Gestatten, mein Name ist Kurt - Lukas Lessing - E-Book

Gestatten, mein Name ist Kurt E-Book

Lukas Lessing

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Beschreibung

Feniks vom Schloss Perchino, von seinen Freunden nur Kurt genannt, ist ein außergewöhnlicher Hund: Ein Philosoph ist er, ein Melancholiker, Flaneur und Weltenbummler – mit einer ganz eigenen Sicht auf die Dinge. Auf sechs Lebensjahre blickt der Barsoi, dessen Vorfahren am Zarenhof zu Hause waren, zurück. Höchste Zeit für eine Autobiographie! Wie gut, dass sein Mensch schreiben kann. Kurt erzählt von seinen aufregenden Reisen zwischen dem Burgenland und Berlin. Zwischen Schoßhunden und Landkatzen, Radfahrern und Stadtfüchsen entdeckt er verbotene Zonen, übersteht gefährliche Abenteuer – und verliebt sich in eine – nein: zwei – Barsoi-Damen. Und immer wieder zeigt sich: Kurt ist tiefenentspannt und einfach cool ...

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Seitenzahl: 226

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Feniks vom Schloss Perchino, von seinen Freunden nur Kurt genannt, ist ein außergewöhnlicher Hund: Ein Philosoph, ein Melancholiker, Flaneur und Weltenbummler – mit einer eigenen Sicht auf die Dinge.

Auf sieben Lebensjahre blickt der Barsoi, dessen Vorfahren am Zarenhof zu Hause waren, zurück. Höchste Zeit für eine Autobiographie! Wie gut, dass sein Mensch schreiben kann.

Kurt erzählt von seinen aufregenden Reisen zwischen dem Burgenland und Berlin. Zwischen Schoßhunden und Landkatzen, Radfahrern und Stadtfüchsen entdeckt er verbotene Zonen, übersteht gefährliche Abenteuer – und verliebt sich in eine – nein: zwei – Barsoi-Damen.

Und immer wieder zeigt sich: Kurt ist tiefenentspannt und ein bisschen anders als viele seiner Artgenossen …

Lukas Lessing, geboren 1959 in Wien, dort Studium der Germanistik und Publizistik. Er lebt in Berlin und im Burgenland. Hundehalter und freier Autor.

Feniks vom Schloss Perchino, geboren 2008 im österreichischen Birkfeld. Seine Barsoi-Familie wurde 2009 in alle Winde verstreut. Er lebt seit damals unter dem Namen Kurt sowohl in Berlin als auch im Burgenland.

Lukas Lessing

Gestatten, mein Name ist Kurt

Insel Verlag

eBook Insel Verlag Berlin 2016

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des insel taschenbuchs 4389.

Originalausgabe

© Insel Verlag Berlin 2016

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr.

Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar.

Umschlag: Zero Werbeagentur, München

Umschlagabbildung: FinePic®, München

eISBN 978-3-458-74069-8

www.insel-verlag.de

VORWORT Ein Hundebuch ist ein Buch für Hunde

Mich drängte es zum Schreiben, um ein paar Dinge richtigzustellen. Ich habe zwar nicht die Weisheit mit Löffeln gefressen, und ich weiß auch nicht, wie Hunde im Allgemeinen ticken, aber ich weiß, was mit mir los ist. Ich weiß, was ich sehe, rieche, höre, schlecke. Darüber schreibe ich. Und über meinen Menschen, den ich tagein, tagaus beobachte. Über ihn und die anderen Menschen, die ich treffe. Über die Menschen im Prenzlauer Berg. So heißt die Gegend im Großen Häusermeer, in der wir leben. Dort sind meine Bordsteinkanten, dort kenne ich alles: die anderen Hunde und ihre Menschen. Die Hundehasser. Die Menschenhasser. Die Kackplätze. Die Pissallee. Den abschaltbaren Bach. Die Kaffeehausterrassen, auf denen ich warte, bis er seinen Fingerhut ausgetrunken hat. Den Hundemetzger. Den Hundekäfig. Die Pennerhunde. Die Stadtkaninchen. Den Mittelstreifenfuchs.

