Gesundheit beginnt im Darm - Emeran Mayer - E-Book

Gesundheit beginnt im Darm E-Book

Emeran Mayer

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Beschreibung

Herzerkrankungen, Diabetes, Krebs, COVID-19 – liegt unsere Anfälligkeit für diese Krankheiten an der schleichenden Veränderung unseres Darmmikrobioms? Der renommierte Gastroenterologe Dr. Emeran Mayer liefert erstmals die wissenschaftlichen Beweise für das komplexe Zusammenspiel von Darmmikrobiom und Immunabwehr. Sein bahnbrechendes Buch zeigt, wie wir unser Mikrobiom durch unsere Ernährung optimal unterstützen, unser Immunsystem stärken und die Verbreitung chronischer Krankheiten zurückdrängen können. Und es spricht eine eindringliche Mahnung aus: Wenn wir weiterhin die mikrobielle Vielfalt unserer Böden zerstören, Antibiotika in der Tiermast einsetzen und unsere Lebensmittelversorgung nicht nachhaltiger gestalten, droht schon in wenigen Jahrzehnten eine wahre Plage antimikrobieller Resistenzen. Höchste Zeit, dass wir die Weichen für unsere Darmgesundheit neu stellen!

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Seitenzahl: 358

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Emeran Mayer

GESUNDHEITBEGINNT IM DARM

Emeran Mayer

GESUNDHEITBEGINNT IM DARM

Wie unsere Ernährung unser Immunsystem beeinflusst Für mehr Energie, Balance und ein längeres Leben

riva

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen

[email protected]

Wichtiger Hinweis

Ausschließlich zum Zweck der besseren Lesbarkeit wurde auf eine genderspezifische Schreibweise sowie eine Mehrfachbezeichnung verzichtet. Alle personenbezogenen Bezeichnungen sind somit geschlechtsneutral zu verstehen.

1. Auflage 2022

© 2022 by riva Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Türkenstraße 89

80799 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2021 bei Harper Wave unter dem Titel The Gut-Immune Connection. © 2021 by Emeran Mayer. All rights reserved.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Übersetzung: Martin Rometsch

Redaktion: Dr. Anna-Lisa Viviani

Umschlaggestaltung: Karina Braun

Umschlagabbildung: shutterstock / Garumna

Satz: abavo GmbH, Buchloe

Druck: GGP Media GmbH, Pößneck

eBook by tool-e-byte

ISBN Print 978-3-7423-1940-1

ISBN E-Book (PDF) 978-3-7453-1673-5

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-7453-1674-2

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.rivaverlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de

Für meine Patienten, die mir beibrachten, wie wichtig ein gesunder Darm ist.

Für die Tausenden von Menschen, die Das zweite Gehirn mit großem Interesse gelesen und mich ermuntert haben, dieses Buch zu schreiben.

Für Minou, die eine bleibende Quelle der Ermutigung ist.

INHALT

Einführung

Kapitel 1Amerikas stumme Gesundheitskrise

Kapitel 2Eine tiefere Verbindung

Kapitel 3Das Darmmikrobiom rückt ins Blickfeld

Kapitel 4Stress und Gehirnstörungen

Kapitel 5Wie die Ernährung das Gehirn-Darm-Mikrobiom-Netzwerk steuert

Kapitel 6Ein größerer Zusammenhang

Kapitel 7Die Heilung des Darmmikrobioms

Kapitel 8Der Schlüssel zur Darmgesundheit liegt im Boden

Kapitel 9Es gibt nur eine Gesundheit

Kapitel 10Ein neues Paradigma der gesunden Ernährung

Danksagung

Rezeptnachweise

Anmerkungen

Über den Autor

EINFÜHRUNG

In meinem vorigen Buch, Das zweite Gehirn: Wie der Darm unsere Stimmung, unsere Entscheidungen und unser Wohlbefinden beeinflusst, habe ich beschrieben, wie das Gehirn und die Billionen Mikroben im Darm miteinander kommunizieren und das Gehirn, den Darm und das Wohlbefinden tiefgreifend beeinflussen. Zu dieser Auffassung kam ich, nachdem ich als Gastroenterologe bei meinen Patienten drei Jahrzehnte lang das Zusammenspiel zwischen Gehirn und Darm studiert hatte.

Aber die Welt der Forschung (und die Welt insgesamt) hat sich in den vergangenen fünf Jahren drastisch verändert. Während die Wissenschaft vom Mikrobiom weiter exponentiell wächst und viele Studien die älteren präklinischen Befunde bestätigt haben, hat die sich ausweitende vielschichtige Krise des Gesundheitswesens einen großen Teil der amerikanischen Bevölkerung und vieler anderer Länder erfasst. Übergewicht und Stoffwechselstörungen sind zur Epidemie geworden und schaden nicht nur dem Gehirn, sondern auch vielen anderen Organen. Und während ich dieses Buch schrieb, stürzte die Welt in eine Pandemie, in der unsichtbare Mikroorganismen das Kommando übernahmen und viele Teile der Gesellschaft abrupt lahmlegten. Wir mussten schmerzhaft erfahren, wie erfinderisch und mächtig Mikroben sind.

Obwohl ich seit Langem eine ganzheitliche Einstellung zum Leben habe, hat meine wissenschaftliche Laufbahn mich letztlich zum Ausgangspunkt zurückgeführt: von der reduktionistischen Konzentration auf die Biologie der Gehirn-Darm-Verbindung zurück zu der Idee, dass unsere Gesundheit mit der Gesundheit des Mikrobioms und unserer Umwelt zusammenhängt. Dabei spielt die Ernährung die wichtigste Rolle. Um die Komplexität dieser Krise zu verstehen und einen Ausweg zu finden, müssen wir die Ernährung, die Gesundheit und die Umwelt unter einem ökologischen Blickwinkel betrachten. In uns läuft ständig ein »Gespräch« ab, beeinflusst von unseren Gedanken und Gefühlen sowie von unserer Lebens- und Ernährungsweise. Der Informationsaustausch zwischen diesen Faktoren ist ein zirkulärer Prozess, bei dem das Gehirn die Signale der Darmmikroben beeinflusst, die dann ihrerseits auf das Gehirn und den Körper einwirken.

Kommunikationspannen in diesem System stören die Steuerung der Millionen Immunzellen im Darm, unseres »darmbasierten Immunsystems«. Die Folge ist eine chronische, unangemessene Reaktion des Immunsystems. Diese chronische Immunaktivierung kann die Darmwände durchlässiger machen und sich im ganzen Körper ausbreiten. Die Folge ist, dass wir für zahlreiche nicht übertragbare chronische Krankheiten und Störungen anfälliger werden, unter anderem für Übergewicht, das metabolische Syndrom, Diabetes, Herzkrankheiten, Parkinson, Autismus, Depression, schnelleren kognitiven Abbau und letztlich auch Alzheimer. Wie die derzeitige Pandemie uns gezeigt hat, macht uns ein gestörtes darmbasiertes Immunsystem zudem anfälliger für Viruspandemien wie Covid-19.

Im Laufe des vergangenen Jahrzehnts haben diese Krankheiten und Störungen, die alle mit veränderten Gehirn-Darm-Interaktionen einhergehen, so stark zugenommen, dass sie inzwischen auch das Gesundheitssystem in eine Krise stürzen. Die drastischen Zahlen verdeutlichen nicht nur das Ausmaß des Problems, sondern weisen auch darauf hin, dass viele oder sogar die meisten nicht übertragbaren Krankheiten miteinander zusammenhängen. Unser Gesundheitssystem hat es mit der Unterstützung des pharmazeutisch-industriellen Komplexes zwar geschafft, die Sterblichkeit stabil zu halten und teilweise sogar zu senken, aber die Zahl der jüngeren Patienten steigt ebenso wie die Zahl der Kranken in den Entwicklungsländern.

