Gestohlene Leben - Wladimir Klitschko - E-Book
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Gestohlene Leben E-Book

Wladimir Klitschko

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Beschreibung

Die bewegenden Schicksale der nach Russland entführten ukrainischen Kinder, ihrer Familien und ihrer Retter

»Diese Verbrechen gegen ukrainische Kinder sind ein Verbrechen gegen die gesamte Menschheit.« Dr. Wladimir Klitschko

Seit Beginn des Angriffskriegs wurden Tausende ukrainische Kinder aus ihrer Heimat nach Russland deportiert. Dort sind sie Zwangsadoptionen, Umerziehungslagern und Isolation ausgesetzt. Zurück bleiben Eltern, die verzweifelt versuchen, ihre Töchter und Söhne wiederzufinden.

Dr. Wladimir Klitschko und Tatjana Kiel prangern diese ungeheuerliche Kriegstaktik Russlands an. Ihr Buch lässt mutige Kinder und Jugendliche zu Wort kommen, die von ihren Schicksalen erzählen, von zerrissenen Familien und geglückten Rettungen, von verlorener Kindheit und dem Kampf für Freiheit.

  • Bewegende Schicksale von entführten ukrainischen Kindern und ihren Familien.
  • Tausende Opfer eines Verbrechens: Kinder werden ihren Eltern entrissen, ein Land wird seiner Zukunft beraubt.
  • Dr. Wladimir Klitschko und Tatjana Kiel kämpfen für die Rückholung der Kinder. Ihr Buch erzählt aufrüttelnd von dramatischen Fällen und geglückten Rettungen.

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Seitenzahl: 187

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Dr. Wladimir Klitschko

Tatjana Kiel

Gestohlene Leben

Die verschleppten Kinder der Ukraine

Unter Mitwirkung von Mykola Kuleba, Dörte Kruppa, Nina Paul und Sabine Oelmann

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Dataminings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

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Originalausgabe 2023

Copyright © 2023 by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Claudia Fritzsche

Umschlaggestaltung: wilhelm typo grafisch

unter Verwendung eines Fotos von: © privat

Alle Fotos: © privat

Satz: KCFG – Medienagentur, Neuss

ISBN: 978-3-641-31472-9V001

www.heyne.de

Für unsere Kinder.

Den Mutigen gehört die Welt.

Für unsere Teams

von #weareallukranians (#waau)

Dörte, Claudia, Anna, Nina, Alisa, Angelika, Miriam, Daniela, Nina, Antje, Nicola, Claudia, Nadine

von Klitschko Ventures

Astrid, Mathias, Nicole, Katharina, Carmen, Annika, Rebecca

von #SaveUkraine

Mykola Kuleba und Anastasia, Myroslava, Kateryna, Tetiana, Ksenia

Inhalt

Vorwort von Dr. Wladimir Klitschko

Vorwort von Tatjana Kiel

Serhii – Prophylaktische Gespräche

Maria und Artem – Eine junge Heldin rettet ihren kleinen Bruder

Viktor – Bombenalarm

Myroslava – Die Anwältin der Kinder

Kateryna – Völkermord

Svitlana – Wer vier Kinder ernähren kann, schafft auch sechs

Khrystya und Bohdan – Wenn du dein Kind zurückwillst, verlass deine Heimat

Zhanna und Lukas – Eine Patentante gibt nicht auf

Masha – Henitschesk war der Horror

Lyubov – Ich erinnere mich nicht mehr

Olena – Methoden entwickeln

Kateryna und Elizabeth – Der Feind in deinem Freundeskreis

Antonina – Dinge, die nicht zu erklären sind

Maryna und Vitaly – Ich werde niemals verzeihen können!

Oleksandr – Fluchtpläne eines 12-Jährigen

Olesya und Ostap – Ihr seid nicht allein!

