. Mehr als fünf Jahre machte ich das schon: Recherchen, Gespräche, Behörden, Archive, am Ende fast immer nichts, jedenfalls nichts von Belang, nichts Belastbares, nichts, was jemandem wie Jacob helfen könnte. Es geht nicht um Sie, sagte er in die Pause hinein. Sondern? – Ich muss es wissen. Ich muss das Programm kennen, alles, von Anfang an. – Mit Ihnen ist irgendwas gemacht worden, sagen Sie? – Klar. – Und heute wollen Sie wissen, was es war, weil es Ihnen schlecht geht? 

Wir sahen beide auf denselben Punkt auf dem Boden, als sei der in der Lage, uns über die Situation zu hieven. Jacob zog sein Basecape vom Kopf. Kein einziges Haar, keine Wimper, keine Augenbraue. Ist Ihnen schnuppe, nicht, schob er nach und winkte nur ab: Aber das ist es nicht einmal. Worum es geht, ist der Kampf gegen das Nichts. Dass sich nichts tut, dass es keine Klärung gibt, niemanden, der redet. Als ob es das alles nicht gegeben hätte. – Aber könnte es nicht auch anders gewesen sein? – Wie anders? 

Anämisches. »Die besonderen Bedingungen des Raumfliegers«, heißt es in der Haase-Studie, sind »Schwerelosigkeit, kosmische Strahlung, künstliches Wohnmilieu, nervlich-emotionale Anspannung«[6]. Mir wäre Sehnsucht nach Wald eingefallen oder Angst vielleicht. Aber letztlich hatte ich mir nie wirklich Gedanken darüber gemacht. Bei Schwerelosigkeit dachte ich an Trampolin und Achterbahn, an ein fliehendes, sagenhaft leichtes Gefühl, das zwangsläufig mit viel Luft zu tun hatte. Nun las ich, dass sich unter der Schwerelosigkeit die Muskeln abbauten und das Blut in den Kopf stieg. Dass es zu einer »negativen Wasserbilanz« komme und zur »akuten Verschlechterung der Sehschärfe«[7]. Auch sei der Energieverbrauch unter der Schwerelosigkeit um das Fünffache erhöht. 

Als würden unsere Erdenkörper da oben im All einen systematischen Schlag wegkriegen. Vor allem Muskeln, Knochen, Blut, Hirn. Als steuerten wir im Himmel in eine heftige Demenzphysis, dachte ich. Dazu der Zwang, im hermetischen Raum auszuharren, sich im engsten Radius einzurichten, den eigenen Körper aufs Äußerste zu reduzieren. Und das über Wochen, Monate, vielleicht Jahre. Außerdem gehe es in den Flugkapseln enorm laut zu, hieß es. Der Maschinentrakt arbeite unablässig. Die Raumanzüge seien von innen her kalt. Wegen fehlender Bettschwere wäre an Schlaf kaum zu denken. Tag und Nacht existierten im All nicht. Nicht zuletzt die starke Belastung durch ionisierende Strahlung, durch Lichtblitze, durch »sensorischen Hunger«[8].

Die Klimaanlage im Archiv ackert, ich schwitze. So hatte ich mir das nicht vorgestellt: Man kann sich da oben nicht bewegen. Blut, Knochen, Muskeln, Hirn gehen rasend schnell flöten, dazu kein Schlaf, viel Strahlung, viel Langeweile. Das Exklusivdrama der Kosmoshelden las sich bei Flugmediziner Haase eher wie eine bizarre Bühnenshow.

Terra incognita. Fünf Tage nach der ersten Schätzchen-Mail kam die zweite: »Na, Schätzchen bist Du schon nervös? Keine Sorge, wir haben Dich nicht vergessen. Es geht nur noch um ein paar Details. Feintuning ist heute ja bekanntlich alles. U. S.« Mails dieser Art kommen ja oft noch in Serie. So richtig zum Wundern war das also nicht. Und dennoch: Etwas war da. Etwas, was mit den Wörtern, mit ihrem Ton zu tun hatte. Als ob ich den Raum, aus dem die Wörter kamen, irgendwie schon kennen würde. Unknown soldier. In einem Sonntagabend-Tatort, der keine Auflösung finden soll, kommt irgendwann eine somnambule Figur mit schwarzem Kapuzenpulli um die Ecke. Der Kommissar hat dann zu raunen, dass seit längerem einer in der Stadt lebe, der vermutlich aus dem Bosnienkrieg oder aus Afghanistan komme. Ein alter Kämpfer, der sein Handwerk gelernt habe. Einer an der unsichtbaren Front, der von der Pieke auf gelernt habe, im Stillen sein Programm durchzuziehen. Eine Art sozialer Outlaw, der das Verborgene liebe.

