Gewalt durch Gruppen - Detlef Averdiek-Gröner - E-Book

Gewalt durch Gruppen E-Book

Detlef Averdiek-Gröner

0,0

Beschreibung

Immer wieder Übergriffe, Randale und Gewalt durch Gruppen in aller Öffentlichkeit – an Silvester, rund um Fußballspiele und bei Demonstrationen. Was ist los in Deutschland? Steht der gesellschaftliche Zusammenhalt in Frage, steht die Polizei vor nahezu unlösbaren Problemen bei der Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit? Wie kam es in der Silvesternacht 2015 in Köln zu massenhaft durch zahlreiche Gruppen junger Männer verübten Eigentumsdelikten und sexuellen Übergriffen, die die Republik verändert haben? Mehr als 1600 Straftaten wurden angezeigt. Warum konnte die Polizei sie nicht verhindern? Nahezu wöchentlich sehen wir in den Fernsehübertragungen zu Fußballspielen Bengalofeuer, Ausschreitungen und Gewalt rivalisierender "Fangruppen", auch ihre gewollte Konfrontation mit Ordnungsdiensten und der Polizei. Feindbilder polarisieren und die Gewaltbereitschaft ist gewachsen – auch die Dauerbelastung für die Polizei durch Einsätze. Wie reagieren Vereine, Sicherheitskräfte und Netzwerkpartner auf die Gewaltentwicklung? Zeigen ihre Anstrengungen Wirkung? Greifen polizeiliche Maßnahmen? Was kann, was muss besser werden? 50 Jahre nach den "Studentenunruhen" machen heute Gewaltexzesse etwa anlässlich des G-20-Gipfels in Hamburg, bei "Rechts-/Links"-Konfrontationen oder das gewalttätige Vorgehen von "Aktivisten" aller Art gegen die Polizei Schlagzeilen. Führt ein wachsendes gesellschaftliches Konfliktpotential zu mehr Gewalt in der demokratisch legitimierten Auseinandersetzung? Welche Wirkungen haben Maßnahmen und Auftreten der Polizei? In welche "Gewaltfallen" kann sie geraten? Die Autoren dieses Lehr- und Studienbriefs reflektieren auf der Grundlage polizeilicher Erfahrung und Datenlagen sowie vor dem Hintergrund sozialwissenschaftlicher Befunde und einer fortschreitenden Rechtsentwicklung praxisbezogen die Ursachen und Entwicklungen des jeweils von ihnen behandelten Phänomens. Sie zeigen gesellschaftliche und polizeiliche Handlungsansätze auf und setzen sich mit deren Wirksamkeit oder Wirkungen auseinander. In ihren Beiträgen geben sie Antworten auf die aufgeworfenen Fragen, die für die polizeiliche Ausbildung und Praxis in Gefahrenabwehr und Strafverfolgung hohe Aktualität und Relevanz besitzen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 218

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Lehr- und StudienbriefeKriminalistik / Kriminologie

Herausgegeben von

Horst Clages, Leitender Kriminaldirektor a.D.,Wolfgang Gatzke, Direktor LKA NRW a.D.

Band 24Gewalt durch Gruppen

von

Detlef Averdiek-Gröner

Udo Behrendes

Carsten Dübbers

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

E-Book

1. Auflage 2019

© VERLAG DEUTSCHE POLIZEILITERATUR GMBH Buchvertrieb; Hilden/Rhld., 2019

ISBN 978-3-8011-0828-1 (EPUB)

Buch

1. Auflage 2019

© VERLAG DEUTSCHE POLIZEILITERATUR GMBH Buchvertrieb; Hilden/Rhld., 2019

Druck und Bindung: Druckerei Hubert & Co, Göttingen

ISBN 978-3-8011-0827-4

Alle Rechte vorbehalten

Unbefugte Nutzungen, wie Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Satz und E-Book: VDP GMBH Buchvertrieb, Hilden

www.vdpolizei.de

E-Mail:[email protected]

Vorwort der Herausgeber

Silvester, Fußball und Demonstrationen – ausgelassenes Feiern zum Jahreswechsel, wöchentliche sportliche Großereignisse mit Choreografie und Emotionen, kollektive demokratisch legitimierte Meinungsäußerung – drei Anlässe, wie sie unterschiedlicher kaum sein können. Und doch – in der gesellschaftlichen Wahrnehmung und der polizeilichen Arbeitsrealität verbindet sie zunehmend eines: in aller Öffentlichkeit durch Gruppen ausgeübte Übergriffe, Randale und Gewalt.

Ein eher neues Gewaltphänomen ist das erste, geprägt vor allem durch die Ereignisse der Silvesternacht 2015/2016 in Köln mit zahlreichen Eigentumsdelikten und sexuellen Übergriffen von jungen Männern, überwiegend aus dem nordafrikanischen und nahöstlichen Raum. Im Zusammenhang mit der in dieser Zeit zunehmend geführten politischen Diskussion um wachsende Gewaltkriminalität durch Zuwanderer und Flüchtlinge hat kaum ein einzelnes Ereignis in so starkem Ausmaß Veränderungen in gesellschaftlicher Einschätzung, politischem Agieren und normativer Rechtsetzung bewirkt. Wie ist dem Phänomen polizeilich zu begegnen?

Eher altbekannt und alltäglich erscheinen dagegen die beiden anderen Phänomene.