Dort habe ich auch beobachtet, dass Menschen normalerweise ruhig miteinander umgehen. Einer wandert am anderen vorbei, als ob nichts wäre, und meistens ist auch nichts. Oft gucken sie einander nicht mal an. Sie sehen zu Boden – man will schließlich niemanden provozieren. Ich kenne das, weil ich es mit meinen Artgenossen genauso mache.

Doch die Menschen verhalten sich anders, wenn ich dabei bin. Sie sagen alle etwas zu meinem Menschen oder zu mir. Manche ärgern sich, manche freuen sich, manche zerfließen vor Rührung, andere sind peinlich. Manche zerren ihre Kinder weg, andere zeigen mit dem Finger auf mich. Ein paar wollen etwas Witziges sagen, aber ich höre Untertöne, die wie Spott klingen. Warum nur ist das so?

Das will ich ergründen. Ich will aber auch davon erzählen, wie alles kam. Wie ich aufgewachsen bin. Wie ich von meinem Menschen entführt wurde, in das Häusermeer Berlin. Dort verbringe ich die meiste Zeit, zusammen mit 150000 anderen Hunden. Das ist eine so große Zahl, die ich mir nicht mal in Albträumen vorstellen möchte, weil ich solche Ansammlungen hasse. Schon zehn Artgenossen auf einem Platz übersteigen meine sozialen Kapazitäten. 600 von euch werden dort übrigens jedes Jahr von meinen Artgenossen gebissen, erzählte mir mein Mensch mal, aber: kein einziger von einem Windhund wie mir. Deshalb halte ich mich für einen Guthund, obwohl ich aus eigener, leidvoller Erfahrung weiß, dass etwas nicht stimmt mit dieser Statistik.

Aber mein Buch ist natürlich kein Zahlen-, sondern ein Buchstabenwerk – sogar ein ziemlich großes, wie ich finde. Dabei hat mir mein Mensch geholfen, das gebe ich unumwunden zu. Es ist übrigens ein Hundebuch im eigentlichen Wortsinn geworden, nämlich nicht nur ein Buch über, sondern auch eines für Hunde. Aber lest am besten selbst …

Schöne Tage

In meiner Kindheit waren alle Tage schön. Was auch sollte nicht schön sein? Ich war jung, ich lebte mit meinen fünf Geschwistern, wir hatten jeden Tag Fleisch, rund um uns herum lag kalter Schnee, und am Waldrand hinter den Wiesen standen lustige Tiere, die wir nicht kannten, aber gerne kennenlernen wollten. Das ganze große Leben lag vor uns, wir hatten keine Idee von Zeit und Krankheit und Trennung und irgendetwas Bösem.

Wir wohnten bei meinen Eltern. Na ja, eher bei meiner Mutter, denn mein Vater wurde mit der Zeit ein bisschen übellaunig. Manchmal wollte er uns Kinder beißen, vor allem uns vier Jungs. Unsere Schwester wollte er am liebsten … aber lassen wir das, es ist eine andere Geschichte. Das sollte ein jugendfreies Buch werden, und wenn ich euch das erzähle, wäre es aus damit. Vorher war er uns immer ein guter Vater gewesen. Wir durften auf ihm herumklettern, ihn an den Haaren ziehen, und manchmal durften wir sogar mit ihm kuscheln, aber das war mit seiner miesen Laune natürlich vorbei.

Jeder Tag ist ein schöner Tag, war damals mein Motto, freilich nur unbewusst, denn mental fühlte ich mich lange nicht so weit – ich war doch erst ein paar Monate alt. In eurer Zeitrechnung wäre ich siebenmal älter gewesen, so alt wie ein Schuljunge. Damals schon begannen die Tage spät, weil unsere Mutter Langschläferin war – und wir sowieso. Wir hatten die schönsten Morgen, an denen es nichts weiter zu tun gab, als uns gegenseitig am Fell zu kleben und über unsere Mutter zu klettern. Wir lagen im Heu. Oder war das Stroh? Ich kann das nicht so genau unterscheiden, schließlich bin ich kein Pferd. Wir lagen im Heu in einer Art Stall, nicht dort, wo die Menschen lagen, sondern in einem Extrahaus. Das war wunderschön, weil wir so unsere Ruhe hatten. Unsere eigene Welt. Wir konnten raus und rein, wann immer wir wollten.