»Was essen Kosmonauten? Die Art und Weise, sich zu ernähren ist weitgehend irdisch. Zur Verfügung stehen 70 Produkte, verpackt in Rationen, die 65 Prozent in dehydrierter Form vorliegen. Man kann sagen, dass die Ernährung aus Tuben schon Geschichte in der bemannten Raumfahrt ist. Nur noch Fruchtsäfte oder – konzentrate, Pürees, pastenartige Produkte befinden sich im Angebot. Es erklärt sich aus den Besonderheiten der Nahrungsaufnahme in der Schwerelosigkeit. Bekanntlich dürfen ja keine Verkrümelungen oder Flüssigkeitstropfen in die Kabinenatmosphäre gelangen, da sie bei Einatmung zu schwerwiegenden Komplikationen führen können.«

Zentrales Archiv des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt e.V., Göttingen, BAAR, A872, unnummeriert.

Der Neue Mensch

Wohlsinn und Totale. Was hatte Jacob mit Sigmund Jähn zu tun? Hatte ich etwas mit unknown soldier zu tun und wieso? Wo war der Link? Heute, drei Jahre später, dürften sich diese Fragen erübrigt haben. Im April 2018 aber tappte ich völlig im Dunkeln, lag nichts anderes als die Kosmonauten-Studie auf dem Tisch. In ihr war ich hängengeblieben. »Die Menschheit steht am Beginn der Überwindung des Geozentrismus als des bisher vorherrschenden und historisch bedingten Weltbildes des Menschen«, steht auf Seite 23. Weiter hieß es, es gehe um die »Überwindung des organbezogenen Denkens«[9]. Aber wie sollte das aussehen? Lagen die Organe dann sorgsam aufgereiht nebeneinander und fanden höchstens noch zum Morgenrapport vorm zerfledderten Herz zusammen?

Der Neue Körper und die forcierten Konzeptzonen des vergangenen Jahrhunderts. Dazu ist viel gesagt. Ich meine, über die neuen Wahrnehmungen und die neuen Realitäten des Einzelnen innerhalb des neuen Kollektivs. Was das angeht, dürfte es für die Laboranten und Konstrukteure der unterschiedlichsten Forschungsszenen jedes Mal ein konkretes Datum und einen präzisen Ort gegeben haben. Man wird an einem Tisch gesessen, gesprochen und sich die Dinge überlegt haben. Das Entscheidende dürfte, wie meist in solchen Fällen, nicht aufgeschrieben worden sein. Und dann, was ist dann geschehen?

»Irgendwann kannst du das sicher mal jemandem erzählen, aber man wird dir nicht glauben.«[10] Ein Satz aus dem Film »Das Schlangenei« von Ingmar Bergman. Ich sah ihn im Herbst 1980 in Jena. Da war ich 20. Ich erinnere mich noch immer an das Gefühl vor der Leinwand oder eher daran, dass ich es nicht haben wollte. Als ob mir etwas zu nah gekommen war. Die Bilder, das Nervöse, Exzessive, Strudelnde. »Durch die dünne Membran erblickt man bereits das vollkommen ausgebildete Reptil.« Dieser Satz kam mir vor wie eine Chiffre, wie der gesamte Film offenbar als Chiffre gedacht war. Das Leben wie im Kokon, die Wände, die Spiegel, die Kameras dahinter. Als ich aus dem Kino kam, war der Abend milde. Ich stand an der Bushaltestelle und fuhr in eine Trabantensiedlung an der Autobahn. Etwas in mir schloss den Film ein wie eine Konserve, wie einen Ort in meinem Kopf.

Manchmal sind die Wörter so zart, als wollten sie sich selbst aufheben. Die dünne Membran. Wir blicken auf das vergangene Jahrhundert, wir stehen im Jetzt. Wir wollen das Individuelle, die Balance, den Wohlsinn, das Milde. Aber wie zwischen all dem diese dünne Membran ausmachen, wie sie verteidigen, wie überhaupt noch gegenhalten? Der Neue Mensch und der Kommunismus. Das war mein Anfang. Ich komme von da. Die Sehnsucht danach, es so genau wie möglich zu erzählen, von Anfang an. Vermutlich gab es keinen. Die Angst davor, es nicht genau genug erzählen zu können, es nicht hinzukriegen. Der Kommunismus als Utopie, Verheißung, Illusion, Mythos, Wahn, Verbrechen. Der Kommunismus als Realität. Als konkretes Zeiterleben, als konkretes Raumerleben, Wahrnehmungserleben, Empfindungserleben, Körpererleben. Was in ihm im Grunde bedeutete, dass alles Leben von einem einzigen Zentrum aus gelenkt wurde. Im Gegenzug lief jeder Gedanke, jede Bewegung, jedes Gefühl der Gesellschaft hin zu ihm. Die Welt als Totale.