Fußball und Gewalt sind seit langem miteinander verwoben. Nicht erst seit der Fußballweltmeisterschaft 1998 mit den Ausschreitungen deutscher Fußballfans und ihren Attacken auf den französischen Polizisten Daniel Nivel gehören Ausschreitungen und Gewalttaten rivalisierender Gruppen in Stadien, auf An- und Abreisewegen und in den Vergnügungsvierteln der Städte zum Fußballgeschehen, in zunehmendem Maße auch die gewollte Konfrontation mit Ordnungsdiensten und Polizeikräften. Im Zuge der fortschreitenden Kommerzialisierung der Eventindustrie Fußball und der damit einher gehenden Entfremdung von Fan-Gruppen sind Feindbilder und Gewaltbereitschaft gewachsen. Eskaliert die Gewalt?

Auch Ausschreitungen und Gewalt im Demonstrationsgeschehen haben eine lange Geschichte. Die „Studentenunruhen“ liegen mehr als 50 Jahre zurück. Heute sind vor allem Gewaltexzesse bei Demonstrationen anlässlich des G-20-Gipfels 2017 in Hamburg, Übergriffe auf Ausländer oder andere missliebige Personen im Zuge rechtsgerichteter Aufmärsche wie jüngst in Chemnitz, die gesuchte körperliche Konfrontation von „Linken“ und „Rechten“ oder das gewalttätige Vorgehen von „Aktivisten“ gegen die Polizei bei der Räumung und dem Abriss von Baumhäusern im Hambacher Forst im Oktober 2018 in aktueller Erinnerung. Führen die spürbare Polarisierung gesellschaftlicher Positionen und ein wachsendes Konfliktpotential zu mehr Gewalt in der demokratisch legitimierten Auseinandersetzung?

Gemeinsam ist allen drei Phänomenen, dass sie – so unterschiedlich sie sind – die Polizei in ihrer Aufgabenwahrnehmung vor besondere Herausforderungen stellen.

Die Autoren dieses Lehr- und Studienbriefs setzen sich in ihren Beiträgen jeweils praxisbezogen mit dem von ihnen behandelten Phänomen auseinander, gehen Ursachen nach, zeigen Entwicklungen auf und beschreiben gesellschaftliche und polizeiliche Handlungsansätze, damit verbundene Problemstellungen und ihre Wirksamkeit oder Wirkungen auf das gesellschaftliche Miteinander.

So beleuchtet der Beitrag von Dr. Carsten Dübbers das Phänomen der Gruppengewalt im Rahmen der Kölner Silvesternächte 2015, 2016 und 2017 mit einem besonderen Augenmerk auf die spezifischen gruppendynamischen Prozesse und die Frage, wie sie verhindert werden können. Die Schilderung der nach den Erfahrungen der ersten Silvesternacht abgeleiteten polizeilichen Folgerungen, der Fortentwicklung von Bearbeitungs- und Einsatzkonzepten sowie ihrer Umsetzung in Präsenz und verändertem Handeln polizeilicher Einsatzkräfte erweist sich als gelungene Fallstudie.

Ein umfassendes Bild über die Entwicklung von Gewalt im Kontext von Fußballspielen, dem Wandel ihrer Formen und ihrer Akteure über mehr als 25 Jahre sowie die ebenso lange währenden Anstrengungen von Vereinen, Veranstaltern, den Polizeien von Bund und Ländern sowie weiteren Netzwerkpartnern, diese Gewalt einzudämmen, zeichnet der Beitrag von Detlef Gröner. Ausgehend von dem wiederholt fortgeschriebenen Nationalen Konzept Sport und Sicherheit und den bundesweiten Erkenntnissen der polizeilichen Zentralen Informationsstelle Sporteinsätze liegt ein Schwerpunkt der Darstellung auf den Leitlinien und Zielen polizeilichen Handelns sowie der Erörterung geeigneter, aber auch umstrittener Maßnahmen der Gefahrenabwehr im Vorfeld und am Einsatztag sowie zur Gewährleistung einer effektiven Strafverfolgung.

Einen noch weiteren Bogen spannt Udo Behrendes in seinem vielschichtigen Beitrag zu Gewalt bei Demonstrationen von den 1960er Jahren bis heute. Darin reflektiert er auf der Grundlage polizeilicher Erfahrungen, sozialwissenschaftlicher Befunde und der Rechtsentwicklung u. a. die Frage, wie Gewalt bei politischen Veranstaltungen und Demonstrationen entsteht, welche Formen und Akteure sie hat, welche Wirkungen das Auftreten und Verhalten der Polizei haben und in welche „Gewaltfallen“ sie geraten kann. Sein Beitrag ist ein Plädoyer für eine dialogfähige Polizei, die – ohne reflexartige Handlungsmechanismen – professionell gegen Formen von Demonstrationsgewalt agiert, dabei aber auch eine friedliche Protestkultur im Sinne des Art. 8 GG unterstützt.

Bei aller Unterschiedlichkeit der Beiträge vermittelt dieser Lehr- und Studienbrief einen sachgerechten Überblick über drei gesellschafts- und kriminalpolitisch bedeutsame Themenfelder, die sich für die polizeiliche Ausbildung und Praxis in Gefahrenabwehr und Strafverfolgung durch hohe Aktualität und Relevanz auszeichnen.