Trotzdem sahen wir nicht viel von der Welt draußen. Wir wohnten in den Bergen. Das Land hieß Steiermark oder Österreich – diese Namen gehören zu den Dingen, die ich immer wieder verwechsle. Eins von den beiden war das Große, das andere das Kleine, aber das war mir schon damals egal. Ich bin so oft umgezogen, dass ich nichts mehr am Hut habe mit meiner alten Waldheimat.

Auf alle Fälle war das ein schönes Land, wo wir aufwuchsen. Ich erinnere mich an grüne Wiesen und dunkle Bäume, blauen Himmel und viele Gitter, in denen Kühe lebten. Dazwischen standen bunte, viereckige Schachteln mit rundlichen Menschen drin, die nur selten ins Freie rannten. Hinter den Schachteln gab es noch viele andere Tiere, die wir nicht kannten, die uns aber gut gefielen. Als Kinder hatten wir keine Ahnung, was wir mit denen sollten.

Die Kühe interessierten uns weniger, und die Menschen beachteten wir schon gar nicht, außer einen. Der war ein Weibchen und hatte sehr viel Macht. Sie war unser Rudelführer, und ich dachte an sie nur mit einem Wort: Chef. Das war meine Bezeichnung für meinen ersten Menschen. Sie hatte unendlich viel Fleisch, das sie in großen Kisten hütete. Sie legte es in einen großen weißen Kasten, dort wurde es hart, sie sorgte aber auch dafür, dass es wieder weich wurde, damit wir es essen konnten. Ihr gehorchten alle anderen Menschen im Haus, sehr kleine Menschen waren das, und wir sowieso. Selbst andere Menschen, die zu Besuch kamen, schienen Respekt vor ihr zu haben, denn sie ließen sich von ihr ohne Widerrede dahin und dorthin schicken. Sie schien so etwas wie ein großer Chef zu sein. Eine Chefin, würdet ihr sagen, also sage ich auch so.

Wir Kinder ließen uns gerne von ihr anfassen. Unsere Mutter zeigte uns, dass das gut war. Auch sie ließ sich überall anfassen. Am Anfang wollten wir unseren Menschen zwar beißen, nur ein bisschen, aus Spaß, weil wir als junge Hunde alles beißen wollten, aber unsere Mutter schob uns weg und zeigte uns, dass ein Mensch kein Bissstück war wie die Knochen, die überall herumlagen. Wie das Holz, das auf dem Boden stand. Wie die Stangen in den Ecken von dem Stall und solche Dinge.

Mutter selbst ließ sich gern von ihr das Fell bürsten, und wir fanden es witzig, wenn Chefin uns in die Luft hob und herumtrug. Unsere Mama sah uns zwar besorgt nach, aber akzeptierte es, also musste das gut sein. Was sollte schon passieren? Die Frau ging nicht weit mit uns, nur ums Eck oder vor ihren eigenen Stall, in dem sie gerne stundenlang verschwand.

Alte Zeiten, neue Zeiten

An einem dieser langen, dunklen Winterabende, an denen wir alle fest zusammengedrückt im Heu lagen, erzählte uns Mutter die ganze Wahrheit: »Wir sind Barsois«, sagte sie in feierlichem, fast beschwörendem Tonfall, »wir sind Windhunde. Wir stammen nicht von hier, sondern aus einem sehr fernen, sehr kalten, sehr dunklen und sehr großen Land. Wir stammen aus einem Land, das Russland heißt, und das ihr wahrscheinlich niemals sehen werdet. Auch ich habe dieses Land noch nie mit meinen eigenen Augen erblickt, ich kenne es nur aus den Erzählungen meiner Eltern und eures Vaters. Er ist dort geboren, er hat dort gelebt. Er hat viel davon berichtet!«

