Gestrandet im Paradies - Claudio Sieber - E-Book

Gestrandet im Paradies E-Book

Claudio Sieber

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Beschreibung

Alltag, Karriere, Familie, Freundschaften, Versicherungen und das vorab bezahlte Sockenabo – all das lässt der Schweizer Claudio Sieber zurück, als er sein Leben als Vagabund beginnt. Seit mehr als sechs Jahren lässt er sich als Abenteurer und Journalist durch Asien und Ozeanien treiben, um am Ende auf Siargao zu landen, seinem persönlichen Paradies. Angekommen in seiner selbstgebauten Holzhütte blickt er zurück auf seine Reisen, die er mal zu Fuß, mal per Motorrad und mal auf einem kleinwüchsigen Pferd zurückgelegt hat. Ehrlich und reflektiert erzählt er, wie er die Länder nicht nur abgehakt, sondern ausgekostet hat – und warum es sich lohnt, auf dem Weg zum Ziel

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CLAUDIO SIEBER

Wie ich sechs Jahre als Nomade durch Asien zog und meine Heimat auf einer Tropeninsel fand

Inhalt

Cover

Titelblatt

Einleitung

Nepal

Kathmandu

Annapurna

Gokyo

Myanmar

Yangon

Naypyidaw

Der Chin-Staat

Bagan

Seemannsgarn

(Flussfahrt von Norden nach Süden)

Thailand

Bangkok

Chiang Mai

Mae Hong Son

Laos

Luang Prabang

Muang Sing

Von Phongsali nach Boun Tai

Vientiane

Pakse und die 4.000 Inseln

Kambodscha

Von Banlung nach Siem Reap

Battambang

Tonle Sap

Phnom Penh

Von Kampot bis Sihanoukville

Vietnam

Von Phú QuốC via Mekongdelta nach Ho Chi Minh

Von MũI Né bis Đà Lạt

Lý Sơn

Von HộI An über Đà Nẵng bis Huế

Der Ho-Chi-Minh-Pfad

Cát Bà

Von Sơn La über MộC Châu, Mù Cang ChảI und Sìn Hồ bis BắC Hà

Hồng Quang

Von Đồng Văn nach Nà Vần

Von Bản GiốC nach BắC Sơn

Hanoi

Malaysia

Von Perlis über Kedah nach Penang

Von Perak nach Kelantan

Von Terengganu über Pahang nach Johor

Melaka

Kuala Lumpur

Sarawak

Brunei

Sabah

Indonesien

Projekt Robinson

(Isla Incógnita / Sumatra)

Sumatra

Von Java nach Makassar

Toraja

Bali

Flores

Osttimor

Dili

Von Balibo Vila nach Suai

Von Maubisse nach Los Palos

Philippinen

Manila

(Teil 1)

Visayas Inselgruppe

Siargao

(Teil 1)

Leyte

Cordilleras

Manila

(Teil 2)

Siargao

(Teil 2)

Gestrandet im Paradies

Cover

Titelblatt

Einleitung

Philippinen

Gestrandet im Paradies

Cover

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Back Cover

Einleitung

Worin liegt die Motivation des Typus »Ausbrecher«? Ist es der Wunsch, Vertrautes gegen Exotisches zu tauschen? Drückt das gesellschaftliche Korsett oder streben wir danach, endlich über die vermaledeite Zeit zu bestimmen? Ist es FOMO (»fear of missing out«) oder droht der Burnout? Für die Beweggründe eines Abschieds gibt es keine Uniform, homogen ist lediglich das Entfachen eines Gedankens – ein Impuls, der irgendwann in chronisches Verlangen übergeht. Wer sich diesem Ansporn hingibt, findet sich eher früher als später anderswo wieder – auf einem schroffen Bergpfad in Patagonien, in Bangkoks verruchten Sois oder in der Hängematte unter einer Tropenpalme.

Jahrelang behelligte mich ein wiederkehrender Traum, in dem ich unermüdlich versuchte, vom Boden abzuspringen und zu fliegen. Gelang es mir, fuhr wilde Ekstase ins Unterbewusstsein. Lange genug war ich aber nie in der Luft, um die Schwerelosigkeit vollends genießen zu können, die Erdgravitation zerrte mich immer wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. Dank der Scheidung von meinem alten Ich, darf ich nun fortan »fliegen«. Leichtfüßig fröne ich dem süßen Leben und realisiere dabei instinktiv meine mannigfaltigen Träume. Mein »well-being«, so hat mich die Befreiung vom Vortex einer rigorosen Leistungsgesellschaft belehrt, ist die Flexibilität zu entscheiden, wann ich was wie tun möchte, wann aufstehen, wann die Dinge unerledigt lassen, kurzum: das Verpfuschen vom prominenten Konzept »Pflicht und Kür«. Was man nicht hat, will man. Ich wollte mehr Muße, und als Quittung für meinen Anspruch wurde mir die märchenfremde Welt mit all ihren Mysterien präsentiert.

Die Memoiren aus dem Morgenland appellieren ungeschönt an die bewährte Denkhaltung, bestenfalls helfen sie aber dabei, endlich Schluss zu machen; mit der Angst vor Fremdem, mit eingeredeten Grenzen, mit der Komfortzone, mit der Fristung von Glückseligkeit.

Für dich, meine neue Heimat.

»Wenn man sich erst einmal auf den Weg gemacht hat, entwickelt die Reise ein Eigenleben und liefert uns je nach unserer Neugierde, unserem Staunen oder unserem Aufbegehren genügend Gründe, um sich anderswo umzusehen. Was ganz besonders für die Reise in Asien gilt.«

Nicolas Bouvier

Eine der vielen Stupas in Kathmandu, die Buddha selbst und seine Lehre, den Dharma, symbolisiert.

Nepal

Juni bis August 2015

Wie eine gescheiterte Liebesbeziehung einer Wiedergeburt gleichkommen kann. Ein Rückblick auf den Ausstieg sowie ein Einblick in eines der faszinierendsten Reiseländer Asiens, und das zu einer Zeit, in der sich Nepal neu erfindet, aber von medialer Sensationslust abermals zurückgeworfen wird.

Kathmandu

Drei Zentimeter ist der Mount Everest verrückt. Ein medialer Hammerschlag! Selbst der größte Stein der Welt wackelt. Postwendend hat Indien die Ereignisse im Nachbarland zur sensationsgierigen TV-Satire umgekrempelt. Untermalt mit dem landestypischen Kopfwippen werde ich ermahnt: »Sir, Nepal ist kaputt«, schlimmer, »finished!« Besser sei es doch für mich, in Nordindiens Abenteuerdorado Ladakh zu verweilen oder lieber an einen Ort zu reisen, wo das Risiko, von fallenden Felsen erschlagen zu werden, geringer sei. Ich buche meinen Flug wenige Wochen nach den heftigen Erdbeben im Himalaya zwischen April und Mai 2015, das Nepal abermals in eine Krise stürzt.

Das traditionelle Septum-Piercing hat den Wandel der Zeit überlebt, es ist nach wie vor ein beliebtes Schmuckstück bei Frauen.

Kathmandu. Ich gewöhne mich schnell an die reizüberflutende Innenstadt Thamel mit ihren sichtversperrenden Reklameschildern, die entweder auf Bergsteigerutensilien »faked in China« oder interkontinentales Vielerlei deuten. Gewöhne mich gezwungenermaßen ebenso an das Abschotten aller Atemwege, sobald wieder eine dunkelschwarze Abgaswolke die Straße flutet. Auch an das abendliche Jaulkonzert der Straßenhunde. Das Umherhetzen im Zickzack, um nicht Opfer einer Handrikscha, eines klapprigen Kleinwagentaxis oder eines aufdringlichen Drogendealers zu werden. Kathmandu schwappt schamlos in alle Richtungen, allerhöchstens dirigiert vom unverwechselbar charmanten Chaos orientalischer Metropolen. Korrekt: Wer hier strandet, will eigentlich nur noch raus – raus in Nepals atemberaubende Natur, auf Tuchfühlung mit den sagenumwobenen Gebirgszügen des Himalaya. Als einziger Gast spuke ich durch Saputs Hotel. Seine rechte Hand wühlt im abendlichen Dal Bhat, dem nahrhaften Nationalgericht aus Reis, Linsen und gedämpftem Gemüse. Mit der anderen zitiert er mich zu sich. Saput und seine Hotelierkumpane sind betrübt. Touristen würden ausbleiben, alle Buchungen für die nächsten Monate seien storniert worden. Zwei Mitarbeiter habe er bereits abbauen müssen. »Eine Reiseagentur, die Baracken und traurige Gesichter bewirbt, muss erst noch erfunden werden«, tadelt Saput die Auswirkungen der journalistischen Dramatisierung. Seit dem desaströsen Beben präsentieren die Massenmedien beherzt und konsequent Nepals angeschlagene Seite: die zerfallenen Dreck-Stein-Kompositionen der Armen, das angeknackste Weltkulturerbe Kathmandu Valley und natürlich die vielen Verwundeten. Humanitäre Katastrophen haben schon immer Quoten gemacht. Den Trotzigen wundert’s: die Berge stehen, Kathmandu steht, Nepal steht. Was nicht steht, sind ein paar Häuser fernab vom wohltuenden Tourismus, der dem nepalesischen Volk nun für das restliche Jahr verwehrt bleibt. Auch wankt das Vertrauen in die eigene Regierung. Spätestens heute ist man sich einig: solche Katastrophen werden regelmäßig zur Bereicherung korrupter Politiker genutzt.