Deshalb sind die Netzwerkforschung und die Systembiologie so wichtig geworden. Dieser universelle konzeptuelle Ansatz ist heute notwendig, um biologische Interaktionen zu verstehen, von molekulargenetischen und mikrobiellen Vernetzungen bis zu vernetzten Krankheiten und weitreichenden Interaktionen innerhalb der natürlichen Ökosysteme auf unserem Planeten. Was zunächst wie eine esoterische Theorie klingen mag, ist in Wahrheit zu einer erprobten wissenschaftlichen Methode geworden, die uns ein äußerst wichtiges ganzheitliches Verständnis von Gesundheit und Krankheit ermöglicht. Ein Beispiel dafür ist die Kommunikation zwischen den Pflanzen, die wir essen, und dem Boden, in dem sie wachsen und der sein eigenes Mikrobiom besitzt. Bodenmikroben interagieren mit den Wurzeln der Pflanzen und liefern lebenswichtige Mikronährstoffe und organische Bodensubstanzen für ihr Wachstum. Das vernetzte System aus Immunzellen, hormonbildenden Zellen und Neuronen in der Darmwand kommuniziert mit dem Darmmikrobiom auf ähnliche Weise wie die Bodenmikroben mit den Pflanzenwurzeln und benutzt sogar einige der gleichen Signalmoleküle. Die Netzwerkforschung hilft uns, die Interaktionen zwischen Bodenmikroben und Pflanzenwurzeln sowie die Interaktionen zwischen unserem Essen, unseren Darmmikroben und unserem Körper zu verstehen.

Neben einer falschen Ernährung schaden auch chronischer Stress und negative Emotionen dem Gehirn-Darm-Mikrobiom-Netzwerk. Deshalb spiegeln die Wirkungen von heftigen Emotionen und Stress die negativen Wirkungen einer ungesunden Ernährung wider. Diese beiden scheinbar nicht miteinander verbundenen, aber oft gemeinsam auftretenden Einflüsse können einander verstärken, weil die Signalmoleküle, die dieses stressmodulierte Darm-Konnektom, also die Gesamtheit der Verbindungen im Nervensystem eines Lebewesens, erzeugt – besonders die niederschwellige Immunaktivierung und viele neuroaktive Moleküle –, auf das Gehirn rückwirken und die Kommunikation zwischen Gehirn und Darm noch mehr stören. Es hat sich sogar herausgestellt, dass diese zirkulären Interaktionen, an denen das Darmmikrobiom, seine Metaboliten und die Immunaktivierung im Darm beteiligt sind, auch eine Ursache mehrerer chronischer Gehirnstörungen sind, vor allem der Depression, der Autismus-Spektrum-Störung (ASS) sowie der Parkinsonund der Alzheimer-Krankheit.

Um unsere derzeitigen Gesundheitsprobleme, sowohl nicht infektiöse chronische Krankheiten als auch lebensbedrohliche akute Pandemien, zu verstehen und letztlich zu besiegen, dürfen wir also unser nutzloses Experimentieren von einer neuen Arznei oder Diät zur nächsten nicht fortsetzen. Wir müssen alle Aspekte des Lebens und unsere Interaktionen mit der Umwelt berücksichtigen und dabei einen systembiologischen Ansatz verfolgen, um unser Immunsystem zu normalisieren, sodass es uns vor eingedrungenen Krankheitserregern schützt und unsere Widerstandskraft stärkt, statt den eigenen Körper anzugreifen.

Eine dauerhafte Ernährungsumstellung ist ein wichtiger erster Schritt, wenn wir gesunde Interaktionen zwischen dem Essen, dem Darmmikrobiom und dem Immunsystem wiederherstellen wollen. Es gibt immer mehr wissenschaftliche Belege dafür, dass unterschiedliche, weitgehend pflanzliche Ernährungsformen nicht nur mit einer besseren Gesundheit des Darms, des Gehirns und des Körpers einhergehen, sondern sogar die Ursache der Gesundheit sind. Das haben vor allem Studien über Depression, kognitiven Abbau, neurodegenerative Erkrankungen und Autismus-Spektrum-Störungen bewiesen, aber wir können diese Liste um einige andere Krankheiten erweitern: koronare Arterienkrankheit, Fettleber, entzündliche Darmerkrankungen und einige mehr.

In diesem Buch schlage ich einen ganz anderen Weg vor, um zu entscheiden, was für unsere Gesundheit am besten ist, das heißt, was wir essen sollen und wann wir essen sollen. Statt uns zu viele Gedanken über die korrekte Menge von Makronährstoffen im Essen zu machen, rate ich Ihnen dringend, Nahrungsmittel zu essen, die für die Gesundheit, die Vielfalt und das Wohlbefinden der Billionen Mikroben im Darm wichtig sind. Dieser Aspekt wird in der westlichen Ernährung kaum berücksichtigt und auch in den meisten populären Diäten vernachlässigt. Das neue Ernährungsdogma verlangt, dass wir stark verarbeitete Nahrungsmittel meiden, weil sie mit sogenannten leeren Kalorien und Chemikalien vollgepackt sind, aber keine Ballaststoffe enthalten. Stattdessen müssen wir mehr Produkte essen, die das Mikrobiom unterstützen. Sie werden im Dünndarm schlecht resorbiert (und liefern daher weniger Kalorien) und benötigen deshalb die Hilfe des Darmmikrobioms, damit sie in kleinere, verwertbare, gesundheitsfördernde Moleküle zerlegt werden können. Diese Nahrungsmittel verbessern nicht nur die Vielfalt des Mikrobioms, sondern versorgen uns zudem mit vielen verschiedenen Ballaststoffmolekülen und mit Tausenden von Polyphenolen, von denen viele im Darm in gesundheitsfördernde, entzündungshemmende Signalmoleküle umgewandelt werden, die das Blut nach ihrer Resorption im ganzen Körper verteilt.

Aber nicht nur, was wir essen, ist wichtig. Neuere wissenschaftliche Studien zeigen, dass wir auch die Zeit begrenzen müssen, die wir mit Essen verbringen. Die zeitlich beschränkte Nahrungsaufnahme begünstigt zudem den Rhythmus der Interaktionen zwischen dem Mikrobiom, dem Darm und dem Immunsystem und fördert einen gesunden Stoffwechsel. Wenn wir die Krise unseres Gesundheitssystems bewältigen wollen, besteht der wichtigste erste Schritt darin, chronische und infektiöse Krankheiten einzudämmen – nicht mit Medikamenten, sondern mithilfe eines besseren darmbasierten Immunsystems und eines gesünderen Mikrobioms. Dabei helfen uns die Heilkräfte der natürlichen Nahrungsmittel. Wir müssen uns also anders ernähren und die Wirkung des Essens auf unser Mikrobiom und auf das Bodenmikrobiom, in dem die Pflanzen wachsen, berücksichtigen. Wir müssen nicht nur das Wechselspiel zwischen Mensch und Nahrung verstehen, sondern auch zwischen Nutztieren und ihrer Umgebung sowie zwischen den Pflanzen und dem Boden. Wir haben dieses planetarische System in den vergangenen 75 Jahren drastisch verändert und zahlen jetzt den astronomisch hohen Preis dafür, vor allem in Form unseres derzeitigen Krankheitssystems. Immer mehr wissenschaftliche Befunde zeugen von der engen Verbindung zwischen unserer Gesundheit, unserem Essen, der Nahrungsmittelproduktion und den Auswirkungen unseres Verhaltens auf andere und auf den Planeten.