Tetyana und Viktor – Mein Recht, Nein zu sagen

Fragen an Mykola Kuleba

Nachwort von Sabine Oelmann

Danksagung

Hintergrundinformation

Statement von Save Ukraine

Über die Mitwirkenden

Vorwort

von Dr. Wladimir Klitschko

Ich werde die Begegnung mit Yuri nie vergessen. Wie könnte ich seinen Blick vergessen? Diesen Ausdruck absoluter Unsicherheit, den jede seiner Bewegungen vermittelte? Yuri strahlte trotzdem eine echte Aura aus, eine gewisse Ruhe. In seinen Augen spiegelten sich Weisheit und Erfahrung wider. Und doch gab es eine Tatsache, die nicht zu all dem passte: Yuri war gerade einmal zehn Jahre alt.

Ja, er hatte den Blick derer, die zu viel gesehen haben. Wie all die anderen Kinder, die ich an diesem Tag im März 2023, ein Jahr nach dem Beginn der russischen Invasion gegen mein Land, traf. All diese Kinder, die mich wie Erwachsene ansahen, die in wenigen Wochen um zwanzig Jahre gealtert waren, die aber, wie ich spürte, jegliches Vertrauen in sich selbst verloren hatten.

All diese Kinder hatten tatsächlich ihre Reinheit, ihre Lebensfreude, ihre Unbeschwertheit, kurz gesagt, ihre Kindheit, verloren. Ich brauchte Zeit, um die Gewalt des russischen Angriffs zu verarbeiten, der am 22. Februar 2022 begonnen hatte. Aber ich verstand sehr schnell, dass russland nicht einfach den Norden der Ukraine angriff, um unsere Hauptstadt zu erreichen oder den Osten und den Süden, sondern vor allem seine Zukunft. russland will die Ukraine von der Landkarte tilgen, und um die Ukraine zu zerstören, muss es ihre Zukunft und damit ihre Jugend zerstören. Ich schreibe hier bewusst russland, denn eine sogenannte Großmacht, die einem freien Volk wie der Ukraine das Existenzrecht abspricht und viele andere angegriffen und bedroht hat, verdient es nicht, großgeschrieben zu werden.

Diese Verbrechen gegen ukrainische Kinder sind ein Verbrechen gegen die gesamte Menschheit. Diese Verbrechen sind Teil einer Reihe umfassenderer Verbrechen: Folter und Deportation von Kriegsgefangenen, Folter und Massaker an Zivilisten, vorsätzliche und gezielte Angriffe auf Infrastruktureinrichtungen. Das Zentrum für Bürgerliche Freiheiten (Центр громадянських свобод), die ukrainische NGO und Trägerin des Friedensnobelpreises 2022, hat mehr als 26.000 Gräueltaten aufgezählt.

Diese Zahlen sind nur die Spitze des Eisbergs. Sie beziehen sich nur auf die Gebiete, die von der ukrainischen Armee zurückerobert wurden. In allen besetzten Gebieten ist es nicht möglich, diese Arbeit durchzuführen.

Um es hier klar zu sagen: Dieser Krieg wird nicht nur gegen das ukrainische Militär geführt, sondern auch direkt und vorsätzlich gegen die ukrainische Zivilbevölkerung. Darüber hinaus wird dieser Krieg nicht nur von Wladimir Putin, sondern von ganz russland geführt. Ich bedauere dies, aber es ist nun einmal so. Meinungsumfragen zeigen, dass eine Mehrheit der Bevölkerung die Politik russlands in diesem Bereich unterstützt. Zwar werden Proteste völlig unterdrückt, aber die Wahrheit ist, dass es zwar Gegner gibt, diese aber in der Minderheit bleiben.

russland hat in diesem Krieg jeden moralischen Kompass verloren. Es glaubt, dass es sich im Krieg gegen die »Kräfte der Dekadenz« befindet. Und einige Redner gehen so weit, dass sie den Westen mit Satan gleichsetzen. Es gibt wirklich messianische und eschatologische Anklänge, die insbesondere, aber nicht nur, von der russisch-orthodoxen Kirche und Patriarch Kirill vertreten werden. Es ist die Vorstellung, dass in der Ukraine ein heiliger Krieg ausgetragen wird.