Ein Mönch huscht durch Kathmandus Gassen.

Wie üblich plane ich die nächsten Schritte in einem Kaffeehaus, will allein, aber in Gesellschaft sein. Das Lokal ist bestens frequentiert mit Entwicklungshelfern, freiberuflichen Hubschrauberpiloten und Botschaftern aller möglichen Ideologien. Mir gegenüber sitzen zwei in Rotgelb gekleidete Mönche. Mit Eifer fingern sie über die Tastaturen ihrer Laptops. Ja, selbst der Buddhismus ist im 21. Jahrhundert angekommen – Mönche vloggen durch den Tag, bevorzugen 100-prozentige Arabica-Bohnen für ihren Americano und fahren auf dem Motorrad zurück zum Kloster. Früher schien mir der Gedanke an ausgebrannte Bürohengste, untergetauchte Ex-Verbrecher oder faule Teenager unter der Mönchsrobe zu verwegen. Die PR-Abteilung der Sangha hat ganze Arbeit geleistet. Von rechts predigt mir ein Michael von den Zeugen Jehovas etwas ins Ohr. Als Religionsmuffel fühle ich mich etwas eingeengt und verziehe mich an einen frisch frei gewordenen Tisch am Fenster. Ein doppelter Espresso hilft oft dabei, dem Auswahlparadox ein Schnippchen zu schlagen und sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Psychologisch betrachtet bin ich weder reif für die Monsunzeit in einem erschütterten Nepal noch für die nächste Etappe meiner Weltreise. Immerhin fühle ich mich am richtigen Ort, getreu dem Motto »kaputte Liebe, kaputtes Land«. Just vor ein paar Wochen verwelkte meine sechsjährige Beziehung endgültig. Der Wegzug aus der heimatlichen Wohlfühloase war zunächst ein Gemeinschaftsprojekt, bis mein befristetes Sabbatical zusehends mit der Suche nach neuer Lebensessenz kollidierte. Je länger die Odyssee andauerte, desto mehr sehnte sie sich nach der berechenbaren Schweiz und ich mich nach mehr unberechenbarem Asien. Rückblickend betrachtet hatte es so kommen müssen, denn es ist das vermaledeite Los etlicher Reisepaare: entweder schweißt die Entdeckungstour auf ewig zusammen, oder es passiert das krasse Gegenteil, denn man hat schlicht zu viel voneinander entdeckt. Dank dem angeborenen Temperament eines stoischen Sanguinikers macht sich bei mir trotz aller Trennungsmelancholie Optimismus breit. Keine Kompromisse mehr, ab jetzt gehört die Welt mir allein!

Annapurna

Nach Pokhara im bewährten Sammeltaxi. Das bevorzugte Transportmittel der Einheimischen. Wir fahren sieben Runden um den Block – gehen »sammeln«. Hinten gibts noch Platz für einen halben Hintern, ergo ist die Fahrt noch unprofitabel. Die Snackverkäufer haben irgendwann Erbarmen mit uns Suchenden und lassen unser Gefährt nach der achten Runde in Ruhe. Ein Musikantenduo steigt zu und quietscht nepalesische Volkslieder – rund vier Oktaven über der westlichen Schmerzgrenze. Wie lobenswert, dass es Asien vielerorts geschafft hat, seine traditionelle Musik gegen die Moderne zu verteidigen, doch nach einer von insgesamt sieben Fahrtstunden wünsche ich mir, die Batterien meines iPods hätten etwas länger durchgehalten.

Einchecken bei Suman, meinem Gastgeber für die Nacht. Immerhin zwei bis drei Reisende schauen täglich bei ihm vorbei, um sich nach seinen Bettpreisen zu erkundigen. Suman ist bei Weitem nicht der Einzige, der sich mit lautem Seufzer auf magere Zeiten einstellt. Ein kurzer Streifzug durch die Gassen Pokharas lässt Schlimmes erahnen. Angestellte lümmeln vor leeren Geschäften, durchkämmen veraltete Beiträge ihrer Facebook-Freunde, knabbern an den Fingernägeln oder starren einfach nur ins Leere. Hunderte Reiseagenten mit imaginären Spinnennetzen zwischen Gesicht und Telefon warten auf ihre Chance – ein Verkaufsgespräch meistern, den Kugelschreiber wieder einmal benutzen, ein Dokument unterschreiben, Geld verdienen. Jetzt wäre ich gern ein williger Kunde, doch wandern in fachkundiger Begleitung ist für Schweizer pure Blasphemie. Morgen geht es los: 250 Kilometer Fußmarsch rund ums Annapurna-Bergmassiv, von 800 Metern hinauf zum 5.413 Meter hohen »Donnerpass« Thorong La und hinab.

Ich bin null vorbereitet. Meine letzte ernst zu nehmende Bergtour zur Spitze des etwas höher gelegenen Cotopaxi-Vulkans in Ecuador liegt über ein Jahr zurück und war dank der beinahe vertikalen Besteigung in zwei Tagen abgehakt. Damals gelangte ich zu einer Einsicht, die mir bis heute hilft, den Zweifler in mir verstummen zu lassen. Trotz aller mentalen Blockaden, den blutenden Blasen nach wenigen Stunden alpiner Kraxelei und Atemnot ab der Hälfte der Besteigung aufgrund mangelnder Akklimatisierung strebte ich nach dem Gipfel. Über den nicht weniger langen Abstieg (und eventuelle körperliche Schäden) wollte ich jedoch nichts hören. Alles für diesen einen magischen Moment auf der Bergspitze. Von dort waren weit unten im Tal die Lichter von Zumbahua zu erkennen, wie Glühwürmchen flimmerten sie durch die Wolkendecke, gelegentlich blendeten Gewitterblitze das Spiel, hernach der Rundblick gen Horizont, der allmählich von einem Ozean aus Sternen in einen epischen Sonnenaufgang überging. Mit diesem poetischen Bildern in Gedanken humpelte ich schmerzgeprüft wie einsichtig eine Woche durch Quito: »Wer Honig essen will, der ertrage das Stechen der Bienen«, so sagen sie in den arabischen Ländern.

Der Busfahrer lässt die Türe neben ihm offen – er will im Notfall rechtzeitig das Fahrzeug verlassen können. Mein Sitznachbar erwähnt gleichmütig, dass viele Ortskundige eine Fahrt auf dem Busdach bevorzugten. Die Überlebenschancen seien statistisch gesehen besser. Ab Besisahar fahren nur noch Jeeps auf dem Stolz Nepals: den buckligen und von Erdrutschen gemarterten Steinstraßen, welche zumindest gefühlt wirklich alle Drei-Seelen-Dörfer in den Bergen erschließen. »Buddha was born in Nepal«, verdeutlicht ein Aufkleber auf der Windschutzscheibe von Kumars Geländewagen. Nach wie vor debattieren die beiden Nachbarländer, wer dem Buddha denn nun näher stehe, Nepal mit Siddhartha Gautamas Geburtsort in Lumbini, oder Indien mit der Pappelfeige in Bihar, unter der der Prinz zur Erleuchtung meditierte. Mittlerweile sind alle außer mir bereits eingestiegen, somit bleibt mir nur noch der Frachtbereich mit Hühnern, Werkzeug und Ersatzreifen. Dann stechen wir in See, denn wie ein in einen Taifun geratenes Schiff schaukelt der Jeep von einer Seite zur anderen. Ich konzentriere mich derweilen auf die Öffnung über der Ladefläche, wo dichtes Dschungelgewächs, das anderem dichtem Dschungelgewächs den Weg versperrt, ruckelnd mit dem Horizont verschmilzt. Häuser werden zunehmend pragmatischer. Der Nepalese vis-à-vis rückt sein traditionelles Dhaka-Topi-Hütchen zurecht und zündet sich eine Zigarette mit dem Bunsenbrenner an. Erneut einer dieser ausschlaggebenden Minimomente im Reiseleben, in dem mir das Herz überläuft und ich mit niemandem in der Welt tauschen möchte.