Namhafte Wissenschaftler und Organisationen weisen darauf hin, dass wir die stetige Zunahme von Krankheiten bremsen und sogar umkehren können, noch bevor wir das Universum unserer Darmmikroben und die molekularen Grundlagen jeder Krankheit vollständig verstehen. Wir müssen die schädlichen Folgen unseres Nahrungsmittelsystems auf die Gesundheit des Planeten verhindern, indem wir die Gesundheit des Darms und seines Mikrobioms verbessern und die normale, gesundheitserhaltende Funktion des Immunsystems wiederherstellen. Wir werden zwar die derzeitige Virusepidemie zweifellos besiegen, aber es wird nie einen Impfstoff geben, der die weltweite Epidemie der chronischen, nicht übertragbaren Krankheiten verhindert und beendet. Wir befinden uns in einem kritischen Moment. Auf der ganzen Welt läuten die Alarmglocken; deshalb brauchen wir einen klaren Plan, um die Wende einzuleiten.

KAPITEL 1AMERIKAS STUMME GESUNDHEITSKRISE

Als ich in den 1970er-Jahren Medizin studierte, war der Optimismus groß, was den medizinischen Fortschritt betraf. Für viele Krankheiten, mit denen ich mich befasste, waren wirksame Therapien entwickelt worden, und mehrere vielversprechende neue Erfindungen – zum Beispiel die Koronararterien-Bypassoperation – lagen in Reichweite. Selbst Krankheiten, die damals noch hartnäckige Rätsel waren – das peptische Geschwür, die Refluxösophagitis, die entzündliche Darmerkrankung und einige Krebsarten –, trübten den Optimismus nicht. Wir waren davon überzeugt, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis wir auch sie ausmerzen konnten. Leider ist aus dem Versprechen jener Zeit ein Wirrwarr aus Widersprüchen geworden, den wir auflösen müssen, um uns neu zu orientieren und uns auf den Weg zur langfristigen, dauerhaften Gesundheit zu machen.

Es stimmt, dass wir heute länger leben als jemals zuvor in der Menschheitsgeschichte. In den USA und in den meisten anderen Industrieländern verlängerte sich die durchschnittliche Lebenserwartung im Laufe des letzten Jahrhunderts um fast 30 Jahre.1 Für diesen außergewöhnlichen Fortschritt zahlen wir jedoch einen hohen Preis: Wir sind auch kränker denn je. Im Laufe der letzten 75 Jahre hat die Inzidenz einiger schwerer, scheinbar ganz unterschiedlicher Krankheiten – Herz-Kreislauf-Krankheiten, Diabetes, metabolisches Syndrom, Autoimmunstörungen, Krebs, chronische Leberkrankheiten, Depression, Autismus, Alzheimer und Parkinson – stetig zugenommen, teils in erstaunlichem Tempo. Wir leben zwar erheblich länger, doch viele Menschen müssen ein Leben lang leiden und haben eine noch nie da gewesene Krise des Gesundheitssystems ausgelöst. Leider sind Minderheiten und ärmere Schichten davon überproportional betroffen.

Diese Tatsache wird in den USA dadurch verschleiert, dass das Gesundheitssystem gewaltige Geldbeträge für die Behandlung dieser Krankheiten aufwendet im vergeblichen Versuch, sie einzudämmen. Die Krankheitskosten explodierten in den USA von fünf Prozent des Bruttosozialprodukts in den 1960er-Jahren auf 17,8 Prozent oder 3,8 Billionen Dollar im Jahr 2019. Diese Zahl dürfte in den kommenden Jahren weiter steigen.2

Diese in die Höhe schnellenden Behandlungskosten haben natürlich verschiedene Ursachen, darunter das exponentielle Wachstum des medizinisch-industriellen und pharmazeutischen Komplexes. Die Amerikaner geben heute beispielsweise zehnmal so viel Geld für Medikamente aus als vor 60 Jahren.3 Die Kosten für diagnostische Tests sowie für Behandlungen und Operationen steigen ebenfalls. Diese ungebremste Kostenlawine wird jedoch in erheblichem Umfang von der wachsenden Zahl chronisch kranker Menschen ausgelöst – und von den enormen Bemühungen der Schulmedizin, den Tod in Schach oder, im Medizinerjargon, »die Mortalitätsrate niedrig zu halten«.

»Wir haben heute ein Wirtschaftssystem, in dem die Industrie Geld verdient, indem sie uns am Leben erhält, uns aber nicht sterben lässt.« So fasste mein Freund und Kollege Wayne Jonas, der Leiter des Programms für integrative Medizin der Universität Irvine, die Situation treffend zusammen. Die erstaunliche Zunahme der Lebenserwartung in den letzten 50 Jahren hat die Tatsache verdeckt, dass dieser Gewinn mit unhaltbaren Kosten verbunden ist, selbst für eines der reichsten Länder der Welt. Wir sterben vielleicht nicht mehr so häufig an chronischen Krankheiten wie früher, aber ein großer Teil der Bevölkerung ist im Alter nicht gesund und vital. Wir treiben uns damit selbst in den Bankrott.

Angesichts dieser Daten fragen Sie sich vielleicht: »Wie konnte es so weit kommen?« In den folgenden Kapiteln werde ich aufzeigen, dass drastische Veränderungen der Lebensweise im Laufe der vergangenen 75 Jahre für viele Krankheiten und Beschwerden verantwortlich sind. Dabei spielen zwar verschiedene Faktoren eine Rolle – zum Beispiel Bewegungsmangel, Schlafstörungen, zunehmender Stress und zahlreiche Chemikalien und Umweltgifte –, aber am schädlichsten ist unsere Ernährung.

Die moderne industrielle Landwirtschaft hat die Nahrungsmittelproduktion und unsere tägliche Kost drastisch verändert.4 Immer mehr kleine Familienbetriebe geben auf und weichen Agrarfabriken, die Pestizide, Mastfutter, Düngemittel und Treibstoffe verwenden und Mais, Sojabohnen und Fleisch erzeugen. Das Hauptziel dieser Betriebe ist Profitmaximierung durch rigoroses Senken der Produktionskosten und Steigern der Erträge. Dadurch sind Nahrungsmittel billiger und leicht verfügbar geworden, aber ihre Qualität hat gelitten, und die Gesundheit der Menschen (und der Umwelt) wird untergraben.

Diese relativ neue Ernährungsweise schadet unserer Gesundheit aus vielen Gründen. Sie hat die Billionen von Mikroben im Darm, meist Mikrobiom genannt, zum Teil unumstößlich verändert und chronische Störungen der Körperorgane und -systeme, vor allem des Immunsystems, hervorgerufen. Die Immunzellen im Darm machen 70 Prozent des Immunsystems aus. So unterschiedlich Diabetes, Alzheimer und Krebs sein mögen, es gibt einen gemeinsamen Faktor, der bei der Zunahme dieser Krankheiten eine Rolle spielt. Wie ich im nächsten Kapitel erläutern werde, hat sich zwar das Darmmikrobiom rasch an unsere veränderte Ernährungsweise angepasst, nicht aber der Darm. Ich bin davon überzeugt, dass dieses Ungleichgewicht die normale Funktion des Immunsystems und das Gehirn-Körper-Netzwerk stört. Deshalb nimmt die Zahl der chronisch Kranken stark zu.

Zwar starben in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts deutlich weniger Menschen an Infektionen und nicht infektiösen Krankheiten, aber in den letzten 70 Jahren stieg die Zahl der Menschen, die an nicht übertragbaren Krankheiten leiden, drastisch.