Diese imperialistische und religiöse Ideologie hat also ein klares und öffentlich bekundetes Kriegsziel: die Leugnung der ukrainischen Nation und des Rechts der Ukraine, als souveräner Staat zu existieren.

Die Schäden dieses Wahnsinns sind für mein Land schrecklich. Wir haben Zehntausende von getöteten Zivilisten zu beklagen. Frauen, Kinder, niemand bleibt verschont. Krankenhäuser, Schulen, Häuser, Museen, kein Gebäude ist sicher. Die menschlichen Schäden sind beträchtlich, aber auch die materiellen. Letztere werden auf über 50 Milliarden US-Dollar geschätzt. Es gibt über 3000 Hektar verbrannte Wälder, verseuchte Flüsse und vergiftete Böden. russland versucht, nicht nur einen Genozid, sondern auch einen Ökozid durchzuführen.

Dieser Krieg ist ein totaler Krieg, der gegen das ukrainische Volk geführt wird. Manchmal wird gesagt, dass die Wahrheit das erste Opfer eines Krieges ist. Das stimmt, besonders wenn russland diesen Krieg plant und führt, indem es Propaganda wie kein anderer einsetzt. Aber ich möchte hinzufügen, dass das unerträglichste Opfer eines Krieges die Kinder sind. Denn russland hat beschlossen, diesen Krieg auch gegen die ukrainischen Kinder zu führen, nach bestem Wissen und Gewissen, mit einem genauen Plan, der systematische Deportationen und Zwangsadoptionen in astronomischen Größenordnungen vorsieht.

Natürlich sind auch in anderen Konflikten Zivilisten und damit Kinder Opfer, und manchmal werden Kinder systematisch entführt, wie zum Beispiel im argentinischen Bürgerkrieg zwischen 1976 und 1983, was damals als »Fall der gestohlenen Babys« bezeichnet wurde, da die Diktatur die Kinder politischer Gegner entführte. Doch hier setzt russland eine systematische und detaillierte Staatspolitik von ganz anderem Ausmaß ein, um die ukrainische Jugend auszurotten. Das ist auch der Grund, warum die internationale Justiz diese Politik zu ihrem Hauptanklagepunkt gemacht hat.

russland greift ukrainische Kinder an, um die Ukraine zu töten, aber auch, um russland zu retten, das unter einem erheblichen Geburtendefizit leidet. Die Lebenserwartung von Männern im Alter von 15 Jahren ist dadurch um fünf Jahre auf das Niveau von Haiti gesunken. Die russische Bevölkerung nimmt immer weiter ab. Zum niedrigen Niveau des öffentlichen Gesundheitswesens und dem endemischen Alkoholismus kam dann in den letzten Jahren auch noch die Covid-Epidemie. Darüber hinaus haben Hunderttausende junge Menschen, meist die am besten ausgebildeten, das Land bereits vor dem Ausbruch des Krieges verlassen.

russland, das die Grundsätze des Völkerrechts mit Füßen tritt, obwohl es ständiges Mitglied des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen ist, sollte aus den Reihen der zivilisierten Nationen verbannt werden. Die Aggression gegen die Ukraine hat nichts mehr mit Zivilisation zu tun. Der Beginn dieses Krieges markierte das Ende der Zivilisation für unser Land. Die internationale Gemeinschaft kann dies nicht länger tolerieren.

Dieser Krieg ist der blanke Wahnsinn. Die internationale Gemeinschaft ist verpflichtet, diese grausamen Verbrechen anzuprangern und nicht nur die ukrainischen Kinder, sondern auch die Zukunft des Weltfriedens zu retten. Die Ukraine kämpft auch für die Grundsätze des Völkerrechts, für die Freiheit der Völker und die Souveränität von Ländern auf der ganzen Welt.