Wolfgang Gatzke

Horst Clages

Inhaltsverzeichnis

Vorwort der Herausgeber

Carsten Dübbers

1Die Dynamik von Gewalt durch Gruppen am Beispiel der Kölner Silvesternächte

1.1Die Kölner Silvesternacht 2015/2016

1.1.1Ereignisse in der Nacht

1.1.2Polizeiliche Bearbeitung im Rahmen der EG Neujahr

1.1.3Aufarbeitung im Rahmen des Untersuchungsausschusses

1.1.4Folgerungen für Polizei, Kommune und Politik

1.2Die Kölner Silvesternacht 2016/2017

1.2.1Ereignisse in der Nacht

1.2.2Polizeiliche Bearbeitung im Rahmen der AG Silvester

1.2.2.1Ziele der Arbeitsgruppe

1.2.2.2Wesentliche Ergebnisse und deren Bewertung

1.2.2.3Befragungen im Rahmen der AG Silvester

1.2.2.3.1 Expertenbefragung

1.2.2.3.2 Befragung der Besucher

1.2.2.4Fazit aus der AG Silvester

1.2.2.5Symposium „Silvester 2017“

1.2.3Schlussfolgerungen für die Einsatzvorbereitung Silvester 2017

1.3Die Kölner Silvesternacht 2017/2018

1.4Fazit

Literaturverzeichnis

Detlef Averdiek-Gröner

2Fußball und Gewalt

2.1Das Phänomen in der Entwicklung

2.1.1Gewalt und Sicherheit in den Stadien

2.1.2Nationales Konzept Sport und Sicherheit 1993

2.1.3Zentrale Informationsstelle Sporteinsätze der Polizei

2.1.4Akteure und Formen der Gewalt im Wandel

2.1.5Nationales Konzept Sport und Sicherheit 2012

2.1.6Fanarbeit der Vereine und Ligen

2.1.7Feindbild Liga und Feindbild Polizei

2.2Polizeiliches Lagebild

2.2.1Allgemeines

2.2.2Störerlage

2.2.3Sicherheitslage

2.2.3.1Verletzte Personen

2.2.3.2Strafverfahren

2.2.3.3Freiheitsentziehende/-beschränkende Maßnahmen und polizeilich sichergestellte/beschlagnahmte Gegenstände

2.2.3.4Tatorte

2.2.3.5Störungen auf Reisewegen

2.2.3.6Drittortauseinandersetzungen

2.2.4Personelle Belastung der Polizeibehörden

2.3Polizeiliches Handeln

2.3.1Leitlinien und Ziele

2.3.2Gefahrenabwehrende Maßnahmen im Vorfeld

2.3.2.1Datei „Gewalttäter Sport“

2.3.2.2Arbeitsdatei „Szenekundige Beamte“

2.3.2.3Intensivtäter Gewalt und Sport

2.3.2.4Gefährderansprachen und -anschreiben

2.3.2.5Meldeauflagen

2.3.2.6Aufenthaltsverbote

2.3.2.7Verwaltungsrechtlicher Entzug der Fahrerlaubnis

2.3.3Einsatzmaßnahmen

2.3.3.1Allgemeines

2.3.3.2Begleitung und einschließende Begleitung

2.3.3.3Fan- und Bannermärsche

2.3.3.4Vermummung und Pyrotechnik

2.3.3.5Bildaufnahmen und Videografie

2.4Handeln der Netzwerkpartner

2.4.1Dialog und Kommunikation

2.4.2Stadionverbote

2.4.3Beförderungsverbote

2.4.4Alkoholverbot

2.4.5Kartenkontingentierung

2.5Unterschiedliche Standards in Europa

Literaturverzeichnis

Anlage 1 Gewalttäter Sport

Anlage 2 Lagebild Fußball

Gewaltbereite Störer der Kategorie B

Gewaltsuchende Störer der Kategorie C

Verletzte Polizeibeamte 1.– 3. Liga

Pyrotechnik

Öffentlicher Personenverkehr

Udo Behrendes

3Gewalt bei Demonstrationen

3.1Erkenntnisquellen zu Art und Ausmaß der Gewalt bei Demonstrationen

3.1.1Polizeiliche Kriminalstatistik und Verfassungsschutzberichte

3.1.2Polizeiliches Erfahrungswissen

3.1.3Wissenschaftliche Studien

3.2Entstehung von Gewalt bei Demonstrationen

3.2.1Geplante Gewaltaktionen

3.2.2Situative Gewaltaktionen

3.2.2.1Gewaltfalle „Verbotene Symbole“

3.2.2.2Gewaltfalle „Sitzblockade“

3.2.2.3Gewaltfalle „Vermummung“

3.3Zielrichtungen der Gewalt bei Demonstrationen

3.3.1Gewalt gegen Protestadressaten

3.3.2Gewalt gegen Meinungsgegner

3.3.2.1Gewalt im Rahmen von Gegendemonstrationen

3.3.2.2Gewalt gegen Meinungsgegner innerhalb einer Demonstration

3.3.2.3Gewalt gegen Meinungsgegner durch Angriffe von außen

3.3.3Gewaltaktionen außerhalb einer konkreten Demonstration

3.3.4Ausweitung von Gewaltaktionen zu „Riots“

3.4Sozialwissenschaftliche Befunde zu Eskalations- und Deeskalationsbedingungen bei Demonstrationen

3.4.1Binnenstrukturen von (Groß-)Demonstrationen

3.4.2Wechselseitige Selbst- und Fremdbilder von Demonstranten und Polizisten

3.4.3Situative Einflussfaktoren auf die Stimmungslage von Demonstranten und Polizisten

3.4.4Gewaltfördernde Einflussfaktoren

3.4.5Umsetzung der wissenschaftlichen Erkenntnisse

3.5Das Deeskalationsprinzip

3.5.1Die Vorgaben des BVerfG

3.5.2Die Umsetzung des Kooperationsgebots

3.5.2.1Fallbeispiel: „Sternmarsch auf Bonn“

3.5.2.2Kooperation zwischen Versammlungsbehörde bzw. Polizeiführung und Veranstalterebene im Vorfeld einer Demonstration