Der nächste Morgen beginnt in Chamje, mit dem feinen Duft von Masala-Chai. Im Häuschen nebenan darf ich den Tröten und Tara-Mantras zum Geburtstag des Dalai Lama einiger Mönche lauschen. Wo sonst während der Hochsaison wegen Platzmangel auf oder unter den Tischen der Gastfamilien und Berghütten entlang dem Annapurna Circuit geschlafen wird, herrscht seit Wochen gähnende Lehre. Ausländer zwinkern sich gegenseitig zu – wir haben kaum Verbündete. Zakk aus Indianapolis setzt sich zu mir. Er ist auch solo unterwegs und beherrscht eine perfekte Mischung aus »nicht zu viel reden« und »nicht zu wenig schweigen«; zudem sei er, und das ist wichtig, schnell. Wir nehmen den Trip gemeinsam in Angriff, teilen die täglichen zehn Marschstunden, das Ein-Euro-Zweibettzimmer und kübelweise trüben Reiswein. Drei Tage, 3.000 Höhenmeter und 300.000 abgestorbene Hirnzellen später wird uns nur noch die Hälfte an Atemluft gegönnt. Das naturnahe Manang hingegen zeigt sich verschwenderisch: farbenprächtige Blumen markieren das Ende des Winters. Darüber glimmen schroffe Bergnasen durch den mystischen Wolkenschleier. Ausgetrocknete Flussbetten inmitten zerfurchter Täler schmiegen sich an die Bergfüße und verschwinden in schier endlosen Weiten – ein Schmaus für die Augen und ein Schlaraffenland für das »Himalaya-Viagra«. »Dort oben sind sie zu finden, vor allem jetzt im Frühling« – um seine Aussage zu untermalen, zeigt unser heutiger Gastgeber, Sonom Topke, auf eine karge Anhöhe, wo er und seine Landsleute jahrein, jahraus über den Boden robben, um den seltenen Raupenpilz Yarchagumba aufzuspüren. Die Ernte landet zu exorbitanten Preisen auf Chinas Märkten, gleich neben dem eingelegten Ginseng, getrockneten Seepferdchen und Nashornpulver. »Einfach in den Tee tunken«, schlägt der etwas kurz geratene Sonom vor. Umgebung und Gastgeber erinnern mich an die idyllische Alpenlandschaft im schweizerischen Appenzellerland, wo ich die letzten Jahre vor meiner Abreise verbracht habe. Lachend streckt uns dann der Nepalese seine Hand mit dem raren Potenzmittel entgegen. Als angehender Mediziner zeigt Zakk Bedenken ob der Nebenwirkungen. Verständlich, er stammt aus einem Land, das jegliche Alternativmedizin für Scharlatanerie hält. Da ich eigentlich alles gern wenigstens einmal ausprobiere, fällt die Absage schwer. Soll lieber jemand anderes mit einer sechsstündigen Erektion durch das Provinznest tigern. Einmal, so Sonom, hätten sie ein Rudel Affen beobachtet, das zu einer äußerst ungewöhnlichen Jahreszeit in die Berge geschlendert sei und später im Tal eine flotte Orgie gefeiert habe. Prompt sei ein Spionagetrupp zusammengestellt worden, der die Affen oben in flagranti beim Lecken von Steinen erwischte. Die folgenden Untersuchungen hätten ergeben, dass die verschiedenen Gesteinsschichten über Jahrmillionen eine Art mineralische Zauberpaste an die Oberfläche trügen – ein Aphrodisiakum mit mehr Power als Aladins Wunderlampe.

Die Bergspitzen des Annapurne-Gebirges bei Sonnenaufgang, bald werden sie vom Nebel im Tal verschlungen.

Wir lassen unser Testosteron anderweitig ab. Zeit für wahre Männer, Männer mit naivem Gemüt, Männer, die fünf Stunden Trekking auf sich nehmen, nur um im weltweit höchsten Bergsee einige Sekunden nackt baden zu können: dem Tilichosee, 4.919 Meter über dem Meeresspiegel. Neben uns knirschen majestätische Gletscherzungen, Eiskristalle bilden einen Regenbogenkreis um die Sonne, Eisschollen trödeln vorbei. Ich tauche ab in ein Wasser, das so beißend kalt ist, dass es sich wie eine Ganzkörperakupunktur mit Tausenden Nadeln anfühlt. Auch diese Euphorie weicht – nicht ungewöhnlich bei Fernwanderwegen – bald der nächsten Herausforderung: Nach zehn Tagen Fußquälerei droht der Aufstieg zum Thorong-La, dem Donnerpass, wo ein Schneesturm im vorigen Jahr innerhalb weniger Stunden 43 Menschen das Leben kostete. Der Hochgebirgspass ist uns heute friedlich gesinnt und lässt uns gewähren, schenkt uns obendrein eine von Nebelwolken umzingelte Sicht auf das Gratulationsschild »Thorong-La Pass – 5.416 Meter – Congratulation for the success«. Ein historischer Moment für alle mit Wanderschuhen im Keller.

Eine von mehr als 8.000 Hängebrücken in Nepal. Sie sind ein Exempel der Schweizer Entwicklungsarbeit in Nepal.

Posieren am Ufer des Tilico-Sees nach einer Runde skinny-dipping.

Apropos Keller, der vorgesehene Raum für alles, was nicht mehr in die Wohnung passt: Obgleich mein ganzes Hab und Gut derzeit in einem 80-Liter-Rucksack Platz findet und ich nichts mehr genieße, als genügsam durch exotische Orte zu bummeln, war das nicht immer der Fall. Eine volle Dekade lang hatte ich mich einem mondänen Lebensstil verschrieben, hatte als Key Account Manager industrielle Digitaldruckanwendungen bis hin zu komplexen Dialogmarketingprozessen vermarktet, war kreuz und quer durch die Schweiz gespurtet, um ein Stück der Marketingbudgets aus den Teppichetagen abzugreifen. Die daraus resultierende Verantwortung, der Erfolg, das Ansehen und ordentlich Zaster hielten das Ego auf Trab – so habe ich gar nicht mitbekommen, wie die Jahre ins Land zogen. Maslow hätte mir auf die Schulter geklopft: Ich hatte die oberste Stufe seiner Pyramide erreicht, war fein raus und trotzdem gedanklich aus dem Gleichgewicht. Dank dem Buch Die 4-Stunden-Woche von Timothy Ferriss lernte ich bereits frühzeitig, dass der eigentliche Luxus, nämlich Freizeit, nur in wenigen Fällen mit einer steilen Karriere einhergeht. Seien wir mal ehrlich: Meistens führt Fleiß lediglich zu noch mehr Arbeit und noch weniger pura vida, um etwaige Lohnsteigerungen auszugeben. Je mehr Angst wir vor der Ungewissheit haben, desto lieber kuscheln wir mit den Privilegien einer modernen Gesellschaft. Dabei vergessen wir gern, dass dies nur einer von unzähligen Irrwegen unserer begrenzten Spieldauer hier auf Erden ist. Jeder, der sein optimiertes Leben von außen betrachtet, fühlt sich schlimmstenfalls bestätigt und lernt bestenfalls dazu. Zu diesen Gedanken gesellte sich mein plötzlich aufblühendes Interesse für Philosophien aus dem Buddhismus – und vermehrt auch der Groll auf Rückflugtickets. Egal, welche Ecke der Welt ich zuvor bereist hatte, da war immer der Durst nach mehr. Und das zu einer Zeit, als Social Media Feeds noch nicht gnaden- und endlos Inspirationen lieferten. Um mich herum starben außerdem konstant Mitmenschen, viele davon vor dem Pensionsalter, weit vor der vom Sozialsystem angepriesenen Freiheit. Eile war geboten, die Tretmühle, das bequeme Ledersofa und das Sockenabo hinter mir zu lassen, um es endlich mit mir selbst aufzunehmen. Und um bestenfalls ein reicheres »Weltbewusstsein« – als solches bezeichnete es Alexander von Humboldt – zu entwickeln. Binsenweisheit: Nomadentum befreit, bildet und erfüllt. Digitales Nomadentum lässt einen gegebenenfalls auch anderswo überleben.