Ich werde bis zum Ende kämpfen. Mein Bruder wird bis zum Ende kämpfen. Das gesamte ukrainische Volk wird bis zum Ende kämpfen. Denn für uns ist der Preis der Knechtschaft viel höher als der Preis des Krieges.

Die internationale Gemeinschaft ist nicht untätig. Sie unterstützt die Ukraine in dieser existenziellen Prüfung, und ich möchte hier und zum Abschluss all unseren Verbündeten danken, die uns mit Hilfsgütern und Waffen zur Seite stehen, damit wir uns und unsere gemeinsamen Prinzipien und Werte verteidigen können. Das deutsche Volk hat in diesem Krieg eine Seelengröße bewiesen, die es von Anfang an und für immer zu einem Brudervolk des ukrainischen Volkes macht.

Ich möchte auch die außergewöhnliche Arbeit derjenigen würdigen, die sich für die Rettung und Rückführung der deportierten ukrainischen Kinder einsetzen. Sie sind Helden und Retter und geben uns das Vertrauen in die Menschlichkeit zurück. Auch ihnen zollt dieses Buch Respekt.

Lesen Sie also dieses Buch. Erfahren Sie mehr über diese Kinder und ihre Familien, was sie erlebt und was sie überlebt haben. Diese Geschichten erzählen auch von Ihnen. Von unserer gemeinsamen Menschlichkeit. Von dem Schlimmsten und dem Reinsten, das sie in sich trägt. Aber lassen Sie sich nicht von der Traurigkeit überwältigen. Schöpfen Sie aus diesen Dramen den Willen, die Farben des Humanismus und der Freiheit hochzuhalten! Helfen Sie uns, die Invasoren zurückzudrängen und unsere Würde wiederzuerlangen. Helfen Sie uns, den ukrainischen Kindern, die zu schnell erwachsen geworden sind, ein wenig Freude und ein kleines Stück Zukunft zu geben. Helfen Sie uns, diesen Angriffskrieg zu beenden, der schon viel zu lange dauert.

Lang leben die ukrainischen Kinder! Es lebe die freie und souveräne Ukraine!

Slava Ukraini! Ruhm der Ukraine!

Vorwort

von Tatjana Kiel

Heroiam slava! Ruhm der Helden!

Die Szene spielt am 23. Februar 2023 in Moskau im Luschniki-Stadion. Dort findet ein »patriotisches Konzert« statt, um die russischen Soldaten zu ehren, die in der Ukraine im Einsatz sind. Plötzlich erscheint eine Gruppe von Kindern auf der Bühne, die von einem Soldaten begleitet werden. Das Mädchen, das das Mikrofon ergreift, wird als Anna Naumienko vorgestellt.

»Danke, Onkel Juri, dass du mich und meine Schwester aus Mariupol gerettet hast, wie Hunderttausende andere Kinder auch … Ich habe ein wenig vergessen …«

Das Mädchen scheint ihren Text nicht mehr zu wissen. Die Moderatorin versucht, das Ruder wieder in die Hand zu nehmen: »Komm, kleine Anna, hab keine Angst. Du kannst zu ihm gehen und ihn in den Arm nehmen.«

Die Kinder umkreisen daraufhin »Onkel Juri« (sic), ihren vorgeblichen Retter.

Diese Szene ist ein perfektes Beispiel für das Narrativ, das das russische Regime zu verbreiten versucht. Das Tragische verbindet sich in dieser Szene mit dem Absurden. Russland hält ukrainische Kinder nicht nur für Kriegsbeute, sondern macht sie auch zum Spielball seiner Propaganda.