3.5.2.3Kooperation zwischen Polizei und Veranstalterebene vor Ort

3.5.3Die Umsetzung des Differenzierungsgebots

3.5.3.1Die Heterogenität von (Groß-)Demonstrationen

3.5.3.2Differenzierungsgebot vs. „polizeiliche Standards“

3.5.3.3Isolierung gewaltaffiner Gruppen

3.5.3.4Fallbeispiel: Integration gewaltaffiner Gruppen

3.5.3.5Differenzierung zwischen unterschiedlichen gewaltaffinen Gruppierungen

3.5.4Die Ambivalenz des Deeskalationsbegriffs

3.5.4.1Die Ausgestaltung des Deeskalationsprinzips in der PDV 100

3.5.4.2Deeskalation durch Stärke

3.5.5Vertrauensbildende Maßnahmen

3.6Schlussbetrachtung

Literaturverzeichnis

Zu den Autoren

Carsten Dübbers

1Die Dynamik von Gewalt durch Gruppen am Beispiel der Kölner Silvesternächte

Dieser Aufsatz betrachtet das Phänomen der Gruppengewalt im Rahmen der Kölner Silvesternächte 2015, 2016 und 2017 und des polizeilichen Umgangs mit ihm.

Hierbei wird die Silvesternacht 2015/2016 nur kursorisch behandelt, da der Schwerpunkt des Aufsatzes darauf liegt, die Nutzung der Erkenntnisse aus dieser „ersten“ Silvesternacht in der polizeilichen Praxis in den beiden Folgejahren zu beschreiben. Die Ereignisse während und nach der ersten Silvesternacht haben diese Republik verändert und sind aus sehr unterschiedlichen Perspektiven diskutiert worden. Im Rahmen dieser Diskussionen ging es aber kaum um die Entstehung von Gewalt in Gruppen; vielmehr hatten die großen Migrationsströme insbesondere aus Nordafrika und dem Nahen Osten die öffentliche Meinung erhitzt und die Asyldebatte geprägt.

Insbesondere ist der Blickwinkel dieses Aufsatzes darauf gerichtet, wie gruppendynamische Prozesse, wie sie Silvester 2015/2016 am und im Kölner Hauptbahnhof stattfanden, verhindert werden können. Relevant ist diese Fragestellung deshalb, weil die Entstehung und Entfaltung dieser Prozesse nicht zuletzt dem Umstand geschuldet war, dass die Polizei keine Eingriffsmöglichkeiten hatte und die Anzahl der eingesetzten Kräfte und die Anzahl der Störer in einem vorher nicht zu erahnenden Missverhältnis standen. Die polizeiliche Prävention solcher gruppendynamischer Prozesse in der Zukunft ist daher von erheblichem Interesse und eine detailliertere Schilderung davon, wie das Polizeipräsidium Köln in den Folgejahren erfolgreich eine solche Entwicklung mit unterschiedlichen Konzepten verhindern konnte, bietet sich als Fallstudie an.

1.1Die Kölner Silvesternacht 2015/2016

Wenige Ereignisse haben in den letzten Jahren einen so starken kriminalpolitischen Einfluss gehabt wie die Kölner Silvesternacht 2015/2016. Die in dieser Form in Deutschland erstmalig aufgetretenen massenhaften und gemeinschaftlich begangenen Eigentumsdelikte durch zahlreiche Männergruppen sind insbesondere deshalb in den Fokus der öffentlichen Wahrnehmung geraten, weil sie zum Teil tateinheitlich mit sexuellen Übergriffen begangen wurden. Auch wenn die weithin publizierten zahlreichen Vergewaltigungen nicht der realen Kriminalitätslage entsprechen, haben eine offenkundige Schutzlosigkeit und die für die betroffenen Frauen extrem belastenden sexuellen Übergriffe den Blick auf die Themenfelder des sexualstrafrechtlichen Schutzes von Frauen und des Umgangs mit Flüchtlingen aus dem nahöstlichen und nordafrikanischen Raum, insbesondere den sogenannten „Maghreb-Staaten“, gelenkt.

Der Kölner Polizei wurde vorgeworfen, dass sie in der Nacht, aber auch schon bei der Lageeinschätzung und Einsatzplanung im Vorfeld, versagt habe. Gestützt wurde die Einschätzung des Versagens durch die mindestens als ungeschickt zu bezeichnende Pressearbeit der Kölner Polizei in diesem Zusammenhang.

Neben den zahlreichen Medienberichten und internen Nachbereitungsberichten hat insbesondere der Landtag NRW die Vorfälle in einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss aufgearbeitet, dessen 1.352 Seiten umfassender Abschlussbericht öffentlich zugänglich ist.1

1.1.1Ereignisse in der Nacht2

Um den Herausforderungen gerecht zu werden, die Silvester in der Kölner Innenstadt an die Wahrnehmung polizeilicher und ordnungsrechtlicher Aufgaben stellt, wurde seit Jahren eine sogenannte Besondere Aufbauorganisation (BAO) genutzt, da es auch in den Jahren vor 2015 immer wieder zu anlasstypischen Delikten kam. Hier sind insbesondere die, an jedem Wochenende mehr oder weniger intensiv stattfindenden, alkoholtypischen Gewaltdelikte zu nennen, aber auch das seit einigen Jahren bekannte Phänomen, mit Böllern und Raketen auf Menschengruppen zu zielen. Punktuell war es auch immer zu Eigentumsdelikten gekommen und auch an Silvester wurden – grundsätzlich immer zu erwartende – Sexualdelikte begangen.

Aufgrund der Erfahrung der Vorjahre, dass sich die Abwanderung von Menschenmengen nach Mitternacht immer weiter hinauszögert, wurden ca. 50 Beamte mehr als im Vorjahr in den Einsatz genommen. So standen letztlich ungefähr 170 Polizeibeamte zur Verfügung. Daneben hatte auch das Ordnungsamt wieder eigene Planungen durchgeführt. Die für den inneren Bahnhofsbereich zuständige Bundespolizei hielt dort ebenfalls zusätzliches Personal im Dienst bereit. Die Einsatzführung der Kölner Polizei lag in den Händen eines erfahrenen Dienstgruppenleiters des gehobenen Dienstes, der auch im Vorjahr schon die BAO geleitet hatte.