Das Planen ist uns Schweizern in die Wiege gelegt, Unsicherheiten somit überhaupt nicht. Ich war diesbezüglich ein Urschweizer, dem »Jetzt« voraus in Gedanken. Mit der Geburt von »Projekt Weltreise« entwarf ich einen radikalen Siebenjahres-Sparplan und veranlasste nebenher alles Nötige für einen schwerelosen Aufbruch. Geld ist zweifellos sexy, aber nur wenn es als Schlüssel dient, um die Türen zum Unbekannten aufzustoßen – das geht aber auch mit weitaus weniger Mitteln. Denn wer in die Haut des Weltenbummlers schlüpfen will, sollte berücksichtigen, dass ausufernde Biersafaris oder Betten über fünf Euro pro Nacht die Reise erheblich verkürzen und weitgehend ad acta gelegt werden sollten. Seit meinem Reisebeginn in Argentiniens Patagonien knausere ich daher unermüdlich mit meinem Ersparten, mache einen großen Bogen um die illustren Wohlfühloasen mit Wonnepools: ein Balanceakt aus Jubelschreien und Klagelauten. Dabei sind die Opfer oft unscheinbar leise. »Don’t think you’re smarter just because you left home« – Zakks Satz wird noch lange nachhallen. Langzeitreisende können tatsächlich ab und an etwas arrogant auf andere wirken – sie haben nun mal genügend Lebensstunden standgehalten, um alles fein säuberlich von außen zu betrachten. Ein gemachtes Nest aufzugeben, altbewährte Muster zu durchbrechen, die Liebsten zurückzulassen, um endlich die aufgestauten Sehnsüchte zu verwirklichen, braucht zwar eine große Portion Mut, ist aber ebenso rücksichtslos gegenüber Staat und Familie. Trotz aller Bescheidenheit: Wenn Lebenserfahrung einen Preis hat – und sei er noch so hoch –, bin ich bereit, auf alles andere zu verzichten.

Unvergleichbares Panorama bei Jomson nach dem Abstieg vom Thorong-La-Pass

Gokyo

Warten in der Cafeteria von Kathmandus Inlandflughafen. Ein Äffchen durchforstet gemächlich den Mülleimer neben mir. Nichts scheint ihm angemessen. Zugegeben, es war eine äußerst spontane Entscheidung gewesen, in die Region des Achttausenders Cho Oyu zu reisen. Ich habe mich schlicht noch nicht satt gesehen an der Aussicht vom Dach der Welt. Der Pilot tuckert höchstpersönlich mit mir zur Rollbahn. »Dein Privatflugzeug«, scherzt er: Außer mir und der Flugbegleiterin kommt heute niemand mit. Die Buddhistin führt ihre gefalteten Hände erst zur Stirn, dann zum Herz. Betet, wie vor jedem Flug nach Lukla nahe dem Eingang des Sagarmatha-Nationalparks. Die rasant wechselnde Wettersituation Luklas krönt die Piste zu einem der gefährlichsten Flughäfen überhaupt. Acht Flugzeuge haben ihr Ziel seit dem Bau durch den neuseeländischen Bergsteiger Sir Edmund Hillary gar nicht oder nicht in vollem Umfang erreicht. Gebannt klebe ich am Flugzeugfenster, verliere mich in den Falten aus Schnee, Eis und Stein – es ist, als hätte man die Schweizer Berge aufeinandergestapelt.

Auf dem Weg nach Namche Bazar begleite ich Kami Sherpa zu seinem Dorf und helfe ihm unbedeutend beim Tragen (die losen Kleinigkeiten, die sich nicht optimal auf den 80 Kilo schweren Zementsack stapeln lassen). Kami hat es gut, denn sein Haus ist gleich um die Ecke; andere marschieren sechs Stunden lang mit 150 (!) Kilo Material auf dem Rücken. Ungefähr ein halbes Millennium ist es her, seit sich die osttibetische Minderheit für ein Leben in Nepals Bergwelt entschieden hat. »It is not the mountain we conquer, but ourselves« (»Es ist nicht der Berg, den wir bezwingen, sondern uns selbst«), philosophierte Hillary, kurz nachdem ihm und seinem Partner Tenzing Norgay Sherpa die Besteigung des Mount Everest gelungen war. Seit 1953 gelten Sherpas daher als Synonym für eine unermüdliche Gebirgskutsche. Geballte Manneskraft mit einer Lunge aus Stahl und Ventil. Für viele hat sich seither alles verändert: Sie besitzen Hotels, studieren in Europa oder spielen Baseball in der amerikanischen MLB. Für rund ein Zehntel aller Sherpas allerdings bleibt es beim Alten. Etliche Male treffe ich auf im 90-Grad-Winkel zusammengestauchte Teenager, die ganze Betten inklusive Matratzen, Wellbleche, Trägerelemente, Bierkästen und Baumaterial in die Dörfer wuchten. Das Volk der Sherpa nimmt die Renovierung nach dem Erdbeben wortwörtlich selbst in die Hand.

Gerade in diesen Tagen hat das Volk der Sherpa sichtlich alle Hände voll zu tun.

Rast in einem Gasthaus in Phakding. »Geld oder Unterstützung hat die Regierung noch nicht geliefert«, faucht Barhat Sherpa vom anderen Ende des Tisches. Sein Haus hat einige Risse abbekommen. Zement besorgen sie nun selbst aus Kathmandu. Er und die anderen Bewohner von Phakding gehören zu den »Priorität-B-Menschen«, denjenigen, welche nicht bluten, sondern nur angeknackste Häuser haben. Viele von ihnen leben vom Geld der Touristen. Touristen, die nicht mehr so schnell eintrudeln. Zu viele Bilder von zusammengefalteten Häusern und katastrophalen Zuständen wurden ausgestrahlt. Der Aufstieg führt mich via Namche Bazar über imposante Hängebrücken und ausgezeichnete Wanderpfade zur verträumten Ansiedlung von Gokyo. Während des nepalesischen Frühlings sollten die einzelnen Teilabschnitte gut geplant werden, der berechenbare Südwind bläst die Monsunwolken frühmorgens von den Tälern in die höheren Gefilde. Gegen elf Uhr ist die Sicht bereits so trüb wie der abendliche Reiswein. Es bietet sich an, das Bett vor Tagesanbruch zu verlassen. Im Morgengrauen quäle ich mich auf den 5.357 Meter hohen Gokyo-Ri. Ein Rennen gegen die Witterung, doch oben werde ich belohnt. Wolkenlos der Himmel, frei der Blick zum 8.201 Meter mächtigen Cho Oyu, der den größten Eisstrom Nepals speist. Unten verschlingt der Dunst in gespenstischer Anmut den türkisblauen Bergsee samt aller Flora und wolligen Yaks, die ihn säumen.

Am nächsten Tag fühle mich akklimatisiert und bereit. Der Mount Everest liegt gemäß meinen vagen Informationen gleich hinter ein paar anderen Bergen. Ein Geheimnis vorweg: Ich war zu geizig für eine topografische Karte – geschweige denn einen Bergführer –, hatte aber beim Tourismusverband kostenlos eine an der Wand hängende Karte abfotografiert. Auf dieser waren Gokyo und das Mount-Everest-Basislager über den Pass Cho La mit einer gestrichelten Linie verbunden, darunter der Vermerk »icy crossing«. Und falls mir Fortuna beistünde, so ließ ich mir später versichern, würden auf dem Weg einige Sherpas siedeln. Annapurna war ein Klacks gewesen, was sollte hier schon schiefgehen?! Meine Gastgeberin gestikuliert, wie mir Steine auf den Kopf fallen werden, und geht zum Hausaltar beten. Es wandert sich auch schon besser – zumindest leichter. Seit meiner Ankunft in Nepal habe ich zehn Kilogramm Körpergewicht verloren, dafür eine bis jetzt unerreichte mentale Stärke gewonnen. Das ist zwar erstrebenswert, kann aber auch verblenden. Nach einer sechsstündigen Alpinwanderung mit spärlichster Ausrüstung stehe ich auf einem wackelnden Felsklotz in geschätzten 6.000 Metern Höhe und vor einer schwierigen Entscheidung. Cho La scheint nahe zu sein, nur hätte ich Vollidiot berücksichtigen sollen, dass Gletscher wandern und es daher mit größter Wahrscheinlichkeit keine markierte Route hinüber zum Gebirgspass gibt. Inzwischen sind auch die Monsunwolken angekommen. Es regnet erst, schneit dann und hagelt schlussendlich. Die Sicht ist auf wenige Meter geschrumpft. Ich muss mich entscheiden: Entweder breche ich ab, klettere über die rutschigen Steine hinunter ins graue Nichts, oder ich versuche, einen schonungslosen Gletscher zu passieren und dabei rechtzeitig auf ein paar Siedler zu treffen, die mich über die Nacht retten. Während ich die Entscheidung scheue, kommt mir ein kürzlich verschwundener Amerikaner in den Sinn – seit über zwei Monaten wird er vermisst. Auch er war ohne Führer unterwegs gewesen, auch er war zweifelsohne zu sehr von sich überzeugt gewesen. Wehmütig stampfe ich bergab, bis es dunkel wird und mich meine Füße nicht mehr tragen wollen. Der nächste Weiler liegt kilometerweit entfernt. Sei es, wie es ist – ich breche in eine leerstehende Hütte ein, falle wie ein steifes Brett auf die marode Matratze und in den tiefsten Schlaf seit Monaten.