Alles an dieser Szene ist falsch. Selbst der Name des Mädchens. Dies ist eine gängige Praxis der Behörden, die durch einen Präsidialerlass (Ukas) am 30. Mai 2022 eingeleitet wurde, um das Adoptionsverfahren für ukrainische Kinder zu beschleunigen und auf eine Dauer von 24 Stunden zu verkürzen. Auch das Wort »Adoption« wird missbraucht: Es handelt sich schlicht und einfach um Entführung. Der Erlass erlaubt es, das Geburtsdatum, den Geburtsort und den Namen des jeweiligen Kindes zu ändern. Das Ziel ist klar: Es soll ukrainischen Eltern unmöglich gemacht werden, ihre Kinder zu identifizieren und am Ende wiederzufinden.

Russland will nicht nur die familiäre Vergangenheit dieser Kinder auslöschen, sondern auch ihre nationale Vergangenheit, sie wollen sie russifizieren und ihnen die russische Sprache und Kultur beibringen. Es gibt unzählige Zeugenaussagen, die von den langen Stunden berichten, in denen die Kinder in den Internierungslagern russische Propagandafilme ansehen mussten. Eine echte Gehirnwäsche. Filme über die »Schönheit« Moskaus und manchmal sogar Filme über den »Großen Vaterländischen Krieg«. Kindern, die Bombenangriffe erlebt haben, Kriegsfilme zu zeigen, war ein gewagtes Unterfangen. Russland hat es getan. Russland erkennt keine staatlichen Grenzen an und Russland hat keine moralischen Grenzen.

Dieser von Russland am 22. Februar 2022 ausgelöste Krieg schockierte die Welt und ließ Europa erstarren. Ich habe diesen Tag wie einen 11. September erlebt. Ich kann mich noch genau an jedes Detail dieses Tages erinnern: Mein Herz wog plötzlich tonnenschwer, alles war in Zeitlupe und kalter Schweiß rann mir unaufhörlich den Rücken hinunter. An diesem Tag brach der Krieg vor unserer Haustür aus, nicht in unserem Land, aber bei uns, in Europa. Für mich ist Krieg die Niederlage der menschlichen Zivilisation. Ein Anachronismus. Eine Abscheulichkeit. Mein Land Deutschland hat sich um die Idee des Pazifismus herum wieder aufgebaut. Und zu sehen, wie die Raketen den Himmel füllen, wie sich die Panzer vor den Toren Kyivs stauen, all das ist für mich ein Albtraum im Wachzustand, der am Donnerstag, dem 24. Februar 2022, begann. Ein Albtraum, der bis heute anhält.

Wladimir hatte bereits im Dezember davor beschlossen, zu seinem Bruder Vitali zu ziehen. »Ich kann nicht anders.« Natürlich hätte er auch in Deutschland oder den Vereinigten Staaten bleiben können. Es wäre für beide einfach gewesen, zu fliehen, doch das war keine Option, nicht mal ein Gedanke. Sich der Situation zu stellen, war die logische Konsequenz. Diese Kraft, dieser Mut, diese Haltung haben mir gezeigt, wie wichtig die innere Überzeugung im Leben ist. Ich kenne die beiden Brüder seit 17 Jahren. Ich habe ihre Kämpfe mitorganisiert, aber ich habe gespürt, dass dieser Kampf hier etwas ganz anderes ist. Es ging und geht um die Freiheit ihres Volkes und die Zukunft ihrer Familien. Ich erkannte sofort den eisernen Willen wieder, der sie im Ring auszeichnete. Dieser Krieg wird lang sein, aber ihre Ausdauer wird Niederlagen, Tragödien und Dramen überwinden.

Tragödien und Dramen gibt es in diesem Krieg reichlich. Russland hatte schnell begriffen, dass seine Armee nicht in der Lage war, die ukrainische Armee vor Ort zu besiegen und das gesamte Territorium einzunehmen, und entschied sich für die Strategie des Terrors, indem es absichtlich Zivilisten bombardierte. Und dann ist da noch der Krieg im Krieg, der gegen Frauen geführt wird. Vergewaltigung als Kriegswaffe. Vergewaltigung, um die Seelen der Frauen und den Willen des Volkes zu brechen.