Im gleichen Zeitraum ging die Häufigkeit der meisten Infektionskrankheiten – Tuberkulose, Hepatitis A, Masern, Mumps und andere – deutlich zurück. Die »Theorie der epidemiologischen Transition« führt diesen Wandel darauf zurück, dass Seuchen und Hungersnöte selten geworden sind, sodass die Menschen länger leben und daher häufiger an degenerativen Alterskrankheiten leiden. Einige isolierte Ausbrüche von Infektionskrankheiten wie AIDS, Tuberkulose, Ebola, Influenza, SARS, MERS-CoV und neuerdings auch Covid-19 kommen während dieses stetigen Rückgangs immer wieder vor, ohne dass der allgemeine Trend sich ändert. Infektionskrankheiten machen heute nur noch 4,2 Prozent der globalen Krankheitsbelastung aus, während nicht infektiöse Krankheiten einen Anteil von 81 Prozent haben. Mehr noch, nicht infektiöse Krankheiten sind heute weltweit für mehr als 70 Prozent der Todesfälle verantwortlich.5 Schlimmer noch, chronische Krankheiten und Pandemien verstärken sich oft gegenseitig. Wir begreifen jetzt allmählich, dass nicht infektiöse Krankheiten uns für bestimmte Infektionen anfälliger machen. An Covid-19 erkranken beispielsweise überproportional viele Menschen mit chronischen Krankheiten wie Fettleibigkeit, Diabetes und Stoffwechselstörungen. Die miteinander verbundenen Probleme einer ungesunden Ernährung und eines niedrigen sozioökonomischen Status tragen immer mehr zu diesem Trend bei. Die weltweite Pandemie der Jahre 2020/21 war nicht nur eine Tragödie für sich, sondern sie zeigte uns auch, was chronische Krankheiten und der schlechte Gesundheitszustand bestimmter Bevölkerungsgruppen kosten. Zum Glück können wir diesen Trend umkehren.

Zuerst müssen wir jedoch besser verstehen, welche Aspekte unserer Gesundheit unser entartetes Mikrobiom am stärksten beeinträchtigt. Es gibt viele nicht infektiöse chronische Krankheiten, die mit Ernährung und dem Mikrobiom zu tun haben; aber ich möchte mich hier auf drei Bereiche beschränken, die in unserer derzeitigen Gesundheitskrise eine Hauptrolle spielen: Autoimmunstörungen und Allergien, Übergewicht und metabolisches Syndrom (einschließlich ihrer Folgen für Diabetes, Krebs sowie Herz-Kreislauf- und Lebererkrankungen) und Gehirnstörungen.

Allergien und Autoimmunstörungen

Ein oft zitierter Artikel über Allergien hat unsere Einstellung zu nicht infektiösen chronischen Krankheiten geändert. Der Autor, Jean-François Bach, veröffentlichte ihn 2002 im New England Journal of Medicine und wies darauf hin, dass viele chronische Krankheiten, darunter auch Allergien und Autoimmunkrankheiten, in den vergangenen 70 Jahren zugenommen haben.6 Seither bestätigten mehrere Studien diese Beobachtung. Eine von ihnen, im Scandinavian Journal of Gastroenterology abgedruckt, berichtete, dass die Zahl der Patienten mit Morbus Crohn, einer Autoimmunstörung, sich von den 1950er- bis zu den 1990er-Jahren in Nordeuropa mehr als verdoppelt hat.7 Eine andere Studie, die Forscher der Universität Göteborg in Schweden durchführten, belegte, dass die Fälle von Asthma, Heuschnupfen und Ekzemen sich bei schwedischen Schulkindern in den zwölf Jahren zwischen 1979 und 1991 verdoppelt hat.8 Eine weitere Bestätigung kam von Forschern der Universität Göttingen, die eine Bevölkerung im südlichen Niedersachsen beobachteten und feststellten, dass die Zahl der Multiple-Sklerose-Kranken sich zwischen 1969 und 1986, also in weniger als zwei Jahrzehnten, verdoppelt hatte.9

Mehrere miteinander verwandte Hypothesen – sie betreffen die Hygiene, »alte Freunde« und »verschwindende Mikrobiome« – versuchen, diese Zunahme der Autoimmunkrankheiten und Allergien zu erklären.10 Alle diese Hypothesen gehen davon aus, dass Umwelteinflüsse wie die unangebrachte oder übertriebene Anwendung von Antibiotika bei Kindern, der zunehmende Einsatz von Pestiziden und Kunstdüngern in der Landwirtschaft sowie die steigende Zahl von Kindern, die in Städten ohne Zugang zur Natur, zur Erde und zu Tieren leben, bei diesem Wandel eine große Rolle spielen. Die Hygiene-Hypothese nimmt beispielsweise an, dass unser Immunsystem in unserer steril werdenden Welt, in der Babys und Kleinkinder immer seltener Keimen und Mikroben aus der natürlichen Umwelt ausgesetzt sind, nicht mehr ausreichend darauf trainiert wird, den Körper vor Bedrohungen zu schützen. Deshalb verliert es seine Fähigkeit, harmlose Substanzen wie Pollen oder Nüsse von gefährlichen Bakterien und Viren zu unterscheiden. Die Folge ist, dass es Körperzellen angreift und Autoimmunstörungen hervorruft oder fälschlicherweise die Alarmglocken läutet und Allergien auslöst.

Studien scheinen einige dieser Hypothesen zu bestätigen, zumindest teilweise. Die meisten Studien konzentrieren sich jedoch darauf, spezifische Gene zu identifizieren, die Störungen verursachen und uns für Autoimmunkrankheiten und Allergien anfälliger machen. Es hat sich allerdings herausgestellt, dass kein einzelnes Gen für irgendeine schwere chronische Krankheit verantwortlich ist. Forscher haben vielmehr eine wachsende Zahl sogenannter vulnerabler Gene und entarteter Gennetzwerke entdeckt, was darauf schließen lässt, dass ein Mensch seiner Natur nach mehr oder weniger stark auf Umwelteinflüsse reagiert, die sich ständig ändern. Da unsere Gene sich in den vergangenen 70 Jahren nicht verändert haben (die Evolution arbeitet viel langsamer), können wir fast sicher sein, dass Veränderungen der Umwelt und der Lebensweise für die plötzliche Zunahme chronischer Krankheiten verantwortlich sind.

Obwohl diese Störungen schon vor mehr als einem halben Jahrhundert zunahmen, haben wir heute noch heftig mit ihnen zu kämpfen. Wir haben zwar wirksamere und teurere Therapien entwickelt, aber noch kein Heilmittel. Immer mehr Werbespots preisen zahllose neue Medikamente an, die ein überaktives Immunsystem dämpfen sollen – und oft schwere Nebenwirkungen haben. Viele dieser Mittel werden als »biologische Produkte« oder »Biosimilars« bezeichnet, weil sie aus lebenden Organismen gewonnen werden oder Bestandteile von ihnen enthalten. Sie sollen Autoimmunkrankheiten wie die entzündliche Darmerkrankung, rheumatoide Arthritis und Psoriasis bessern. Diese Arzneien fangen Signalmoleküle ein, die Zytokine heißen, damit sie keine chronischen Entzündungen und keine Schmerzen auslösen können. Sie haben zwar Tausenden von Patienten eine deutliche vorübergehende Erleichterung gebracht, aber die Zahl der Kranken nicht verringert.

Gleichzeitig haben diese Präparate der Pharmaindustrie Milliardenumsätze beschert. Das liegt vor allem daran, dass diese Biologika durchschnittlich zweiundzwanzigmal so viel kosten wie konventionelle Medikamente.11 Die Kosten für eine einjährige Behandlung mit Infliximab (Flixabi), das bei Colitis ulcerosa und Morbus Crohn verordnet wird, betragen etwa 50 000 Dollar.12 Das Mittel dämpft zwar unangenehme Symptome, beseitigt aber nicht die eigentliche Ursache der abnormen Immunreaktion, die die Symptome hervorruft.