Blick vom Gokyo Ri auf den 8.201 Meter hohen Cho Oyu

Zurück nach Lukla. Einfach nur laufen, dabei Erinnerungen und Emotionen Revue passieren lassen. Das Atmen genießen. Einige Kurven nach Namche Bazar reitet mir ein Mönchskind mit einem Gefolge von Sherpas in traditioneller Tracht entgegen: der neue Lama des Thame-Klosters. Jahrelang hatten sie nach der Reinkarnation des verstorbenen Oberhaupts gesucht. Hier reitet er, der auserkorene Vierjährige, von einem fernen Ort fantasierend, den er noch nie besucht hat. Er wird seinen Platz in dieser Welt einnehmen, so wie alle, die unbeirrt nach Lebenssinn fahnden.

Der zukünftige Lama vom Thame-Kloster

Fantastische Landschaften säumen die Wanderroute von Gokyo zurück nach Lukla.

Bagans Tempelstadt kurz vor Aufnahme ins UNESCO-Welterbe

Myanmar

Oktober 2015 bis Januar 2016

Myanmars kulturelle Wunderwelt entweicht einem halben Jahrhundert Diktatur. Der ideale Moment, um sich außerhalb prominenter Reiserouten umzuschauen und, falls noch Zeit bleibt, Piratenträumen nachzugehen.

Yangon

Welcome to Myanmar«, so der Aufruf des allgegenwärtigen amerikanischen Brauseherstellers, der erst vor wenigen Jahren die Erlaubnis für eine Werkseröffnung erhielt, just als das Land mit leisem Knattern die Zugbrücke herunterließ und kurz darauf anfing, nach ausländischen Devisen zu lechzen.

»This is Burma and it will be quite unlike any land you know about.«

Rudyard Kipling – Letters from the East, 1898

Es ist Sonntag. Wahltag. Um mich herum huschen die Wähler, erkennbar am kleinen schwarzen Finger. Man lernt aus Fehlern: Beim letzten Versuch vor fünf Jahren wurde mittels Stempel gern mehrfach gewählt, aber der Fingerabdruck entlarvt Doppelwähler mehrere Wochen lang. Im Rennen sind diverse Parteien, darunter die NLD National League of Democracy mit Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi. »The Lady«, wie sie von Freund und Feind respektvoll genannt wird, ist unterdessen so populär wie Che Guevara, Mandela oder Evita Perón. Ihre Partei wird die Wahl gewinnen, das steht außer Frage. 25 Jahre haben alle auf diesen Moment gewartet. Bei den letzten Wahlen 2010 war die NLD noch verboten, und Protagonistin Aung San Suu Kyi stand unter Hausarrest. Volle 16 Jahre war die Tochter eines Unabhängigkeitskämpfers an ihr Anwesen am Inya-See gefesselt, wo sie malte und Bücher schrieb. Richtig populär wurde die charismatische Suu Kyi während der Aufstände in den späten 80er-Jahren. Zu dieser Zeit schöpften die Herrscher aus einem Reservoir irrer Überraschungen: Geldscheine mit abstrusen Nominalwerten wurden eingeführt, wie die 75-Kyat-Note zu Ehren des 75. Geburtstags von Diktator Ne Win. Darauf folgten 15- und 35-Kyat-Scheine. Dann kam dem abergläubigen Ne Win in den Sinn, dass die Banknoten durch seine Glückszahl neun teilbar sein sollten. Also wurden 45- und 90-Kyat-Scheine gedruckt, wobei niemand die alten Noten umtauschen durfte; viele verloren ihr gesamtes Vermögen. Die kuriose Geldpolitik war letztlich der Auslöser für landesweite Aufstände mit Ikone Suu Kyi an der Spitze. Ne Win rettete sich in einen luxuriösen Ruhestand, und ominöse Wahlen fanden statt. Die NLD gewann zwar, die Militärjunta erkannte den Sieg aber nicht an und schröpfte das Land weitere 20 Jahre lang, bis 2010 mittels orchestrierter Wahlen Thein Sein als ziviler Präsident ins Amt gestellt wurde.

Zurück in der Gegenwart. Rund zwei Wochen lang werden nun Stimmen gezählt. Ein Repräsentant der NLD tritt mit 99-prozentiger Sicherheit im März 2016 das Amt an. Aung San Suu Kyi selbst darf gemäß Regelwerk nicht als Präsidentin kandidieren, da ihre Kinder allesamt britische Staatsbürger sind. Wie auch immer das Resultat ausfällt, das Militär operiert weiterhin autonom und behält die wichtigen Fäden in der Hand. Volk und ausländische Investoren blicken einer interessanten Zukunft entgegen. 30 Jahre lang hatte sich der notorische Schurkenstaat isoliert, Marken kamen nur geschmuggelt ins Land, die wenigen Individualtouristen nur mit Mut und viel Geduld. Aber plötzlich geht alles ganz schnell: Meinungsfreiheit, Parteienvielfalt, freie Wahlen, Bewegungsfreiheit. Ein ökonomischer Weckruf wie ein Peitschenknall.

Es wird gewählt, die Partei NLD von Aung San Suu Kyi wird das Rennen machen. So hoffen alle.

Gemütliches Herumstreifen in Yangons Gassen. Im Schatten verrotteter Kolonialbauten wuchern die Feldküchen. Burmesinnen mit pastellgelber Thanaka-Paste im Gesicht schielen nach Käufern für ihre Pyramiden aus weich gekochten Innereien oder totfrittierten Monsterheuschrecken. Aus schiefen Holzverhauen kontern ihre Nachbarn: sie bestreichen reihenweise Blättlein mit gelöschtem Kalk, die natürliche Verpackung für BetelnussKlumpen. Hier wird nichts kaschiert – jeder Kunde, der sich an Myanmars verbreitetstem Rauschmittel versucht, hat seine Zukunft wortwörtlich vor Augen: ein zerfressenes, schwarzrotes Gebiss, ein Leben mit einem freudigen Zombiemaul. An der geselligen Gassenszene holpern rustikale Busse mit Parkettboden vorbei. Ein Arbeiter mit Schirmhut zerschweißt gemächlich ein Autowrack in einer belebten Seitenstraße. Yangon besticht kaum durch hübsche Flaniermeilen, dafür mit abstrusen Alltagszenen und einem für Asien eher abenteuerlichen Architektur-mix – ein Tohuwabohu aus viktorianischer Schönheit und südostasiatischem Plattenbau. Das Juwel des britischen Empire, früher bekannt unter dem Namen Rangun, war einer der meistfrequentierten Häfen der Welt, eine wichtige Station der Handelsstrecke zwischen Indiens Kalkutta und Chinas Schanghai. Myanmars Militärregierung verlegte 2005 die damalige Hauptstadt Yangon aus Angst vor neuen Volksaufständen und ausländischen Invasionen vom Andamanensee in eine künstlich geschaffene Stadt 320 Kilometer weiter nördlich: die Planstadt Naypyidaw war geboren. Dutzende von hundertjährigen Regierungsgebäuden wurden ausgehöhlt und anschließend zugekleistert, der Inhalt wurde per Lastwagen nach Norden verfrachtet. Seither wetteifern Rußpartikel und Pflanzen entlang ihrer Fassaden.

Myo Myo nimmt mein gedankenversunkenes Flanieren wahr. »Mingalaba! Where do you go?« Darauf kenne ich keine Antwort, ich habe weder Karte noch Ziel. Zehn Jahre früher hätte ich in ihm einen Spion im Männerrock vermutet, der meine nächsten Schritte aushorcht. Hingegen will mir der 45-jährige Lehrer lediglich Gesellschaft leisten. Während ich mich hinter einem Baum verstecke, verhandelt er die Taxipreise für uns. »Je bleicher das Gesicht, desto teurer die Fahrt«, meint er abgeklärt. Wir flitzen über eine brandneue, von Nippon finanzierte Straße und kommen pünktlich zum täglichen Verkehrsinfarkt. Myo Myo deutet resigniert auf die vielen Ausstellungsräume der Autohersteller aus China und Japan. Autos waren vor fünf Jahren noch eine Rarität auf Yagons Straßen. Aber heute erkennt der aufmerksame Beobachter schnell, dass viele Autofahrer weder Führerschein noch Fahrpraxis besitzen, dafür aber ein ausgeprägtes Chaosgen. Sie sitzen auf der rechten Seite ihrer japanischen Autos und fahren zudem auf der rechten Straßenseite – dank des ehemaligen Militärdiktators Ne Win. Ein Astrologe hatte dem Regierungschef den Tod im Linksverkehr vorhergesagt, daher wurde einen Tag später der Rechtsverkehr eingeführt.