Der Einsatz verlief zunächst wie geplant, allerdings stellten die Einsatzkräfte eine nach ihrem Eindruck ungewöhnlich hohe Anzahl an arabisch und nordafrikanisch aussehenden kleinen Gruppen junger Männer fest. Diese fielen durch offensichtlichen Alkohol- und Drogenkonsum und wachsende Aggressivität auf. Insbesondere bewarfen sich die Gruppen ohne Rücksicht auf Unbeteiligte mit Böllern.

Aufgrund dieser nicht erwarteten Ansammlung von aggressiven Männern auf dem Bahnhofsvorplatz und der Domtreppe stellte der Einsatzführer seine Konzeption um. Er verlagerte die Mehrzahl der ihm zur Verfügung stehenden Einsatzkräfte an diesen Brennpunkt. Hier war zunächst der Blickwinkel nicht auf Eigentums- oder Sexualdelikte gerichtet, sondern auf Gefahrenlagen wie Panik oder Treppenstürze. Auch bei den Einsatzmaßnahmen zeigte sich eine hohe Aggressivität vieler Störer. Vereinzelt wurden Einsatzkräfte bereits von belästigten Frauen aufgesucht, diese wurden zur Anzeigenerstattung an die nahe gelegenen Wachen der Landes- und Bundespolizei verwiesen. Dass dort schon ein Anzeigenstau entstanden war, der dazu führte, dass in den polizeilichen Systemen am nächsten Morgen erst wenige Anzeigen aufgenommen waren, konnte zunächst nicht erahnt werden. Dies war aber u. a. eine Ursache für eine viel diskutierte Pressemeldung am Morgen des Neujahrstages, die auf dieser Datenlage basierte.

Neben der Presseveröffentlichung war noch intensiv diskutiert worden, warum das Polizeipräsidium Köln nicht schon nach 22 Uhr die sogenannte Landeseinsatzbereitschaft der Bereitschaftspolizei angefordert hatte. Bei der Entscheidung über eine solche Anforderung in der Einsatzsituation war der Einsatzleiter davon ausgegangen, dass sich nach Mitternacht die Situation wieder entspannt. Diese Prognose hat sich auch als zutreffend erwiesen. Zwischen Anforderung und Eintreffen der Kräfte liegen aber ca. drei Stunden. Es war zu diesem Zeitpunkt also schon erkennbar, dass eine Anforderung keinen positiven Einfluss auf den Einsatzverlauf mehr gehabt hätte.

Dass dies der Kölner Polizei bis heute als gravierender Fehler vorgehalten wird, ist m. E. aus einsatztaktischer Sicht nicht nachvollziehbar.

Das Ausmaß straftatbestandlicher Aktivitäten wurde erst in den Folgetagen sichtbar, da in der Silvesternacht kaum Anzeigen aufnehmende Beamtinnen oder Beamte zur Verfügung standen und daher nur wenige Anzeigen aufgenommen wurden. Dieses Versäumnis hatte die Kölner Polizei zu verantworten. Die Geschädigten wollten nach dem Erlebten in der Nacht verständlicherweise nicht mit einer Anzeigenerstattung warten, bis sie bei einer Wache vorstellig werden konnten.

1.1.2Polizeiliche Bearbeitung im Rahmen der EG Neujahr

Im Zuge der Vorfälle der ersten Kölner Silvesternacht kam es nach Stand Dezember 2016 im Bereich Hauptbahnhof und Bahnhofsvorplatz zu 1.624 erfassten Straftaten. In über 500 Fällen war ein Sexualstraftatbestand angezeigt worden, davon in 193 Fällen im Zusammenhang mit Eigentumsdelikten.

Um diese erhebliche Straftatenanzahl sachgerecht aufarbeiten zu können, wurde unter Leitung des damaligen Kriminalinspektionsleiters 4 eine Ermittlungsgruppe „EG Neujahr“ eingerichtet. Deren Erkenntnisse wurden in einer 2017 in der Zeitschrift „Der Kriminalist“ beginnenden Aufsatzserie3 präsentiert und diskutiert, auf die hier ausdrücklich als Quelle Bezug genommen wird.

Diese bis zu 100 Beamte große Ermittlungsgruppe hatte von Anfang an mit erheblichen Ermittlungshemmnissen zu kämpfen. Zum einen war es in der Silvesternacht zu keinen Personalienfeststellungen oder Festnahmen gekommen, sodass es sich um unbekannte Täter handelte. Zudem konnten die Opfer nur in wenigen Fällen sagen, wer aus der Gruppe welche Tathandlung vollzogen hatte. Selbst bei Vorlage von Lichtbildmaterial kam es nur in den seltensten Fällen zu einem Wiedererkennen. Andere klassische Ermittlungsmethoden konnten nicht angewendet werden, beispielsweise war kein Spurenmaterial vorhanden. Die Ermittlungen konzentrierten sich also auf die Auswertung von Videomaterial, von Telekommunikationsdaten und von sozialen Medien.

Als erfolgreich erwies sich die Zusammenarbeit mit sogenannten „Super Recognizern“ von Scotland Yard, die durch ihre hervorragenden Identifizierungsfähigkeiten Opfer, die auf Videomaterial erkannt wurden, bis zur Tat zurückverfolgen konnten. Dies führte in der Folge zu insgesamt 44 erfolgreichen Täteridentifizierungen.