Wir lauschten atemlos. Für uns war das eine große Geschichte: Wir sollten aus einem fernen, fernen Land stammen? Wir kamen ins Grübeln, ins Träumen, und als unser Vater in einer seiner seltenen, gut gelaunten Stunden selbst zu erzählen begann, spitzten wir die Ohren, so gut wir konnten, und waren so still, dass man sogar den sprichwörtlichen Knochen im Heuhaufen hätte klappern hören können:

»Russland ist ein Land voller Seen und Wälder und Gras. Steppe heißt das Gras dort und wird nicht jeden Samstag gemäht wie hier. Es wiegt sich in großen Wellen im Wind wie das Meer, aber das kennt ihr nicht. Das Gras ist wie ein unendlicher See, der bis zum Himmel geht, so müsst ihr euch das vorstellen.«

Wir konnten uns das nicht vorstellen. Einen See kannten wir nicht, nur den Teich hinter dem Haus, aber der ging nicht bis zum Himmel, sondern bis zu einem kleinen Holzsteg am anderen Ufer. Trotzdem genossen wir diese Geschichten wie nichts auf der Welt!

»In diesem Land hatten wir nicht so viel mit Menschen zu tun wie hier. Eher mit Füchsen, Wölfen, Hasen und Bären. Hier gibt es keine Bären und keine Wölfe, vor denen ihr Angst haben müsst. Die Wölfe waren mal unsere größten Feinde. Sie sind genauso stark wie wir und wollen uns töten, wann immer sie uns sehen, das ist ihnen angeboren. Sie heulten in der Nacht und schrien und bellten und jaulten, um uns Angst einzujagen, was ihnen aber nicht gelang, weil wir so viele waren, und weil wir bei den Menschen lebten, sie aber nicht. Sie hassten uns, weil sie draußen waren, in den Wiesen und Wäldern, und für sich selbst töten mussten, um zu überleben. Wir mussten das nicht, denn wir hatten damals schon die Menschen, die uns tote Tiere zu essen gaben.«

Vater genoss unsere Anspannung. Wir hingen ohnehin an seinen Lippen, doch er steigerte die Spannung, indem er immer leiser wurde beim Erzählen, sodass wir näher zu ihm hinrücken mussten, um etwas zu verstehen. Er senkte seine Stimme zu einem kaum hörbaren Wispern ab:

»Jagen und töten mochten wir trotzdem gerne, auch wenn wir es nicht nötig hatten. Es war uns das Liebste von allem, lieber als das Essen der Beute, weil wir die Jagd von früher gewohnt waren. Aus der Zeit vor den Menschen, denn wir sind älter als sie. Am Anfang waren die Menschen noch nicht da, wir aber schon. Damals mussten wir selbst für uns sorgen, wie die Wölfe. Das war schwer, aber wir konnten tun, was wir wollten. Ich habe mal gehört, dass wir Verwandte von den Wölfen sein sollen. Meine Vorfahren erzählten mir, dass wir früher selber Wölfe waren …«

An dieser Stelle blickten wir unseren Vater zweifelnd an. Übertrieb er mit seinen Geschichten aus der alten Zeit? Er schien unsere Skepsis zu bemerken, denn er sah uns erst prüfend, dann streng, später grimmig an. Wir duckten uns. Sollte sich hier einer seiner berühmten Wutanfälle anbahnen? Nein, diesmal nicht. Er atmete tief durch und erzählte weiter. Wir erkannten ihn kaum wieder – der Gedanke an die alten Zeiten schien ihm so nahezugehen, dass er sogar seine üblen Launen vergessen konnte:

»Ich weiß nicht, ob das wirklich stimmt, diese Verwandtschaft mit den Wölfen, aber etwas Wahres könnte dran sein. Das Jagen lag uns im Blut, das mussten uns die Menschen nicht lehren. Ihr werdet es fühlen. Diese Sehnsucht, zu rennen, wenn ihr ein kleines wildes Tier vor euch seht. Dieses brennende Verlangen, es zu überholen. Es zu fangen, zu erwischen, zu zerbeißen, es …«

Vater atmete schwer. Seine Augen wurden größer und größer. Ängstlich duckten wir uns in das Fell unserer Mutter.