Dieses Versagen spiegelt sich heute in der drastisch steigenden Inzidenz von Autoimmunkrankheiten wider. Die American Autoimmune Related Disease Association (AARDA) schätzt, dass derzeit 50 Millionen Amerikaner an Autoimmunkrankheiten leiden, von denen es inzwischen mehr als 100 Arten gibt, unter anderem Multiple Sklerose, rheumatoide Arthritis, entzündliche Darmerkrankungen und Diabetes Typ 1. Das bedeutet, dass diese Störungen häufiger vorkommen als Krebs.13

Dennoch bleiben die Ursachen dieses stetigen Anstiegs unklar, ebenso die Ursachen der Krankheiten. Wir wissen nicht einmal genau, was sie sind. Obwohl Autoimmunkrankheiten die Lebensqualität stark beeinträchtigen, können 85 Prozent der Amerikaner trotz der vielen Werbespots im Fernsehen keine einzige Autoimmunkrankheit nennen. Ich bin sicher, dass ebenso viele Menschen nicht verstehen, wie diese Krankheiten sich im Körper auswirken und wie wir vielleicht das Erkrankungsrisiko senken können.14

Fettleibigkeit und das metabolische Syndrom

Fettleibigkeit spielt ebenfalls eine wichtige Rolle bei unseren derzeitigen epidemischen Krankheiten, deren Inzidenz weltweit in beängstigendem Umfang zunimmt. Als die Zahl der Übergewichtigen und Fettleibigen in den 60er-Jahren langsam anstieg, wurde dies im Gesundheitssystem kaum zur Kenntnis genommen. 15 Jahre später, als man doch auf das Problem aufmerksam wurde, galt es leider als Problem von Minderheiten und der Armen im Süden. Das offenbarte rassistische und wirtschaftliche Vorurteile, die bedauerlicherweise heute noch vorhanden sind.

Dann nahm das Problem mit dem Gewicht enorme Ausmaße an: Zwischen 1980 und 2013 stieg die Zahl der Übergewichtigen und Fettleibigen weltweit von 857 Millionen auf 2,1 Milliarden.15 Es war nicht mehr zu leugnen, dass Fettleibigkeit alle Teile der Bevölkerung erfasst hatte und eine noch nie da gewesene Gefahr für die öffentliche Gesundheit darstellte. Heute gelten in den USA einer von drei Erwachsenen und eins von sechs Kindern als fettleibig. Das bestätigen auch die Erhebungen der amerikanischen Regierung.16 Ich habe die Fettleibigkeitspandemie selbst beobachtet, sowohl in meiner klinischen Arbeit mit Patienten als auch auf medizinischen und wissenschaftlichen Konferenzen, die ich das ganze Jahr über besuche. Als Arzt bin ich äußerst besorgt, wenn ich auf Flughäfen und am Frühstücksbüfett in Hotels sehe, wie viele Menschen kein normales Gewicht mehr haben.

Obwohl wir enorm viel Geld in die Forschung pumpen, die dieses Problem untersucht, haben wir wenig darüber herausgefunden, warum im letzten halben Jahrhundert immer mehr Menschen davon betroffen sind. Schlimmer noch, die einzigen derzeitigen Interventionen, die eine langfristige Wirkung haben, führen zu drastischen und irreversiblen Schäden im Verdauungssystem. Eine dieser Lösungen ist die chirurgische Verkleinerung des Magens, um die Nahrungszufuhr der Betroffenen zu begrenzen. Dabei wird der Magen manchmal auf die Größe eines Eis reduziert und direkt mit dem Dünndarm verbunden. Bei einem anderen Eingriff, Schlauchmagenbildung genannt, werden 80 Prozent des Magens entfernt, sodass er nur noch ungefähr die Größe und Form einer Banane hat. Man kann auch einen mit Silikon gefüllten Ballon in den Magen einführen. Ein weiteres Verfahren ist noch drastischer: Eine Magenpumpe (AspireAssist genannt) ermöglicht es einem Patienten, nach dem Essen einen Teil des Mageninhalts durch einen Schlauch in einer künstlichen Öffnung nach außen zu entleeren.

Diese chirurgischen Eingriffe sind ein Beispiel dafür, welche extremen Maßnahmen wir heutzutage ergreifen, um die Fettleibigkeit zu bekämpfen, aber sie zeigen uns auch, dass scheinbar logische Eingriffe – etwa die Verkleinerung des Magens, damit er weniger Essen aufnehmen kann – viel kompliziertere Folgen haben, als wir früher glaubten. Solche drastischen Interventionen wirken sich auf den ganzen Körper aus, nicht nur auf die Größe und die Form des Magens, denn sie verringern auch die Bildung von appetitregulierenden Hormonen, die mit dem Blut ins Gehirn gelangen. Auch die Zusammensetzung des Mikrobioms und somit auch die Signale an das Gehirn und an den Körper verändern sich, ebenso die Vorliebe für bestimmte Speisen. Das alles beeinflusst viele Körpersysteme – das Hormonsystem, den Stoffwechsel und die endokrinen Drüsen –, schon bevor der Gewichtsverlust beginnt.

Außerdem leiden viele Übergewichtige und Fettleibige am metabolischen Syndrom, das eine ganze Reihe von Störungen einschließt: einen erhöhten Body Mass Index (BMI), einen erhöhten Blutzuckerspiegel, Bluthochdruck, einen Mangel an HDL (dem »guten« Cholesterin) und Dyslipidämie, eine symptomlose Erkrankung, bei der das Blut zu viel Fett enthält, weil der Körper Zucker und Fett schlecht verarbeiten kann. Das Wichtigste ist, dass das metabolische Syndrom nicht nur die Folge der Fettleibigkeit für die endokrinen Drüsen und das Immunsystem ist, sondern auch das Risiko für chronische Erkrankungen der Leber, des Herzens und des Gehirns vergrößert.

Im Jahr 2018, in dem die Inzidenz der Infektionskrankheiten weiter abnahm (vor der Zunahme der Covid-19-Erkrankungen), erklärte eine Studie das metabolische Syndrom zum »neuen großen Gesundheitsrisiko der modernen Welt«.17

Einige Experten glauben, dass wir erst am Anfang dieser Entwicklung stehen. Walter Willett, Professor für Epidemiologie und Ernährung an der Harvard University, erklärte mir: »Diese epidemische Fettleibigkeit und Insulinresistenz braucht dreißig, vierzig, fünfzig Jahre, um sich zu manifestieren; erst dann sehen wir alle Folgen. Es ist ähnlich wie beim Klimawandel. Wir sehen nicht sofort alle Folgen des metabolischen Syndroms, aber wir können voraussehen, welche verheerenden gesundheitlichen Auswirkungen es haben wird.« Leider ist das metabolische Syndrom wie die Fettleibigkeit nicht mehr auf die Industrieländer beschränkt. In China stieg die Zahl der übergewichtigen und fettleibigen Menschen von 1992 bis 2002 um 20 bis 29 Prozent, und im Jahr 2017 war die Inzidenz des metabolischen Syndroms auf 15,5 Prozent gestiegen.18

Die Folge ist, dass Herz-Kreislauf-Erkrankungen, einschließlich Bluthochdruck, koronare Herzkrankheiten, Herzinfarkte, Schlaganfälle und Vorhofflimmern, ebenfalls stetig zunehmen, weil das metabolische Syndrom ein wichtiger Risikofaktor für diese Krankheiten ist. Im Jahr 2011 sagte die American Heart Association voraus, dass im Jahr 2030 bis zu 40 Prozent der amerikanischen Bevölkerung an einer Herz-Kreislauf-Erkrankung leiden würden – aber wir erreichten diese Marke bereits 2015, also in vier Jahren statt in neunzehn.19 Im Jahr 2015 litten 96 Millionen Amerikaner unter Bluthochdruck und fast 17 Millionen unter einer koronaren Herzkrankheit. Als ob das noch nicht entmutigend genug wäre, wird dieser düstere Trend in den kommenden 15 Jahren wahrscheinlich um 45 Prozent zunehmen. Es ist durchaus möglich, dass wir auch diese Voraussage übertreffen werden.