Ich sitze in Freiburg und blicke in die 70er Jahre im Osten. Die Zeit kriecht aus den Wörtern. Sie schmeckt noch heute nach utopischer Unschuld. Immer besser, heiterer, friedlicher, solidarischer. Immer progressiv-fortschrittlicher. Ein dichter rhetorischer Wald. Was zwischen den Wörtern steht und nicht bis in die Buchstaben kommt, ist schon auch da. Aber was bedeutete das? Und vor allem: Was heißt es heute? Als ob man die Realität in einem fort über die Ränder der Wörter hinausschieben könne.

Die 70er Jahre. Wir tragen Schlaghosen, Plateauschuhe und surreale Frisuren. 1976 die Biermann-Ausbürgerung, ein Jahr später die »Charta 77« in Prag. Schließlich der August 1978 und Sigmund Jähn im All. Ein Propagandacoup sondergleichen. Während der erste Deutsche 125-mal um die Erde kreiselt, wird an allen Schulen des Landes der Militärunterricht als Pflichtfach beschlossen. Auch die Mädchen lernen jetzt schießen. Sie marschieren, werfen Handgranaten, laufen mit Gasmasken über Sturmbahnen, retten in brennenden Bunkern ihre Mitschüler. Später im Militärlager haben wir abends, bevor das Licht gelöscht wird, unsere Stiefel vor den Betten Richtung Westen auszurichten. Wir liegen wach und warten auf die Trillerpfeife des Lagerchefs im Flur. Sie teilt uns mit, dass wir jetzt durch die Nacht laufen werden, um uns dem Feind entgegenzuwerfen.

Staatstrauma. Die Freiburg-Woche. Nur Tage später die Pressekonferenz. Berliner Alltag. Ich fuhr in die Hochschule, traf mich mit Freunden, arbeitete in der Beratungsstelle der Doping-Opfer-Hilfe. Das zweite Entschädigungsgesetz lief auf Hochtouren. Ich hatte Jacob vor Augen und das, was an ihm so herumflatterte. Johanna mit den nervösen Flecken im Gesicht, von der alle drei Monate ein Brief ankam, in dem sie schrieb, dass ein Riss durch ihr Leben gehe, der nicht zu kitten sei. Karla, eine erfolgreiche Chefärztin heute in Leverkusen, die über Nacht nicht mehr laufen konnte und nun nachts weinend in den Turnhallen ihrer Kindheit hockt. Es ging ums Zuhören und darum, da zu sein.

Im Jahr 2000 fand der große Berliner Prozess gegen die Drahtzieher des DDR-Staatsdopings statt. 20 ehemalige Athletinnen und ein Athlet bezeugten und wurden im Gerichtssaal angehört. Auch ich war Nebenklägerin. Das erste Entschädigungsgesetz erfasste knapp 200 ehemalige Aktive, nach dem zweiten Gesetz waren es zusammen fast 2000. Zahlen sind Zahlen. Aber zwischen ihnen hockt eine Wunde. Sie erzählt sich nur stockend, nur manchmal, nur in Ausrissen, sie muss über viele Löcher und Hürden. Und dennoch war diese Wunde mit den Jahren immer größer geworden.

Nach dem Mauerfall gab es langwierige Ermittlungen, dann viel Forschung, Prozesse, Urteile, schließlich Entschädigungen. Ging es anfangs um Aufklärung und Skandal, verschob sich der Fokus zunehmend hin zu denen, die dem System ausgesetzt waren. Zu der Frage also, was ein staatliches Zwangsdoping an Alltag produziert hatte, an Gewalt, Missbrauch, Abhängigkeit, Zersetzung. Nach und nach war dieser Raum kenntlicher geworden. Ich hielt es für meinen Job, zusammen mit anderen das Staatstrauma der Körper ins Politische zu übersetzen. Es ging um Aufmerksamkeit und ums Beharren der Erinnerung.

Strahlenkörper. Aber wo kam die Konditionierung der Staatskörper im Osten überhaupt her? Was lag da drunter? Welche Ideen, welche Hoffnungsprojekte, welche Realitäten? Der Neue Mensch als anthropologische Traumschleife, als ein sich immerzu transformierendes Hoffnungsprojekt, als große Entlastungserzählung. Heilung durch das Neue, Tröstung durch die Natur, viel Vitalismus-Manna, der Glaube an die wahre Gemeinschaft, ultimative Aussteigerprojekte. In dieser Hochstimmung startete das wacklige Europa in sein 20. Jahrhundert und schmolz seinen alten Jenseitsglauben zusehends in diesseitige Sozialutopien um. Vor allem die beiden politischen Religionen Nationalsozialismus und Kommunismus bezogen sich in ihrer Heilserwartung auf christliche Traditionen, die sie in ihre Radikalisierungsprogramme einzuspeisen vermochten.