Unser Vater schien plötzlich in Gedanken versunken. Erst nach einer Weile sah er auf, sah uns an, blickte auf Mutter. Dann schüttelte er sich, als wäre er aus einem Traum erwacht. Murrte etwas Unverständliches, stand auf und ging weg. Offenbar war ihm die Erzähllaune abhandengekommen, und wir wagten nicht, ihn zum Bleiben zu überreden.

Stattdessen bestürmten wir unsere Mutter: »Zeig uns einen Wolf!«

Die schüttelte sich auch und wurde noch ernster: »Nein! Der Wolf will euch nichts Gutes …«

»Das ist egal, wir können gegen ihn kämpfen. Wir sind zu fünft, und mit euch sind wir sieben. Bitte!«

Mutter blieb hart, wie das ihre Art war: »Das geht nicht. Bei uns gibt es keinen Wolf. Aber seid nicht traurig, wir haben dafür Rehe und Katzen. Die kann ich euch zeigen, aber nur von der Ferne. Hier ist das anders als bei uns zu Hause. Es gibt einen großen Unterschied, den ihr wissen müsst, liebe Kinder: Früher durften wir Bären und Wölfe jagen. In unserer neuen Heimat herrschen andere Sitten und andere Menschen. Diese Menschen hier jagen alles selbst. Dafür haben sie eigene Waffen, die sogar dann töten, wenn ihre Beute weit entfernt ist, egal, ob das Rehe sind oder Füchse oder sogar Tiere, die oben im Himmel fliegen. Deshalb ist es uns verboten, selbst die kleinsten Tiere zu jagen. Nicht mal Katzen oder Eichhörnchen, höchstens Mäuse oder Ratten. Aber wenn ihr mir mit so etwas hier ankommt, gebe ich euch ein paar hinter die Ohren, worauf ihr euch verlassen könnt.«

An dieser Stelle protestierten wir lautstark – aber es nutzte nichts. Keine Katzen, keine Eichhörnchen! So riesige Tiere wie Rehe kannten wir nur vom Hörensagen, von der Ferne, vom Waldrand, aber eigentlich wussten wir nicht mal, was Rehe sein sollten. Ja, Mutter konnte streng sein:

»Schluss jetzt! Ihr seid zu jung, um das zu verstehen. Basta. Ab ins Stroh mit euch!«

Der Waldrand

So war unsere Kindheit gut geordnet. Alles in Butter, wie ihr so schön sagt. Nur zu Vater hatte ich kein ungetrübtes Verhältnis, aber das lag nicht an mir. Nun ist er längst tot, und es tut mir wenig leid um ihn. Das klingt hart, aber früher oder später hätte er mich sowieso getötet, also ist es besser so. Die Väter lieben ihre Söhne nicht. So ist das bei uns Barsois. Wir Söhne sind für sie Gegner. Wir zeigen unseren Vätern ihren eigenen Verfall, weil wir immer stärker werden und sie schwächer. Deshalb wollen sie uns ausschalten, solange sie das noch schaffen, und sie schaffen es lange. Außerdem versuchen sie es schon ziemlich zeitig. Ich glaube, ich war erst ein paar Monate alt, als mein Vater zum ersten Mal seine Zähne in den glücklicherweise damals bereits beachtlich dichten Fellmantel meiner Kehle versenkte. »Das war nur Spaß«, raunte mir meine Mutter ins Ohr, als ich noch starr vor Schreck im Stroh lag, »Das war nicht so gemeint«, aber ich wusste es besser. Sie übrigens auch, ich konnte das an ihren flackernden Augen merken, und daran, dass sie mich mit meinen Geschwistern eilig in den Nebenraum drängte.

Von da an war ich auf der Hut, sobald mein Vater in der Nähe war. Ich hatte nur zu genau gespürt, wie sich dieser »Spaß« anfühlte, und dieses eine Mal hatte mir genügt. Immerhin überlebte ich – und glaubt mir, mein Vater war kein Einzelfall. Unsere Chefin hatte offenbar schon Erfahrung mit solchen wie ihm. Sie schritt dementsprechend ein, legte meinem Vater eine Fessel um den Hals und führte ihn ab wie einen Gefangenen. Sie brachte ihn nicht weit weg, nur ein paar Schritte entfernt um die Ecke, aber es reichte, dass ich ohne große Sorge weiterleben konnte.