Yangon besticht vor allem durch seine reizüberflutenden Straßenszenen.

Nach einem gemeinsamen Milchtee muss Myo Myo weiter, es bleibt etwas Tageslicht für das buddhistische Las Vegas. Schon von Weitem funkelt sie mir entgegen, die ikonische Pagode Shwedagon-Paya. Allein die Spitze der Kuppe mit den knapp 80.000 Diamanten und anderen zierenden Edelsteinen soll 50 Millionen Euro wert sein. Rund um die spitze Pagode reiht sich außerdem ein gutes Dutzend Geldautomaten. Denn Seelenheil darf jederzeit in einem Tempel oder bei der Almosenrunde der Mönchszunft gegen Kyat getauscht werden. Wer etwas gibt, verabschiedet sich mit einem behaglichen Gefühl. Wer es aber richtig angehen will, meditiert sich zu einem besseren Menschen. Ungelogen, ich hatte mir vorab in Bangkok ein sogenanntes Meditationsvisum für Myanmar gesichert, da mir die Erkenntnisse aus der bevorstehenden Vipassana-Einsichtsmeditation durchaus am Herzen lagen, mir allerdings auch bewusst war, dass ich es maximal zehn Tage lang mit mir allein aushalte, mir dieses Visum aber trotz allem 90 statt der üblichen 28 Tage im Land garantierte.

Die famose Shwedagon-Paya beim Sonnenuntergang

Naypyidaw

Es scheint, als gäbe es keine Vergangenheit, keine Zukunft, nur das Jetzt. Im Einklang mit mir selbst reise ich nach Naypyidaw, dem »Sitz der Könige«, auf einem Sitz für Knechte. Dafür entspricht der Preis für das Busticket etwa der Knautschzone. Selbst Jockeys würden hier vorsichtshalber zwei Plätze buchen. Sonst gibts nichts zu meckern: Der Bus schnurrt den glatten Teer entlang, vorbei an wucherndem Grün und brüchigen Pfahlbauten. Die dröhnende Leere bei der Ankunft ist beängstigend. Rund 80.000 Bauarbeiter hackten vor wenigen Jahren eine sechsmal so große Fläche wie New York City aus dem Dschungel, um Platz für all die Generäle, Minister, Beamten und Legionen von Gartenpflegern zu schaffen. Wer heute hier lebt, lebt für die Arbeit. Da es in der Hauptstadt weder Gehwege noch öffentlichen Transport gibt, buche ich für einen Tag den Rücksitz von Herrn San Oos Moped. Sein Englisch ist so gut wie mein Burmesisch, trotzdem verstehen wir uns prächtig, denn er besitzt eine Karte mit den hiesigen Sehenswürdigkeiten. Darunter befinden sich an die 80 Businesshotels, Golfplätze, unzählige Regierungsgebäude, mit Neonröhren beleuchtete Baggertümpel, das Parlament, ein Nachbau der Shwedagon-Paya und drei Museen. San Oo übergibt mir den nicht verschließbaren Helm und zirkelt durch das surreale Betondesaster. Das hat man davon, wenn man einer Militärjunta die Stadtplanung und eine Flotte von Planierraupen überlässt. Liebliche Gebäude in Walmart-Form säumen die bis zu 20-spurigen (!), aber nur sporadisch befahrenen Straßen, auf denen ein Airbus A380 landen könnte. So hätte sich Josef Stalin ein Wellnessresort vorgestellt.

Alltagsszene auf der 20-spurigen (!) Straße nahe dem Palast Naypyidaws: Sie ist kaum befahren.

Der Chin-Staat

Ganz anders zu geht es im wilden Westen des Landes. Hung Shwe bewaffnet sich mit ausgelatschten Flipflops, rosa Mädchenmütze, Steinschleuder, Pfeil und Bogen. Wenn mir einer den Pfad zum Gipfel weisen kann, dann er. Hung Shwes gesichtstätowierte Frau winkt ein herzliches Goodbye, wir wandern los. Der Jäger bevorzugt einen strikt vertikal verlaufenden Pfad ohne mühsames Auf und Ab. Nepal-geprüft halte ich mit, keuche jedoch ungestüm dank der unzähligen Cheroot-Zigarren, mit denen ich mich im vergangenen Monat bei den Shan in Myanmars Osten vergnügt habe.

In der Ferne verhallen Schüsse. Es ist ein durchaus friedliches Terrain, obschon hier alle mit einem Gewehr durch die Gegend tapsen. Selbst die wenigen Bären sind nicht mehr sicher, denn China ist scharf auf ihre Pelze und Gallenblasen. Wir kreuzen mit einer Sippe anderer Jäger. Erfolgreiche Jäger. Mein Blick fällt auf undefinierbare Krallen, die aus ihren Beuteln pendeln. Hung Shwe ist nun hoch motiviert und spannt seine Schleuder. Der Stein zischt einen Zentimeter am Schnabel vorbei. Die Vogelwelt scheint Hung Shwe gut zu kennen, die vermeintliche Beute wahrt unbeeindruckt ihre Position. Das Schauspiel wiederholt sich, bis ihm die Steine ausgehen. Ich knurre. Falls wir heute je einen Unterschlupf finden, bleibt der Festschmaus bestimmt aus. Die Sonne verschwindet allmählich dort, wo sich auch Indien vermuten lässt.

Abenddämmerung auf dem höchsten Berg vom Chin-Staat.

Wir stehen auf dem Gipfel des Mount Victoria, des höchsten Bergs der Region, und lugen rüber zum Nachbarland, anschließend zu einem weit entfernten Bergrücken, den wir nach knapp vier Stunden erreichen wollen. Ich mache mein Mobiltelefon zur Taschenlampe, und mein Begleiter hackt eine Schneise durchs Buschwerk. Mir schwant Böses. Groggy, zerkratzt und ausgehungert schlurfen wir in den kleinen Weiler Htang Shwe. Unsere greisenhaften Gastgeber sind sichtlich begeistert, Besuch kommt hier allzu selten vorbei. Auf Wunsch hebt Großväterchen den Pfannendeckel. Irgendwie hat es die Jägerbeute, also die undefinierbaren Krallen samt undefinierbarem Körper, ausgerechnet in diesen Topf geschafft. Ich gebe mich geschlagen und gönne mir eines der vier (sechs?) Beinchen, nage bestimmt und zärtlich daran, mustere dabei Hung Shwe, der bumsfidel eine der anderen Extremitäten mitsamt wulstiger Haut und Sehnen verschlingt. Mittlerweile habe ich mich an das Einwickeln in mehrere Filzdecken und den rauen Schlaf auf Bretterböden gewöhnt. Alltagstrott. Gut gelaunt latschen wir in der Morgendämmerung zurück nach Mindat – teils auf Jägerwegen, teils auf der Schotterstraße, die den Pauschaltouristen in naher Zukunft die Mount-Victoria-Schnellbleiche verpasst. Der Chef vom Straßenbauamt in Naypyidaw äugt misstrauisch aus seinem SUV, als uns der Busch neben ihm ausspuckt. Er war gerade damit beschäftigt, den unterbezahlten Tagelöhnern beim Steineklopfen und Teerköcheln zuzuschauen. Die Straße müsse ausgeweitet werden, damit die dicken Busse Fuhren an Kartoffelleibern bequem durch den Jägerstaat schieben können. Daraufhin bahnt sich eine rührende Szene an, in der die Gegensätze gnadenlos aufeinanderprallen: Der Städter mit Krawatte steigt aus seinem Wagen, und Hung Shwe erklärt ihm walkürenhaft das Prinzip von Pfeil und Bogen.

Hung Shwe packt das Mittagessen für unsere Wanderung.

Mindat im südlichen Chin-Staat. Eine Marktfrau wiegt das Dörrfleisch gegen zwei XL-Batterien und nennt den Preis, ein Knirps schnappt sich Mamas Tabakpfeife und pafft zufrieden, ein Jäger hantiert mit dem Kolben seiner Flinte. Ach, ihr Märkte der Welt, dank euch wird es mir nie langweilig. Ich kaufe etwas Schnaps und schlendere zum vereinbarten Treffpunkt: einem Nasenflötenkonzert der 88-jährigen Yun Eian, der Koryphäe der Magan-Ethnie. Dann wirds ernst: Zu gehackter Vogelspeise und Kornwein wälze ich mit meinen neuen Reisebekanntschaften und unserem ortskundigen Führer Naing Kee Shing einen Plan für die nächsten Tage – im Telegrammstil: »Selten aufgesuchte Dörfer aufsuchen.« Und es geht sofort los. Im Geleit eines Korps problemlösender Ninjas auf Motorrädern klappern wir über Stock und Stein durch die verschlafensten aller Nester. Wer sich per Motorrad auf diese Pfade wagt, ist entweder masochistisch veranlagt oder trainiert für das nächste Motocross. Dank heftigem Regen stranden wir in Hinterhausen, wo der Fortschritt um die 70 Jahre ausgesetzt hat. Schmutzige Kinder rollen jauchzend Pneus um die Wette, ihre energischen Eltern verrichten die tägliche Knochenarbeit. Bei unserer Ankunft versammelt sich auch gleich das ganze Dorf, um uns willkommen zu heißen.