Da Wladimir und Vitali in Kyiv waren, stellte ich mir keine Fragen, ich wollte ebenfalls handeln, mit meinen Mitteln, von Hamburg aus, von Deutschland aus. Ihre Willensstärke und ihr moralisches Vorbild haben im Laufe der Jahre auf mich abgefärbt. Ihnen und den Opfern des Krieges zu helfen, das war eine riesengroße Herausforderung und zugleich eine klare Selbstverständlichkeit. Und am Ende eine einfache Frage: »Was braucht ihr?«

Die Aufgabenteilung erfolgte automatisch. Da sie an vorderster Front und im Herzen des institutionellen Apparats vor Ort waren, hatten sie einen genauen Überblick über die Bedarfe und Bedürfnisse. Ich habe mich also auf die Zusammenstellung der materiellen und humanitären Hilfe und deren Weiterleitung konzentriert. Und eine Plattform für Bedarf und Angebot auf die Beine gestellt. #WAAU war geboren: »We Are All Ukrainians«, »Wir sind alle Ukrainer«.

Ich wurde nicht als Ukrainerin geboren. Ich bin es geworden. Und ich aktivierte das Partnernetzwerk, das wir mit Wladimir seit Jahren in Deutschland etabliert haben und pflegen, um die Aufmerksamkeit des deutschen Volkes und der deutschen Wirtschaft auf das tragische Schicksal der ukrainischen Zivilopfer zu lenken. Wir wussten nicht, dass es möglich ist, so viele Hilfsgüter zu transportieren. Deshalb haben wir es getan. So effektiv, dass uns einige Ministerien und NGOs gefragt haben, wie wir das machen. Das perfekte Gleichgewicht zwischen Bedarf und Angebot und ein großartiges Team, das durch einen präzisen Prozess unterstützt wird, sind nur ein Teil der Antwort. Die wahre Antwort liegt in der überwältigenden Solidarität, die die deutsche Bevölkerung gezeigt hat und immer noch zeigt, und in der Bereitschaft unserer Unternehmen, sich gesellschaftlich zu engagieren. Ein bisschen Trost in diesem Ozean der Tragödie.

Und inmitten dieses völlig entfesselten Ozeans liegt das Schicksal der Kinder. Das ist der Gegenstand dieses Buches. Der Krieg ist eine Tragödie. Er ist die Hölle auf Erden. Junge Soldaten und Soldatinnen sterben. Eine unhaltbare Verschwendung von Menschen. Von Kräften und Talenten, die in der Zukunft und insbesondere beim Wiederaufbau fehlen werden. Man könnte sagen, dass sie ihre Pflicht tun, um ihr Land zu verteidigen. Aber wenn Zivilisten explizit ins Visier genommen werden, ist das ein Verbrechen. Dass Frauen systematisch vergewaltigt werden, ist ein schreckliches Verbrechen. Dass Kinder vor den Augen ihrer Eltern vergewaltigt werden, ist ein unermessliches Verbrechen. Und dass Kinder ihren Eltern entrissen und nach Russland deportiert werden, ist ein unermessliches und unverzeihliches Verbrechen.

Es geht nicht darum, eine Abstufung dieser Verbrechen vorzunehmen, sondern darum, einfach zu sagen, dass Kinder besondere Opfer sind und daher auch die Tragödien, die sie erleiden, besondere sind. Ein Kind ist Unschuld pur. Ein Kind ist rein. Reine Hoffnung, reines Potenzial. Es ist eine Zukunft, die sich noch entwickeln muss. Und das ist es, was die russischen Invasoren zerstört haben, indem sie die Kinder angriffen. Gestohlene Zukünfte sind das Verbrechen, das begangen wurde.