Unser Haus war nicht in einem Stück gebaut, sondern bestand aus mehreren Teilen. Zwischen denen gab es dünne Fäden, die sich sehr hart anfühlten. Sie waren zu einem Muster verflochten und reichten vom Boden aus ziemlich hoch, bis hinauf zum Himmel. Für uns waren sie undurchdringlich. Man konnte darauf herumbeißen und kauen, wie man wollte, die Dinger blieben unzerstörbar.

Ich begriff den Unterschied zwischen den beiden Seiten dieser Fäden nicht. Erst nach der Sache mit meinem Vater verstand ich, dass auf einer Seite draußen war, auf der anderen drinnen. Er schien das begriffen zu haben, denn er schmiss sich sofort gegen dieses Geflecht und versuchte, daran hochzuspringen und was weiß ich noch alles, aber er kam nicht durch – und wir hüteten uns natürlich davor, den Dingern zu nahe zu kommen.

Als wir Kinder größer wurden, mussten auch wir hinter das Geflecht. Wir dachten schon, wir wären wieder bei Vater. Der Schreck darüber fuhr uns ratzfatz in die Glieder, aber zwischen unserem und seinem Abteil war ebenfalls ein Fadengeflecht gespannt, und er konnte nicht zu uns herüber, sosehr er das versuchte.

Das dauerte, bis wir das richtig begriffen. Bis wir wieder an etwas anderes denken konnten als an ihn. Bis wir unseren Blick wieder über den Rand unserer Geflechte richten konnten. Zum Beispiel zum Waldrand. Zu den Tieren, die Rehe hießen.

Die faszinierten uns sofort. Ach was, sie bannten uns. Wir konnten sie kaum aus den Augen lassen, obwohl sie nur undeutlich zu sehen waren, so weit weg, wie sie standen. Sie waren groß und braun, sahen hell und zart aus und bewegten sich langsam, viel langsamer als wir. Sie schienen keine Eile zu haben. Sie sahen auch zu uns herüber, aber sie schienen sich nicht im Geringsten für uns zu interessieren. Sie beugten ihre Köpfe immer wieder zum Boden hinunter. Ich musste an unseren Vater denken. An seine Erzählungen von der Jagd, im alten Russland.

Im Geiste sah ich Barsois vor mir, in vollem Galopp. Ich sah sogar mich galoppieren, und ich sah Tiere vor mir flüchten, so schnell sie konnten. Das war ein wunderbares Wettrennen. Ich presste mich gegen das Geflecht, das ich nicht überwinden konnte, mein Mund stand offen, daraus rann es. Das spürte ich erst, als mir Tropfen auf die Pfoten fielen. Erstaunt sah ich an mir herunter – der Boden war nass, meine Beine troffen. Sollte das von mir kommen? Ich registrierte, dass mein Atem schwer ging. Ich war aufgeregt. Meine Zunge schwitzte. Ich wollte hinlaufen zu den Tieren, ich wollte sie haben.

Also stand ich da und starrte in die zunehmende Dämmerung. Was trieben die Tiere dort? Sie standen nur da und streckten die Köpfe mal in die Luft, mal auf den Boden. Sie starrten richtig lange auf den Boden. Sollte da alles voller Lulu von Freunden sein, das sie ableckten? Das hätte ich verstehen können, weil ich das selbst gerne tue: das lecken, was andere Hunde hinterlassen haben. Das schmeckt wunderbar, und es gibt mir wichtige Informationen über die Autoren. So nenne ich die Hinterlasser dieser Hinterlassenschaften, weil die mir eine Geschichte erzählen, meist sogar viele Geschichten: wer sie sind, wie sie sind, was sie wollen. Das ist wichtig für mich. Vielleicht war das bei den Rehen auch so. Oder gab es dort frische Häufchen zu beschnuppern? Stunden um Stunden studierten wir das Verhalten der sonderbaren Gestalten, bis wir ihnen endlich auf die Schliche kamen: Diese witzigen Gesellen fraßen Gras! Sie rissen alles aus, was um sie herum aus dem Boden wuchs. Es hatte lange gedauert, das zu verstehen, weil wir uns das nicht vorstellen konnten – Tiere, die Gras fraßen?! Habt ihr schon mal so etwas gesehen?