Der Weg zurück ist beschwerlich: Reihenweise geht uns das Benzin aus, Räder verbiegen sich, Ölpumpen geben sich geschlagen. Wen wunderts. Nach einigen Tagen Zauderei in Mindat satteln wir wieder auf, um weitere Orte aufzuspüren, die auf keiner Karte verzeichnet sind. Naing Kee Shing, unser Führer, hat immerhin einige Symbole von Hängebrücken, Bergen und möglichen Sackgassen auf einen Fetzen Papier gezeichnet. Das sollte ausreichen. Nach ein paar Stunden Motorradrodeo rasten wir auf der typischen Bambusveranda einer Chin-Familie. Der Gastgeber hat die Holzwand seines Hauses mit einer Melange aus Ochsenschädeln verziert.

Das Heim mit Tierschädeln zu dekorieren, ist üblich bei den Chin.

Pro geopfertem Skalp erwarte ihn ein brandneuer Ochse im Nachleben, dem Monu Mountain. Je mehr, desto besser. So opfern einige Chin ganze Herden, und eingefleischte Animisten schaufeln sich buchstäblich ihr eigenes Grab. Die Größe der Steinanordnung im Diesseits entscheidet dabei über die Größe des zukünftigen Hauses im Monu Mountain. Die Chin bleiben jedoch genügsam: Ich habe noch keine fünfstöckigen Grabmale mit angrenzendem Pool entdeckt. Während die Männer um zukünftige Villen und Herden buhlen, tätowieren sich ihre Gattinnen das Gesicht. Die Tattoos sind das Markenzeichen der weiblichen Chin, denn nur wer eines trägt, erhält Einlass in den Monu Mountain. Andere Legenden besagen, dass die Ladys mit der Gesichtstätowierung die burmesischen Prinzen und ihre Schlepper erschrecken wollten – Chin-Frauen waren begehrte Konkubinen. 1964 verbot die Regierung das Tätowieren, weshalb man kaum noch tätowierte Frauen sieht. Für die irdischen Kleinigkeiten wie eine erfolgreiche Jagd und die üppige Ernte sind weiterhin die Naturgeister, die »Nats«, zuständig. Während der sogenannten Nat-Treffen liest der lokale Schamane aus einem Ei. Die ausgegossene Flüssigkeit wird nach Linien und Formen abgesucht. Die Interpretation entscheidet über das Tieropfer, das Tieropfer wiederum über den spirituellen Beistand.

Je nach Clan ziert eine von 17 verschiedenen Tätowierungen die Gesichter der Chin-Ladies.

Ebensolchen könnten auch wir gerade gut gebrauchen. Bedrohliche Flammen züngeln aus dem Auspuffrohr der Maschine vor uns. Naing Kee Shing und ich lächeln verschmitzt und vergrößern den Abstand. Kurz darauf fällt unsere hintere Bremse ab. Trotz des erneut einsetzenden Regens halten wir bravourös die zehn Zentimeter breite Spur neben dem Abgrund. Theatralisch driften ein paar Jäger auf ihren Mopeds an uns vorbei, fallen, steigen auf, fallen. Nach sechsstündigem Auf und Ab zeigt sich endlich ein namenloses Dorf. Und wie sich später herausstellen wird, ist seit der japanischen Besatzung vor circa 70 Jahren kein Ausländer mehr hier aufgekreuzt. »Wo möchtest du die Nacht verbringen?«, erkundigt sich Naing Kee Shing bei mir. Wir klopfen bei Pastor Mana Buu an die Tür; dieser führt uns, die dreckigsten Auswärtigen, die er in seinem Leben gesehen hat, ohne Wenn und Aber in sein Wohnzimmer, wickelt uns in Decken, serviert alles, was sein Vorratsschrank hergibt, und singt uns in Begleitung museumsreifer Musikinstrumente in einen göttlichen Schlaf.

Auf Dorfvisite im Chin-Staat. In den meisten sind seit Jahrzehnten keine ausländischen Besucher aufgekreuzt.

Das Volk der Chin hat sich entlang des Ley-Mro-Flusses im Rakhaing-Staat ein kleines Bambusmonopol aufgebaut. Kaum geerntet, wird das Gut zum Ufer hinuntergerollt und zu riesigen Bambusflößen verschnürt. Darauf werden ambulante Schlafplätze und Zeltkombüsen installiert.

Bagan

Ein Hobbystuntman bäumt sein Motorrad auf, springt auf den Lenker und manövriert mit verrenkten Armen. Die gespreizten Beine seiner beiden (!) Mitfahrer schleifen über den Asphalt, notgedrungen und stabilisierend. Eine lottrige Pferdekutsche mit winkenden Burmesen pendelt in die entgegengesetzte Richtung. Das würde meinem australischen Kumpan Will Ladson gefallen, könnte er diese herrliche Szene miterleben, aber unser seit Langem geplantes Wiedersehen verzögert sich. Sein »Nicht-mehr-so-Express-Boot« habe sich auf dem Weg von Mandalay nach Bagan in eine Sandbank gegraben, besagt die Textnachricht. Langzeitnomaden mit abenteuerlichem Esprit und grotesker Denkweise sind rar. Finden sie trotz allem zusammen, kann sich eine magische Allianz zweier Individualisten anbahnen. Seit einem längeren Gedankenaustausch in der rauen Hochebene Ladakhs sind wir E-MailFreunde, tauschen Storys und Ratschläge über Routen abseits der Trampelpfade. Umso fragwürdiger scheint der erkorene Treffpunkt für einen gemeinsamen Nervenkitzel: Myanmars Touristen-Hotspot. Bagan könnte mit »Zerbrecher der Feinde« übersetzt werden. Von hier aus wurde vereint, unterjocht und besteuert. Obwohl der Theravada-Buddhismus bereits im ersten Jahrhundert ganz Myanmar überflutete, blühte er erst im ehemaligen Königreich Bagan so richtig auf. Ein Mon-Mönch überzeugte den damaligen König Anawratha davon, zum Buddhismus zu konvertieren, sodann verscheuchte der König all die Schlangenkult-Priester aus der Gegend. Über die Jahre wurden innerhalb weniger Quadratkilometer an die 6.000 Pagoden, Stupas und Gedenkstätten errichtet. Viele davon wurden zu Schutzmauern umfunktioniert, als die Mongolen das Land plünderten. Und heute: Prädikat Weltkulturerbe.

Die Töffli-Gang Bagans in action

Was hatte ich den Aussie aus dem abgelegenen Alice Springs vermisst: seine komödienhaften Erzählungen, den schmerzhaften Sarkasmus, seinen Drang, die Seitenstraßen zu nehmen, selbst sein fragwürdiges Hobby, kleine Seifenstücke von den Absteigen dieser Welt zu sammeln. Die erste Hälfte unseres Wiedersehens widmen wir der Bierkunde, die zweite Hälfte fruchtet bereits, ein vager Plan für den nächsten Tag steht. Mit Decken, Wein und Lautsprechern bewaffnet ziehen wir los, auf den kleinsten und verbeultesten E-Bikes, die sich finden lassen. Eine Privatruine für die kommende Nacht – eine zu verlockende Idee, wenn es darum geht, dem Mainstreamtourismus ein blasphemisches Schnippchen zu schlagen. Dabei sind wir äußerst vorsichtig, tapsen auf der Suche nach einer geeigneten Stupa fast schon auf Zehenspitzen durch die dörre Gegend. Alsdann sprudeln der Rock’n’Roll und der Wein unter den Augen Buddhas. Seien wir ehrlich: Siddhartha Gautama hätte den ganzen Rummel um ihn niemals gutgeheißen, denn er galt, anders als die heutige Masse an Fans, als Verfechter von Ikonen und illustren Gebetsstätten.

Viele der 6.000 Pagoden, Stupas und Gedenkstätten reichen bis in die Anfangsjahre des Baganreichs.