Russland schämt sich nicht für diese grausamen Verbrechen. Wie wir gesehen haben, nutzt Russland diese Deportationen, um seine Propagandamaschine zu füttern. Russland führt in der Ukraine keinen Krieg, sondern eine »Sonderoperation«. In diesem Sinne stiehlt Russland auch keine Kinder, sondern »rettet« sie.

Bei der Verkündung des Präsidialerlasses vom 30. Mai 2022 tritt eine Frau neben Wladimir Putin im Fernsehen auf. Marija Lwowa-Belowa, die russische Kinderrechtskommissarin (sic), erklärt, dass »die Kinder im Donbass sehr leiden« und dass die »Rettung« gut verläuft. Stolz weist sie darauf hin, dass sie einen 15-jährigen Jungen aus Mariupol »adoptiert« hat. Woraufhin Putin sagt, dass »Liebe wichtig ist«. Willkommen in Absurdistan. Und das Beste: Diese Frau plant, eine Plattform für … Matching zwischen Kindern und Eltern einzurichten. Mir wird übel. Kurz gesagt, sie plant eine Art #WAAU für Kindesentführungen: WAAK, »We are all kidnappers« …

Russland bekennt sich also öffentlich zu dieser Politik der Zwangsadoptionen. Das Ziel ist klar: Es handelt sich um eine umfassende Politik zur Zerstörung der ukrainischen Identität. Wer einer Gesellschaft die Kinder stiehlt, versucht, sie zu zerstören.

Aber von wie vielen Kindern sprechen wir hier? Es ist schwierig, darauf eine genaue Antwort zu geben. Das liegt vor allem daran, dass Russland diese Zahl auch als Propagandamittel eingesetzt hat. Zu Beginn des Konflikts sprachen die offiziellen russischen Agenturen von 500.000 Kindern. Russland bläht diese Zahl zweifellos auf, um seine Macht zu demonstrieren und zu erklären, dass diese Zahl ein Beweis für die Unterstützung seitens der Zivilbevölkerung sei, die damit das russische Mutterland anerkennen würde.

In der Ukraine nennt das Nationale Informationsbüro die genaue Zahl von 19.592 Kindern, wobei es sich hier auch um vollständige Akten mit Namen, Alter und Aufenthaltsort handelt. Die Gesamtzahl der Entführungen liegt wahrscheinlich viel höher. Die Situationen sind vielfältig: Kinder aus zerbombten Städten, deren Eltern tot sind; Kinder, die in den von der russischen Armee eroberten Gebieten zwangsweise von ihren Eltern getrennt und nach Russland geschickt wurden; Kinder, die von ihren Eltern in Ferienlager gebracht wurden, um dem Krieg zu entfliehen, oder Kinder, die in Waisenhäusern untergebracht wurden.

Alles deutet darauf hin, dass Russland nicht die Absicht hat, diese Kinder zurückzugeben. Wie sich gezeigt hat, will es eine Identifizierung der Kinder in Zukunft nahezu unmöglich machen und hat sie auf mehr als 57 Regionen in Russland verteilt, manchmal Tausende Kilometer von der Ukraine entfernt.

Die internationale Gemeinschaft hat endlich das Ausmaß und die Schwere des Verbrechens erkannt. Am 17. März 2023 erließ der Internationale Strafgerichtshof Haftbefehl gegen Russlands Präsidenten Wladimir Putin sowie … Marija Lwowa-Belowa. Ja, diese Frau, die im Staatsfernsehen erschien, um den abscheulichen Präsidialerlass vom 30. Mai 2022 zu verkünden, der moralisch eine Schande ist, aber auch ein klarer Beweis für die Politik, die der russische Staat aktiv betreibt, und der die Verantwortungskette deutlich macht. Ja, ein »Beweis«, denn die internationale Justiz muss und wird sich einmischen.