Noch spannender wurde die Sache, als Mutter eines Tages zufällig bemerkte, wo wir die ganze Zeit hinstarrten. Sie war nicht so jagdmäßig unterwegs wie unser Vater – zumindest hatte sie uns noch nie von der Jagd erzählt. Ich hatte aber das sichere Gefühl, dass sie genau wusste, was uns umtrieb. Und ich hatte das noch sicherere Gefühl, dass ihr das nicht recht war.

»Lasst bloß die Rehe in Ruhe«, zischte sie uns zu. Ganz leise, sodass es unsere Chefin, die auch in der Nähe war, nicht hören konnte – eine, wie ich meinte, übertriebene Vorsichtsmaßnahme, denn ich hatte das unbestimmte Gefühl, dass die Menschen unsere Sprache sowieso nicht verstanden. Natürlich sahen wir sofort vom Waldrand weg, weil wir unserer Mutter gehorchten, aber sobald Mutter uns aus den Augen ließ, starrten wir noch mehr zu diesen Tieren.

Bald danach passierte das Unerwartete – ich stand plötzlich auf der anderen Seite des Geflechtes. Ich konnte es mir anfangs selbst nicht erklären. Ich muss irgendwie durchgerutscht sein. Ich befand mich eindeutig auf der anderen Seite, ich war frei, aber noch viel zu jung, um etwas aus meiner neu gewonnenen Freiheit zu machen. Ich ging ein paar Schritte in der Richtung, in der eben noch die Rehe gestanden hatten, aber die waren nicht mehr zu sehen. Ich ging in die andere Richtung, doch auch dort konnte ich nichts erkennen. Sollten die Rehe weggelaufen sein? Hatten sie mich gesehen? Hatten sie Verdacht geschöpft? Ich ging zu Mutter, die es sich wie immer auf der Wiese hinter dem Haus bequem gemacht hatte, um sie danach zu fragen. Die schien sich überhaupt nicht über meine neue Freiheit zu wundern. So schnupperte ich dahin und dorthin, aber nichts passierte. Der Waldrand sah mich an, die Wiesen leuchteten zu mir herüber, das Menschenhaus stand still vor mir, das steinerne Band flimmerte in der Ferne. All das interessierte mich plötzlich nicht mehr. Es machte mir Angst, und ich wollte zurück zu meinen Geschwistern. Doch wo war die Lücke, durch die ich ausgebrochen war? Ich suchte und suchte, aber das Loch war nicht zu finden. Es war zum Verzweifeln. Mutter rührte sich nicht, sie sah nicht mal in meine Richtung. Wollte sie mich bestrafen? Verzweifelt wartete ich, bis der Mensch kam und mich aus meiner Freiheit rettete und wieder zurück zu meinen Brüdern und zu meiner Schwester brachte. So trist hatte ich mir die große weite Welt nicht vorgestellt, so einsam, ohne Geschwister, ohne Mutter, ohne Familie.

Eine Welt, die ich bald viel genauer kennenlernen sollte, als mir lieb war.

Die Entführung

So glücklich meine Kindheit war, so groß war die Angst vor Entführungen. Das klingt vielleicht merkwürdig – das Leben in einem beschaulichen Menschen- und Rehedorf in den österreichischen Bergen, und dazu solch eine Sorge?

Nun, ich war mit dieser Sorge nicht allein. Damals besuchten viele Menschen meine Familie. Ungeniert gingen sie zwischen dem Menschenhaus und unserem strohgefüllten Hundehaus hin und her, ohne Scheu sprachen sie auf Mutter ein, auf uns, sogar auf unseren Vater. Unsere Chefin ließ sie durch alle Geflechte gehen, ohne zu murren, ließ sie in jedes Abteil hineinsehen, sich dort breitmachen, als wären sie da zu Hause. Sie standen zwischen uns und hoben eines von uns Kindern auf, dann ein anderes und noch ein drittes. Sie waren ebenso schnell weg, wie sie gekommen waren, und wir Zurückgebliebenen mussten feststellen, dass eines von uns Geschwistern fehlte. Verzweifelt suchten wir unser Haus ab, durchwühlten das Heu, sprangen gegen die Geflechte, bellten, kläfften, weinten, was das Zeug hielt – aber der Bruder blieb verschwunden.