Zudem muss gewarnt werden: Wer in Bagan den fleißig beworbenen Klischees nachjagt, könnte bitter enttäuscht werden. Sujets mit lichtdurchfluteten Tempeln und lächelnden Novizen unter roten Stoffsonnenschirmen schmücken weltweit die Reisekataloge und Postkarten. Ein schöner Fake! Dass aber die Schauplätze mit qualmenden Rauchkerzen aufgemotzt werden und erfinderische Fotografen für ein Mönch-Shooting 130 Euro pro Tag »Spendengeld« an die Klöster abdrücken, ahnt kaum jemand. Würden Reisebüros einen Cheroot-Zigarre paffenden oder Betelnusssaft spuckenden Mönch abbilden, der gerade seinen Status auf den Socials publiziert – kein Tourist würde buchen. Die Realität ist erschreckend unästhetisch. Gleichzeitig aber ist Vorsicht geboten, denn denjenigen, der die Weltanschauung besudelt, erwarten drakonische Strafen. Das bewies kürzlich der Fall Philip Blackwood. Der neuseeländische Barbesitzer wurde zu 30 Monaten Gefängnis verurteilt. Sein Vergehen? Rufschädigung. Bei einer Werbeaktion seiner Bar hatte er eine Illustration eines Kopfhörer tragenden Buddhas auf Facebook gepostet.

Sonnenaufgang in der Tempelstadt

Seemannsgarn

(Flussfahrt von Norden nach Süden)

Samstagnachmittag, Yangon International Airport. Die Schiebetüre des Toyota Sienna springt auf. Ein halbes Dutzend fein gekleideter Offiziere der Einwanderungsbehörde sowie einige Sicherheitsbeauftragte der Flughafenpolizei beäugen uns schief. So sehen sie also aus, die beiden ausländischen Quälgeister, die den Amtskollegen etliche schlaflose Nächte bereitet haben. Unzählige Facebook-Posts hatten sie während der letzten Wochen optisch auf das Tête-à-Tête vorbereitet (verpixelte Porträts von Will und mir beim Einzelverhör, beim Spaziergang, beim Biertrinken, beim Grillen von Brotkrusten). Der Chef der Bügelfaltentruppe reißt das Wort an sich, Augenbrauen im Sinkflug, die eiserne Stimme hat Orkanlautstärke. Seine Order komme von oben, wir seien hiermit umgehend des Landes verwiesen. Verbannt. Exiliert. Ich schaue zu Will und nicke einsichtig, es war schließlich nur eine Frage der Zeit.

30 ereignisreiche Tage zuvor. Nicht weit von der Grenze zu Indien entspringt der Chindwin. Eine bräunliche Brühe, die knapp 650 Kilometer nach Süden rinnt, in den Irrawaddy mündet und weitere 600 Kilometer weiter unten auf den Andamanensee trifft. Unser grober Plan scheint nicht verwegen, aber ambitiös: Wir wollen Myanmar einmal längs durchschiffen. Niemand soll uns nachsagen können, wir hätten uns vorbereitet, Absprachen getroffen, Bewilligungen eingeholt, Amtsleute bestochen. Ganz im Gegenteil, denn unsere jämmerlichen Vorbereitungen bestehen aus minimaler Pfadfinderkompetenz, bubenhafter Abenteuerlust und dem Willen, ohne Rücksicht auf Verluste an den Andamanensee zu gelangen. Das muss vorerst reichen.

Idyllisches Flussleben zur Abendstunde

Gut gelaunt durchforsten wir das Flussufer in Hkamti nach potenziellen Booten und Verhandlungspartnern. Die hier vor Anker liegenden Barken sind kaum vergleichbar mit dem Fiberglasprunk, der geschmeidig durch die Wasserwege Europas oder Australiens flitzt. Das Angebot passt jedoch perfekt zu unserer Anforderungsliste – einige Holzbretter, die, gesägt und zusammengenagelt, nach dem archimedischen Prinzip schwimmtauglich sind, etwas Hohlraum für Cargo und ein einfacher Motor. Wir schnappen uns einen Fischer, der gerade sein Netz entwirrt, und deuten auf sein eingemottetes Hab und Gut. »Sehr geehrte Damen und Herren, gern würden wir Ihr Boot kaufen«, liest er von meinem abgewetzten Zettelchen in burmesischer Abugida, einer Mischung aus Alphabet und Silbenschrift. Ich hatte mir den Satz vorsorglich niederschreiben lassen, um kulturelle Fehltritte zu vermeiden. Der Mann lächelt freundlich. Und alarmiert die Einwanderungsbehörde.

Die Gespräche dauern bis spät in die Nacht. Mehrmals verweisen wir auf unsere nautischen Erfahrungen als Bootskapitäne im Amazonas und im Kongo. Will war tatsächlich im Kongobecken unterwegs, wenn auch nicht als Kapitän. Ich wiederum bin drei Tage lang durch den ecuadorianischen Teil des Amazonas gegondelt, schön eingewickelt in die Schwimmweste, die man unserem Möchtegern-Expeditionstrupp aufgezwungen hatte. Wir fragen nach dem Chef, dann nach dessen Chef und so weiter, bis es keinen weiteren Chef mehr gibt. Unsere Verhandlungen scheitern kläglich. Vielleicht weil niemand in Hkamti je vom Amazonas oder vom Kongo gehört hat, vielleicht aus berechtigtem Misstrauen gegen unsere Fähigkeiten. Zu heimtückisch seien die Flussströmungen. Überall lauerten Sandbänke, bevölkert von unberechenbaren Dieben, die zu nichts weniger als allem bereit seien. »Zu unserer eigenen Sicherheit« werde unser Begehren abgelehnt. Wir versprechen somit hoch und heilig, kein Boot zu kaufen und die Fähre zur weiter südlich gelegenen Schiffslände in Homalin zu nehmen.

U Win Boo schaut verwirrt hinüber. Zwei weiße Landratten begutachten seine Schaluppe und fachsimpeln in exotischer Sprache. Ein ominöser Zettel wechselt die Hände. Ein Fächer mit Kyat-Noten wedelt im Dunst. Wie würde das in der Schweiz aussehen? – Tatort Hintertupfingen im Emmental, ein Duo zuversichtlich dreinblickender Myanmaren taucht auf dem Hof eines Bauern auf und zeigt auf den ramponierten Subaru Justy. »Muss kaufen Auto«, locken die verschmierten Buchstaben auf dem Papierfetzen. Würde er verkaufen? Sie vom Grundstück vertreiben? … U Win Boos Interesse ist geweckt. Schwupps besorgt er einen Taschenrechner und tippt einige Zahlen ein. Das gefällt uns, einfacher könnte ein Deal nicht sein.

Als Kaufvertrag dient uns ein Beweisfoto mit der Cash-Übergabe.

Es folgen eine einminütige Schnellbleiche zur Bedienung des chinesischen Bootmotors sowie eine Testfahrt. Will steuert und erkennt zu spät, dass eine Linksbewegung des Steuergriffs das Boot nach rechts wendet. Er erkennt nun auch, dass es keine Bremse gibt. Im Zickzackkurs düsen wir ungebremst in ein geparktes Boot, ich fliege theatralisch über den Bug in eine Mischung aus Matsch und Wasser. Wortlos nicken wir uns zu und verduften.

Entspannt zeigt er sich uns, der Chindwin. Mit fünf bis zehn Knoten dümpeln wir durch das Nass, ernten zwischenzeitlich hochgezogene Mundwinkel und euphorische Zurufe. »Muss wohl an unseren typisch asiatischen Kegelhüten liegen«, rufe ich Will zu. Aber er hört mich nicht, zu laut ist das Knattern unseres Außenbordmotors, zu fanatisch blickt der Australier auf den Flussverlauf und allfällige Hindernisse. Zu dieser Jahreszeit ist den Kapitänen Vorsicht geboten. Auf dem Bug der Lastkähne und Passagierfregatten balancieren die Bootsjungen, sie stochern den Fluss mit Bambusrohren ab, um ungewolltes Verweilen auf den Sandbänken zu verhindern. Der Flusspegel ist außerordentlich niedrig. Dorfbewohner ziehen provisorisch auf die nun ausgedehnten Ufer, um zu fischen, Gemüse anzupflanzen oder illegal Gold zu schürfen.

Wo lauern die fiesen Sandbänke?

Wir parken unser Gefährt für einen ersten Landgang zwischen ein paar Hausfrauen, die unbeeindruckt ihre Siebensachen und sich selbst waschen. »Was während der Trockenperiode das Lebensquell der Gemeinschaft ist, verwandelt sich während der Monsunzeit nicht selten in ein Desaster«, erklärt uns Primarschullehrer Ne Shi Win bei einer Führung durch sein Dorf. Der Wasserpegel steigt gern um bis zu zehn Meter an. Letztes Jahr sei das Wasser bis in den zweiten Stock der Häuser gestiegen, Verwandtenbesuche seien nur noch per Boot möglich gewesen. Wir sammeln alles Notwendige zusammen, schütteln Hände und drücken unser Boot zurück in die Strömung.

Heroisch flitzen wir in Richtung Andamanensee.