Insgesamt konnte die EG Neujahr trotz schlechter Voraussetzungen 334 Personen als Tatverdächtige identifizieren. Hauptsächlich handelte es sich um Personen aus Algerien (93), Marokko (88), dem Irak (35), Syrien (28) und Tunesien (10).

Eine organisierte Tatbegehung konnte nicht festgestellt werden.

1.1.3Aufarbeitung im Rahmen des Untersuchungsausschusses

Im Nachgang zu den Silvesterereignissen setzte der Landtag NRW einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss ein, welcher sich am 18.2.2016 bereits konstituierte. In der 61. Sitzung am 23.3.2017 wurde der Abschlussbericht verabschiedet. Im Verfahren wurden 174 Zeugen vernommen.

Als wesentliche Ergebnisse lassen sich zusammenfassen4:

•Im Vorfeld zu Silvester hatte es keinerlei Hinweise auf die beschriebenen neuen Tatbegehungsweisen gegeben, die bei der Einsatzplanung hätten berücksichtigt werden müssen.

•Der parlamentarische Untersuchungsausschuss des Landtages NRW kommt, in Übereinstimmung mit dem BKA, zu der Auffassung, dass die Straftaten der Silvesternacht keine geplanten Massendelikte waren.

•Der Polizei wurden im Vorfeld zu wenige Kräfte aus dem übrigen Land NRW zugewiesen.

•Bei ausreichender Kräftelage hätte die Polizei die Taten durch rechtzeitiges und konsequentes Einschreiten verhindern können.

•Insbesondere das im Abschlussbericht aufgeführte Gutachten des Psychologen Prof. Dr. Rudolf Egg (Kriminologische Zentralstelle Wiesbaden) hat ergeben, dass sozialpsychologische Effekte zu den Taten geführt haben, wobei die hohe Anonymität bei der Tatbegehung und eine nicht zu erwartende Strafverfolgung die Hemmschwelle haben sinken lassen. Auch strafrechtlich bisher unauffällige Personen können in einer solchen Umgebung egoistisches, antisoziales und auch kriminelles Verhalten zeigen.

1.1.4Folgerungen für Polizei, Kommune und Politik

Infolge der wachsenden Kritik aus Medien, Gesellschaft und Politik an der Einsatzbewältigung und der nachfolgenden Pressearbeit der Kölner Polizei zu den Silvesterereignissen erfolgte auf Veranlassung des Innenministers des Landes Nordrhein-Westfalen ein Wechsel an der Führungsspitze des Polizeipräsidiums Köln. Der neue Polizeipräsident richtete von Anfang an alle seine Maßnahmen darauf aus, das verloren gegangene Vertrauen der Bevölkerung wieder zurückzuerlangen. Innerhalb der Behörde wurden alle Kräfte zusammengezogen, um eine stark erhöhte Präsenz der Kölner Polizei insbesondere im Innenstadtbereich zeigen zu können. Hinzu kamen zahlreiche Präsenzeinsätze durch die Bereitschaftspolizei und eine sehr offene – aber auch offensive – Öffentlichkeitsarbeit sowie eine deutliche operative Verstärkung der kriminalpolizeilichen Bearbeitung in Ermittlungsgruppen. Hier wurde insbesondere das kurzfristig durch die Landesregierung in der Folge von Silvester eingestellte Personal eingesetzt. Es handelte sich hierbei um Angestellte, welche die Funktionen von Polizisten, die nicht in operativen Aufgaben eingesetzt waren, übernahmen, sodass diese Kräfte für den operativen Einsatz verfügbar wurden.

Seitdem sinken sowohl die Gesamtkriminalität als auch die Kriminalität in der Innenstadt sowie die Anzahl der Gewaltdelikte im sogenannten Aktionsraum Straße.

Abbildung 1 und 2: Polizeiliche Kriminalstatistik 2017, Daten der Gesamtkriminalität, eigene Auswertung des PP Köln

Der Polizeipräsident nutzte aber nicht nur polizeiliche Möglichkeiten, sondern bezog auch die anderen Akteure, insbesondere die Stadt Köln, mit ein. Unter anderem werden nun die Probleme in sogenannten Sicherheitskonferenzen diskutiert, in denen die Stadtspitze, die Leitung der Bundespolizeidirektion, die Leitungen von Staatsanwaltschaften und Gerichten und die Kölner Polizei regelmäßig zusammenkommen. Alle in Köln stattfindenden Großereignisse, wie Karneval oder die Kölner Lichter, wurden durch ein deutlich größeres Polizeiaufgebot begleitet. Grund hierfür waren aber nicht nur die Silvesterereignisse, sondern auch die Anschläge in Paris, Brüssel und Nizza, die gezeigt hatten, dass Großveranstaltungen im terroristischen Fokus lagen. Dies zeigte sich auch tragisch an der Berliner Gedächtniskirche Weihnachten 2016.

Für den Jahreswechsel plante die Kölner Polizei einen entsprechend großen Kräfteansatz vor. Insbesondere sollte durch hohe Präsenz und konsequentes Einschreiten die Entstehung eines rechtsfreien Raums verhindert werden.

Eine intensive Öffentlichkeitsarbeit begleitete die Vorbereitungen auf die im Fokus der Medien stehende Sicherheitslage der Silvesternacht. Die Pressekonferenz der Stadt Köln und der Kölner Polizei, in der die gemeinsame Einsatzkonzeption im Vorfeld vorgestellt wurde, fand internationales Interesse.