Wir bestürmten Mutter mit Fragen, doch die tat so, als wüsste sie nichts. Als ginge sie das Ganze nichts an, als hätten wir uns verzählt, als könnten wir unsere Geschwister nicht richtig auseinanderhalten. Wir waren jedoch sicher, dass einer von uns entführt worden war, todsicher. Wir konnten das zwar nicht beweisen, wir hatten keine Zeugen, und wir konnten auch nicht so gut zählen. Wir hätten nicht gewusst, wie viele Geschwister wir eigentlich waren, wir hatten nicht mal Namen füreinander, aber wir wussten felsenfest, wer da war, wer zu uns gehörte, und wer fehlte. So ging es zwei- oder sogar dreimal hintereinander, bis es immer ruhiger wurde in unserem Heuhaus. So ruhig, dass wir uns sorgenvoll fragten, ob das wohl so weitergehe mit den Entführungen. An diesen immer stilleren Abenden fragte ich mich auch, ob ich bald selbst an der Reihe sein würde.

Morgens waren diese düsteren Gedanken wie weggeblasen. Ich war froh, wieder einen neuen Versuch machen zu können, unter dem Geflecht durchzuschlüpfen, was mir mittlerweile gut gelang. Mir machte es Spaß, meine übriggebliebenen Geschwister hinter den Fäden zu beobachten, bei ihren erfolglosen Versuchen, auf meine Seite zu kommen. Mir gefiel es, mich großspurigst noch ein paar Meter zu entfernen, damit sie ihren Mangel umso deutlicher bemerkten. Ich wartete sehnsüchtig darauf, dass Mutter mich zurechtweisen würde, damit ich stolz widersprechen könnte, aber sie schien sich immer noch nicht für mich zu interessieren. Sie fixierte vielmehr das Ding, das über das steinerne Band herangerollt kam. Das sollte meinem Leben eine entscheidende Wende geben, aber das wusste ich in diesem Moment noch nicht. Ich interessierte mich für nichts anderes als für Kleinkram wie das Geflecht und wer auf welcher Seite war und wen ich noch ärgern könnte und wie die Tiere am Waldrand wohl aus der Nähe aussahen.

So beobachtete ich nur beiläufig, wie der rollende Kasten anhielt, auf allen Seiten Klappen aufgingen und Menschen ausstiegen. Ich drehte mich sofort weg – das waren fremde Menschen, mit denen ich nichts zu schaffen haben wollte. Möglicherweise waren das Entführer, durchzuckte es mich. Ich stand auf, um die Nähe meiner Mutter zu suchen, aber sie lag ohnehin direkt hinter mir. Gerettet. Ich konnte mich in aller Ruhe wieder niederlassen. Sollten sie nur kommen!

Die fremden Stimmen wurden immer lauter. Die hellen Stimmen mussten sehr jungen Menschen gehören, so schrill, wie sie klangen. Mir schwante Übles, denn die Menschenkinder bewegen sich viel und greifen überall hin und sind laut, das wusste ich schon. Manchmal lassen sie aber auch etwas Essbares fallen, doch das war das einzig Positive, das mir zu denen einfiel.

Diese beiden, die ich vor mir sah, waren nicht mehr soo jung. Ganz schön groß waren sie, aber noch nicht so groß wie ich, wenn ich mich aufstellen würde, auf die Hinterbeine, Vorderbeine auf den Brustkorb oder besser noch auf die Schultern des Menschen. Ich hatte das schon ausprobiert, das wurde immer von großem Hallo begleitet. Den meisten von euch kann ich in dieser Position nicht in die Augen sehen, weil meine dann ein Stückchen höher oben sind als eure.