Vor etwas mehr als einem Jahr leitete der Internationale Strafgerichtshof eine Untersuchung ein, um die Verantwortung von Wladimir Putin als »Kriegsverbrecher« zu dokumentieren. Dabei ging es um die Bombardierung von Zivilisten in städtischen Gebieten. Zwölf Monate später erließ das internationale Gericht – in Rekordzeit – tatsächlich einen Haftbefehl gegen den russischen Präsidenten, allerdings aus einem anderen Grund: »die illegale Abschiebung und Überstellung ukrainischer Kinder aus den besetzten Gebieten in die Russische Föderation«.

Jenseits der Zahlen, jenseits des langen Weges der internationalen Justiz, spielen sich menschliche Dramen ab. Wir haben versucht, in diesem Buch einige dieser Geschichten, einige dieser gebrochenen Schicksale, dieser gestohlenen Leben zusammenzutragen. Manchmal erzählt von den Eltern und Kindern, manchmal von den großartigen Menschen, Privatpersonen wie in Institutionen tätigen, die sich in diesem Kampf engagiert haben, um zu versuchen, die Kinder zurückzubringen. Es gibt Erzählungen, die gut ausgehen, bei denen man aber auch sieht, dass der Schaden bereits angerichtet ist. Es gibt Geschichten, die noch nicht zu Ende sind, wo die Hoffnung noch überlebt, dass die Kinder zu ihren Angehörigen, ihren Eltern und Großeltern zurückkehren werden.

Ein Schicksal hat mich persönlich berührt, und ich möchte dieser starken Frau dieses Vorwort widmen. Es ist die Geschichte von Oksana, einer Soldatin, und ihrer Tochter, die von ihrem Bruder nach Russland gebracht wurde, was Oksana über Monate nicht erfuhr. Sie hatte ihre Tochter monatelang nicht gesehen und lag schwer verletzt im Krankenhaus. Dieses Mädchen zurückzuholen, war eine besondere Herausforderung, da ihre Mutter als Soldatin sie nicht aus Russland abholen konnte.

Als wir informiert wurden, dass die Rückholung geglückt war und ich das Bild sah, das Gesicht des Mädchens halb verdeckt in der Umarmung der Mutter und eine einzelne Träne auf ihrer Wange, überkam mich eine Erleichterung, als wäre sie mein eigenes Kind. Das war der Moment, in dem das Bedürfnis in mir aufkam, dieses Buch zu schreiben, mit einigen Geschichten, die zeigen, wie durch Krieg und Kriegsführung die Zukunft so vieler Kinder und Menschen gestohlen wird, und wir doch immer wieder sehen, wie sehr es sich lohnt, zu kämpfen, weil es sich lohnt, alles zu geben, auch wenn es nicht das eigene Kind ist. Um Hoffnung zu geben in einer unüberschaubaren Situation. Um Zusammenhalt zu demonstrieren, um Haltung zu zeigen und Mut zu lernen. Denn das können wir – alle.

PS: Das Mädchen heißt Ewa und ist das Mädchen auf unserem Cover. Gern hätten wir sie als Geschichte mit in diesem Buch gehabt. Leider ist der Kontakt abgebrochen.

Die Gespräche mit den Menschen, die in diesem Buch zu Wort kommen, wurden von Sabine Oelmann geführt und zu Papier gebracht.

Um sie zu schützen, wurden die Namen und Fotos von Personen geändert beziehungsweise verfremdet, wie auch manche Ortsangaben.

Die Geschichten ihrer Erlebnisse wurden nach bestem Wissen und Gewissen aufgezeichnet und übersetzt – sollte es dabei zu Fehlern gekommen sein, bitten wir um Entschuldigung.

Serhii, 16 Jahre

Heimat: Die Familie kommt aus Cherson.

Aufenthalt in Camps: Oktober 2022 bis Mai 2023