Die Polizei ging daher davon aus, dass für solche jungen Männer aus dem nahöstlichen und nordafrikanischen Raum, die Straftaten planten, kein Anreiz mehr bestand, nach Köln zu reisen. Es musste allgemein bekannt sein, dass hier die Polizei keine Ausschreitungen zulässt. Letztlich wurde erwartet, dass für die vielen Kräfte wenig zu tun sein würde. Die Rheinische Post schrieb noch wenige Tage vor dem Ereignis, dass der Einsatz einer 1.500 Kräfte starken „Silvester-Armee“ von Innenminister Jäger in Köln unnötige Symbolpolitik sei.5 Der Einsatz wurde in der Nacht sowohl durch den Polizeipräsidenten Mathies als auch durch den Innenminister Jäger in Köln beobachtet.

1.2Die Kölner Silvesternacht 2016/2017

1.2.1Ereignisse in der Nacht

Sehr schnell stellte sich in der Silvesternacht 2016/2017 die Erkenntnis ein, dass der Einsatz gut geplant und die Kräftezahl angemessen war. Es strömte erneut eine erhebliche Anzahl an jungen männlichen Migranten mit nordafrikanischem oder nahöstlichem Aussehen nach Köln. Viele waren stark alkoholisiert und sehr aggressiv. In Absprache mit der Bundespolizei hatte sich die Kölner Polizei darauf verständigt, dass schon bei der Anreise im Hauptbahnhof eine Auswahl von Gruppen stattfand, welche ohne eine polizeiliche Kontrolle in die Innenstadt gelangten und welche auf dem Bahnhofsplatz einer genaueren polizeilichen Kontrolle, insbesondere Identitätsfeststellungen, unterzogen werden sollten. Das Auswahlkriterium für die Zuweisung zu polizeilichen Kontrollen basierte auf Erkenntnissen aus der EG Neujahr und war dann erfüllt, wenn eine Gruppe aus jungen Männern mit nordafrikanischem und nahöstlichem Aussehen bestand. Auf dem Bahnhofsvorplatz zeigte sich folgendes Bild:

Abbildung 3: Bildmaterial der Kölner Polizei aus dem Abschlussbericht der AG Silvester

Abbildung 4: Screenshot aus Facebook

Daraufhin entschied sich der Polizeiführer, die Gruppen junger alkoholisierter Männer mit dem entsprechenden Aussehen, die also das Täterprofil der EG Neujahr erfüllt hatten, auf dem Bahnhofsvorplatz intensiv zu kontrollieren. Der Polizeipräsident selbst, der den Einsatz vor Ort beobachtete, sagte gegen Mitternacht der Presse, dass er große Sorge habe, dass der Einsatz noch „kippt“6. Nur durch die intensiven Kontrollen, welche die Männergruppen längerfristig an den Bahnhofsvorplatz gebunden hatten, konnte nach Einschätzung vor Ort eine Eskalation wie im Vorjahr verhindert werden. Es kam zu keinen nennenswerten Taten, insbesondere zu keinen Sexualdelikten im Einsatzraum.

In der Nacht gab es jedoch eine Fehlkommunikation: den „NAFRI-Tweed“, den die Pressestelle der Kölner Polizei absetzte.

Die Kontrollen, die unter den Vorgaben der Erkenntnisse der EG Neujahr an Gruppen junger Männer mit nordafrikanischem und nahöstlichem Aussehen durchgeführt wurden, in Verbindung mit der Abkürzung NAFRI, welche für ein Auswerteprojekt „Nordafrikanischer Intensivtäter“ bei der Kölner Polizei steht, führte in den Folgetagen zu einer intensiven öffentlichen Debatte um den Vorwurf des „Racial Profilings“ bei der Kölner Polizei.

Auch wenn sich der Kölner Polizeipräsident für den „NAFRI-Tweed“ am folgenden Morgen öffentlich entschuldigte, war die Diskussion sowohl im Internet in den sozialen Medien als auch in der Presse kontrovers. Hier stellte sich daher die Frage, ob der Vorwurf gerechtfertigt war, aber auch die Frage, warum entgegen aller Vorhersagen wieder so viele junge Männer nach Köln gekommen waren.

1.2.2Polizeiliche Bearbeitung im Rahmen der AG Silvester7

Durch die Lageentwicklung ergaben sich insbesondere mit Blick auf zukünftige Großveranstaltungen wie Karneval und Silvester 2017 Fragestellungen, zu deren Bearbeitung der Behördenleiter die Arbeitsgruppe „Silvester 2016“ einrichtete. Darüber hinaus galt es, die Öffentlichkeit bzw. die Medien zu informieren.

1.2.2.1Ziele der Arbeitsgruppe

Durch den Auftraggeber wurden zunächst folgende Ziele formuliert:

•Hinweise auf Motivationslage und Absichten der angereisten Gruppen junger Männer mit z. T. nordafrikanischer Herkunft sowie darauf, ob Verbindungen bzw. Absprachen zwischen den Gruppen bestanden, erlangen.

•Ansätze für weitere Ermittlungen gegen Beschuldigte, deren gegen sie gerichtete Strafverfahren im Rahmen der EG Neujahr die StA Köln gem. § 154f StPO vorläufig eingestellt hat, prüfen.

•Die erlangten Daten hinsichtlich Staatsangehörigkeit und kriminalpolizeilicher Erkenntnisse aufbereiten und auswerten.

•Daten für die Öffentlichkeitsarbeit des PP Köln zur Verfügung stellen.

•Bei Vorliegen eines Anfangsverdachtes auf ausländerrechtliche Verstöße sind Ermittlungsverfahren einzuleiten.

1.2.2.2Wesentliche Ergebnisse und deren Bewertung

Die AG Silvester hatte Daten von Personen ausgewertet, die im Rahmen des Silvestereinsatzes 2016 (31.12.2016, 18:00 Uhr bis 1.1.2017, 06:00 Uhr) Adressaten polizeilicher Maßnahmen waren. Daneben wurden Daten von Personen berücksichtigt, bei denen Kontrolleure der DB AG ein erhöhtes Beförderungsentgelt erhoben haben, weil sie ohne gültigen Fahrausweis Züge der DB AG von und nach Köln genutzt hatten.