Hinzu kommt, dass die Kosten für Medikamente, Operationen und Krankenhausaufenthalte, mit denen Patienten mit metabolischem Syndrom am Leben erhalten werden, ungewöhnlich hoch sind. Im Jahr 2016 betrugen diese Kosten in den USA 555 Milliarden Dollar, und 2035 dürften sie eine Billion Dollar übersteigen.20

Es scheint, als könne kein Organ den Folgen einer Stoffwechselstörung entrinnen. Man schätzt, dass 75 Prozent der übergewichtigen Patienten und 90 bis 95 Prozent der krankhaft Fettleibigen an einer nicht alkoholischen Fettlebererkrankung leiden, die zu Leberzirrhose, Leberkrebs und Leberversagen führen kann. Sie ist die häufigste Lebererkrankung in den USA und eine der Hauptindikationen für Lebertransplantationen.21 Fettleibigkeit und das metabolische Syndrom sind außerdem wichtige Risikofaktoren für mehrere Krebsarten, unter anderem für den Darmkrebs, die vierthäufigste Krebsart in den USA. Dem National Cancer Institute zufolge erkranken Fettleibige, vor allem Männer, etwa dreißigmal so häufig an Darmkrebs wie Menschen mit Normalgewicht.22

Gehirnstörungen

Mehrere psychische, kognitive und neurodegenerative Störungen – unter anderem Alzheimer, Parkinson, Autismus, Depression und Angststörungen – haben sich im Laufe der letzten 50 Jahre immer mehr ausgebreitet. Diese Entwicklung ist zwar nicht so dramatisch wie die der Fettleibigkeit und des metabolischen Syndroms, aber der Trend ist bedrohlich. In den letzten 20 Jahren haben die neurodegenerativen Störungen stark zugenommen. Im Jahr 2017 litten weltweit ungefähr 50 Millionen Menschen an der Alzheimer-Krankheit,23 und man nimmt an, dass sich diese Zahl in der näheren Zukunft alle 20 Jahre verdoppeln wird.

Sicherlich spielt die steigende Lebenserwartung dabei eine Rolle, aber es gibt auch Beweise dafür, dass verschiedene andere Faktoren, zum Beispiel das metabolische Syndrom, ebenfalls zu kognitiven Störungen beitragen. Leider ist es so weit gekommen, dass wir den kognitiven Abbau im Alter als normal hinnehmen, so wie wir die indirekte Behauptung der Pharmaindustrie akzeptieren, die Zunahme vieler chronischer Krankheiten in den letzten Jahren sei eine Folge des Alterns. In Wirklichkeit kann das Gehirn (wie der Körper) ohne medizinische Behandlung bis in die Neunzigerjahre hinein arbeiten. Das beweisen die vielen völlig gesunden Neunzigjährigen.

Andere chronische Krankheiten nehmen ebenfalls rasch zu. Im Jahr 2016 litten weltweit 6,1 Millionen Menschen an der Parkinson-Krankheit,24 heute sind es schon über zehn Millionen.25 Entwicklungsstörungen wie die Autismus-Spektrum-Störung kommen heute fast drei Mal häufiger vor: Im Jahr 2004 erkrankte eines von 166 Kindern daran, 2018 war es eines von 59 Kindern.26 Auch Depressionen nehmen zu. Allerdings sind sie etwas komplexere Störungen, darum ist es schwerer zu sagen, wie häufig sie vorkommen, vor allem wenn man bedenkt, dass eine Depression keine homogene Krankheit ist. Sie kann beispielsweise neben anderen Krankheiten auftreten, etwa neben Parkinson und Alzheimer. Immerhin litten 2017 etwa 160 Millionen Menschen an einer Depression, und junge Menschen sind am häufigsten betroffen.27 Einem Bericht der Blue Cross Blue Shield Association (einem Bündnis von 36 amerikanischen Krankenversicherungen) zufolge wurde im Jahr 2016 bei 2,6 Prozent der Jugendlichen zwischen 12 und 17 Jahren eine Depression diagnostiziert, eine Zunahme von 63 Prozent seit 2013. Bei jungen Erwachsenen im Alter zwischen 18 und 34 Jahren nahm die Inzidenz um 47 Prozent zu. Noch bedenklicher ist der Befund einer neueren Studie: Sie sagt voraus, dass die Zahl der jungen Menschen mit einer Depression im Jahr 2030 sogar die Zahl der Herz-Kreislauf-Erkrankungen übertreffen wird. Die Zahl der Suizide, die als Näherungsmaß für die Häufigkeit von Depressionen gilt, ist heute eine der Haupttodesursachen bei jungen Amerikanern und die einzige unter den zehn häufigsten Todesursachen, die stetig steigt. Wir haben zwar noch keine erfolgreiche Therapie für die Depression gefunden; dennoch machen die Pharmaunternehmen enorme Profite mit Medikamenten für psychisch Kranke, weltweit ungefähr 80 Milliarden Dollar im Jahr.

Der gemeinsame Nenner

In den letzten 75 Jahren wurden viele chronische Krankheiten als unterschiedliche Störungen erforscht und behandelt. Jede von ihnen gilt als eigenständiges Problem und wird daher von Fachärzten und spezialisierten Wissenschaftlern behandelt. Dennoch war unser modernes Gesundheitssystem bisher nicht in der Lage, die stetige Zunahme dieser Krankheiten aufzuhalten.

Sobald wir jedoch erkannt haben, dass diese nicht infektiösen Krankheiten gleichzeitig einen Großteil der Bevölkerung erfasst haben, entdecken wir verblüffende Parallelen. Beispielsweise nehmen viele dieser Krankheiten zuerst in den Industrieländern und erst danach in den Entwicklungsländern zu; sie folgen also der Industrialisierung. Etwa zehn bis dreißig Jahre nach der Zunahme dieser Krankheiten in der westlichen Welt ist der gleiche Anstieg auch in den weniger entwickelten Ländern zu beobachten, nachdem diese sich unserer modernen Lebens- und Ernährungsweise angenähert haben. Beispiele dafür sind die entzündlichen Darmerkrankungen, Colitis ulcerosa und Morbus Crohn. Seit Beginn des 21. Jahrhunderts sind sie globale Krankheiten geworden, die in den neu industrialisierten Ländern Asiens, Afrikas und Südamerikas immer häufiger vorkommen.28

Allergien, Autoimmunkrankheiten, Fettleibigkeit, das metabolische Syndrom, Darmkrebs und Depressionen setzen heute früher ein, und die Betroffenen werden immer jünger. Das lässt darauf schließen, dass die jüngsten Veränderungen unserer Ernährungsweise auch Folgen für die kommenden Generationen haben werden. Beispielsweise hat die Inzidenz des Darmkrebses bei älteren Frauen und Männern abgenommen, während sie bei jüngeren Menschen steigt. Zwischen 2006 und 2015 hat die Zahl der Darmkrebspatienten bei Männern unter 50 Jahren um 3,5 Prozent zugenommen.29 Die Reaktion des Gesundheitssystems auf diesen besorgniserregenden Trend ist typisch für seine reduktionistische und kurzsichtige Herangehensweise. Die neuen Richtlinien für die Darmkrebsvorsorge der American Cancer Society empfehlen Menschen mit durchschnittlichem Darmkrebsrisiko – ohne familiäre Vorbelastung und andere bekannte Risikofaktoren –, sich ab einem Alter von 45 Jahren regelmäßig auf Darmkrebs untersuchen zu lassen. Davor hatten sie diesen Rat Sechzigjährigen erteilt.30 Als ich vor Kurzem einen Vortrag über diese Richtlinien besuchte, fragte ich die Rednerin, ob Ernährung und Fettleibigkeit in der Kindheit bei diesem Strategiewechsel eine Rolle gespielt hätten und wenn ja, ob es dann nicht sinnvoll sei, Ernährungsempfehlungen zu geben. Sie gab zwar zu, das sei eine plausible Erklärung, aber Ernährungsratschläge bei Vorsorgeuntersuchungen seien derzeit kein Teil der gängigen Praxis. Außerdem müssten die Gastroenterologen jeden Tag so viele Darmspiegelungen vornehmen, dass sie keine Zeit hätten, sich über die Essgewohnheiten ihrer Patienten zu informieren oder sie über gesunde Ernährung aufzuklären. Ich wundere mich immer wieder darüber, dass einfache Veränderungen – vor allem solche, die erhebliche Auswirkungen haben könnten, aber nicht ins traditionelle Krankheitsbild passen – so schnell vom Tisch gewischt werden.