»Zur Dynamik der totalitären Bewegungen gehört es, dass die Ambitionen, Ideen und Interessen, von denen sie getragen wurden, nichts Statisches, sozialökonomisch Vorgegebenes waren, sondern nach vorn in ein Niemandsland unbestimmter Ansprüche und Erwartungen wiesen«, schreibt der Historiker Gerd Koenen in seinem Buch Utopie der Säuberung.[11] Aber der Abgrund der Geschichte lässt sich nicht in Anfangserwartungen, Hoffnungen oder Zukünfte zurückerzählen. Auch die Wörter haben Angst, vermutlich genauso viel wie wir Menschen. Auch sie müssen über das Unüberbrückbare, durch das, was Gerd Koenen »ein grausam verfehltes Experiment« nannte.[12] Dabei würden sie vermutlich auch gern ausweichen, ihre Ruhe haben wollen, sich einrollen, dichtmachen, eine Weile in sich wegdämmern. Aber sie sind da, um zuzuhören. Sie haben die Zeit einzufangen, zu erfassen, zu beruhigen. Und? Ist nicht genau das ihr Problem?

Die biopolitischen Utopien in Russland hatten die Revolution von 1917 nicht als initialen Schock nötig. Ihre Anfänge lagen deutlich früher und lesen sich wie ein schillerndes Konglomerat der unterschiedlichsten Ideengeschichten. So hatte Nikolaj Fedorow (1829–1903), auch Gesprächspartner von Tolstoj und Dostojewski, Ende des 19. Jahrhunderts mit seiner »Philosophie der Tat« einen kühnen Deal zwischen Vergangenheit und Zukunft, genauer zwischen allen Lebenden und Toten vorgeschlagen, um sie in einem »ewigen Universum« zu vereinen. Der westlichen Zivilisation mit all ihrem Wohlstand, mit Erfolgs- und Machthunger sei nur mit »Supramoralismus« beizukommen, gab er vor und hatte das diesseitige Paradies namens Sozialismus vor Augen.[13] Das hätte sich die Menschheit in einem »gemeinsamen Werk der totalen Beherrschung und Verwandlung des Universums, der Bekämpfung und Überwindung des Todes und der Auferweckung – der vollkommenen Wiederauferstehung – aller Verstorbenen« zu erschaffen.[14] Der Hauptakteur seiner Unsterblichkeitsidee war niemand anderes als der »sich selbst regulierende, künstliche Körper«.[15] Seele brauchte es keine, da die Welt ohnehin nur rein materiell-körperlich existiere. Insofern sei es auch kein Problem, den Neuen Körper mittels Technik zu manipulieren.

Die heutigen Transhumanisten dürften an den Traktaten von Fedorow wohl ihre wahre Freude haben. Dabei war er schon Inspiration und Stichwortgeber in seiner Zeit, insbesondere für seine Jünger. Einer von ihnen war Konstantin Ziolkowski (1857–1935), der von Weltraumtürmen mit Fahrstühlen in den Himmel, von interstellaren Kolonien, von der Metamorphose aller Menschen zu einem gigantischen »Strahlenkörper« träumte. Er baute den ersten Windkanal in Russland und eine Zentrifuge für Küchenschaben und Küken, konstruierte ein lenkbares Ganzmetallluftschiff, wollte unbedingt mit den Bewohnern anderer Planeten Kontakt aufnehmen, entwarf mehrstufige Raketen mit Flüssigtreibstoff und machte Pläne für bemannte Raumstationen. Offenbar ein Tausendsassa, der nach der Revolution zunächst durch Lenin, dann durch Stalin als »genialer Sohn des Volkes« zu einer wirkmächtigen Propagandalegende aufgebaut wurde.

Kollektiv-Experimentelles. Die Ideen der Interplanetaristen entwickelten in den Kreisen der russischen Intelligenzija eine solche Sogkraft, dass es nicht viel brauchte, um sie in der heißen Zone der Revolution weiter aufzuladen. Man wollte dazugehören und Teil des Utopischen sein. Der Biokosmist Aleksandr Svjatogor plante ein »Haus der Unsterblichkeit«, das die Diktatur von Zeit und Raum abschaffen wollte. Er nannte sich Kreator und war ganz besoffen von seiner großen »Kampfgemeinschaft des Neuen«[16]. »Es ist an der Zeit, der Erde einen anderen Weg vorzuschreiben. Es wäre auch angebracht und an der Zeit, in den Lauf der anderen Planeten einzugreifen.«[17] Die Herrschaft über Erde und All, die Machbarkeit von Geschichte, die interstellaren Formate des Menschen, die Körper als Projektile, um sie ins Jenseits zu schießen. Grenzen? Wer ohne Grenzen ist, herrscht über Zeit und Raum.