Wie die Personendaten, die der AG Silvester nach Abschluss der Einsatzmaßnahmen zugeleitet wurden, erhoben worden waren, ist nicht in allen Fällen nachzuvollziehen. Das ist damit zu erklären, dass die Einsatzkräfte nicht durchgängig dokumentiert haben, ob und welche Ausweisdokumente vorgelegt wurden, insbesondere wenn eine durchgeführte Identitätsfeststellung zur Gefahrenabwehr gem. § 12 PolG NRW und anschließende Fahndungsabfrage keinen Anlass für weitergehende Maßnahmen ergaben. Bei Strafanzeigen oder freiheitsentziehenden Maßnahmen hingegen ist die Dokumentation vorgelegter Ausweisdokumente die Regel. Erfahrungsgemäß ist darüber hinaus davon auszugehen, dass einige Personendaten auf mündlichen Angaben oder nicht amtlichen Dokumenten beruhen, insbesondere weil in Deutschland keine Verpflichtung besteht, einen Pass, Passersatzpapiere, Aufenthaltstitel oder entsprechende Bescheinigungen mitzuführen. Insoweit waren die Personendaten dahin gehend zu bewerten, ob sie für eine weitere Bearbeitung durch die AG Silvester mit Blick auf deren Zielsetzung geeignet waren.

Ohne dass hier jede Möglichkeit zur Ermittlung von Personendaten berücksichtigt wird, lassen sich die Hauptquellen der erhobenen Personendaten wie folgt eingrenzen:

•Polizeiliche Datenanwendungen, die in der Silvesternacht zu unterschiedlichen Zwecken genutzt wurden

•Noch vorhandene kurzfristige Aufzeichnungen eingesetzter Beamter, welche diese zur Überprüfung nutzten

•Daten der Bundespolizei

•Daten aus in der Silvesternacht aufgenommenen Strafverfahren

•Daten der DB AG

•Hinweise aus der Bevölkerung

Die hiernach vorliegenden 711 Datensätze hat die AG Silvester um offensichtliche Doppelerfassungen bereinigt. Diese sind entstanden, weil einzelne Personen in der Silvesternacht mehrfach kontrolliert und daher auch in verschiedenen Listen erfasst wurden. Weiterhin mussten die Daten, die von der BPOL und der Deutschen Bahn stammen, um für weitere Überprüfungen ungeeignete Datensätze bereinigt werden. Insgesamt verblieben 640 Datensätze, die für weitere Recherchen geeignet waren.

Durch Aufbereitung der Daten konnten bei den überprüften bzw. identifizierten Personen folgende Staatsangehörigkeiten festgestellt werden:

Staatsangehörigkeit

Anzahl

Irak

125

Syrien

123

Deutschland

112

Afghanistan

74

Iran

32

Guinea

28

Marokko

21

Pakistan

17

Eritrea

14

Algerien

11

Indien

10

staatenlos

8

Italien

4

Tunesien

4

Türkei

4

Russ. Föderation

4

Gambia

3

Rumänien

3

Somalia

3

Äthiopien

3

Libanon

3

Staatsangehörigkeit

Anzahl

Bangladesch

2

Tadschikistan

2

Frankreich

2

Luxemburg

2

Polen

2

Mali

2

Serbien

2

Bulgarien

2

Jemen

2

Mazedonien

2

Niederlande

2

Saudi-Arabien

2

Kasachstan

1

Elfenbeinküste

1

Aserbaidschan

1

Israel

1

Kamerun

1

Albanien

1

Ukraine

1

Sudan

1

VAE

1

Senegal

1

Die Reihenfolge der am meisten vertretenen Staaten hat sich gegenüber der Auswertung mit Stand 11.1.2017 nicht wesentlich verändert. Demnach wurden in der Silvesternacht 2016 vor allem Iraker, Syrer, Deutsche und Afghanen kontrolliert.

Zu der Bewertung der Nationalitäten ist anzumerken, dass eine Vielzahl der Personen offensichtlich ohne Vorlage eines Ausweisdokuments nach Deutschland eingereist ist. Die AG Silvester hat festgestellt, dass bei 289 der insgesamt 394 Asylantragsteller unter den 640 Personen, zu denen weitere Recherchen erfolgten, im AZR-Datensatz kein Ausweisdokument hinterlegt ist. Das entspricht 73 % der Asylantragsteller.

Weiterhin haben Ermittlungen ergeben, dass von den 394 festgestellten Asylantragstellern 221, also mehr als die Hälfte, nicht aus Köln und dem angrenzenden Einzugsgebiet (Hürth, Bergheim, Bergisch Gladbach, Euskirchen, Frechen, Leverkusen, Langenfeld, Rösrath, Siegburg, Bonn, Bornheim, St. Augustin, Wesseling, Brühl, Rheinbach, Pulheim), sondern aus dem gesamten restlichen Bundesgebiet angereist waren.

Als besondere Herausforderung im Rahmen der Analyse hat sich die vielfältige Erfassung von Alias-Personalien erwiesen.

Zu 217 Personen waren im polizeilichen Datenbestand Alias-Personalien erfasst. Personendaten werden als Führungspersonalien im polizeilichen Datensystem bei der ersten Erfassung einer Person generiert. Diese werden nur dann geändert, wenn rechtmäßige Ausweisdokumente vorgelegt werden. Alle anderen abweichenden Daten werden als Alias-Personalien gespeichert.