Hinzu kommt, dass diese Krankheiten zwar unterschiedliche Symptome hervorrufen, sich aber meist auf eine Immunstörung zurückführen lassen. Bei Autoimmunstörungen und Allergien reagiert das Immunsystem zu heftig auf harmlose Umweltreize oder auf Körperzellen, während es bei Stoffwechselstörungen und verwandten Krankheiten zu einer chronischen, nicht provozierten Reaktion des Immunsystems im Darm kommt, die alle Organe schädigen kann, auch das Herz, die Leber, den Dickdarm, das Fettgewebe und sogar das Gehirn. (Die Neigung des Immunsystems zu Überreaktionen – auch Zytokinsturm genannt – könnte der Grund dafür sein, dass sich bei Covid-19-Patienten, die an nicht infektiösen chronischen Krankheiten leiden, schwerere Symptome und Komplikationen entwickeln.31)

Obwohl es gute Gründe für die Annahme gibt, dass Störungen des Immunsystems, die einen Menschen für Autoimmunstörungen und Allergien anfällig machen, in den ersten drei Lebensjahren programmiert werden, deuten immer mehr Befunde darauf hin, dass die westliche Ernährung ebenfalls eine Schlüsselrolle bei der Entwicklung dieser und anderer Krankheiten spielt, die Teil unserer heutigen Gesundheitskrise sind. Diese Ernährung kann zu einer metabolischen Endotoxämie führen, einer leichten systemischen Immunreaktion, bei der Entzündungsmediatoren – darunter auch Zytokine, Signalmoleküle, die von verschiedenen Immunzellen gebildet werden – sich im ganzen Körper und im Gehirn ausbreiten.32 Da 70 Prozent unseres Immunsystems in der Darmwand lokalisiert sind, kann es dieses Entzündungssignal mühelos weiterleiten. Es hängt von den Erbanlagen ab, welche Organe die Zytokine unterwegs schädigen.

Es erscheint unlogisch, dass unser Verdauungstrakt, der lange als Organ galt, das hauptsächlich Nährstoffe resorbiert und Abfallprodukte zwischenlagert und ausscheidet, in diesem radikalen Gesundheitsdrama eine Hauptrolle spielt. Immer mehr wissenschaftliche Forschungsergebnisse der letzten zwanzig Jahre – stark beeinflusst vom expandierenden Fachgebiet der Systembiologie – führen uns jedoch zu dieser Schlussfolgerung. Wie ich in den folgenden Kapiteln erläutern werde, sind die aufregenden neuen Erkenntnisse über das Darmmikrobiom und seine Verbindung mit dem Gehirn und allen Körpersystemen – auch mit dem Immunsystem – ein entscheidender Hinweis darauf, wie wir unsere schwere Gesundheitskrise aufhalten und sogar umkehren können.

KAPITEL 2EINE TIEFERE VERBINDUNG

Was den Körper und die Gesundheit betrifft, ist die Wissenschaft in jüngster Zeit zu sehr unterschiedlichen Standpunkten und zu grundverschiedenen Schlüssen gelangt. Meiner Meinung nach sind alle Körpersysteme auf komplexe Weise miteinander verbunden und kommunizieren miteinander. Das erklärt, warum so viele scheinbar unterschiedliche Krankheiten in den letzten 75 Jahren derart stark zugenommen haben. Ich halte diese neue ganzheitliche Sicht für eine Rückkehr zu früheren Auffassungen. Die Idee, dass Körpersysteme miteinander zusammenhängen, finden wir schon in 5000 Jahre alten ayurvedischen Texten. Auch die Traditionelle Chinesische Medizin und die Lehre des Hippokrates (die sich auf die Naturphilosophie der Griechen stützte) haben diese Auffassung vertreten. In der Antike wussten die Menschen, dass unsere Gesundheit von einer innigen Beziehung zwischen dem Geist, den Organen, der Umwelt und sogar dem Universum abhängt.1 Vor mehr als 2000 Jahren schrieb der griechische Philosoph Aristoteles: »Das Ganze ist mehr als seine Teile.«

Diese Überzeugung begann sich im 17. Jahrhundert zu ändern, als der französische Philosoph René Descartes in seiner Abhandlung über die Methode, seine Vernunft gut zu gebrauchen und die Wahrheit in den Wissenschaften zu suchen das Prinzip des Reduktionismus einführte. Sie ist die Quelle der berühmten Feststellung »Ich denke, also bin ich«. Descartes forderte, komplexe Situationen in handliche Teile zu zerlegen, diese zu analysieren und wieder zu einem Ganzen zusammenzufügen.2

Als Descartes später den Geist-Körper-Dualismus vertrat – der den Körper und das Gehirn als völlig unterschiedliche Gebilde behandelt –, dehnte er den Reduktionismus auch auf den Körper aus.3 Um den Geist-Körper-Konflikt beizulegen, forderte er Ärzte und Wissenschaftler auf, sich allein mit dem Körper zu beschäftigen und das Gehirn und den Geist der Kirche zu überlassen. Diese Einstellung veränderte nicht nur die Philosophie, sondern auch die Biologie. Die Medizin übernahm den Reduktionismus und den Dualismus und die Ärzte begannen den Körper unter der Prämisse zu diagnostizieren und zu therapieren, dass er aus separaten Teilen besteht, die jeweils unterschiedlich arbeiten. Sie glaubten, jedes Lebewesen bestehe aus Mechanismen, die so regelmäßig und vorhersehbar funktionierten wie das Getriebe einer Uhr. Trotz dieses jahrhundertelangen Umweges kehrt die Wissenschaft – wenn auch nicht die Schulmedizin – langsam zu der uralten Einsicht zurück, dass der Körper ein komplexes Zusammenspiel mehrerer Systeme ist.

Heute verstehen wir die Biologie dieses Zusammenspiels natürlich besser. Die Netzwerkforschung trug erheblich dazu bei, dass wir uns wieder dem Gesamtbild zuwenden, nicht mehr isolierten Teilen, und dennoch nach wissenschaftlicher Untermauerung suchen.4 Dieser Wissenschaftszweig untersucht das Zusammenspiel zwischen den einzelnen Elementen komplexer Netzwerke, zum Beispiel mithilfe der Graphentheorie, der statistischen Mechanik und des Data-Mining (Extrahieren von Informationen aus großen Datensammlungen, um Modelle zu erstellen, die Prognosen erlauben). Die Methode entstand in den 30er-Jahren und hat sich seither enorm entwickelt und in verschiedene Wissenschaften ausgebreitet, von den Sozialwissenschaften und der Ökologie bis zur Weltwirtschaft. Deshalb verstehen wir heute viele Ansammlungen scheinbar separater Elemente als Systeme, die aus eng miteinander verbundenen Teilen bestehen und voraussehbare Muster aufweisen, häufig aber keine voraussehbaren Folgen haben.

»Denken wir an Menschen, an die Aktienbörsen, an Gene, Neuronen, Moleküle in einer Zelle. Die Interaktionen sind entscheidend«, sagte mein Freund und Kollege Olaf Sporns, Professor für Psychologie und Neurowissenschaften an der Indiana University und Co-Direktor des Instituts für Netzwerkanalyse dieser Hochschule. »Wir brauchen eine Wissenschaft, die sich mit der Komplexität solcher Systeme befasst und sie in eine mathematische Form bringt, in eine Allianz mit computergestützten Berechnungsmethoden. Das ist Netzwerkforschung.«

Die Netzwerkforschung wird zwar seit mehreren Jahrzehnten auf natürliche, soziale und technische Systeme angewandt, doch neuerdings nutzt man sie auch bei komplexen biologischen Systemen, wo sie uns hilft, den menschlichen Körper als komplexes Gefüge von Zusammenhängen zu betrachten, konzipiert durch mathematische Sequenzierung.

Gleichzeitig hat ein Ansatz namens Systembiologie an Zugkraft gewonnen. Sie wurde in den 50er-Jahren entwickelt und vor etwa 20 Jahren von der modernen Biologie vollständig akzeptiert. Das begann mit den frühen Versprechen, das menschliche Genom zu kartografieren – ein Unterfangen, von dem viele glaubten, es werde die Medizin revolutionieren. Bill Clinton bezeichnete das Genom damals als »die Sprache, in der Gott das Leben erschuf«. Leider hat das Projekt heute, viele Milliarden Dollar später, immer noch keine praktikablen Diagnosen und Therapien für die häufigen Krankheiten geliefert. Dennoch setzte sich die Systembiologie in der Medizin durch, vor allem bei der Erforschung des Mikrobioms, der sie eine komplexere theoretische und computerbasierte Methode anbot, mit der man vom exponentiellen Wachstum der Supercomputer profitieren und gewaltige Datenmengen verarbeiten konnte. Wissenschaftler versuchen, den Körper und das Gehirn zu verstehen, indem sie ihre verschiedenen Zelltypen, Moleküle und Mikroben als Teile eines Systems betrachten.

Die Systembiologie beschleunigte den Paradigmenwechsel in der Wissenschaft, der von der Spezialisierung zur Vernetzung führte. Jede Domäne innerhalb der Systembiologie wird mit den Suffixen -om oder -omik versehen; die Erste war die Genomik (Genforschung). Danach folgte das, was ich gerne »Omik-Revolution« nenne: Nach und nach entstanden neue Forschungsfelder. Die Epigenomik (Epigenomforschung) untersucht den Einfluss der Umwelt auf das Genom und die Genexpression (während die Epigenetik den Einfluss der Umwelt auf spezifische Gene erforscht).5 Die Transkriptomik studiert RNA-Moleküle, die von Genen exprimiert werden und für die Synthese von Molekülen wichtig sind. Die Metabolomik ist mit den vielen Signalmolekülen befasst, die durch Genexpression entstehen.6 Die Proteomik analysiert den vollständigen Satz von Proteinen, die eine spezifische Zelle oder ein Organismus exprimiert.7 Die Mikrobiomforschung untersucht die Mikroorganismen im Darm und deren Erbgut.8 Was die uralten Weisheitstraditionen dank jahrhundertelanger sorgfältiger Beobachtungen noch verstanden, hat die Systembiologie neu entdeckt, indem sie Daten auswertete. Jede Domäne interagiert mit den anderen und modifiziert sie. So entdeckte die Systembiologie ein riesiges ineinandergreifendes multiskaliges Netzwerk im Körper.

In jüngerer Zeit wird die Systembiologie auch auf zwei der komplexesten Systeme des Körpers angewandt: auf das Gehirn-Konnektom und auf das Darm-Konnektom. Vor allem Olaf Sporns war der Pionier des Gehirn-Konnektoms; er kartografierte sämtliche Verbindungen im Gehirn.9 Dabei handelt es sich um ein verwickeltes Gewebe aus Milliarden von Neuronen, die über Billionen von Synapsen miteinander verknüpft sind. Würde man diese Fasern aneinanderreihen, würden sie halb bis zum Mond reichen. Sporns analysierte diese Systeme mathematisch und konnte auf diese Weise die Verbindungen im Gehirn aufschlüsseln. Das hat uns völlig neue Erkenntnisse über seine Struktur und seine Funktionen und infolgedessen auch seine Erkrankungen geliefert. Über das Darm-Konnektom am anderen Ende der Gehirn-Darm-Achse hat Rodger Liddle, ein Darmneurobiologe und Medizinprofessor an der Duke University, 2015 als Erster berichtet.10

Liddle sprach von einem Netzwerk, das hauptsächlich aus den Nervenzellen des enterischen Nervensystems besteht und mehrere Magen-Darm-Prozesse unabhängig vom Zentralnervensystem steuern kann und daher oft als kleines Gehirn im Darm bezeichnet wird. Er rechnete auch andere Nervenzellarten dazu: die Stützzellen (Gliazellen) und die hormonhaltigen Zellen. Ich schlage vor, dieses Netzwerk auszuweiten, um das komplexe Zusammenspiel zwischen dem Immunsystem des Darms und den anderen Zellen im Darm einzubeziehen. Diese Kommunikation spielt eine wichtige Rolle für die Gesundheit. Das Darm-Konnektom – das ich bisweilen einfach »Darm« nenne – umfasst also nicht nur das Nervensystem des Darms, sondern auch sein endokrines System und sein Immunsystem, die gemeinsam den Stoffwechsel und die Nahrungsaufnahme regulieren und den Körper vor Krankheitserregern schützen. Wenn ich vom Darm-Konnektom oder vom Darm spreche, meine ich das Organ; wenn ich vom Darmmikrobiom spreche, meine ich die Billionen von Mikroorganismen im Darm.

Der Systembiologie zufolge sind der Darm und sein Mikrobiom der Schlüssel zum Verständnis der Krankheiten, die unser Gesundheitssystem in eine Krise gestürzt haben. Wissenschaftler haben nämlich nachgewiesen, dass der Darm das zentrale Bindeglied im Kommunikationsnetz des Körpers ist, das seine Organe miteinander verbindet. Um das zu erklären, werde ich einen Schritt zurückgehen und die Netzwerkforschung ein wenig genauer erläutern. In der Fachsprache werden komplexe Netzwerke mithilfe von Knoten oder Nodes (die einzelnen Elemente im Netz) und Kanten oder Edges (die Verbindungen oder Pfade zwischen den Knoten) beschrieben.

Man kann es auch einfacher ausdrücken. Ein bekanntes Sprichwort besagt: »Alle Wege führen nach Rom.« Im Römischen Reich führten in der Tat alle Straßen (Kanten) letztlich nach Rom, also zum wichtigsten Knoten in diesem Netzwerk. Wie moderne Großstädte zeichnete sich Rom nicht nur durch seine physikalischen Verbindungen aus, sondern auch durch seinen Einfluss auf das ganze Land, also durch seine Zentralität, wie ein Netzwerkanalytiker sagen würde. Das Ausmaß der Zentralität gibt die Bedeutung eines Knotens auf den Kommunikations- und Informationsfluss in einem großen Netzwerk an. Zwei andere Begriffe bezeichnen die grundlegenden Attribute eines Knotens: den Grad – die Zahl der zu ihm führenden Pfade – und seine Stärke – das gesamte Maß seiner Beteiligung am Netzwerk. Rom spielte eine derart wichtige Rolle im Imperium und hatte so viele Verbindungen mit anderen Knoten (Städten), dass es in diesem Netzwerk einen Hub (Nabe, Knotenpunkt, Verteiler) bildete.11